Binti 3: Nachtmaskerade - Nnedi Okorafor - E-Book

Binti 3: Nachtmaskerade E-Book

Nnedi Okorafor

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Beschreibung

Der Abschluss der hochgelobten Science-Fiction-Trilogie, die in Nnedi Okorafors mit einem Hugo- und einem Nebula-Award ausgezeichneten BINTI ihren Anfang genommen hat. Im Glauben, der Konflikt mit den Medusen gehöre der Vergangenheit an, kehrt Binti auf ihren Heimatplaneten zurück. Doch das Volk der Khoush will die uralte Feindschaft mit den Medusen wieder aufleben lassen. Als der Konflikt ausbricht, ist Binti weit weg von zuhause. Sie eilt zurück, aber Wut und Abscheu haben bereits zu vielen ihrer Freunde das Leben gekostet.

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BINTI

NACHT

MASKERADE

Nnedi Okorafor

Ins Deutsche übertragen von

Claudia Kern

Ebenfalls bei Cross Cult:

LAGUNE

WER FÜRCHTET DEN TOD

DAS BUCH DES PHÖNIX

BINTI: ALLEIN

BINTI: HEIMAT

von Nnedi Okorafor

Die deutsche Ausgabe von BINTI: NACHTMASKERADE wird herausgegeben von Amigo Grafik, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Herausgeber: Andreas Mergenthaler und Hardy Hellstern,

Übersetzung: Claudia Kern; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde;

Lektorat: Kerstin Feuersänger; Korrektorat: André Piotrowski;

Satz: Rowan Rüster/Amigo Grafik; Umschlag-Artwork: Greg Ruth.

Titel der Originalausgabe:

BINTI: NIGHT MASQUERADE

Copyright © Nnedi Okorafor 2018. All rights reserved.

German translation copyright © 2018, by Amigo Grafik GbR.

ISBN 978-3-95981-655-7eISBN 978-3-95981-656-4

WWW.CROSS-CULT.DE

All denen gewidmet, die die Nachtmaskerade nicht sehensollten, sie aber trotzdem sehen. Mögen sie den Mut haben,dem Ruf des Abenteuers zu folgen.

Inhalt

Kapitel 1 AUSSERIRDISCHE

Kapitel 2 ORANGE

Kapitel 3 WENN ELEFANTEN KÄMPFEN

Kapitel 4 HEIMKEHR

Kapitel 5 HEIMGANG

Kapitel 6 MÄDCHEN

Kapitel 7 DIE WURZEL

Kapitel 8 IM ALL

Kapitel 9 WACH

Kapitel 10 DIE STEINE DES SATURN

Kapitel 11 NTU-NTU-KÄFER UND SONNENSCHEIN

Kapitel 12 PRÄSIDENTIN HARAS

Kapitel 13 UNTERSUCHUNG

Kapitel 14 GESTALTWANDLER

Kapitel 1

AUSSERIRDISCHE

Es begann mit einem Albtraum …

»Wir können immer noch nicht raus«, sagte mein verängstigter Vater zu mir. Sein Blick wirkte benommen, seine Augen zuckten. Er war unter der Erde. Wir waren im Keller der Wurzel, unserem Familiensitz. Alle waren da. Staubbedeckt und hustend wegen des Rauchs. Doch nur mein Vater sah mich an. Ich hörte, wie meine kleine Schwester Peraa heiser und mit verängstigter Stimme fragte: »Was ist denn mit Papa los? Was macht er da mit seinen Händen?«

Meine Perspektive änderte sich. Aus der Ferne sah ich, wie es geschah. Meine Familie war in dem Keller gefangen. Mein Vater, zwei Onkel, eine Tante, drei Schwestern, zwei Brüder. Auch einige Nachbarn waren dort. Wieso waren sie überhaupt in den Keller gegangen? Sie hockten zusammen in der Mitte des Raums, aneinandergeklammert, die Schleier um sich gewickelt, als könnten sie sich hinter ihnen verstecken. Tränen flossen durch ihr Otjize. Sie beteten und riefen mit ihren Astrolabien um Hilfe. Wassergrasbündel, Süßkartoffelhaufen, Säcke voller Kürbissamen, getrocknete Datteln und Gewürzbehälter lagen und standen in den Ecken. Rauch drang durch die faserige Decke des Kellers und durch die Wände. Die alte Sicherheitsdrohne, die schon nicht mehr funktioniert hatte, als ich geboren worden war, stand unter einer Bastmatte in einer Ecke.

»Wo ist Mama?«, fragte ich. Dann wiederholte ich die Frage fordernder. »Wo ist MAMA? Ich sehe sie hier nicht, Papa.«

»Aber die Wände werden uns schützen«, sagte mein Vater.

Ich fühlte den Druck seiner starken Hände, als er mich packte. Sie kamen mir nicht mehr arthritisch vor. »Die Wurzel ist die Wurzel. Uns wird nichts passieren. Bleib hier.« Er brachte sein Gesicht näher an meines heran, dann tauchten auf einmal die Worte vor meinen Augen auf. So rot wie Blut. »Weil sie dich suchen.«

»Wo ist Mama?«, fragte ich erneut. Dieses Mal wedelte ich mit den Händen in meinem Albtraum und setzte ungeschickt das Zinariya ein, die aktivierte außerirdische Technologie in meiner DNA.

Doch auf einmal war ich allein mit meinen Worten in der Dunkelheit. Sie schwebten in der Luft wie rote Wüstengeister. Wo ist Mama? Stattdessen hörte ich Hunderte Medusen in meinem Kopf klimpern. Die Vibrationen drangen tief in mein Fleisch ein. Gelächter. Wütendes Gelächter. Ich spürte auch Vorfreude. »Binti, wir werden dafür sorgen, dass sie das bereuen«, brummte eine Stimme auf Medusisch. Doch das war nicht Okwu. Wo war Okwu? …

Ich erwachte im Universum. Hier draußen in der Wüste war der Nachthimmel erfüllt von hellen Sternen. Er war fast so klar wie der, den ich auf meinem Flug von der Erde und zur Erde auf Dritter Fisch gesehen hatte. Ich starrte hörend und sehend nach oben. Harmonische Gleichungen wirbelten umher wie Rauch. Ich hatte im Schlaf verästelt. So schlimm war es also. Das hatte ich sogar auf Dritter Fisch, nachdem die Medusen alle anderen an Bord getötet hatten, nicht getan. Es bereitete mir so große Schwierigkeiten, mich an das Zinariya zu gewöhnen. Das war nicht nur ein Traum, in dem meine Familie vorkam, sondern auch eine Nachricht, die mir mit dem Zinariya meines Vaters überbracht worden war. Ich würde erst vollständig erwachen, wenn ich sie bekommen hatte. Mein Bewusstsein schützte mich vor dem Stress, indem es verästelte.

Mwinyi und ich hatten das Dorf vor einigen Stunden auf einem Kamel verlassen. Irgendwann hatten wir angehalten, um etwas zu essen. Ich hatte in dem Zelt gelegen, das Mwinyi für mich errichtet hatte, während er spazieren gegangen war. Ich war so erschöpft. Ich hatte Angst um meine Familie und war völlig überfordert. Meine gesamte Umgebung fühlte sich falsch an. In diesem Zustand einzuschlafen, war keine gute Idee gewesen.

»Nach Hause«, flüsterte ich und rieb mir das Gesicht. »Ich muss …« Ich starrte in den Himmel. »Was ist das?«

Einer der Sterne fiel auf mich zu. Das war wieder das Zinariya. »Hör auf«, sagte ich. »Es reicht.« Aber es hörte nicht auf. Nein. Der Stern kam immer näher. Er hatte mir mehr zu erzählen, ob ich das wollte oder nicht. Sein goldenes Licht dehnte sich aus, als er sich mir näherte, und zog mich so sehr in seinen Bann, dass ich nicht mehr verästelte. Als er nur noch wenige Meter von mir entfernt war, explodierte er und ließ funkelnden Regen auf mich herabfallen. Er fühlte sich wie die goldenen Beine einer riesigen Spinne an. Und dann brachte mich das Zinariya dazu, mich an Dinge zu erinnern, die mir nicht widerfahren waren.

Ich erinnerte mich an …

Kande spülte das Geschirr. Sie war erschöpft und hätte noch lernen müssen, aber ihre jüngeren Zwillingsbrüder hatten darauf bestanden, dass sie ihnen gerösteten Mais mit Erdnüssen machte. Und das dämliche Geschirr hatten sie auch stehen lassen. Wie sie etwas so Schweres so spät am Abend essen konnten, verstand Kande nicht, aber sie wusste, dass ihre Eltern nicht schimpfen würden. Deshalb waren die beiden Sechsjährigen auch so pummelig. Ihre Eltern schimpften nie mit den Zwillingen. Doch wenn Kande das Geschirr stehen ließ, würde das Ameisen anlocken. Die Nacht war schwül, deshalb wusste sie, dass es auch anderes Ungeziefer anlocken würde. Sie schüttelte sich; Kande hasste Käfer.

Sie spülte den letzten Teller und betrachtete einen Moment lang das leere Spülbecken. Sie trocknete sich die Hände ab und nahm ihr Handy. Es war schon elf Uhr. Wenn sie sich konzentrierte, konnte sie noch eine Stunde lernen und anschließend fünf Stunden schlafen. Es war ihr letztes Schuljahr an der Highschool, und sie war die Sechstbeste in ihrer Klasse. Sie wusste nicht, ob das reichte, um an der Universität von Ibadan angenommen zu werden, aber sie wollte es wenigstens versuchen.

Sie steckte das Handy in die Tasche ihres Rocks und schaltete das Licht aus. Dann trat sie in die Diele und lauschte einen Moment lang. Ihre Eltern sahen im Schlafzimmer fern, und das Licht im Zimmer ihrer Brüder war aus. Gut. Sie drehte sich um und ging auf Zehenspitzen zur Haustür, schloss sie auf und schlich sich nach draußen. Die Nacht war kühl, und sie konnte die weite Wüste jenseits der letzten Häuser im Dorf erkennen.

Kande lehnte sich an die Hauswand und zog eine Zigarettenschachtel aus der Rocktasche. Sie nahm eine Zigarette heraus, steckte sie sich zwischen die Lippen und nahm ein Streichholz aus der Tasche. Das zündete sie mit dem Daumennagel an und hielt es an die Zigarette. Sie atmete den Rauch ein, und als sie ihn ausstieß, kam es ihr so vor, als schwebten ihre Probleme mit ihm davon – das hässliche Gesicht des Mannes, mit dem sie laut ihren Eltern nun verlobt war, das Geld, das sie brauchte, um eine Uniform für die Schultanzgruppe zu kaufen, die Frage, ob Tanko sie noch liebte, obwohl sie nun verlobt war.

Sie zog erneut an der Zigarette und lächelte, als sie ausatmete. Ihr Vater wäre wütend geworden und hätte sie geschlagen, wenn er von ihrer schmutzigen Angewohnheit gewusst hätte. Ihre Mutter hätte geweint und gesagt, dass sie keinen Mann bekommen würde, wenn sie nicht endlich anfing, sich zu benehmen; außerdem sei sie zu alt, um zu rebellieren. Kande richtete den Blick auf die Wüste, während sie über all das nachdachte, und als sie die Gestalten sah, glaubte sie im ersten Moment, ihr Gehirn wolle sie damit von ihren dunklen Gedanken ablenken.

Sie waren nur noch ein Haus entfernt, als Kande ihre Erstarrung abschüttelte. Die Gestalten hatten sie gesehen, da war sie sich sicher. Sie waren groß, wie menschliche Palmen, aber kein bisschen menschlich. Und sogar im Mondlicht konnte Kande erkennen, dass sie golden leuchteten. Wie reines, glänzendes Gold. Kein bisschen menschlich. Aber sie hatten Beine. Und Arme. Köpfe. Waren lang und dünn wie Bäume. Sie gingen in der Dunkelheit langsam auf Kande zu. Niemand sonst war dumm genug, sich so spät am Abend draußen aufzuhalten. Nur sie.

Kande wusste es nicht, aber nun, da sie die Gestalten gesehen hatte, hing alles von den nächsten Momenten ab. Von ihrem Verhalten. Das Schicksal ihres Volks lag in ihren Händen. Sie starrte die Außerirdischen an, die sich auf eine bestimmte Weise bezeichneten, aber den Namen »Zinariya« (was »Gold« bedeutet), den ihnen die Menschen gegeben hatten, akzeptierten, und …

… ich fiel vom Baum. Mwinyi schüttelte mich. Sand und Staub prasselten auf mein Gesicht, als ich mich zu ihm umdrehte, und brachten mich zum Husten.

»Binti! Mach schon! Komm zurück!«

Im ersten Moment sah ich die Dinge, die mich umgaben, als Gleichungen, als Zahlen, die sich teilten und auflösten, wegfielen und rotierten. Alles war harmonisch. Mein Blick fokussierte sich auf seinen großen, schlaksigen Körper, seinen Kaftan und seine Hose, die so blau wie Okwu waren. Sie flatterten im sandigen Wind. Sandkörner wirbelten scheinbar chaotisch umher, doch jedes befand sich auf einer Flugbahn, die perfekt an die der Körner angepasst war, die es umgaben. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, zu mir zurückzufinden. Mein Mund war offen gewesen, und ich spuckte Sand aus.

Ich zuckte zusammen, als Wut mich packte wie die Druckwelle einer Explosion. Meine Familie!, dachte ich entsetzt. Meine Familie! Doch bevor ich das Mwinyi entgegenschreien konnte … sah ich Okwu hinter ihm schweben. Meine Augen weiteten sich, und mein Mund stand wieder offen. Dann verschwand Okwu. An seiner Stelle sah ich kleine Hunde mit rotem Fell. Sie liefen umher und warfen den Kopf mal zur einen, mal zur anderen Seite. Einer berührte mich schnüffelnd mit seiner kühlen schwarzen Nase. Er fiepte unmittelbar neben meinem Ohr. Die Hunde umkreisten uns, aber wegen des Sandsturms konnte ich keine zwei Meter weit sehen, wusste also nicht, wie viele es waren. Unser Kamel Rakumi brüllte verängstigt. Mwinyi versuchte verzweifelt, mich mit dem Zinariya zu erreichen, und vor meinen Augen entstanden auf einmal Worte.

Sie schwebten leuchtend grün vor mir. Sandsturm. Hunderudel. Bleib ruhig. Nimm Rakumis Sattel, Binti.

Ich folge anderen normalerweise nicht einfach, aber manchmal hat man keine Wahl. Und so unterwarf ich mich erneut. Dieses Mal Mwinyi, einem Jungen, den ich erst seit ein paar Tagen kannte und der zu einem Volk gehörte, das ich mein Leben lang für barbarisch gehalten hatte. Doch nun wusste ich, dass dies das Volk meines Vaters war, mein Volk.

Ich zerbrach immer mehr, und mit dieser Erkenntnis folgte ich Mwinyi. Er führte uns aus dem Sandsturm.

Die Sonne brach durch die Wolken.

Der Staub verschwand aus der Luft.

Der Sturm lag hinter uns.

Ich seufzte erleichtert. Dann legte sich das Gewicht der plötzlichen Stille so schwer auf meine Schultern, dass ich neben den Hufen unseres Kamels Rakumi zu Boden sank. Ich drückte meine Wange in den Sand und bemerkte überrascht, wie warm er war. Ich lag da und sah zu, wie sich der Sandsturm zurückzog. Er sah wie eine große braune Bestie aus, die sich entschieden hatte, uns zu verschonen. Doch in Wirklichkeit war er nur zufällig in eine andere Richtung gezogen. Donnernd, brausend und wirbelnd raste er dorthin, woher wir gekommen waren. Auf das Dorf der Enyi Zinariya zu. Weg von meiner sterbenden, vielleicht schon toten Familie.

Erschöpft hob ich die Hände und tippte mit ihnen langsam Buchstaben in die Luft. Die Namen meines Vaters. Moaoogo Dambu Kaipka Okechukwu. Ich versuchte, die Nachricht zu senden, aber das ging nicht. Ich drehte den Kopf zur Seite und spürte, wie sich die Sandkörner an meinen mit Otjize bedeckten Okuoko rieben – die blauen Tentakel, an denen süßlich riechender roter Lehm und nun auch Sand klebte. Ich versuchte, Okwu zu erreichen. Ihn mit meinem Geist zu berühren so wie vor einigen Tagen. Wieder nichts.

Dann schluchzte ich, weil die Welt sich auf einmal wieder ausdehnte, so wie sie es ständig tat, seit wir die Höhle der Ariya vor einem Tag verlassen hatten. Es kam mir so vor, als würde alles immer größer, obwohl es gleich blieb. Mwinyi sagte, mein Körper versuche nur, sich an die Zinariya-Technologie zu gewöhnen, die die Ariya in mir aktiviert hatte, aber das änderte nichts an dem unangenehmen Gefühl. Es kam mir so vor, als würde die Erde ständig darüber nachdenken, mich im nächsten Moment ins All zu werfen.

Ich schloss die Augen und fiel erneut. In meinen anderen Albtraum. Den Albtraum, den ich seit einem Jahr hatte. Ich war wieder auf Dritter Fisch und saß im Speisesaal. Ich konnte die süße milchige Nachspeise schmecken. Mein Edan lag in meiner Hand, die seltsame goldene Kugel befand sich innerhalb des mit Spitzen versehenen Metallwürfels. Es war nicht mehr kaputt. Und ich sah Heru an, den hübschen Jungen, dem aufgefallen war, dass ich meine mit Otjize eingeriebenen Strähnen zu einem Dreieckmuster geflochten hatte, das meinen Stammbaum widerspiegelte. Seine granitschwarzen Haare fielen ihm über ein Auge, als er lachte. Er sah mich an, und ich lächelte. Und dann explodierte seine Brust, sein warmes Blut klatschte mir ins Gesicht, und ich floh in mein Innerstes, zitternd, lautlos schreiend, zerbrechend. Alle waren tot.

Der Speisesaal färbte sich rot, sogar die Luft war von einem roten Nebel erfüllt. Ich sah Okwu hinter Heru. Ich roch das Blut und schmeckte die milchige Nachspeise. Alle waren tot. Ich musste überleben. Ich stand langsam auf und nahm das Edan fest in die Hand, doch als ich mich umdrehte, sah ich keine Medusen, sondern meine in den Eingeweiden der Wurzel kauernde Familie. Sie war in dem großen unterirdischen Raum, in dem wir unsere Vorräte und Werkzeuge aufbewahrten.

Der Blutgeruch wurde zu beißendem Rauch. Ich war von einem Albtraum in den anderen geraten. Mein Blick fiel als Erstes auf meine älteste Schwester, die schreiend in der Ecke stand. Ihre langen, langen Haare hatten Feuer gefangen. Ich hustete und sah mich verzweifelt um. Ich rechnete damit, mein eigenes, brennendes Fleisch zu riechen, denn die Flammen hatten sich im gesamten Raum ausgebreitet. Nun umgab mich meine Familie, mein Vater, meine Geschwister, einige Cousins, Tanten, Onkel, Nichten, Neffen. Alle schrien und stolperten und schlugen um sich, während sie brannten. Alle verbrannten oder waren bereits tot.

Ich wimmerte; mein Fleisch fühlte sich zu heiß an. Lass mich auch sterben!, dachte ich, während ich darauf wartete, darauf hoffte, dass auch ich Feuer fangen würde. Doch stattdessen leckte das Feuer, das meine Familie verzehrt hatte, nicht mehr an mir, sondern zog sich zurück. Es beruhigte sich. Es stank nicht mehr nach brennendem Fleisch. Das Feuer roch holzig, und in seiner Mitte schien ein Haufen leuchtender Rubine zu liegen. Alles verschwamm, und als es wieder zu erkennen war, wirkte die Umgebung realer als zuvor. Es lag kein roter Nebel mehr in der Luft. Ich konnte den trockenen Boden berühren und meine Hand an dem Feuer, das vor mir prasselte, wärmen.

Entfernt fühlte ich, wie meine Okuoko vor Wut zitterten. Ich griff nach ihnen und versuchte, sie zu beruhigen. All das war so verwirrend. Gerade erst hatte ich die Visionen vom Tod meiner Freunde und meiner Familie hinter mir gelassen, da warf das Zinariya mich erneut in die Geschichte hinein …

Der alte Mann hieß Takeagoodposition. Er stand vor fünf anderen alten Männern und zog an einer dünnen Pfeife. Der Rauch roch süß und war dicht, und wenn er sich mit dem Rauch des Feuers vermischte, stank er ganz furchtbar.

»Das Kind ist ein Dummkopf«, sagte Takeagoodposition. »Kande würde sich von einem Löwen in den Tod führen lassen, wenn er sie freundlich anlächelt.«

Die Männer in der Gruppe lachten und nickten.

»Nein, wir werden das Schicksal der Siedlung nicht einem Mädchen anvertrauen; wie würde das denn aussehen?«

»Aber sie sind zuerst zu ihr gekommen«, wandte ein großer Mann ein, der seine langen Beine überkreuzt hatte. »Und seien wir doch mal ehrlich, wenn diese Wesen zu uns gekommen wären, was hätten wir getan? Wären wir geflohen? In Ohnmacht gefallen? Hätten wir auf sie geschossen? Aber sie hat es irgendwie geschafft, mit ihnen zu reden. Sie vertrauen ihr.«

»Und was hat ihr das gebracht?«, fragte die einzige Frau in der Gruppe. »Sie ist wie besessen und sieht Dinge, die nicht da sind.«

»Mein Enkel meint, sie hätten ihr außerirdisches Internet ins Gehirn gesetzt«, sagte ein anderer Ältester.

Erneut lachten die anderen leise.

Takeagoodposition zog die Augenbrauen zusammen. »Das spielt doch jetzt keine Rolle«, fuhr er die Gruppe an. »Im Koran steht, dass man Fremde freundlich und offen empfangen soll. Lasst sie uns willkommen heißen. Das Mädchen wird uns ihnen vorstellen, und dann übernehmen wir.«

»Hast du sie mal gesehen?«, fragte ein anderer Mann. »Sie sind wunderschön, vor allem im Sonnenlicht.«

»Und wahrscheinlich Millionen wert, wenn wir sie zu Geld machen«, bemerkte jemand anderes.

Gelächter.

»Diese Zinariya sind Außerirdische«, sagte Takeagoodposition. »Wir werden vorsichtig sein.«

Es kam mir so vor, als säße ich neben den Männern und der Frau. Aus den Augenwinkeln nahm ich eine Bewegung hinter einigen Büschen wahr. Ich war mir sicher, dass da jemand zurückwich und dann davonlief.

»Kande«, sagte eine Frauenstimme. Sie schien von überallher zu kommen. »Für ein Kind, das gerne rauchte, hat sie sich tapfer geschlagen.«

Ich runzelte die Stirn. Am liebsten hätte ich den ganzen Blödsinn beendet und geschrien: »Was hat denn Rauchen mit Außerirdischen zu tun?!« Doch dann sah ich, wie etwas durch den Kreis hüpfte, den die Menschen gebildet hatten. Ein riesiger roter Ball. Er verschwand in waberndem Staub und schlug dann wieder im Sand auf. Er rollte zu mir und wurde flach, bis er aussah wie ein roter bonbonartiger Knopf, den man halb im Sand vergraben hatte.

Ich starrte ihn an.

Drücke ihn. Die Worte standen einen Moment lang in leuchtend grünen Buchstaben vor mir. Dann lösten sie sich auf wie Rauch. Mwinyi sprach durch das Zinariya zu mir.

Ich schlug mit der Faust auf den Knopf und spürte dabei vage, wie fest er war. Dann hörte ich ein leises, befriedigendes Klicken. Alles wurde still. Ich hörte nur noch den Wind, der leise durch die Wüste strich. Ich drückte meine Stirn in den Sand und schluchzte erneut.

»Kannst du aufstehen?«, fragte Mwinyi und kniete sich neben mich. »Hat es aufgehört?«

Ich hob den Kopf und sah ihn an. Sein buschiges, rotbraunes Haar war voller Sand, und die lange Strähne, die aus seinem Hinterkopf wuchs, lag neben meinem Knie am Boden und nahm noch mehr Sand auf. Die Welt hinter mir, der blaue Himmel, die Sonne, dehnten sich erneut aus. Doch nicht so schlimm wie zuvor. Und ich sah auch nicht mehr, wie alle Menschen, die ich liebte, starben. Aber ich wusste, dass es so war.

Ich öffnete den Mund und schrie: »Alle sind tot!« Ich drehte mich und rieb meine andere Gesichtshälfte im Sand. Ich presste meine Wange hinein, spürte die Hitze auf meiner Haut und spuckte Sand aus. Ich schrie: »MEINE FAMILIE! ICH STERBE! ALLE SIND TOT! WIESO LEBE ICH?! OOOOOOH!« Ich schluchzte und schluchzte, rollte mich zusammen und schloss die Augen. Ich spürte, wie Mwinyi mir die Hand auf die Schulter legte.

»Binti«, sagte er. »Deine Familie …«

»HÖR AUF! LASS MICH IN RUHE!«

Ich hörte, wie er wütend Luft durch die Zähne zog. Dann ging er weg.

Ich weiß nicht, wie lange er mich dort liegen ließ, doch als er mich schließlich aufsetzte, war ich zu erschöpft, um mich zu wehren. Ich saß mit gesenktem Kopf da und ließ die Sonne heiß auf meine Schultern scheinen.

Er setzte sich mir gegenüber in den Sand. Er wirkte verärgert.

»Ich habe kein Zuhause mehr«, sagte ich. Die Okuoko wanden sich auf meinem Kopf.

»Ah, da ist die Medusa in dir«, antwortete er.

»Ich bin Himba«, fuhr ich ihn an.

»Binti, sie leben vielleicht noch«, sagte Mwinyi. »Deine Großmutter hat von meinem Dorf aus Kontakt zu deinem Vater in Osemba aufgenommen.«

Ich starrte ihn zitternd an, während ich versuchte, die Wut zu unterdrücken, die in mir hochkochte. Das gelang mir nicht. Sie brach aus mir hervor wie Medusengas. »Sie waren gefangen … ICH HABE SIE GESEHEN!«, schrie ich. »Ich habe gerochen, wie sie v-v-verbrannten!«

»Binti«, sagte er. »Vergiss nicht, dass du gerade erst aktiviert wurdest! Und in deinen Adern fließt Medusenblut. Im Schlaf wimmerst du oft und erzählst von dem Massaker auf dem Schiff. Und wir sind hier draußen in der Wüste, erschöpft und weit weg von deinem Zuhause. Du bist verwirrt. Einiges von dem, was du siehst, ist Kommunikation, anderes will das Zinariya dir zeigen, doch manches ist einfach nur ein Albtraum oder eine Halluzination.«

Ich bat ihn mit einer Geste zu schweigen und senkte den Kopf, bis mein Kinn meine Brust berührte. Ich war so erschöpft. Tränen flossen mir aus den Augen. Alles, was ich gesehen hatte, war mir so real erschienen. »Ich weiß gar nichts«, sagte ich leise.

Ich spürte, dass Mwinyi mich ansah. »Dein Vater erzählte, die Khoush hätten Okwu töten wollen. Sie wissen nicht, was passiert ist.«

»Wer sind ›sie‹?«, fragte ich.

»Deine Großmutter und dein Vater. Wie du sicherlich weißt, ist Okwu seine eigene kleine Armee. Deine Familie hat sich in der Wurzel versteckt, als der Kampf losging.«

»Also sind sie im Keller«, murmelte ich. »Der Teil stimmt.«

»Ja.«

Ich musste die Vorstellung, dass mein Vater durch das Zinariya mit meiner Großmutter gesprochen hatte, erst einmal verarbeiten. »Wann?«, fragte ich. »Wann hat er mit ihr gesprochen?«

»Kurz nach deiner Aktivierung.«

»Kurz nachdem ich gespürt habe, dass Okwu in Gefahr ist«, sagte ich. »Also könnte er …«

»Ich weiß es nicht, Binti. Wir wissen es nicht. Manchmal beachtet das Zinariya bei seiner Kommunikation die Zeit nicht. Wir werden das herausfinden.«

»Das hättest du mir schon vor Stunden sagen können.«

Mwinyi hielt inne und presste die Lippen aufeinander. »Sie hatten mich gebeten, das nicht zu tun. Sie glaubten nicht, dass diese Information gut für dich wäre.«

Als ich darauf nicht antwortete, fuhr er fort: »Wenn du nach Hause willst, um deiner Familie zu helfen, dann dürfen wir hier keine Zeit verschwenden.«

Ich warf ihm einen düsteren Blick zu.

»Sieh mich nicht so an«, sagte er. »Richte deine Medusenwut dorthin.« Er zeigte nach vorn. »Gestern Abend dachte ich noch, ich sei frei und könne machen, was ich will. Stattdessen bin ich jetzt hier und bringe dich an einen Ort, an dem es garantiert nicht friedlich zugehen wird. Aber ich mache mir Sorgen um deine Familie, und ich gebe mein Bestes.«

Ich wischte mir Schweiß, Tränen und Rotz aus dem Gesicht. Ich hielt inne, als mir klar wurde, dass ich wahrscheinlich auch viel Otjize abgewischt hatte. Ich seufzte und blähte die Nasenflügel. Alles lief so schief. »Du musst mich nicht dorthin brin…«

»Doch, das muss ich, und das werde ich«, sagte er. »Willst du wissen, was ich glaube?« Er sah mich einen Moment an und fragte sich dabei offensichtlich, ob er seine Worte für sich behalten sollte.

»Sprich weiter!«, drängte ich ihn. »Ich will das wissen.«

»Du versuchst zu sehr, alles zu sein und jedem zu gefallen. Himba, Medusa, Enyi Zinariya, Khoushbotschafterin. Das kannst du nicht. Du bist eine Harmonistin. Wir bringen anderen Frieden, weil wir stabil sind, simpel, klar. Was hast du anderen gebracht, seit du wieder auf der Erde bist, Binti?«

Ich starrte ihn offen an, der heiße Wind, der mir in das feuchte Gesicht wehte, wirkte kühl. Meine Okuoko wanden sich nicht mehr. Ich fühlte mich leer. »Ich brauche meine Familie«, sagte ich rau.

Er nickte. »Ich weiß.«

Ich zog meinen orangeroten Wickelrock enger zusammen und blickte nach vorn, in die Richtung, in die wir gehen würden. Die Welt vor meinen Augen schien sich erneut auszudehnen, blieb aber gleich, so als würde die Realität atmen. Es war ein äußerst verstörender Anblick. Ich verästelte ein wenig und atmete tief durch. »Alles ist … sieht immer noch aus, als würde es wachsen«, sagte ich. Zum ersten Mal sah ich ihm in die Augen. »Ich … ich weiß, wie verrückt das klingt, aber ich sehe das wirklich.«

Mwinyi runzelte die Stirn und drehte dabei seine lange verfilzte Haarsträhne zwischen den Fingern der linken Hand. Zu seiner Rechten und zu seiner Linken saß jeweils einer der kleinen, rotbraunen Wildhunde. Sie wirkten wie Soldaten. Dann sagte er: »Ich kann dich nach Hause bringen, aber ich … ich weiß nicht, wie ich dir helfen soll, Binti. Ich musste nicht ›aktiviert‹ werden; ich weiß nicht, was du durchmachst.«

Ich grub die Hände in den Stoff meines orangeroten Tops und wimmerte, als ich an meine Familie in Osemba dachte. Wir waren den ganzen Tag unterwegs gewesen und die Nacht und den folgenden Tag bis zum Mittag. Als die Sonne im Zenit stand, hatten wir unser Zelt aufgeschlagen, um uns auszuruhen. Wir hatten geschlafen, als der Sandsturm über uns gekommen war. »Ich weiß, dass ich dich überfordere …«

»Das habe ich nicht gemeint.«

Ich brachte ihn mit einem Blick zum Schweigen. »Doch, das hast du. Keine Sorge, so etwas passiert mir nicht zum ersten Mal.« Ich schloss einen Moment lang die Augen. Als ich sie wieder öffnete, ging es mir etwas besser. »Lass uns aufbrechen. Wir können wieder die ganze Nacht unterwegs sein.«

Als ich aufstehen wollte, erhob er sich rasch. »Nein. Ruh dich aus.«

»Es geht mir gut«, sagte ich. »Gib mir eine Minute, dann können wir …«

»Binti, wir bleiben hier. Du musst dich ausruhen. Das Zinariya ist …«

»Aber wenn sie im Keller sind …« Ich zitterte erneut. Ich verknotete die Hände ineinander, mein Herz raste.

»Wir können nicht verhindern, was dort passiert«, sagte Mwinyi.

Ich versuchte aufzustehen, aber er legte eine Hand fest auf meine Schulter. Ich wollte mich dagegen wehren, doch mir wurde wieder schwindelig, und so ließ ich mich seitlich in den Sand fallen und zitterte vor fehlgeleiteter Empörung. Meine Okuoko wanden sich erneut.

»Wir sind schnell, aber wir brauchen noch mindestens einen Tag«, sagte er. »Beruhige dich, Binti. Atme.«

»Und was ist mit den wilden Tieren? Je langsamer wir uns bewegen, desto riskanter …«

»Vor wilden Tieren habe ich keine Angst«, antwortete Mwinyi sachlich. Er sah mir so tief in die Augen, dass ich alles andere vergaß. Meine Okuoko ließen sich auf meinen Schultern und meinem Rücken nieder. Die Medusenwut, die ich noch nicht ganz unter Kontrolle hatte, verschwand wie die kühle Nachtluft in der Morgensonne. Nichts lässt sich mit dem Blick eines Harmonisten vergleichen, wenn man selbst Harmonist ist.

Wir blieben und schlugen ohne ein weiteres Wort unser Lager auf. Ich war froh, als er für eine Stunde in die Wüste hinausging, um etwas frische Nahrung zu suchen. Die Hunde folgten ihm wie neugierige Kinder. Ich brauchte Ruhe. Ich musste mit … ihm allein sein.

»Du musst das nicht lernen«, sagte er über seine Schulter hinweg. »Es ist jetzt ein Teil von dir. Erkunde es intuitiv.«

Das verstand ich. Ich saß im offenen Zelt auf der gewobenen Bastmatte. Ich hatte mein Edan fast ein Jahr lang untersucht – dieses mysteriöse Objekt, das ich an einem mysteriösen Ort in der Wüste gefunden hatte und dessen Zweck ich nicht kannte. Wie es funktionierte, wusste ich nur dank eines Zufalls. Das Objekt hatte mir das Leben gerettet und war das Thema meines Hauptfachs an der Oomza-Universität gewesen. Nun war es in rund dreißig winzige dreieckige Metallstücke und eine goldene Kugel zerfallen und lag in einem Beutel. Ja, ich wusste, wie man Dinge intuitiv erkundete.

Ich hob die Hände und benutzte das vage virtuelle Gerät, das vor mir auftauchte, um Mwinyis Namen und das Wort »Hallo« auf Otjihimba zu schreiben. Dann stellte ich mir Mwinyi vor, der sich wahrscheinlich auf der anderen Seite der Sanddüne aufhielt, die er erklommen hatte. Bevor ich ihn in meinem Bewusstsein sah, fühlte ich seine Nähe, seine Wachsamkeit. Er beobachtete mich aus der Ferne. Das glaubte ich nicht nur, das wusste ich. Seine Antwort tauchte in Form von grünen Buchstaben, die sich leicht von meinen unterschieden, vor mir auf. Auch er schrieb auf Otjihimba. Alles in Ordnung?

Ja, antwortete ich.

Dann versuchte ich erneut, meinen Vater zu erreichen. Papa