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Beschreibung

Beim Titel "Bilder einer Ausstellung" denken die meisten Menschen nicht an Visuelles, sondern an Musik. Seit rund hundertfünfzig Jahren regt Mussorgskis Komposition Musiker aus aller Welt zu neuen Interpretationen an. Doch wer kennt schon die auslösenden Bilder von Viktor Hartmann? Wer weiß um die Vorkommnisse, die hinter den Bildern stehen? Diese Anthologie transportiert die "Bilder einer Ausstellung" mit Storys und Gedichten erstmals in die Literatur. Erzählt, wozu diese Musik inspirieren kann, und setzt die Worte in neuen Bildern um. Ein "work in progress", ein Kunstwerk, das ständig weiterentwickelt wird. Und vielleicht zu neuer Musik anregt …  Mit einem Titelbild von Gerd Scherm und Illustrationen von Lothar Bauer, Detlef Klewer, Marianne Labisch, Eva Preuß, Gerd Scherm und Andreas Schwietzke. Vorwort • Marco Habermann Vorwort • Marianne Labisch Vorwort • Gerd Scherm Promenade • Gerd Scherm Der Weg des Gnomus • F. A. Peters Zwischenspiel I • Gerd Scherm Das Lied des Troubadours • Stefan Cernohuby Zwischenspiel II • Gerd Scherm Die Toulierien brennen • Gerd Scherm Der Ochsenkarren • Noëmi Sacher Zwischenspiel III • Gerd Scherm Pas de deux • Gabriele Behrend Die Ruhe nach dem Andante Gravo • Paul Sanker Zwischenspiel IV • Gerd Scherm Ignoranz stirbt nie • Verena Jung Ex inferis • Sascha Dinse Zwischenspiel V • Gerd Scherm Mit den Toten in einer toten Sprache • Regine D. Ritter Zwischenspiel VI • Gerd Scherm Die Hütte der Baba Jaga • Detlef Klewer Zwischenspiel VII • Gerd Scherm Der Plan • Marianne Labisch Aufstellung der musikalischen Bearbeitungen • Gerd Scherm Nachwort • Die Herausgeber Vitae

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Marianne Labisch,

Marco Habermann &

Gerd Scherm (Hrsg.)

BILDER EINER AUSSTELLUNG

Außer der Reihe 28

Marianne Labisch,

Marco Habermann &

Gerd Scherm (Hrsg.)

BILDER EINER AUSSTELLUNG

Außer der Reihe 28

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

© dieser Ausgabe: September 2018

p.machinery Michael Haitel

Titelbild: Gerd Scherm

Illustrationen: Lothar Bauer, Detlef Klewer, Marianne Labisch, Eva Preuß, Gerd Scherm, Andreas Schwietzke

Layout & Umschlaggestaltung: global:epropaganda, Xlendi

Lektorat: Marianne Labisch, Michael Haitel

Herstellung: global:epropaganda, Xlendi

Verlag: p.machinery Michael Haitel

Ammergauer Str. 11, 82418 Murnau am Staffelsee

www.pmachinery.de

für die Geschichtenweber, www.edition-geschichtenweber.de

ISBN der Printausgaben:

978 3 95765 143 3 (Paperback)

978 3 95765 144 0 (Hardcover)

Marianne Labisch: Vorwort

Ich mag es, wenn verschiedene Kunstrichtungen miteinander vereint werden, ohne in Konkurrenz zu stehen. Daher war ich gleich angetan von Marco Habermanns Idee, eine Anthologie zum Thema Bilder einer Ausstellung herauszugeben, die neben den Kurzgeschichten auch Lyrik und neue Interpretationen der Bilder von Viktor Hartmann enthalten sollte. Erst nach der Entscheidung daran mitzuwirken, beschäftigte ich mich mit der Musik und den inspirierenden Bildern. Die Geschichte dahinter faszinierte mich.

Die Freundschaft dieser beiden Männer gefiel mir und bot so viel Stoff, der von den verschiedenen Autoren, Lyrikern und Grafikern, jeweils auf ganz andere Art und Weise umgesetzt wurde.

Die Geschichten, die Lyrik und die Bilder belegen, dass alle beteiligten Künstler sich intensiv mit dem Leben und Wirken dieser beiden Männer beschäftigt haben. Wir alle wurden zu neuen Werken inspiriert und ich schätze, genau das hätte Viktor Hartmann und Modest Mussorgski gefreut. Modest Mussorgskis Freundschaft zu dem Maler ging über dessen Tod hinaus und er setzte den Bildern mit der Musik ein Denkmal, welches die Zeit überdauerte. Er vereinte somit zwei Kunstrichtungen und wir nahmen diesen überspannenden Bogen auf und erweitern ihn noch ein wenig, wahrscheinlich ganz im Sinne unserer Vorbilder.

Ich finde, das ist ein Weg, den wir öfter beschreiten sollten, ganz besonders, weil so häufig über U- und E-Literatur, Prosa und Lyrik, Malerei und Fotografie gestritten wird. Es wäre doch ein guter Ansatz, in der Vielfalt eine Einheit zu finden, sich auszutauschen, zusammenzuschließen und gegenseitig zu bereichern, wo andere sich auseinanderdividieren.

Marco Habermann: Vorwort

Die ersten Berührungen mit Mussorgskis Werk hatte ich schon sehr früh. Ich erinnere mich gut, wie es in den übergroßen Kopfhörern knackte und rauschte, wie sie mir vom Kopf rutschten. Mit viel Hall fing es an, Chor und Orgel folgten. Kurz darauf stolperte ich musikalisch durch das Unterholz eines dichten Waldes und verlief mich. Ich atmete schneller …

Bevor es mir zu unheimlich wurde, öffnete ich die Augen und war zurück in der Realität. Ich fixierte das in dunklen Blautönen gehaltene Plattencover, das ich aus dem übervollen Regal in unserem Wohnzimmer gezogen hatte. Isao Tomitas Version von »Pictures at an Exhibition« lief mit 33 1/3 Umdrehungen pro Minute.

Die damals als fortschrittlich geltende Synthesizervertonung beflügelte meine Fantasie, ließ bewegte Bilder vor meinen Augen entstehen und begleitete mich viele Jahre. Immer wieder kramte ich das Album hervor und begab mich aufs Neue in die ferne Welt der Bilder einer Ausstellung.

Es ist nicht zuletzt der großen Schallplattensammlung meines Vaters zu verdanken, dass mir Musik unterschiedlichster Couleur zur Verfügung stand und mich nachhaltig beeinflusste. Bilder einer Ausstellung ist nur eins von vielen Beispielen, aber definitiv das prägendste.

Während meiner Jugend trat der Musikzyklus weit in den Hintergrund, doch es kam der Tag, an dem mir Tomitas Fassung in digitaler Form wieder über den Weg lief und mit ihr weitere zahlreiche Interpretationen. Klavier, Orchester, Jazz, Rock, Metal … Es gibt kaum eine Musikrichtung, in der es keine Adaption gibt. So unterschiedlich sie auch sein mögen, ein Element eint sie alle: die Bilder.

Ich begann, mich für die Geschichte hinter der Musik zu interessieren. Einst ließ die Musik Bilder vor meinem geistigen Auge entstehen, doch ursprünglich war es umgekehrt. Die Bilder gab es vor der Musik.

Mussorgski komponierte die Stücke zu Ehren seines verstorbenen Freundes, des Künstlers Viktor Hartmann. Der Zyklus beschreibt einige seiner Bilder, die dem Publikum auf dessen Gedächtnisausstellung präsentiert wurden.

Somit war und ist Bilder einer Ausstellung tatsächlich ein multimediales Werk aus dem neunzehnten Jahrhundert, das Musik und Bild verbindet. Jedes Medium regt den Geist auf eine andere Weise an. Auf einem Bild sehe ich nicht, was Sie sehen. Ein Lied ist für den einen nur Gedudel, während es in einem anderen Menschen tiefe Emotionen oder Erinnerungen weckt.

In Anbetracht dessen fand ich es umso erstaunlicher, dass es zu Hartmanns und Mussorgskis Werken noch keine literarische Bearbeitung gab. War ich der Einzige, dem sich zu jedem Musikstück oder den Bildern Geschichten aufdrängten? Das konnte nicht sein!

Was lag also näher, als sich auf die Suche nach Mitmenschen zu begeben, die den Bildern einer Ausstellung zu neuem Glanz verhelfen wollten? Meine Suche brachte zahlreiche kunstbegeisterte Menschen zusammen und gemeinsam entdeckten wir die Geschichten hinter den Bildern.

Kunstliebende Schriftsteller und Illustratoren, die es vermochten, vielfältige Stimmungen in ihre Geschichten und Bilder hineinzulegen, wie es die Originale konnten. Verleger, Mitherausgeber und Lektoren, denen es genau wie mir am Herzen lag, den Bildern einer Ausstellung neue Blickwinkel abzugewinnen.

Herausgekommen ist eine Hommage an zwei großartige Künstler und deren Werke, die sich nun in all ihrer Vielfalt vor uns ausbreitet und zum Lesen, Betrachten und Lauschen einlädt.

Wer in den Genuss einer musikalischen Untermalung zur Lektüre kommen möchte, dem seien die vielen unterschiedlichen Interpretationen ans Herz gelegt – eine Liste gibt es am Ende dieses Werkes –, die über die Jahrzehnte hinweg entstanden.

Wir möchten uns bei allen Beteiligten bedanken, die dieses Buch möglich gemacht haben. Jedes noch so kleine Puzzleteil hat uns geholfen, die Anthologie zur Veröffentlichung zu führen.

Getreu Modest Mussorgskis Motto »Die Kunst ist kein Selbstzweck, sondern ein Mittel für das Gespräch mit den Menschen«, wünschen wir viel Freude mit diesem Werk.

Gerd Scherm: Das Matrjoschka-Projekt

Als Modest Mussorgski zu Ehren seines verstorbenen Freundes Viktor Hartmann die Komposition »Bilder einer Ausstellung« schuf, konnte weder er noch jemand anderer ahnen, welche Auswirkungen dieses Werk haben würde. Im Lauf der Zeit wurde daraus ein weltumspannendes »work in progress«, ein Kunstwerk, das ständig weiterentwickelt wird. 1971 veröffentlichte die Classic-Rock-Formation »Emerson, Lake and Palmer« ihr Live-Album »Pictures at an Exhibition«, und dies löste einen Dammbruch aus, eine kreative Flut, Werk um Werk entstand und knüpfte an die Vorläufer an.

1975 veröffentlichten Philipp Corner und KP Brehmer eine weitere Bearbeitung, die sie als »Pictures of Pictures« bezeichneten und die sowohl auf Mussorgski als auch Wassily Kandinsky basierte. Darauf aufbauend schuf KP Brehmer eine Art der visuellen Umsetzung mithilfe eines Sonografen und nannte sie »Pictures of Pictures from Pictures«. Philipp Corner setzte diese Bilder wiederum (1975–1979) in Musik um und kommt so zu seiner Werkbezeichnung »Pictures of Pictures from Pictures of Pictures«. Aus einer Gedächtnisausstellung mit anschließender musikalischer Hommage im Jahr 1874 war ein Matrjoschka-Projekt geworden: Die Puppe in der Puppe in der Puppe in der Puppe … Jede und jeder fügte und fügt seit nahezu hundertfünfzig Jahren das Seine hinzu und spinnt den Faden weiter.

Unser hier vorliegendes Buch könnte auch den Titel »Storys and Pictures of Pictures at an Exhibition« haben – »Geschichten und Bilder zu Bildern einer Ausstellung«.

Ich selbst hörte die »Pictures at an Exhibition« von »Emerson, Lake and Palmer« Anfang 1972 das erste Mal und war begeistert. Ich mochte diese Art von Musik ebenso wie harten Rock und Rhythm and Blues. Aber dieses Album bot mir noch mehr als The Moody Blues, The Nice und Procol Harum: Es weckte mein Interesse an klassischer Musik. Angeregt von dieser schwarzen Vinylscheibe eröffneten sich mir neue Hörwelten und Klangsphären, die ich gerne betrat.

Ich liebe spartenübergreifende Projekte und mache seit vielen Jahren sogenannte »ästhetische Korrespondenzen« mit Malern, Fotografen, Performancekünstlern, Musikern und Komponisten. Als Marco Habermann im Geschichtenweber-Forum seine Idee von einem Text-Bild-Musik-Konzept zu »Bilder einer Ausstellung« vorstellte, erklärte ich mich spontan zur Mitwirkung bereit.

Nun kommt die Vollendung unseres Teils der Geschichte, die mit Viktor Hartmann und Modest Mussorgski begann: Sie sind an der Reihe!

Gerd Scherm: Promenade

Entschleunigen

das Alltagstempo verlassen

Flanieren

Schritte und Atem im Gleichklang

Innehalten

sehen, was mir ein anderer zeigt

Gedanken

eintauchen in Geschichten

Die Stille im Außen

verbirgt den Sturm im Inneren

Stehend davonwirbeln

mitgerissen

getrieben

gejagt

Schritt für Schritt

gefangen von Bildern

© Detlef Klewer

F. A. Peters: Der Weg des Gnomus

 

 

Professor San

Großes Medium Asiens.

Jedes Problem – sofort gelöst!

Der Weg zu Liebe, Erfolg und Glück!

 

stand auf dem Schild vor dem kleinen, nachtblauen Zelt auf dem Marktplatz von Toulon. Honobulbus sah auf den Zettel in seiner Hand:

 

Von den »Klein, aber Ohos!« gesucht:

Violinist

Bezahlung – je nach Auftragslage.

Melden bei Professor San!

 

Erkratzte sich am Bart. Das Zelt eines Wahrsagers? Professor San … bestimmt auch nur einer dieser Betrüger! Was sie ihm wohl zahlten, die »Klein, aber Ohos!«? Ein Livre am Tag müsste es schon sein.

Neben dem Zelt trainierten zwei Zwerge mit Gewichten: ein dicker Struwwelkopf mit rotfleckigem Gesicht und ein grinsender Stoppelkopf. Die zwei waren Honobulbus zunächst gar nicht aufgefallen. Wahrscheinlich hatten ihn die anderen Gaukler abgelenkt: Bärenführer, Seiltänzer, Puppenspieler … Zigeuner, die falschen Schmuck feilboten. Und jetzt diese beiden Typen.

»Willst du zu Professor San?«, fragte der Stoppelkopf und setzte seine Hantelstange ab. »Also, ich sah dich gerade vor dem Zelt stehen, und da dachte Arbellius so bei sich: Der will bestimmt zu San! Und? Willst du zu San? Wenn du zu San willst, dann bist du hier goldrichtig! Jeder geht zu San. Jeder, der Probleme hat. Hast du Probleme, Zwerg? Willst du zu San?«

Ob dieser Idiot zu den »Klein, aber Ohos!« gehörte?Sollte er echt für so eine Mischpoche arbeiten? Unter seiner Würde! Selbst für einen Livre am Tag. Andererseits brauchte er Geld, und alleine zu reisen war zu gefährlich. Er gab Stoppelkopf den Zettel, der ihn an Struwwelkopf weiterreichte. Dieser spitzte die Lippen, als er die Zeilen überflog. Über seinem Kopf malte er einen Kreis in die Luft und sah Stoppelkopf ernst an.

»Ich wusste es! Swain sagt, du suchst San! Du wirst es kaum glauben, aber: Das ist das Zelt von Professor San. Jeder will zu San. Jeder, der Probleme hat. Soll Arbellius dich zu Sans Zelt bringen? Es ist nicht weit! Es –«

»Ick steh’ doch direkt davor!«, versetzte Honobulbus. »Denkste, ick bin meschugge?«

Swain machte schlangenartige Handzeichen.

»Wat soll dit?«, fragte Honobulbus und äffte das Gefuchtel nach. »Wollt ihr mich verkackeiern?«

»Ach so, einen Fiedelisten!«, sagte Arbellius zu Swain. »Aber wir haben doch schon Fredrik …«

Swain hob seine breiten Schultern. »Eine Stelle suchst du also. Bei den ›Klein, aber Ohos!‹, richtig? Na, das sind wir. Wo ist deine Fiedel?«

»In meenem Beutel«, sagte Honobulbus und bewegte das Bündel auf seinem Rücken.

»Da im Sack?«, fragte Arbellius und streckte seinen Arm aus.

»Pfoten weg! Niemand fasst meene Violine an!«

»Oh … nichts für ungut! Na, dann geh schon mal ins Zelt! Helenya kommt gleich.«

»Helenya?«

»Na, Helenya. Sie führt die Geschäfte. Du solltest sie mal sehen: offenes, blondes Haar, blaue Augen. Ein total süßes Grübchen! Und die hat Beine!« Die ernsten Züge Swains verfinsterten sich. »Und wenn sie auftritt, dann hat sie ein wunderschön geschminktes Gesicht! Die kann jonglieren! Das ist die gute Schule! Paris! Kennst du die Sœur de Saint Julienne? Kennst du Paris? Paris?«

»Paris, ja«, sagte Honobulbus verhalten.

»Die Sœur de Saint Julienne! Die Schwesternschaft der Jongleurinnen! Da war sie. Unsere Helenya! Ein Rasseweib ist das, kann ich dir sagen! Und wie witzig sie ist!«

»Noch witzijer als du?«, fragte Honobulbus trocken.

»Niemand ist so witzig wie Helenya. Und wenn sie erst – Aua!« Swain trat Arbellius gegen das Schienbein. »Was ist denn los, mein kleiner Giftzwerg?«

Swain zog ein purpurnes Seidentuch aus der Hosentasche und reichte es Arbellius. Der süße Duft von Oleander und kräftigem Lavendel … Arbellius roch an dem Tuch und lächelte Swain an. Dann deutete er auf Honobulbus’ Stoffzylinder.

»Nimm den Hut ab! Nur ohne Hut ins Zelt! Mit Hut ist völlig ausgeschlossen! Nur ohne Hut und –«

»Ja ja, nun hör doch mal uff zu labern!«, sagte Honobulbus.

»Einfach geradeaus, durch den Vorhang«, sagte Arbellius und kicherte dabei. »Dort in das Zelt hinein. Kannst es gar nicht verfehlen! Aber nimm den Hut ab! Vorher!«

Es regnete; ein fernes Donnergrollen lag in der Luft. Honobulbus schob den Vorhang zur Seite. Noch im selben Moment bereute er es – und war zugleich gespannt, was ihn erwartete …

 

Cuve und Vert, die beiden Handlanger des Inquisitors Cochon, schlichen als Pilger getarnt über den Marktplatz. Sie musterten die Spielleute, die vor dem Regen Schutz suchten. Vert überlegte, wer am besten infrage käme. »Ein guter Sündenbock«, hatte ihr Herr gesagt. Nur noch wenige Tage bis zum sogenannten »Wettbewerb« in Antibes …

Vert musterte die Zigeuner mit ihren eingefallenen Gesichtern und zitternden Händen, in der verzweifelten Hoffnung auf ein paar Sous. Die waren des Französischen nicht mächtig. Ungeeignet! Cuve deutete auf zwei Hütchenspieler; Vert drückte schnell seine Hand herunter und schüttelte den Kopf. Nicht spektakulär genug. Die Reliquienverkäufer etwa? Mit welcher der Todsünden konnte man die in Verbindung bringen? Gier? Nein, zu abstrakt. Es musste etwas Besonderes sein.

Da fiel sein Blick auf zwei turnende Zwerge vor einem Zelt. Zwerge … die verkörperten doch von jeher etwas Abgründiges. Cochon hatte ihm einmal erzählt, die Zwerge seien aus den Tiefen der Berge gekommen, von dort unten, wo das Böse lauere … Ja, Zwerge waren ideal für den Wettbewerb! Und Heiden noch dazu.

Der blonde Zwerg … erst jetzt fiel Vert dessen große Ähnlichkeit zu seinem Herrn auf. Deutlich jünger zwar, aber ihre Gesichtszüge waren fast identisch! Der Blonde hievte den Stoppelhaarigen nach oben und balancierte ihn auf den Händen. Ob es Cochon Freude bereiten würde, sein zwergenhaftes Ebenbild zu foltern? Und der mit der Stoppelfrisur … ein entlaufener Sträfling? Vielleicht könnte er sich einen Namen als Kopfgeldjäger machen … Vert, selbstständiger Kopfgeldjäger. Das wäre was!

Ein verrottetes Schild stand vor dem Zelt. Professor San, Großes Medium Asiens. Ein Wahrsager gehörte also auch dazu. Bestens! Dann könnten sie diese Leute auch wegen Schwarzer Magie und Gotteslästerung drankriegen.

Sie schlichen sich davon, um ihrem Herrn von dem Fund zu berichten …

 

Der Regen prasselte auf das Zelt. Kuloi San saß mit geschlossenen Augen da und spürte, wie seine Gedanken in das Nichts fluteten. Ein Rascheln … Seine Gedanken strömten zurück. Langsam atmete er aus.

Kuloi schlug die Augen auf und wurde zu Professor San. Er betrachtete sein Gegenüber und machte sich ein grobes Bild. Es war noch etwas verschwommen, doch darunter stand: »Einsamer Zwerg auf der Suche«.

»Wat is de Bezahlung?«, fragte der Zwerg.

»Ein Livre.« Professor San deutete auf den Schlitz im Tisch. »Dort hinein!«

»Nein, wat Ihr mir bezahlt!«

»Später. Ich Professor San. Dein Weg dich in mein Zelt führen, und Weg hinaus führen ins Glück.«

»Nischt für unjut, Alterchen!«, sagte sein Gegenüber und kratzte sich am rot gelockten Kopf. »Ick bin deswejen hier.« Er reichte ihm einen Zettel.

»Erst wir sprechen. Haben Gefühl, dich schon lange kennen …«

»Also ick kenn’ dich nich’.«

»Bitte!« Professor San deutete auf den Stuhl gegenüber dem Tisch. Er setzte sich den Turban mit dem rubinfarbenen Glasstein auf.

»Na jut!«, sagte der Zwerg und ließ sich auf den Stuhl fallen. »Aber nur für ’nen Moment! Oh, janz bequem …«

Professor San nickte. »Sehr gut! Und aus Moment bald werden zwei, drei … bis schließlich Ewigkeit aus Momenten … Wie dein Name?«

»Lemoncello. Honobulbus Lemoncello.«

Er konnte die Verschlossenheit seines Gegenübers förmlich spüren. Dies würde ein schwerer Fall werden. An Wahrsagerei glaubte der nicht. Welche Sehnsüchte er wohl hatte? Wimpel zierten den blauen Stoffzylinder des Zwerges.

»Du viel reisen, Honobulbus. Aber manchmal du dich fragen: Wo mein Heim?«

Honobulbus nickte; in sein Gesicht trat Erstaunen.

»Sehr gut! Du kritischer, unabhängiger Mensch sein. Das ich spüren … Aber manchmal du wollen vertrauen. Du suchen nicht nur Freiheit. Du auch suchen Geborgenheit!«

Er wirkte, als sei er ertappt worden.

»Du ganz entspannt«, sagte Professor San und schloss seine Augen. »Ich dir nun deuten Zukunft. Geben mir Hände!«

»Meene Hände? Na jut.«

Die Hände waren zart und feingliedrig. Wasserhände … An Daumen, Zeigefinger und Mittelfinger der Rechten erfühlte er raue Haut, und auch an den Fingerspitzen der Linken. Dies waren die Hände eines empfindsamen Handwerkers. Eines … Er spürte ein rhythmisches Vibrieren. Ein Musiker! Lemoncello … Ein Violinspieler!

»Haste jetz’ jenug Händchen jehalten? Wie is’ jetz’ meene Zukunft? Nich’, dass ick dran gloobe, aber …«

»Du mir tief in die Augen sehen!«

Honobulbus lachte. »Ooch noch! Mach dir ja keene falschen Hoffnungen, du!«

Die Augen des Zwerges strahlten eine scheue Wärme aus, die in ihm gefangen war. Ein tiefsitzender Schmerz …

»Wo du geboren?«

»Wees ick nich’.«

»Gut. Wo du getroffen erste Liebe?«

»Hab’ ick nich’.«

»Gut. Name Mutter?«

»Hallanda.«

Er sah eine Frau. Hallanda … dunkle Augen, wie Honobulbus. Irgendetwas stimmte mit ihrem Hals nicht. Die Frau war in Nebel getaucht. Diese Erinnerung stammte von einer Toten! Eine weitere Frau … rote, wehende Haare. Jaxida. Wer war diese Jaxida? Sie musste in Honobulbus' Leben wichtig sein. Gnomus! ProfessorSan erschrak. Wer hatte diesen Namen ausgesprochen? Gno-mus … zwei Silben. Wie eine Spaltung! Zwei Silben – zwei Seelen! Un-heil! Ja, der Name »Gnomus« bedeutete großes Unheil. Da erblickte er zwei rothaarige Säuglinge, die Arm in Arm lagen, und um sie herum züngelten Flammen! Aus ihrer Asche stieg eine weiße Drossel empor und sang ein wunderschönes Lied. Eine Wolkenbank, in der grüne Blitze zuckten … umkreist von Rabenvögeln. Ein schlafender König …

Diesem Honobulbus stand unsägliches Leid bevor! Was sollte er ihm nur sagen? So etwas war ihm in all den Jahrzehnten noch nicht passiert. So düstere Visionen … Er wollte diesem Zwerg doch keine Angst machen, sondern Hoffnung! Honobulbus sah ihn voller Erwartung an.

»Nun ich dir Zukunft sagen!«, flüsterte er.

»Na endlich!«, sagte Honobulbus und leckte sich über die Lippen.

Professor San zog das nachtblaue Tuch über der Glaskugel zur Seite. Ein Auge zeigte sich darin. Schnell machte er eine Handbewegung, und das Auge verschwand.

»Wat war denn dit?«

»Sie uns beobachten!«

»Aha. Und meene Zukunft?«

»Erst Livre. Dann Zukunft!«

»Na, is’ jut. Willst ja ooch wat verdienen.« Er warf eine Münze in den Schlitz.

San breitete seine Hände über der Glaskugel aus. »Geister der Unterwelt!« Die Kugel färbte sich rot. Züngelnde Flammen. »Engel der Himmelssphären!« Die Kugel färbte sich blau. Vorbeiziehende Wolken. Es donnerte. »Entitäten der Planeten und Sterne!« Die Kugel wurde schwarz. Funkelnde Sterne. Ein heulender Wind drückte gegen das Zelt. »Ihr gehört Honobulbus Lemoncello, Sohn von Jax – von Hallanda! Nun uns zeigen Zukunft des Musikus Lemoncello! Die Geister, Engel und Entitäten sich beraten. Sie mir sagen, dass –«

»Eine ganz miese Nummer ist das!« Die Stimme kam von draußen. Fredriks Stimme. »Zettel auszuhängen mit ›Von den Klein, aber Ohos! gesucht: Violinist‹. Spinnst du?«

Honobulbus blickte irritiert in die Richtung des Gezeters. »Wat is denn da los?«

»Nicht kümmern!« Professor San versuchte ein Lächeln. »Da nur zwei streiten. Das die Welt draußen. Hier die Welt drinnen.«

»Was ist das Motto der ›Klein, aber Ohos!‹? Hm?« Blasius’ Stimme … »›Wir Kleinen halten zusammen sind wir stark!‹«

»Das soll ein Motto sein?«, versetzte Fredrik. »Das ist noch nicht mal ein richtiger Satz!«

»Doch! Du hast einfach keinen Gruppengeist!«

»Nicht schon wieder!« Die Frauenstimme drang von unterhalb der Tischplatte. San trat gegen das Holz.

»Wer hat dit jesagt?«, fragte Honobulbus.

»Wenn du mich raushaben willst, dann sag es!« Wieder Fredrik …

»Na gut!«, sagte Blasius. »Du bist raus!«

»Was?! Einfach so?«

»Ja, einfach so! Du bist raus!« Ein klatschendes Geräusch.

Der Vorhang wurde zur Seite geschoben. Blasius … ganz durchnässt, mit geröteter linker Wange.

»Dieser Torfkopp! Knallkopp!«

Professor San räusperte sich. »Du bitte leise, Blasius! Kunde hier.«

»’Tschuldigung! Fredrik ist raus!«

Unter dem Tisch rumpelte es. Helenya kam hervorgekrochen. In ihrer Linken hielt sie die drei Tücher: Das rote mit den aufgestickten Flammen, das blaue mit den Wolken und das schwarze mit den Silberperlen. Sie stemmte ihre Arme in die Hüften. »Bist du verrückt, Blasius? Fredrik rauszuwerfen! Ohne ihn bist du ein Nichts! Sind wir nichts!«

»Ich –«

»W–wat ist denn hier los?«, fragte Honobulbus entgeistert. Da fiel sein Blick auf die Tücher in Helenyas Hand. »Wat is’ dit für’n Schmu?«

»Es mir sehr leid tun!«, sagte Kuloi San. »Das Meiste, hier geschehen, echt.«

»Ach ja? Dit erzähl ’nem and’ren!« Er sprang von seinem Stuhl auf. »Betrüjer! Ick will meenen Livre zurück!«

Kuloi holte die Blechdose unter dem Tisch hervor. »Hier, Livre!«, sagte er. »Ich bedauern. Du bitte bleiben! Ich mit dir reden!«

»Ick aber nich’ mit dir!«, sagte Honobulbus und rannte aus dem Zelt. Seinen Zylinder ließ er zurück.

»Sieh, was du wieder angerichtet hast!«, sagte Helenya.

Blasius hob die Schultern. »Was kann ich denn dafür, dass der’n Rappel kriegt?«

»Du ihn kränken, Blasius!«, sagte Kuloi. »Du mich beschämen!«

»’Tschuldigung!«

»Spar dir dein ›’Tschuldigung!‹«, sagte Helenya. »Das ist schon der dritte Violinist dieses Jahr! Dein Verhalten ist geschäftsschädigend! Du bist kein Solist. Ohne Begleitung triffst du keine einzige Note!«

»Das ist nicht wahr!«

»Es wahr sein!«, sagte Kuloi. »Ich nicht musikalisch, du weißt. Doch wenn du singen allein, ich fühlen so …« Er verzog sein Gesicht und hielt sich die Ohren zu. »Mit Begleitung aber, ich fühlen so …« Kuloi streckte seine Arme aus und strahlte über das ganze Gesicht.

»Echt?« Blasius wurde blass – bis auf den roten Flatschen auf seiner Wange. »Mist!«