Bildung zu Hause - Alan Thomas - E-Book

Bildung zu Hause E-Book

Alan Thomas

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Beschreibung

Titel des englischen Originals: "Educating Children at Home" Beschulung ist inzwischen in unserer Kultur so tief verankert, dass wir zur Überzeugung gekommen sind, ohne Schule könne es keine Bildung geben. Jedoch wächst die Zahl der Kinder, deren Bildung zu Hause stattfindet, rasch. Über die Art, wie Eltern mit ihren Kindern an Bildung zu Hause herangehen, ist bisher wenig bekannt. Dieses neue Buch ist das Ergebnis einer Untersuchung, die Alan Thomas durchführte, um Einblicke in die Aspekte des Lehrens und Lernens zu Hause zu erlangen. An seiner Studie nahmen 100 Familien aus England und Australien teil. Diese Familien mussten feststellen, dass die formalen Strukturen, die im Klassenzimmer funktionieren, sich nicht einfach auf zu Hause übertragen lassen. Sie werden notwendigerweise zu Wegbereitern einer anderen Pädagogik, die dem Lernen zu Hause besser angepasst ist. Ihre Erfahrungen eröffnen ganz andere Sichtweisen auf Bildung und Lernen und stellen viele Grundannahmen der Fachleute zu Lehren und Lernen in Frage. Informelles Lernen Ein wichtiges Ergebnis der Untersuchung ist die Bedeutung des informellen Lernens. Ein grosser Teil des Buches widmet sich daher diesem Thema. Mit einem Vorwort von Prof. Dr. Wolfgang Hinte, geschäftsführender Leiter des Institut für Stadtteilbezogene Soziale Arbeit und Beratung (ISSAB) der Universität Duisburg-Essen.

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Seitenzahl: 392

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Bildung zu Hause

Eine sinnvolle Alternative

Alan Thomas

Aus dem Englischen übersetzt

von Matthias Kern

Für meine Familie

Vorwort von Prof. Wolfgang Hinte

In Zeiten großflächig angelegter, vornehmlich quantitativ orientierter Untersuchungen zu Bildungserfolgen, die uns in Deutschland – wie etwa die Pisa-Studien – regelmäßig erröten lassen ob der durch strukturelle Defizite hervorgerufenen Bildungsbenachteiligung zahlreicher ohnehin benachteiligter Bevölkerungsgruppen verfügen wir über keine systematisch angelegten Forschungsergebnisse qualitativer geschweige denn quantitativer Art über gelungene Lernprozesse außerhalb des etablierten Schulsystems. Die Zeit der erziehungs- und schulkritischen Publikationen (von Illich 1972 über Reimer 1972 bis hin zu Rogers 1974, Goodman 1975 und Braunmühl 1975) scheint vorbei: Sie haben dem betonierten Schulsystem nur wenig anhaben können und bleiben vornehmlich eine interessante Fußnote in der Diskussion um Erziehung, Bildung und Lernen. Dies liegt sicherlich zum einen an der geschichtlich begründeten und – gerade mit Blick auf ein staatlich garantiertes Recht auf Bildung – durchaus nachvollziehbaren Dominanz des klassischen Schulsystems, aber auch an der Steuerung von Forschungsgeldern, die schwerpunktmäßig in solche Bereiche fließen, die sich konzentrieren auf formelle Sozialisation und schulisch angeleitete Lernprozesse. Alternativen zur Schule, der stärkere Einbezug von Eltern in die Begleitung von Lernprozessen und die Konstruktion von Arrangements zur Achtung der kindlichen Individualität, ihrer Ressourcen und ihrem Eigen-Willen – diese Themen werden in den Schuldebatten eher stiefmütterlich behandelt und erfahren auch seitens der Forschungsinstanzen und ihrer Geldgeber nur geringe Aufmerksamkeit. Allenfalls im Kontext der im Kinder- und Jugendhilfegesetz (SGB VIII) beschriebenen Jugendhilfeleistungen, insbesondere im Rahmen der sogenannten „Hilfen zur Erziehung“ (§ 27ff) nähert man sich den o.g. Themen – dies zwar nicht systematisch, aber doch in immer wiederkehrenden „Wellen“ (derzeit etwa in Peters/Koch 2004 bzw. Hinte/Treeß 2007). Dabei erfahren erziehungskritische Thesen (wie etwa von Ekkehard von Braunmühl 1975) – mal explizit, mal schamhaft getarnt – eine beachtliche Renaissance, nicht zuletzt auch in systemisch begründeten Konzepten zu kindlichen Lernprozessen.

Das vorliegende Buch ist ein bedeutsamer Beitrag zur bildungswissenschaftlichen Grundlagenforschung in dem vernachlässigten Bereich außerschulischer Bildungsprozesse in einem häuslichen Umfeld, das sich einem forschenden Zugriff nicht ohne weiteres erschließt. Individueller Unterricht und informelles Lernen sind in ihren Abläufen ohnehin nur schwer zu erfassen, und dies gilt erst recht im nicht-öffentlichen Bereich. Umso bemerkenswerter sind die in dieser explorativen Studie untersuchten Prozesse, die in vielen Facetten auch geradezu provozierende Anfragen an schulische Lernprozesse und Strukturen stellen. Wie derlei „gebildete“ Kinder bei „Pisa“ abschneiden würden, darüber erhalten wir in diesem Buch noch keinen Aufschluss. Aber vielleicht findet sich da ja bald ein/e engagierte/r Bildungsforscher/in, der/die sich diese Fragestellung zu eigen macht.

Dennoch wird man in Deutschland dicke Bretter bohren müssen beim Thema „Homeschooling“. Da trifft sich ein empirisch nicht begründbares und dennoch tief verwurzeltes Grundvertrauen in die Schule mit einem grundsätzlichen Misstrauen in häusliche Sozialisation (wobei es schon zu denken gibt, wenn ein System, das erwiesenermaßen flächendeckend versagt, nämlich die Schule, nun auch noch als Ganztags-Variante realisiert werden soll). Wenn indes dieses Buch die ihm gebührende Beachtung findet und dazu ermutigt, praktisch und forschend im Bereich der außer-institutionellen Bildung voranzuschreiten, so lässt das nicht nur hoffen für einen entsprechenden strukturellen Umbau sondern auch für die selbstbestimmte Entwicklung der ohnehin stark vergesellschafteten Kinder und Jugendlichen.

Literatur:

Goodman, Paul: Das Verhängnis der Schule, Frankfurt a.M. 1975

Hinte, Wolfgang/Treeß, Helga: Sozialraumorientierung in der Jugendhilfe. Theoretische Grundlagen, Handlungsprinzipien und Praxisbeispiele einer kooperativ-integrativen Pädagogik, Weinheim und München 2007

Illich, Ivan: Entschulung der Gesellschaft, München 1972

Klemm, Ulrich: Lernen ohne Schule, Ulm 2001

Peters, Friedhelm/Koch, Josef: Integrierte erzieherische Hilfen, Weinheim/München 2004

Reimer, Everett: Schafft die Schule ab! München 1972

Rogers, Carl R.: Lernen in Freiheit, München 1974

v. Braunmühl, Ekkehard: Antipädagogik. Studien zur Abschaffung der Erziehung, Weinheim/Basel 1975 (Neuauflage Leipzig 2006)

Vorwort des Autors

Vor allem und zuallererst möchte ich den einhundert Familien in Australien und Großbritannien dafür danken, dass sie mich in ihren Heimen willkommen hießen und ihre Erfahrungen mit Bildung zu Hause mit mir teilten.

Ganz besonderen Dank schulde ich den Ansprechpartnern der Netzwerke für Bildung zu Hause in Australien und Großbritannien: Leslie Barson, Kathleen Carins, Georgie Holderness-Roddam und Jane Lowe. Sie vermittelten die Kontakte zu den Familien, gaben mir in vieler Hinsicht Hilfe und Rat und kommentierten zahlreiche Abschnitte und Entwürfe dieses Buches. Auch Paula Bell und Dr. Amanda Petrie möchte ich für ihre Kommentare zu dem Manuskript danken.

Diese Untersuchung wurde durch eine großzügige Freistellung für die Forschung unterstützt während ich an der Northern Territory University in Darwin, Australien war. Teile der Untersuchung in Großbritannien wurden durchgeführt während ich als Gastdozent („Visiting Fellow“) am Institut für Bildungsforschung der Universität London tätig war.

Ich möchte auch die Hilfe erwähnen, die ich von Mitgliedern der folgenden Organisationen erhalten habe:

Education Otherwise (Großbritannien)Home Education Advisory Service (Großbritannien)Home Educators Networking, TasmanienThe Otherwise Club (London)Tasmanian Home Education Advisory Council

Und letztlich möchte ich meinen früheren Studenten der Fächer Psychologie und Erziehungswissenschaften der Northern Territory University für ihre hilfreichen und aufschlussreichen Kommentare im Laufe der Untersuchung danken.

Anmerkungen

Bildung zu Hause wird im englischen Sprachraum oft als „home education“ oder „homeschooling“ bezeichnet, in Großbritannien auch als „education otherwise“ oder „EO“.

Jede Familie kann durch eine Fallnummer identifiziert werden. Australische Familien haben die Nummern [1] bis [58], britische Familien [59] bis [100].

Anmerkung des Übersetzers (A. d. Ü.):

Im Deutschen wird – je nach Schwerpunkt und Philosophie der Beteiligten – eine ganze Anzahl verschiedener Begriffe verwendet (Hausschule, Heimschule, Hausunterricht, Heimunterricht, Familienschule, Bildung zu Hause, Lernen ohne Schulbesuch, Leben ohne Schule, selbstbestimmtes Lernen; auch: Homeschooling, Home Education, Unschooling), von denen keiner als etabliert gelten könnte. Für eher formelles, strukturiertes, einem Lehrplan folgendes Lernen ohne Schulbesuch (teilweise auch als Überbegriff für alle Formen) wird oft der (amerikanische) Begriff „Homeschooling“ benutzt; eher informelle, den Interessen des Kindes folgende Bildung von zu Hause aus ohne vorgegebenen Lehrplan wird häufig als „selbstbestimmtes Lernen“ bezeichnet. Der Begriff „Bildung zu Hause“ ist nicht so stark verbreitet, entspricht aber am ehesten dem im Original verwendeten Begriff „home education“ und schien mir als Überbegriff für die sehr unterschiedlichen Formen geeignet.

1. Einführung

Eine kleine, aber zunehmende Zahl von Eltern bzw. Sorgeberechtigten entscheidet sich dafür, die Bildung ihrer Kinder zu Hause stattfinden zu lassen. Das Hauptanliegen dieses Buches ist die Beschreibung ihrer Herangehensweisen. Ihre Ansätze und Erfahrungen liefern neue und oft faszinierende Einsichten in das Wesen der intellektuellen Entwicklung und des Lernens.

Kinder werden geboren, sie lernen laufen, sie lernen sprechen, sie gehen zur Schule. Beschulung ist inzwischen in unserer Kultur so tief verankert, dass wir zur Überzeugung gekommen sind, ohne Schule könne es keine Bildung geben. Im Einklang damit beruht alles, was durch Forschung und Innovation zur Verbesserung der Bildung getan wird, auf der Annahme, Beschulung und Bildung seien austauschbare Begriffe. Das ist verständlich, weil Kinder zumindest seit Mitte des neunzehnten Jahrhunderts fast ausnahmslos zur Schule gingen. Aber dies hielt uns davon ab, über andere Wege der Bildung von Kindern nachzudenken. Die Überzeugung breitete sich aus, was in der Schule für Lehren und Lernen gilt, sei allgemein gültig.

Obwohl es sehr viele und sehr unterschiedliche Methoden des Lehrens und Lernens in der Schule gibt – die oft Gegenstand erhitzter Debatten sind – bestehen einige Grundannahmen, die die Schulbildung beherrschen. Es wird vorausgesetzt, dass Kinder für eine wirkungsvolle Bildung möglichst früh, spätestens mit fünf Jahren, mit der Schule beginnen müssen. Sie müssen in einem durchdachten Rahmen unterrichtet werden, etwa fünf Stunden pro Tag, zwölf Jahre lang. Diplomierte Lehrer mit vierjähriger Ausbildung planen mit Hilfe von Fachwissen, Materialien, Fachaufsicht, Richtlinien und Schulleitbildern bis in Einzelheiten, wie die Kinder in ihren Unterrichtsstunden lernen werden. Sie stützen sich dabei auf einen sorgfältig zusammengestellten örtlichen oder nationalen Bildungsplan, der als Grundvoraussetzung für guten Unterricht und effektives Lernen angesehen wird. Von den Kindern wird erwartet, dass sie die Themen schrittweise in einer vorgegebenen Reihenfolge durcharbeiten und dass sie ihr Lernen nachweisen, meistens durch schriftliche Arbeiten.

Auf diesem Hintergrund ist es verständlich, dass Eltern, die mit Bildung zu Hause beginnen, zunächst versuchen eine Form umzusetzen, die man etwa als „Schule zu Hause“-Modell bezeichnen könnte – mit Stunden-plänen und sorgfältig vorbereiteten Unterrichtsstunden –, nur um zu erfahren, dass das, was im Klassenzimmer funktioniert, sich nicht einfach auf zu Hause übertragen lässt. Sie werden notwendigerweise zu Wegbereitern einer anderen Pädagogik, die dem Lernen zu Hause besser angepasst ist. Ihre Erfahrungen eröffnen ganz andere Sichtweisen auf Bildung und Lernen und stellen viele Grundannahmen der Fachleute zu Lehren und Lernen in Frage.

Erst etwa in den letzten zwei Jahrzehnten wurde Bildung zu Hause allmählich als Alternative zur Schule anerkannt. In dieser Zeit hat die Anzahl der Kinder, deren Bildung zu Hause stattfindet, ständig zugenommen, insbesondere in Westeuropa, Nordamerika, Australien und Ozeanien, obwohl es keine verlässlichen Schätzungen zur Häufigkeit gibt. Dies ist teilweise darauf zurückzuführen, dass Eltern, deren Kinder nie eine Schule besucht haben, in vielen Ländern nicht verpflichtet sind, diese bei irgendeiner Behörde anzumelden. Ein anderer Grund ist, dass viele Schulbehörden Kinder, die von der Schule abgemeldet wurden, aus den Augen verlieren. Die weiteste Verbreitung gibt es mit ziemlicher Sicherheit in den USA, wo vermutlich etwa eine Million Kinder (etwa 1 Prozent) Erfahrung mit Bildung zu Hause haben (Lines, 1991)1. Im Vereinigten Königreich (Großbritannien und Nordirland) wird geschätzt, dass in bis zu 10.000 Familien Bildung zu Hause stattfindet (Meighan, 1997; Petrie, 1998)2. Für Australien wird vermutet, dass etwa 10.000 bis 15.000 Kinder zu Hause lernen. Aber dies sind nur Schätzungen. Wie Lines (1995) deutlich macht, werden genauere Schätzungen zur Häufigkeit erst dann vorliegen, wenn eine sorgfältig geplante Haushaltsbefragung durchgeführt wurde.

Die in diesem Buch beschriebenen Untersuchungen wurden in Australien und England durchgeführt. In Australien gibt es acht Staaten und Territorien, in denen jeweils eigene Gesetze über Bildung zu Hause gelten (Hunter 1995). Grundsätzlich ist Bildung zu Hause erlaubt oder zumindest geduldet. Im Staat Tasmanien, in dem fast die gesamte australische Forschung durchgeführt wurde, waren Familien, in denen Bildung zu Hause stattfindet, bisher eher zurückhaltend und nur wenige meldeten sich bei den Behörden an. Inzwischen hat die tasmanische Staatsregierung die zunehmende Verbreitung von Bildung zu Hause zur Kenntnis genommen und Bildung zu Hause wurde erstmals in einem neuen Gesetz über Bildung offiziell berücksichtigt. Für Eltern, die Bildung zu Hause planen, wurden Richtlinien veröffentlicht. Jetzt besteht eine rechtliche Verpflichtung jedes Kind anzumelden und beobachten zu lassen (Carins, 1995; THEAC, 1996). Es wurde eine Beratungsstelle eingerichtet, deren Vorsi-tzender selbst Bildung zu Hause praktiziert. Auch der erste Regierungsmitarbeiter, der mit der Anmeldung und Beobachtung dieser Familien beauftragt wurde, praktizierte Bildung zu Hause.

In England und Wales war Bildung zu Hause immer zulässig; das Bildungsgesetz von 1944 legt eine Verpflichtung zur Bildung fest, „entweder durch den regelmäßigen Besuch einer Schule oder auf andere Weise.“ Das Bildungsgesetz von 1996 enthält dieselbe Verpflichtung. Verschiedene Netzwerke und Organisationen veröffentlichen Ratgeber zur Bildung zu Hause (z.B. Education Otherwise, 1993; Home Education Advisory Service, 1996). Die örtlichen Schulbehörden haben die Pflicht, den Anspruch jedes Kindes auf eine seinen individuellen Bedürfnissen entsprechende Bildung durchzusetzen. Sie erfüllen diese Verpflichtung in unterschiedlichem Maß und auf unterschiedlichen Wegen. In der Vergangenheit waren die Behörden oft sehr ablehnend und manchmal kam es zu rechtlichen Auseinandersetzungen, aber in den letzten zwei Jahrzehnten gab es einen allmählichen Wechsel zur Toleranz und in manchen Fällen sogar zur Unterstützung (Petrie, 1998).

In den meisten anderen Ländern oder Staaten in Australien, Ozeanien, Nordamerika und Europa ist – mit wenigen Ausnahmen – Bildung zu Hause möglich, allerdings gibt es teilweise Schwierigkeiten mit den Behörden. Die Regierung von Neuseeland unterstützt Familien, die Bildung zu Hause praktizieren, sogar finanziell.

Bildung zu Hause ist in der Forschung auf wenig Interesse gestoßen. Wenn man bedenkt, dass sie eine einzigartige Möglichkeit bietet, Lehren und Lernen außerhalb der Schule zu untersuchen, ist dies überraschend. In der bisher vorliegenden Forschung wird Bildung zu Hause eher als gesellschaftliches Phänomen behandelt; sie befasst sich mit der historischen Entwicklung, den Gründen, rechtlichen und politischen Aspekten und den Auseinandersetzungen mit Behörden und Experten (Mayberry et al, 1995; Meighan 1984a, 1984b; Paterson, 1995; Petrie, 1992, 1993, 1995; Van Galen and Pitman, 1991; Webb, 1990). Obwohl sich hinsichtlich der erreichten Bildungsabschlüsse positive Ergebnisse gezeigt haben (Lines, 1995; Meighan, 1995, 1997; Ray, 1997; Ray and Wartes, 1991), wurde nie ein systematischer Versuch unternommen, herauszufinden, wie Eltern die Bildung ihrer Kinder zu Hause tatsächlich anpacken. Dies ist der Schwerpunkt dieses Buches.

Gründe für diese Untersuchung

Meine Forschungen zur Bildung zu Hause wurden durch zwei in enger Beziehung stehende Aspekte angeregt, die in den nächsten beiden Kapiteln im Einzelnen beschrieben werden. Der erste ergab sich aus der Bildungsforschung, der zweite aus Forschungen der Entwicklungspsychologie.

Der erste Aspekt entsprang meinem Interesse an individualisiertem Unterricht (Thomas, 1992). Eine mehr als zweitausend Jahre zurückreichende philosophische Überzeugung besagt, dass die Begegnung der Gedankenwelten zweier Menschen grundlegend für jeden pädagogischen Prozess ist. Von Rousseau, John Dewey, dem „Child-Study-Movement“3 und dem Plowden-Report bestätigt, beherrschte diese Überzeugung bis vor kurzem die Überlegungen zur Bildung und die Lehrerausbildung. Obgleich sich viele Lehrer dieser Überzeugung anschlossen, wurde die offenkundige Unmöglichkeit, Kinder im Klassenverband individuell zu unterrichten, letztlich in den 1980er Jahren belegt (Bennett et al, 1984; Galton, Simon and Croll, 1980).

Obwohl Kinder in der Schule nicht individuell unterrichtet werden können, hält sich die Überzeugung, dass es so sein sollte. In Schulleitbildern wird regelmäßig phrasenhaft auf die Berücksichtigung der individuellen Bedürfnisse des Kindes verwiesen. Hochschullehrer schüren diese Phrasendrescherei in Büchern zur Lehrerausbildung. Hier eines von zahlreichen Beispielen:

Jeder Lerner hat einzigartige Merkmale und Lernprobleme. Eine der Hauptaufgaben des Lehrers ist es, diese Merkmale und Probleme zu erkennen (Diagnose) und angemessene Lernbedingungen zu schaffen (Behandlung), die es dem Einzelnen ermöglichen, den geforderten Kenntnisstand zu erreichen.

(Child, 1985, S. 22)

Dieses fruchtlose Bemühen, den Schulunterricht zu individualisieren, wäre unnötig, wenn andere Unterrichtsmethoden zufriedenstellende Ergebnisse brächten. Es wurden enorme Anstrengungen unternommen, den Schulunterricht und dadurch die Schulleistungen zu verbessern. Diese wurden durch Forschungen in beeindruckendem Umfang begleitet. All dies zeigte wenig erkennbare Auswirkungen auf die Qualität der Bildung. Althergebrachte Methoden, basierend auf Disziplin in Verbindung mit harter Arbeit, oder, in zeitgemäßer Formulierung, „guter Klassenführung“ verbunden mit größtmöglicher Schüleraktivität und Konzentration auf die Sache, wurden bisher noch nicht überwunden. Einige Forscher kamen, wenn auch widerwillig, zu dem Schluss, solche Methoden könnten für die Schule die optimale Pädagogik darstellen und es seien keine wesentlichen Verbesserungen zu erwarten ... es sei denn, es würde den Lehrern irgendwie ermöglicht, auf die Kinder einzeln einzugehen (Bennett and Desforges, 1985; Wells, 1986). Aber nicht ein einziger Experte oder Hochschullehrer hat einen Vorschlag, wie das erreicht werden könnte.

Tatsächlich ist trotz nahezu einem Jahrhundert des Interesses an individualisiertem Unterricht nahezu nichts über die praktische Umsetzung bekannt; jedenfalls nicht im Hinblick auf Kinder im Schulalter, ganz einfach weil dies in Schulen nicht in auch nur annähernd bedeutsamem Umfang untersucht werden kann. Die einzige Möglichkeit mehr herauszufinden, ist, sich zu Hause lernenden Kindern zuzuwenden.

Der zweite Aspekt betrifft eher informelle und zufällige Anteile des individualisierten Lernens und Lehrens, die vor allem bei Unterhaltungen mit einem Erwachsenen auftreten (Thomas, 1994). Mit diesem Aspekt des Lernens machte ich Bekanntschaft, als ich mich zum ersten Mal mit einer Familie traf, die mich eingeladen hatte eine Woche ihres Alltagslebens mit ihnen zu verbringen.

Das Beeindruckendste während dieser Woche war für mich, dass zumindest an der Oberfläche nicht viel zu passieren schien, insbesondere im Vergleich mit dem Eindruck der entschlossenen Geschäftigkeit, den man beim Blick in ein übliches Klassenzimmer bekommt. Es gab weder einen Stundenplan noch ein gestaltetes Programm aufeinander folgender Lernaktivitäten im Rahmen eines aufgestellten Lehrplans. Wir machten Spaziergänge. Die zwei Kinder im Alter von 11 und 13 Jahren lasen jedenfalls sehr viel. Sie verbrachten einige Zeit damit, an eigenen Projekten zu arbeiten. Es fanden unterschiedliche auswärtige Aktivitäten statt, einschließlich Übungen in einer Musikgruppe. Eines der Kinder machte ein Projekt über Säuglingsentwicklung und half einer Nachbarin bei der Versorgung ihres Neugeborenen. Sie trafen sich nach der Schule mit Freunden und eines der Kinder beteiligte sich an einem Musikfestival einer Schule. Jedenfalls beschäftigten sie sich nicht in der Weise mit Lernen, wie es Schulkinder tun. Dennoch lernten diese Kinder, wenn auch nicht in der von mir erwarteten Art des organisierten, individualisierten Unterrichts. Am meisten begeisterte mich während dieser Woche die andauernde Gelegenheit zu informellem Lernen, vor allem während der oft zufälligen Unterhaltungen. Ob beim Spaziergang, am Küchentisch, bei irgendeiner anderen Beschäftigung wie Malen, Basteln, Projektarbeit, Essen, Auto fahren oder sogar Lesen, es gab eine unglaubliche Menge an spontanen, zufälligen Gesprächen. Beispielsweise saßen wir eines Tages alle um den Küchentisch, jeder mit seiner eigenen Tätigkeit beschäftigt. Verschiedene Gesprächsthemen kamen auf, teilweise mit Bezug auf unsere Tätigkeiten, aber ebenso oft ohne. Unter anderem sprachen wir über Sklaverei, Nelson Mandela, Salzwasser-Krokodile, den Grundwasserstand ... und über die Frage, ob jemand in den Laden gehen solle um Krapfen zu holen. Die Kinder sahen darin vermutlich nicht mehr als einen gesellschaftlichen Schwatz. Aber ich machte mir Gedanken darüber, inwieweit diese Art des zufälligen Lernens zu ihrer Allgemeinbildung beitragen würde. Jedenfalls machten sie eindeutig Fortschritte. Inzwischen haben beide an Kursen zur Weiterbildung und Erwachsenenbildung teilgenommen und haben erfolgreich staatliche Prüfungen abgelegt.

In der Schule haben Kinder selten Gelegenheit zu solchen möglicherweise bereichernden Unterhaltungen mit Erwachsenen. Obwohl die Kinder mit denen ich zusammen war 11 und 13 Jahre alt waren, fühlte ich mich deutlich an die Art erinnert, wie alle Kinder lernen bevor sie zur Schule gehen. Diese wurde in der berühmten Forschungsarbeit von Tizard und Hughes (1984) mit drei- und vierjährigen Kindern beispielhaft dargestellt.

Während der ersten Lebensjahre lernen Kinder enorm viel ohne bewusst unterrichtet zu werden, das meiste davon durch alltägliche, informelle Gespräche. Wir unterrichten Kinder nicht absichtlich oder bewusst im Sprechen, dennoch lernen sie die hoch komplizierte Struktur der Sprache. Kinder können informell zwei oder sogar drei Sprachen gleichzeitig erwerben. Ebenso nehmen Kinder, bevor sie zur Schule gehen, grundlegende Rechen- und Lesefähigkeiten auf. Sie lernen das Zählen, das Grundkonzept der Addition und Subtraktion, das Erkennen von Buchstaben und andere Grundlagen des Lesens. Sie erwerben auch eine enorme Menge an Allgemeinwissen. Es ist überraschend, wie viel Wissen wir schon von Schulanfängern erwarten. Und nahezu all dieses Lernen geschieht informell, in einer planlosen chaotischen Flut. Und dennoch verbinden sich diese Splitter und Bruchstücke irgendwie zu einer zusammenhängenden Kenntnis über die Kultur, in der das Kind aufwächst.

Eine weitere Anregung der Forschungsarbeit entspringt den Untersuchungen der vorschulischen Entwicklung hochbegabter und talentierter Kinder. Bloom (1985) und Howe (1990) zeigen auf, welche Rolle sowohl individualisierter Unterricht als auch informelles Lernen in Gesprächen bei merklich beschleunigter intellektueller Entwicklung und bei Hochbegabung spielen. Dabei ist hier nicht die Hochbegabung an sich von Interesse. Nur wenige Eltern von Kindern, deren Bildung zu Hause stattfindet, sind daran interessiert, ihre Kinder besonders zu fördern oder zu Wunderkindern zu machen. Allerdings machen einige Kinder, die zu Hause lernen, erstaunliche Fortschritte. Für diese Untersuchung sind die Stärken dieser Pädagogik und ihr möglicher Beitrag zur intellektuellen Entwicklung nach Erreichen des Schuleintrittsalters von Interesse.

Gegenstand dieses Buches

Die oben kurz zusammengefassten theoretischen Grundlagen werden in den Kapiteln 2 und 3 in Einzelheiten erläutert. Kapitel 4 zeigt den Hintergrund der Untersuchung indem die Gründe der Eltern für die Entscheidung für Bildung zu Hause beschrieben werden. Der Schwerpunkt der Untersuchung, Kapitel 5 bis 9, beschäftigt sich damit, wie sie diese Auf-gabe angehen.

Obwohl die Formen der Bildung zu Hause bei verschiedenen Eltern sehr unterschiedlich sind, sich oft sogar bei verschiedenen Kindern innerhalb einer Familie unterscheiden, gibt es etwas, das fast allen gemeinsam ist: Ihre Vorgehensweise wird im Lauf der Zeit weniger formell. Die Begriffe „formell“ und „informell“ werden hier nicht, wie üblicherweise in der Schule, verwendet, um verschiedene Unterrichtsmethoden zu unterscheiden. Ich verwende den Begriff „formell“ nur, um auf die Tatsache hinzuweisen, dass Schulunterricht formal organisiert ist, mit einem vorab festgelegten Lehrplan, sorgfältig in aufeinander aufbauende Abschnitte unterteilt, bewertet, in einem strukturierten Rahmen unterrichtet und mit einem Schwerpunkt auf schriftlichen Arbeiten als Nachweis des Lernens. Das ist das, was die meisten Menschen, einschließlich der Fachleute und der Eltern, beim ersten Kennenlernen von Bildung zu Hause erwarten. Sie kennen nichts anderes.

Selbst ein eher formeller, strukturierter Ansatz zu Unterricht und Lernen zu Hause, wie in Kapitel 5 beschrieben, stellt sich aber als sehr unterschiedlich zur Schule heraus. Der wesentliche Unterschied ist, dass auftretende Fragen oder Probleme sofort in der notwendigen Ausführlichkeit behandelt werden können, weil es sich um eine Eins-zu-Eins-Situation handelt, in der ein Elternteil mehr oder weniger ständig zur Verfügung steht. Folglich wird Lernen zu einem kontinuierlichen Vorgang mit sehr wenigen Fehlern und den sie begleitenden Gefühlen des Versagens.

Kapitel 6 beschreibt, wie Eltern ihre ursprünglich formelleren Ansätze allmählich anpassen, teilweise beeinflusst durch den Widerstand ihrer Kinder gegen „Unterricht“, schulübliche Übungsaufgaben und direkte Belehrung. Einige Eltern stellen fest, sie müssten ihren eher formellen, strukturierten Ansatz nur wenig ändern. Einige verzichten völlig auf formellen Unterricht und formelles Lernen. Die Mehrheit sucht einen Mittelweg, was angesichts der nicht überprüften Natur des informellen Lernens verständlich ist.

Kapitel 7 konzentriert sich auf informelles Lernen und zeigt, wie es als eine Fortführung des Lernens in der frühen Kindheit verstanden werden kann; eher ein durch alltägliche Lebenserfahrung eintretender geistiger Prozess der Osmose als ein Ergebnis bewussten Belehrens. Die Aufgabe der Eltern ist ebenso entscheidend wie bei stärker formellem Lehren und Lernen, möglicherweise in noch größerem Maß, denn es gibt keinen festgelegten Lehrplan, auf den man zurückgreifen könnte.

Kapitel 8 widmet sich gänzlich einem einzelnen Aspekt des informellen Lernens eines einzelnen Kindes und greift auf das von seiner Mutter sehr detailliert geführte Lerntagebuch zurück. Es zeigt bis in Einzelheiten, wie informelles Lernen tatsächlich zu merklichen Wissensfortschritten führt, sogar in einem so strukturierten Bereich wie der Mathematik.

Der weitaus größere Teil dieses Buches ist dem informellen Lernen gewidmet. Dies liegt daran, dass die Vermutung, Kinder könnten einfach durch das, was sie im Alltagsleben aufnehmen, ebenso schnell vorankommen wie Kinder in der Schule, sehr weit hergeholt erscheint. Eine solche Behauptung erfordert offensichtlich eine eingehende Behandlung.

Zu Beginn dieser Untersuchung hatte ich nicht damit gerechnet, dass ich dem in Kapitel 9 behandelten Lesen und Schreiben sehr viel Aufmerksamkeit widmen würde. Wie zu erwarten, verwenden Eltern, die ihrem Kind das Lesen beibringen, eine Vielfalt unterschiedlicher Methoden, zugeschnitten auf das einzelne Kind. Es ist aber bemerkenswert und ein guter Maßstab für den Erfolg des Leseunterrichts, dass zu Hause lernende Kinder in aller Regel begeisterte, oft unersättliche Leser werden. Am überraschendsten und wirklich verblüffend ist aber, dass eine maßgebliche Anzahl von Kindern erst sehr spät, im Alter zwischen 8 und 10 Jahren, Lesen lernt, was offensichtlich keine nachteiligen Auswirkungen hat.

Kapitel 10 behandelt den Hauptkritikpunkt, dem sich Eltern, deren Kinder zu Hause lernen, von Seiten der Verwandten, Freunde und Bekannten ausgesetzt sehen. Dieser betrifft erstaunlicherweise nicht die Lernfortschritte der Kinder oder die Lehrfähigkeit der nicht pädagogisch ausgebildeten Eltern. Sondern es geht darum, dass die Kinder wegen der fehlenden Kontakte zu Gleichaltrigen und der mangelnden Erfahrungen aus der Lebenswirklichkeit außerhalb der häuslichen Umgebung benachteiligt wären. Es steht außer Frage, dass die Möglichkeiten, sich mit Gleichaltrigen zu treffen, für zu Hause lernende Kinder eingeschränkt sind. Eltern sind sich dessen deutlich bewusst und unternehmen große Anstrengungen, dies auszugleichen. Wenn sie aber ihre Kinder aufwachsen sehen, offensichtlich normal und gesellschaftlich völlig ungezwungen, beginnen sie die allgemeine Ansicht, Schule sei für eine gesunde soziale Entwicklung notwendig, in Frage zu stellen. Manche gehen noch weiter und deuten an, es könnte gerade die Schule sein, die nicht die Lebenswirklichkeit darstellt. Sie weisen darauf hin, dass möglicherweise die institutionelle Struktur der Schule mit ihrer einschränkenden Gleichaltrigenkultur die gesunde soziale Entwicklung behindert oder gar zu Fehlentwicklungen führt.

Kapitel 11 stellt dar, was diese Untersuchung über zu Hause lernende Kinder zu unserem Verständnis des Lehrens und Lernens beitragen kann.

Die Familien

Wie oben beschrieben gibt es keine verlässlichen, von Schulbehörden oder anderen Organisationen geführten Aufzeichnungen über zu Hause lernende Kinder. Es ist deswegen unmöglich, eine repräsentative Auswahl von Familien zu treffen. Die Schwierigkeit wird noch dadurch gesteigert, dass viele Familien, deren Kinder zu Hause lernen, Bedenken gegenüber Außenstehenden haben. Sie haben im Allgemeinen unmittelbare Erfahrungen unangenehmer Begegnungen mit Vertretern der Schulbehörden oder Jugendämter oder sie haben zumindest davon gehört. Insbesondere von Eltern ohne eigene weiterführende Schulbildung bestehen auch Vorbehalte gegenüber Fachleuten und Forschern, die als Kontrolleure wahrgenommen werden (siehe Van Galen and Pitman, 1991; Webb, 1990).

Der Kontakt zu fast allen teilnehmenden Familien wurde durch Ansprechpartner unabhängiger Netzwerke für Bildung zu Hause in Australien (Tasmanien) und England (London und angrenzende Grafschaften) vermittelt. In einigen Fällen schlugen Teilnehmer weitere Familien vor und sprachen sie an, um uns den Zugang zu erleichtern. Es wurden keine religiös oder sonst wie ideologisch festgelegten Organisationen angesprochen. Einige Mitglieder solcher Gruppen nahmen aber an der Untersuchung teil, weil sie sich auch einem unabhängigen Netzwerk angeschlossen hatten. Die teilnehmenden Familien sind daher typischerweise solche mit bestimmten eigenen Gründen für Bildung zu Hause, darunter wenige die durch eine ideologische, meist religiöse Überzeugung dazu angeregt wurden.

Zu Hause lernende Kinder stehen einem Forscher nicht in engen, nach Alter geordneten Reihen und in passenden Gruppen von etwa 30 Personen zur Verfügung. Das außerordentlich mannigfaltige Wesen der Teilnehmer dieser Untersuchung erfordert einige Erläuterungen. Sie setzen sich aus Familien zusammen, in denen eines oder mehrere Kinder im schulpflichtigen Alter zu Hause lernten oder bis vor kurzem gelernt hatten. Die Eltern hatten zwischen einigen Monaten und etwa zwanzig Jahren Bildung zu Hause praktiziert. Es gab unter den Eltern auch eine Spannweite von solchen, die sich schon vor der Geburt der Kinder für Bildung zu Hause entschieden hatten, bis zu solchen, die nie auf diese Idee gekommen wären, wenn sich nicht die in der Schule auftretenden Probleme derart gesteigert hätten, dass ihnen gar keine andere Wahl mehr blieb. Einige Kinder hatten zeitweise in der Schule und zeitweise zu Hause gelernt. Einige der zu Hause lernenden Kinder hatten Geschwister in der Schule. Das Alter der Kinder reichte von 5 bis 17 Jahren.

Tabelle 1.1 bietet eine Übersicht mit grundlegenden Informationen über die 100 teilnehmenden Familien. Sie hat nur den Zweck, Hintergrundinformationen über diese Gruppe zu liefern. Zwei weitere Familien zogen sich zurück nachdem sie ursprünglich einer Teilnahme zugestimmt hatten, je eine vor und nach einem Erstgespräch.

Es ist deutlich, dass zumindest in diesen Familien Bildung zu Hause in erster Linie eine Tätigkeit der Frauen ist (vgl. Paterson, 1995). Nur wenige teilen sich die Aufgabe und nur in zwei Fällen ist hauptsächlich der Mann dafür verantwortlich. In einem Viertel bis einem Drittel der Familien hat ein Elternteil eine Lehrerausbildung, aber nicht unbedingt der für die Bildung zu Hause verantwortliche Elternteil. Knapp die Hälfte der Eltern hat keine höheren Bildungsabschlüsse. Ein Viertel der Familien hat zusätzlich zu den zu Hause lernenden Kindern noch Kinder in der Schule.

Tabelle 1.1 Merkmale der Familien

Australien

England

Gesamt

Anzahl der Familien

58

42

100

Verantwortliche Elternteile

weiblich

47

36

83

beide

11

4

15

männlich

0

2

2

Alleinerziehende (alle weiblich)

9

5

14

Bildungsniveau

Mindestens ein Lehrer unter den Eltern

16

13

29

Andere höhere Bildungsabschlüsse

12

11

23

Keine höheren Bildungsabschlüsse

30

18

48

Anzahl der zu Hause lernenden Kinder

Eines in der Familie

22

22

44

Zwei

16

14

30

Drei

7

4

11

Vier

10

1

11

Fünf oder mehr

4

0

4

Familien mit anderen, die Schule besuchenden Kindern

17

9

26

Alter und Geschlecht der Kinder

Männlich

Weiblich

Gesamt

bis 7

35

30

65

8 bis 10

43

28

71

11 bis 13

25

22

47

14 und älter

15

12

27

Kinder insgesamt

118

92

210

Die Untersuchung

Es handelt sich hier notwendigerweise um Grundlagenforschung. Über die Art, wie Eltern mit ihren Kindern an Bildung zu Hause herangehen, ist wenig bekannt. Auch über individualisierten Unterricht und informelles Lernen ist wenig bekannt. Der Zweck der Untersuchung ist, Einblicke in diese Aspekte des Lehrens und Lernens zu Hause zu erhalten. Daher ist eine qualitative Datenerhebung angemessen. Wie deutlich wird, erfüllt sie nahezu alle der folgenden Bedingungen, die in der von Cobb und Hagemaster (1987) aufgestellten Definition einer qualitativen Forschung enthalten sind:

der soziale Zusammenhang, in dem die Ereignisse auftreten und ihre Bedeutung gewinnen, wird beachtet;der Schwerpunkt liegt auf einem Verständnis aus der Sicht der Teilnehmer;der Ansatz ist im Wesentlichen induktiv;zu den Hauptuntersuchungsmethoden gehören Befragungen, Beobachtung der Teilnehmer, Auswertung persönlicher Aufzeichnungen;Verfahren und Werkzeuge zur Datenerfassung unterliegen der fortlaufenden Überprüfung und Anpassung an die vorgefundene Situation;Das Hauptinteresse gilt der Entdeckung und Beschreibung;Hypothesen werden meistens im Laufe der Untersuchung entwickelt, nicht schon vorab;Die Auswertung wird größtenteils eher in erzählender Form als mit Hilfe von Zahlen dargestellt.

Interviews

Es war der jeweiligen Familie überlassen, wer an den Interviews teilnahm. Der hauptsächlich für die alltägliche Bildung zu Hause verantwortliche Elternteil war immer dabei, gelegentlich auch ihr Partner/seine Partnerin oder ein anderer Verwandter oder Freund. Manchmal waren Kinder dabei oder in der Nähe und trugen dann teilweise auch zum Gespräch bei. Die Gespräche dauerten im Allgemeinen ein bis zwei Stunden. Den Eltern wurde vorher mitgeteilt, dass sie eine Ausfertigung der Gesprächsmitschrift bekämen, die sie nach ihren Wünschen ergänzen, bearbeiten, abändern oder kürzen dürften. Sie erhielten damit die Zusicherung, alles bei dem Gespräch Gesagte überdenken zu können und die Mitschrift mit ihren Partnern und/oder Kindern besprechen zu können. Dies bedeutete auch, dass sie sicher sein konnten, dass ihre Erfahrungen vollständig und genau wiedergegeben wurden. Im Übrigen führte dieses Verfahren nur zu geringen nachträglichen Änderungen. Einige Eltern änderten umgangssprachliche Formulierungen und Satzbauformen um die Mitschrift „druckreifer“ zu machen. Dies beeinträchtigte den von der gesprochenen Sprache übermittelten Eindruck der Unmittelbarkeit; von dem Verlust einiger sehr farbiger Ausdrücke gar nicht zu reden.

Ich führte alle Gespräche, wobei deren Ende meistens völlig unbestimmt war. Zuerst wurden die Eltern gefragt, was sie zu der Entscheidung für Bildung zu Hause geführt hatte. Abgesehen davon, dass dies zu einem harmonischen Verhältnis und einer entspannten Atmosphäre beitrug (alle Eltern berichten gerne hierüber), half es den Eltern auch, sich auf den Schwerpunkt der Gespräche auszurichten, nämlich die Frage wie ihre Kinder zu Hause lernen. Manche Eltern brauchten keine weiteren Impulse und berichteten detailliert wie sie an diese Aufgabe herangingen. Wenn nicht, wurden sie einfach gebeten, den Ablauf eines typischen Tages oder einer typischen Woche in Einzelheiten zu beschreiben, zu erläutern wie Lesen und Schreiben gelehrt wurden und sich entwickelten und über die sozialen Aspekte der Bildung zu Hause zu sprechen. Es muss erwähnt werden, dass dieser Ablauf erst etwa nach den ersten zwanzig Gesprächen zur Regel wurde. Ursprünglich sollten die Befragungen nur dazu dienen, eine angenehme Atmosphäre herzustellen um anschließend die Erlaubnis zur Beobachtung des Lernens zu Hause zu erbitten.

Eine Tonaufnahme der Gespräche wurde erwogen und hauptsächlich aus den nachfolgend erläuterten Gründen verworfen. Als erstes und wichtigstes ist eine Tonaufnahme zwar wesentlich wenn jedes einzelne Wort erfasst werden muss, sie ist aber weniger nützlich wenn man Informationen bekommen möchte, die auf gründlicher Überlegung basieren. Zweitens wirkt es hemmend, insbesondere für Menschen die, aus ihrer Sicht, aufgefordert wurden ihre Befähigung zur Bildung ihrer Kinder zu erläutern. Drittens entstehen, wenn Notizen gemacht werden, kurze Pausen während der Interviewer schreibt. Diese ermöglichen es, die Gedanken zu ordnen, sich zu besinnen und sich zu erinnern. In einigen Fällen wurden die Eltern gebeten, sich daran zu erinnern, was sie in den vorangegangenen Jahren gedacht und getan hatten. Viertens hätte es für die Eltern einen übermäßigen Zeitaufwand bedeutet, die Abschrift eines aufgezeichneten Gesprächs durchzuarbeiten. Die Gesprächsprotokolle wurden hinsichtlich der Grundthemen und gemeinsamer Ansätze ausgewertet. In einigen Fällen werden – ausgehend von der Grundannahme, dass alle diese Familien Pioniere sind, die in kreativer Weise herausfinden, was angesichts ihrer besonderen Umstände am besten funktioniert – individuelle Ansätze des Lehrens und Lernens beschrieben.

Beobachtungen

Ursprünglich war beabsichtigt, diese Untersuchung in Form einer Studie im kleinen Rahmen auf der Basis von Beobachtungen der Bildung zu Hause durchzuführen. Solche Beobachtungen fanden zu Beginn auch in einigen Fällen statt. Aber sie waren zu aufdringlich. Es ist nicht einfach, jemanden in der eigenen Küche sitzen zu haben, der einen beobachtet, wie man seine Kinder unterrichtet. Lehrer, besonders Anfänger, empfinden Beobachtungen als sehr anstrengend; Lehrproben sind höchst anstrengend und gefürchtet. Eltern, die tatsächlich das etablierte Bildungswesen in Frage stellen – obwohl nur wenige es so betrachten –, haben hinsichtlich einer Beobachtung noch mehr Bedenken. Dies bedeutet nicht, dass eine Beobachtung von Bildung zu Hause undenkbar wäre. Aber es würde eine auf lange Sicht angelegte Planung erfordern. Der Beobachter müsste mit jeder Familie eine beträchtliche Zeit verbringen um deren Vertrauen zu gewinnen und nicht zuletzt um das Lernen zu erfassen, das vom frühen Morgen bis in die späte Nacht stattfinden kann.

Der nächste Schritt war, Eltern stattdessen darum zu bitten, selbst Beispiele des Lernens ihrer Kinder aufzuzeichnen oder zu beschreiben. Von wenigen Ausnahmen abgesehen funktionierte auch das nicht. Teilweise weil den Eltern nicht klar war, was von ihnen erwartet wurde (trotz einer vorangehenden Besprechung und ausführlicher schriftlicher Hinweise) und teilweise weil es zu zeitaufwendig war.

Einige der aufgezeichneten Beobachtungen sind zur Verdeutlichung eingefügt. Nur eine Mutter empfand bei der Aufzeichnung des Lernens ihrer Tochter soviel Begeisterung, dass sie es über mehrere Jahre hinweg fortsetzte. Ein Teil ihres Berichts diente als Grundlage für die eingehende Analyse informellen Lernens in Kapitel 8.

1 A. d. Ü.: Die Originalausgabe dieses Buches erschien 1998. Inzwischen werden höhere Zahlen geschätzt. „Im Frühjahr 2003 wurde die Zahl der zu Hause unterrichteten Schüler in den Vereinigten Staaten auf 1.096.000 geschätzt. Dies stellt gegenüber der für Frühjahr 1999 geschätzten Zahl von 850.000 Schülern eine Zunahme von 29% dar. Weiter wuchs der geschätzte Anteil der zu Hause unterrichteten Schüler von 1,7% in 1999 auf 2,2% in 2003.“ (Princiotta, D. and Bielick, S. (2006). Homeschooling in the United States: 2003, (NCES 2006-042) U.S. Department of Education. National Center for Education Statistics, Washington, DC: 2005.)

2 A. d. Ü.: Für das Vereinigte Königreich schätzte Fortune-Wood die Zahl für 2005 auf etwa 45.000 (±10.000) Kinder, was 0,55% der Schüler entspricht. (Fortune-Wood, M. The Face of Home-based Education 2: Numbers, Support, Special Needs; Educational Heretics Press 2006, Seiten 3 u. 4).

3 A. d. Ü.: Mitte der 1920er Jahre schufen wohlhabende amerikanische Familien Fonds für Fachbereiche „Kindliche Entwicklung“ an amerikanischen Hochschulen. Dies führte zu einem Jahrzehnt bedeutender Forschung, die das Fundament für das derzeitige Verständnis der kindlichen Entwicklung und Früherziehung legten. Diese Zeit ist als „Child-Study-Movement“ bekannt.

2. Theoretischer Hintergrund, Teil I: Individualisierter Unterricht1

Jeder einzelne Mensch hat einen einzigartigen und sehr vielschichtigen Verstand. Nur aufgrund eines zielgerichteten Gesprächs kann ein Lehrer (Elternteil, Mentor, usw.) sicher sein den Lerner bei seinem Wissensstand abzuholen, sich dessen bewusst sein was aus Sicht des Lerners gelernt werden soll, die Fortschritte im Verständnis beobachten, Schwierigkeiten bei ihrem Auftreten behandeln und den Unterricht fortlaufend an die Fortschritte in der Bewältigung, im Verständnis und in der Erkenntnis anpassen und mit diesen in Einklang bringen.

Sokrates war vermutlich der erste Lehrer, von dem schriftlich belegt ist, dass er durch Gespräche mit jedem einzelnen seiner Studenten lehrte. Die sokratische Methode erfordert Fragestellungen, wobei jede Frage von der Antwort auf die vorige abhängt. Der römische Philosoph Quintilian war einer der ersten, der auf individuelle Unterschiede aufmerksam machte:

Der geschickte Lehrer wird, wenn ein Schüler seiner Sorge überantwortet wurde, zunächst versuchen, dessen Fähigkeiten und Begabungen zu entdecken [und wird] dann beobachten, wie mit dem Verstand des Schülers umzugehen ist ... denn in dieser Hinsicht gibt es eine unglaubliche Vielfalt, die Erscheinungsformen des Verstandes sind ebenso zahlreich wie die des Körpers.

(In: Lawrence, 1970. S. 43)

Dieser einfache Gedanke, dass der entscheidende Punkt des Lehrens die Berücksichtigung der individuellen Unterschiede und die dynamische Wechselwirkung zwischen Lehrer und Lerner ist, wurde seither von Philosophen und Pädagogen ständig wiederholt. Selbst der überzeugte Empiriker John Locke erklärte:

Der Verstand jedes Menschen hat seine Eigentümlichkeiten, ebenso wie sein Gesicht, die ihn von allen anderen unterscheiden und es gibt wohl kaum zwei Kinder, die nach exakt derselben Methode geleitet werden können.

(In: Sheasgreen, 1970, S. 73)

Rousseau wird im Allgemeinen als der einflussreichste Vertreter des individualisierten Lehrens angesehen:

Jeder Verstand hat eine eigene Gestalt und muss in Übereinstimmung mit dieser geleitet werden; und für den Erfolg der Bemühungen des Lehrers ist es entscheidend, dass er in Übereinstimmung mit dieser Gestalt und keiner anderen geleitet wird. Ich kann gar nicht zu stark darauf drängen, dass der Lehrende die Lernumstände den Fähigkeiten seines Schülers anpasst.

(In: Lawrence, 1970, S. 158)

John Dewey, der Begründer der modernen Bildungsphilosophie, folgte entschieden dieser Tradition.

Ohne Einsicht in die psychologischen Strukturen und Aktivitäten des Individuums ist daher jeder Bildungsprozess planlos und willkürlich.

(In: Dworkin, 1959, S. 20)

Hier bezog sich Dewey auf Entwicklungen in der vorherrschenden Psychologie des späten neunzehnten und frühen zwanzigsten Jahrhunderts, insbesondere auf Forschungen zu individuellen Unterschieden in Auffassungsgabe, Motivation, Fähigkeiten und Begabungen. Er ging sogar noch weiter:

Der Lehrer muss auf jeglichen körperlichen Ausdruck des geistigen Zustandes achten – Verwirrung, Langeweile, Können, Aufkommen einer Idee, Vortäuschen von Aufmerksamkeit, Tendenz zum „Abschalten“, Neigung zur Dominanz in einer Diskussion wegen Ichbezogenheit, usw. – und muss ebenso empfänglich für die Bedeutung jeder sprachlichen Äußerung sein. Er muss sich nicht nur deren Bedeutung bewusst sein, sondern auch ihrer Bedeutsamkeit als Hinweis auf den geistigen Zustand des Schülers und seinen Grad an Aufmerksamkeit und Verständnis.

(Dewey, 1933, S. 274)

Dewey unterschied sich von früheren Philosophen durch seinen Versuch, seine pädagogische Überzeugung in die Praxis umzusetzen. Allerdings war die Schule, in der das geschah, sehr außergewöhnlich und hatte wenig mit den damals – oder bis heute – üblichen Schulen gemeinsam. Deweys Schule befand sich auf dem Gelände der Universität von Chicago und wurde hauptsächlich von Kindern der akademischen Mitarbeiter besucht. Dort waren 140 Kinder, die von 25 Vollzeit-Lehrkräften, 10 Teilzeit-Assistenten und zweifellos zahlreichen graduierten Universitätsstudenten unterrichtet wurden (Garforth, 1966). Deweys Philosophie wurde dort in die Praxis umgesetzt:

Durch kleine Schülergruppen und eine hohe Anzahl von Lehrern wird die individuelle Aufmerksamkeit sichergestellt (ibid. S. 65) ... Es wird erwartet, dass der Lehrer auf die besonderen Stärken und Schwächen jedes einzelnen Kindes achtet, damit die individuellen Fähigkeiten zur Entfaltung gebracht und die individuellen Schwächen überwunden werden. (S. 74)

Wir haben insoweit also eine klare, auf individualisiertem Unterricht basierende Bildungsphilosophie, die aber nur durch die Betreuer der Kinder von Wohlhabenden und durch Lehrer an ausnehmend gut ausgestatteten Schulen wie Deweys in die Praxis umgesetzt werden kann.

Versuche zur Individualisierung des Schulunterrichts

Schulunterricht bestand von Beginn an, mit wenigen Ausnahmen, aus Auswendiglernen und Drill. Dies entsprach dem Lehrplan, der im Wesentlichen das Auswendiglernen der Klassiker und der Heiligen Schrift vorsah. Auch wenn Philosophen das individuelle Lehren befürworteten, gab es nur wenige Schulen, die es umsetzten oder umsetzen mussten. Sich dem einzelnen Kind anzupassen hatte wenig Sinn. Bei der Entwicklung der allgemeinen institutionellen Bildung im neunzehnten Jahrhundert wurde diese Tradition fortgesetzt – mit der Einschränkung, dass selbst bei diesen Methoden streng darauf geachtet wurde den Umfang des Wissens zu begrenzen.

Bei der Bildung der unteren Schichten mussten die gesellschaftlich Höhergestellten sicherstellen, dass Art und Inhalte der angebotenen Bildung sorgfältig kontrolliert wurden ... die intellektuelle Bildung musste deswegen der Steuerung der Gedanken und Verhaltensweisen der Kinder durch die Lehren und Grundsätze der Religion untergeordnet werden.

(Hurt, 1979, S. 112)

Die angewandten Unterrichtsmethoden verwirklichten die ursprünglichen Ziele der Allgemeinbildung in bewundernswerter Weise. Theorie und Praxis befanden sich in guter Übereinstimmung. Zum Ende des neunzehnten Jahrhunderts hin gab es jedoch zunehmenden Druck von Eltern und Politik hinsichtlich einer besseren Bildung für alle Kinder. Unter dem Einfluss von Autoren wie Dewey und dem im Child-Study-Movement verkörperten aufkommenden psychologischen Interesse an Kindern drängten zahlreiche Pädagogen auf radikale Änderungen des Lehrplans und der Pädagogik. Edmund Holmes, ein königlicher Schulinspektor, beklagte in einem sehr einflussreichen, nach seiner Pensionierung geschriebenen Buch „What Is and What Might Be“ („Was ist und was sein könnte“) die alles durchdringende Plackerei in den von ihm besuchten Schulen (Holmes, 1919).

Dewey und seine Schüler begründeten eine neue, auf einem viel weiter gefächerten Lehrplan und auf individualisiertem Unterricht beruhende Philosophie der Pädagogik. Die Ausweitung des Lehrplans bereitete kaum Schwierigkeiten. Aber niemand hatte einen Vorschlag, wie Kinder in Klassen mit über 30 Schülern von einem einzelnen Lehrer individuell unterrichtet werden könnten. Dennoch waren die Vertreter des individualisierten Unterrichts sehr überzeugend. Das 1927 von der Regierung herausge-gebene „Handbook of Suggestions for Teachers“ („Handbuch der Vorschläge für Lehrer“) macht dies deutlich:

Das charakteristische Kennzeichen der aktuellen pädagogischen Lehre und Praxis ist das Beharren darauf, neben der Klasse als Ganzes auch den einzelnen Schüler wahrzunehmen.

(Board of Education, 1927, S. 53)

Das Ergebnis war, dass Generationen von Lehrern zur Individualisierung ihres Unterrichts angehalten wurden. Im Plowden-Report (1967) wurde ausdrücklich betont:

Die individuellen Unterschiede zwischen Kindern desselben Alters sind so groß, dass jede Klasse, wie homogen sie auch erscheinen mag, immer als Gruppe einzelner Kindern behandelt werden muss, von denen jedes individuelle und unterschiedliche Aufmerksamkeit verlangt. (S. 25)

In dem Bericht wurde eingeräumt, die Ansprüche an die Lehrer seien „erschreckend hoch“ (S. 311), Lehrer seien aber in der Lage damit zurechtzukommen, wenn sie Einzelarbeit, Gruppenarbeit und Frontalunterricht kombinierten und ihre Kenntnisse über die einzelnen Kinder durch Gespräche mit deren Eltern ergänzten. Die Autoren des Berichts behaupteten – ohne die geringste Spur eines Nachweises – dies könne erreicht werden, wenn die Klassengröße 30 nicht überschreite.

Die jahrzehntelang praktizierte Lehrerausbildung wurde durch den Plowden-Report offiziell bestätigt – obwohl angehende Lehrer als allererstes das dort Gelernte aufgeben und stattdessen die Disziplinierungs-, Führungs- und Frontalunterrichts-Fähigkeiten erwerben, die die Schulwirklichkeit erfordert.

Die ORACLE-Studie, die erste groß angelegte empirische Untersuchung des Grundschulunterrichts, wurde durchgeführt um herauszufinden inwieweit die Vorgaben des Plowden-Reports in die Praxis umgesetzt worden waren (Galton et al., 1980). Es wurde festgestellt, dass die Lehrer ihren Unterricht tatsächlich individualisiert hatten – aber nicht wie im Plowden-Report vorgeschlagen. Es gab sehr viel Interaktion mit einzelnen Schülern, aus Sicht des Lehrers war der Unterricht also individualisiert. Dennoch erhielt jeder einzelne Schüler nur sehr wenig individuelle Aufmerksamkeit, im Durchschnitt etwa 2,3% der Unterrichtszeit, und selbst dabei ging es zum weit überwiegenden Teil um Sachinformationen und um Organisation (S. 157). Ein großer Teil des Lernens war individualisiert, aber nur in dem Sinn, dass die Schüler drei Viertel der Unterrichtszeit mit eigenständiger Arbeit in ihrem eigenen Tempo zubrachten. Die fragend-entdeckende Art des Lernens, wobei der Lehrer im Sinne des Sondierens, Nachfragens und Leitens mit einzelnen Kindern in Interaktion tritt, fand sich paradoxerweise nur beim Frontalunterricht.

In dieser Situation muss die Lehrerin ihre Gedanken und ihre Tätigkeit nicht auf die Überwachung von dreißig individualisierten Aufgaben konzentrieren, sondern auf das eine, gerade zur Diskussion stehende Thema. (S. 158)

Bennett et al. (1984) unternahmen eingehende Analysen der Lehrer-Schüler-Interaktion, ergänzt durch Befragungen von Lehrern und Schülern, und kamen zu weitgehend übereinstimmenden Ergebnissen. Sie fanden heraus, dass Lehrer, sogar erfahrene und „überdurchschnittliche“ Lehrer, die sich dem individualisierten Unterricht verschrieben hatten, dies nicht so umsetzten, wie Dewey oder Plowden es sich vorgestellt hatten. Sie bemerkten, dass in Schulen für Fünf- bis Siebenjährige („upper infant school“) weniger als die Hälfte der den Schülern zugeteilten Aufgaben deren Fähigkeiten angemessen war. Wenn die Lehrer wirklich individuell auf die einzelnen Schüler eingingen, wäre dies höchst unwahrscheinlich. Darüber hinaus verschlechterte sich der Anteil der angemessenen Aufgaben noch weiter, nachdem die Kinder in Schulen für Sieben- bis Elfjährige („junior school“) aufgestiegen waren. Dort waren weniger als ein Drittel der Aufgaben angemessen.

Wie die Autoren ausführten, muss diese Unangemessenheit eine Folge unzureichender Diagnose sein.

Die Lehrer stellten keine Diagnosen. Sie reagierten eher auf das Ergebnis der vom Schüler bearbeiteten Aufgaben als auf die vom Schüler eingesetzten Herangehensweisen und Strategien. Daher waren eher technische Inhalte wie Zählen oder Buchstabieren vorherrschend gegenüber der Diagnose der besonderen Probleme des Kindes. (S. 217)

Die Forscher schulten daraufhin die Lehrer in der Anwendung von Methoden zur individuellen Diagnose. Auch dann waren die Lehrer nicht in der Lage, das Gelernte in die Praxis umzusetzen. Den Autoren zufolge war der (schlichtweg augenfällige) Grund die Tatsache, dass die Einschränkungen des Schulunterrichts eine solch eingehende Zuwendung zu jedem einzelnen Kind nicht zuließen.

Seither gab es zahlreiche Bemühungen, zu begreifen wie Kinder Lernaufgaben angehen und welche Strategien sie bei ihrer Bewältigung anwenden. Diese Bemühungen liefern zwar interessante Einsichten in individuelle Lernprozesse, unterstreichen aber nur die Sinnlosigkeit der Versuche, den Lernprozessen in der herkömmlichen Schulsituation gerecht zu werden. Hier ein Beispiel, das die erste Voraussetzung individualisierten Unterrichts erfüllt – dem Lerner konzentriert zuzuhören. Ein elfjähriger Junge war ermuntert worden, über eine von der Prüfungsabteilung gestellte Aufgabe zu sprechen. Die Forscher versuchten herauszufinden, warum die Schüler mit bestimmten Aufgaben Schwierigkeiten hatten (Joffe und Foxman, 1989).

Jason (liest die Aufgabe laut vor): ‚Ordne diese Dezimalzahlen der Größe nach; beginne mit der kleinsten: 0,064 ; 0,35 ; 0,64 ; 1,1 [sagt die Zahlen] Null Komma Null Sechs Vier, Null Komma Drei Fünf, Null Komma Sechs Vier, Eins Komma Eins. Das sieht erstmal ziemlich knifflig aus ... es sieht nach einer Fangfrage aus, ist es aber nicht; glaub ich nicht, denn 1,1 kommt als Erste weil sie am Anfang eine Eins statt einer Null hat; deswegen ist sie am größten, ich mach es nämlich abwärts. Dann als Zweite ... die Zweite ist für mich ziemlich schwierig. Ich glaube sie kommen beide gemeinsam an zweiter Stelle, denn da sind 0,64 und 0,064 und ich glaube nicht, dass diese erste Null nach dem Komma wirklich etwas zu bedeuten hat ... Ich glaube sie kommen auf denselben Platz ... Aber ich glaub doch dass diese Null bedeuten könnte, dass von einem Teil nichts da ist, sozusagen ein bisschen niedriger als 0,64 ... also gebe ich mal als Antwort sie kommen beide gemeinsam auf den zweiten Platz und als letztes käme 0,35 denn das ist niedriger als 0,64 und 1,1.‘ (S. 20)

Die Autoren zitieren dieses Beispiel um deutlich zu machen, dass es grundlegend wichtig ist, die Erkenntnisse des Lerners bei der Bearbeitung der Aufgabe wahrzunehmen, wenn Pädagogik überhaupt einen Sinn haben soll. Der nächste Schritt ist selbstverständlich dass der Zuhörer Jason in ein Gespräch darüber verwickelt, wie man es noch versuchen könnte und wie man am besten vorankommt. Das ist das wirklich pädagogische Element. Angesichts dieses und weiterer Beispiele aus ihren Untersuchungen bringen Joffe und Foxman treffend vor, dass umfangreichere Gespräche zwischen den einzelnen Schülern und dem Lehrer grundlegend für jede echte Verbesserung der Lernqualität sind. Was sie nicht liefern, ist ein Vorschlag, wie das in der Schule erreicht werden könnte. Tatsächlich werden Jasons Schwierigkeiten nur deswegen klar, weil jemand zur Verfügung steht, an den keine Anforderungen hinsichtlich der Klassenführung gestellt werden.

Bennett et al. (1984) beschreiben und analysieren ausführlich (über drei Seiten) die Probleme, die ein einzelnes Kind, Helen, mit dem Wechselgeld beim Einkaufen hatte. Der Lehrer verstand Helens Problem teilweise, hatte aber nicht genug Zeit, es weiterzuverfolgen. Der Forscher, der Helens Fortschritte beobachtete, sprach ausführlich mit ihr und ergründete wesentlich genauer, was ihr Schwierigkeiten bereitete. Dadurch wurde deutlich, dass Helen das Prinzip des Wechselgeldes verstanden hatte, aber irgendwie missverstanden hatte, was von ihr erwartet wurde. Obwohl Helens Problem jetzt deutlich war, blieb es immer noch ungelöst.

Rowland (1984), der selbst als Lehrer tätig ist, konnte ein Jahr lang mit einzelnen Kindern oder kleinen Gruppen arbeiten ... allerdings in der Klasse und dem Unterricht eines anderen Lehrers!

[Der Klassenlehrer] ... übernahm die Verantwortung für die Führung der Klasse, die Einhaltung des Lehrplans, die normalen Bewertungsverfahren und so weiter. Das gab mir die Möglichkeit, meine Aufmerksamkeit während des Unterrichts für einen erheblichen Zeitraum auf einzelne Kinder oder Gruppen zu konzentrieren. (S. 8)