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Robert ist Kriegsfotograf. Er kehrt nach Jahren in Afrika in seine brandenburgische Heimat zurück, weil sein Vater im Sterben liegt. Den alten Mann bedrückt die ungesühnte Schuld an einem Verbrechen, für das er als junger Wehrmachtsoffizier in den letzten Kriegstagen von 1945 verantwortlich war. Während sie im Krankenhaus eine letzte Partie Schach spielen, versuchen sie, sich in Gesprächen und Erinnerungen der Wahrheit zu stellen, um Frieden zu finden. Auf dem väterlichen Hof lernt Robert die rätselhafte Louise kennen und sieht sich bald in eine komplizierte Liebesbeziehung verstrickt. Als sein Vater stirbt, beschließt Robert einen Neubeginn und nimmt einen ungefährlich scheinenden Reportage-Auftrag über das südliche Afrika an. Doch was als friedliche Reise mit Louise geplant ist, endet in einer Katastrophe. +++ »Bis alles Schatten wird« erzählt von drei Menschen, die nach Erlösung streben: nach Erlösung von Schuld, Ruhelosigkeit und Angst. Dabei geraten sie immer wieder an die Grenzen von Verstehen und Gewissheit, werden sie in ihre existenzielle Einsamkeit zurückgeworfen. Die ambivalente Liebes- und Familiengeschichte ist zugleich ein veritabler Roman über Afrika; nicht als exotische Kulisse oder gesinnungsästhetischer Parcours, sondern als Schauplatz unverstellter menschlicher Wesensäußerungen. Es ist der Bericht einer Reise ins »Herz der Finsternis«.
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Seitenzahl: 676
Veröffentlichungsjahr: 2015
Mike Meto Mettke
Bis alles Schatten wird
Roman
Copyright: © 2015 Mike Meto Mettke
Cover & Satz: Sabine Abels / www.e-book-erstellung.de
Titelbild: Africa Sunset © Nicola_Del_Mutolo (fotolia.com)
Verlag: tredition GmbH, Hamburg
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Wir entwerfen Bilder der Liebe,
die wir uns rein wünschen und unbefleckt.
Aber es verhält sich mit ihnen wie mit allen Bildern.
Belanglose Bilder gaukeln vor, was wir zu kennen meinen.
In den guten verlieren wir uns
und spüren so eine Ahnung von dem,
was wir sind.
Erster Teil
1
Das Sterben roch hier anders als in Afrika.
Die aseptische Wolke schwebte über dem alten Mann wie ein unsichtbares Moskitonetz gegen den nahen Tod.
Der alte Mann war der erste Sterbende seit langem, dem er sich ohne Kamera in den Händen näherte.
Robert spürte sofort den Unterschied.
Nicht nur, weil es sein Vater war.
Am Fußende des Bettes ließ er Packsack und Fototasche von der Schulter gleiten und wartete dann, daß sein Vater die Augen öffnete. Sein Vater lag mit Plastikschläuchen und Elektroden verkabelt in einem verstellbaren Krankenhausbett. Ein erschreckend geschrumpftes Männchen, dessen Gesicht wie mit dünnem gelbem Pergament bespannt wirkte, durch das die lange Nase hervorstach. Unter der Decke zeichneten sich die Beckenknochen ab. Die großen Füße lagen bloß, wie etwas nicht Dazugehöriges, der Rand der Decke schnitt sie vom Körper ab.
Robert beugte sich vor und berührte sie mit beiden Händen, sie fühlten sich trocken und kühl an. Sein Vater schlug die Augen auf und ein schwaches Lächeln zerknitterte die Mundwinkel.
„Mein Junge“, sagte er leise.
„Da bin ich“, sagte Robert. Er richtete sich wieder auf, noch immer zwischen dem Gepäck und unschlüssig, ob er sich einen Stuhl heranziehen oder auf das Bett setzen sollte.
„Hast dir Zeit gelassen“, sagte sein Vater.
„Ich hab den ersten Flieger genommen.“ Robert entschied sich für den Stuhl.
„Natürlich“, murmelte sein Vater und schaute zu den Infusionsflaschen, die an einem Ständer neben dem Bett hingen.
Die Nachricht, daß sein Vater schwer erkrankt sei, erreichte Robert in Nairobi, wo er sich in der Kenyatta Avenue ein Büro mit einem Reporter von Associated Press teilte. Das kurze Fax kam von seiner Agentur in Berlin, deren Adresse er seinem Vater für alle Fälle hinterlassen hatte. Sein Vater schrieb keine Briefe. Robert schickte ihm von Zeit zu Zeit Bilder aus diversen Krisengebieten, ohne Kommentar. Feldpost nannte er die großen Kuverts mit den Fotos für sich, wortlose Ansichtskarten mit mörderischen Stilleben.
„Wie lange kannst du bleiben?“ Sein Vater blickte auf das Gepäck.
„Bin nicht in Eile.“
„Du kannst dich auf dem Hof einquartieren. Stört dich keiner.“
„Mal sehen.“ Robert rutschte auf seinem Stuhl hin und her.
Das Licht ist schlecht, dachte er automatisch. Die Leute starben fast immer in schlechtem Licht. Er schüttelte den Gedanken ab.
„Was machen deine Kriege? Wo warst du zuletzt?“, fragte sein Vater jetzt mit bemüht aufgeräumter Stimme.
„Sie gehen weiter. Es sind nicht meine Kriege. Ich …“ Robert stockte und stand dann auf. „Sudan“, sagte er und starrte seinen Vater an.
„Sudan.“ Sein Vater nickte. „Und was gibt es da?“
„Staub, Gebete und Wahnsinn.“
„Nichts für eine Hochzeitsreise, was?“ Sein Vater lachte. Ein hohles Lachen aus einem fleischlosen Rippenkäfig.
Robert schluckte und versuchte zu lächeln. Er stand mit Händen, die ihr Werkzeug vermißten.
„Komm her, mein Junge. Setz dich zu mir.“ Sein Vater zwinkerte ihm zu. „Ist genug Platz in meiner Gruft. Man könnte mich mit einem Sack Roggen aufwiegen.“
Robert schob sich zögernd auf die Bettkante. Die linke Hand des alten Mannes schwebte kurz über seinem Unterarm, ehe sie sich sanft darauf niederließ.
„Ich habe mit dem Stationsarzt gesprochen“, sagte Robert heiser.
„Guter Mann. Hat Sinn für Humor. Wir unterhalten uns manchmal.“
Sein Vater hatte Krebs. Darmkrebs. Sie hatten ihn aufgeschnitten und gleich wieder zugemacht. Es gab keine Hoffnung.
„Siehst gut aus, Jungchen.“
„Ich wünschte, ich könnte das von dir sagen.“
Sein Vater überhörte das und musterte ihn.
„Und so erwachsen …“ Die buschigen Brauen seines Vaters wanderten in die Stirn.
„Die Augen sind älter geworden“, sagte Robert.
Er spürte, wie sich der Griff seines Vaters einen Moment lang verstärkte.
„Warum …“ Robert brach ab. Es kam ihm vor, als ließen sich auch die entscheidenden Fragen nie ins richtige Licht setzen. Es gab keinen angemessenen Filter.
„Ich dachte, ich überlebe wie immer“, sagte sein Vater.
Vor sieben Jahren hatte er eine erste Krebsattacke überlebt. Die Ärzte entfernten ihm zwei Drittel des Magens. Auch da waren die Chancen gering gewesen. Was folgte, war nie besprochen worden, weshalb Robert davon ausging, daß sich sein Vater auf die Kriegsverletzungen bezog.
„Der Trick beim Überleben war, daß man nichts auf Prognosen gab. Man mußte nur irgendwann wieder aufstehen.“
„Stelle ich mir jetzt schwierig vor“, sagte Robert und zeigte auf die Verkabelung.
„Ich wasche mich selbst. Die Schwestern machen das nicht ordentlich genug.“
Robert sah die abgeteilte Toilette im Zimmer und begriff, was dieser Weg für seinen Vater bedeuten mußte. Zugleich nahm er jetzt die Ausdünstungen des sterbenden Körpers wahr, die von den Desinfektionsmitteln in der Zimmerluft verdrängt worden waren. Das Säuerliche, das an Galle und Magensäfte erinnerte, die Schärfe von Urin, und ein Geruch wie von getrockneten Pilzen. Nichts mehr von den Gerüchen der Frische, die er an seinem Vater so gemocht hatte. Das Rasierwasser, die zwischen Seife gelagerte Wäsche, und der Duft von Kiefern, der früher in den Sachen seines Vaters auf merkwürdige Art gefangen schien.
„Aufstehen …“, sagte sein Vater und es klang wie ein fernes Echo. „Wie damals in Marburg. Sie schoben mich durch die Universitätssäle … Ich hatte die Motten … Ich galt als hoffnungsloser Fall.“ Er blies die eingefallenen Wangen auf.
„Und dann bin ich aufgestanden.“
Robert lächelte flüchtig. Legenden, er kannte sie. Ganz so einfach konnte es nicht gewesen sein.
Er hatte auch ein paar Fotos gesehen, sein Gedächtnis war auf Fotos trainiert. Unscharfe Schwarzweißaufnahmen. Sein Vater im Gipsbett, von Kopf bis Fuß eingegipst, wie in einem weißen Sarkophag. Das Bett stand auf einer Sonnenterrasse, und man sah von seinem Vater nur das tiefbraune Gesicht und die langen, behaarten Arme. Am Kopfende hatte er einen drehbaren Spiegel, um seine Gesprächspartner sehen zu können und um zu lesen. Spiegelverkehrt. Er hatte viel Zeit zum Lesen … Zwei Jahre.
Auf einem anderen Foto saß eine junge, schlanke Frau mit einer Sonnenbrille und einem Kopftuch bei ihm. Die Frau auf dem Foto lachte.
In der von unzähligen Granatsplittern beschädigten Wirbelsäule seines Vaters setzte sich Tuberkulose fest.
Später mußte er wieder Laufen lernen. Mit einem Stützkorsett, das Robert Jahre danach auf dem Dachboden des Hofes fand.
Es sah aus wie eine Ritterrüstung aus Leder und Stahl.
Die Körperhaltung, die das Korsett seinem Vater aufzwang, konnte er nie mehr ganz ablegen. Stets hielt er den Oberkörper betont aufrecht und gerade. Seine Halswirbel blieben unbeweglich. Er versuchte das wettzumachen, in dem er sich unauffällig aus der Hüfte drehte.
„Wer kämpft, kann verlieren. Wer aufgibt, hat schon verloren. Ich habe nie aufgegeben“, sagte sein Vater trotzig.
Kalendersprüche, dachte Robert. Aber hatte der alte Mann nicht alles Recht der Welt, dem Unvermeidlichen letzte Sätze entgegenzuschleudern? Und hatte er diese Sprüche nicht auch gelebt?
„Du hast nie aufgegeben.“ Unwillkürlich mischte sich ein fragender Unterton in Roberts Bestätigung, und sein Vater äugte mißtrauisch. Robert wich dem Blick aus und sah sich im Zimmer um. Es gab noch einen Schrank und einen Besuchertisch und einen Fernseher, der in den Winkel unter der Zimmerdecke geschraubt war. Da die Fernbedienung auf dem Besuchertisch lag, nahm er an, daß sein Vater davon keinen Gebrauch machte.
Nirgendwo konnte er einen persönlichen Gegenstand seines Vaters entdecken. Vielleicht im Schrank, aber er würde nicht nachschauen. Sein Vater reagierte allergisch, wenn man in seinen Sachen schnüffelte. Die stete Sorge, daß man ihm etwas durcheinanderbrachte.
„Hab dir was mitgebracht“, sagte Robert.
„Ich brauch nichts mehr, mein Junge. Es reicht, daß du da bist.“ Sein Vater hustete unterdrückt. „Du und ich allein, das war doch immer gut, nicht wahr?“
„Ist eigentlich mehr was für uns beide“, sagte Robert und erhob sich von der Bettkante. Er ging zu seinem Packsack und stellte die Kombination des Zahlenschlosses ein. Dann zog er das geschnitzte Kästchen heraus. Er hielt es hoch, so daß es sein Vater sehen konnte.
„Schach …“, sagte sein Vater müde. „Du würdest mich in Grund und Boden spielen.“
„War nur so eine Idee“, sagte Robert verlegen. „Ich dachte an früher … An den Sommer, in dem du mein krankes Ohr geheilt hast und ich den ganzen Tag mit schiefem Kopf in der Sonne sitzen mußte und wir dabei Schach gespielt haben. Du hast mir Honig ins Ohr geschmiert, und ich rannte aus Gewohnheit noch lange danach mit einem schiefen Kopf herum.“
„Aber dein Ohr wurde wieder gesund, oder?“
„Ja, obwohl der Arzt gesagt hatte, daß es chronisch sei.“
„Ich hab nichts drauf gegeben.“
„Und ich hab an dich geglaubt.“
Robert ging zum Bett zurück. Er öffnete das Kästchen, und sein Vater griff sich nach kurzem Zögern eine Figur.
„Elefanten“, sagte sein Vater und strich mit dem Daumen über den runden Rücken der Figur. „Weiße Elefanten.“
„Das sind die Türme“, erklärte Robert.
„Ich mag Türme. Sie sind wichtig fürs Endspiel. Aber noch mehr mag ich die Springer“, sagte sein Vater.
„Ich mag Elefanten“, sagte Robert.
„Ist das Elfenbein?“, fragte sein Vater.
„Nein, Rinderknochen wahrscheinlich. Die Schwarzen sind aus Ebenholz.“
Es war kein billiges Schachspiel, kein Touristenschnickschnack, wie man ihn an jeder Straßenecke kaufen konnte. Die Figuren waren formschöne Stilisierungen afrikanischer Tiere, die gut in der Hand lagen. Sie hatten Gewicht.
„Wo hast du es her?”
„Hat mir ein Freund überlassen“, sagte Robert abwesend.
„Er spielt nicht mehr, dein Freund?“, sagte sein Vater und tastete mit den Fingerspitzen über die Intarsien der Schachfelder, als lese er Blindenschrift.
„Nein“, sagte Robert. „Er spielt nicht mehr.“
Sein Vater forschte in seinem Gesicht, und Robert wandte sich ab. Er verspürte plötzlich das Bedürfnis, etwas zu trinken.
Er dachte an seine Thermosflasche im Packsack und stand schließlich auf, um sie zu holen.
„Warte“, rief sein Vater. „Bleib noch.“
Robert drehte sich zu ihm um. Er sah die Nervosität und Unruhe im Gesicht seines Vaters, das wie ein Polaroid immer schärfere Konturen entwickelte. Er sah die Angst.
„Ich bin hier“, sagte Robert und es schnürte ihm die Kehle zu. „Wir haben Zeit. Ich will nur etwas trinken.“
Er schraubte den Becher der Thermosflasche aus Edelstahl ab und goß ein. Es war ein letzter Schluck.
Dann ging er zum Fenster. Das große Fenster bot Ausblick auf fleckige Plattenbauten aus den Siebzigern und frisch gesäte Rasenflächen. Robert sah die öde Geometrie der verrottenden Wohnburgen, die versteinerte Glücksvorstellung einer untergegangenen Epoche, in der er aufgewachsen war. Dahinter verbrannte der Septemberhimmel in einem kupferfarbenen Spektakel. Vergeudete Schönheit ohne Bedeutung. Nichts da draußen war von Belang für dieses Zimmer.
Robert trank, die Flüssigkeit war nicht mehr kalt genug, und er fühlte, wie ihn die Müdigkeit anfiel. Er war seit über dreißig Stunden unterwegs, im Flugzeug hatte er nicht schlafen können, er konnte in Flugzeugen ohnehin nie schlafen, dann hing er in Amsterdam fest, schließlich die Bahnfahrt …
„Was trinkst du da?“, fragte sein Vater. Er hatte das Kästchen auf die Brust geklappt und begann, die Figuren aufzustellen, wobei er sie einzeln betrachtete.
„Das Richtige“, sagte Robert. „Das Richtige für mich.“
„Keinen Tee, denk ich mal.“
„Nein.“
„Wann hast du rausgefunden, daß es für dich das Richtige ist?“ Sein Vater schaute kurz hinüber.
„Als nichts anderes mehr half.“
„Es trübt den Blick.“ Sein Vater richtete die Bauernreihen aus, Antilopenköpfe auf schlanken Hälsen.
„Wenn ich Bilder mache, trinke ich nicht“, sagte Robert.
„Du spielst mit Weiß“, bestimmte sein Vater.
Robert stellte die Thermosflasche auf der Fensterbank ab und setzte sich wieder auf das Bett. Dann zog er den Königsbauern.
„Nichts neues unter der Sonne“, brummte sein Vater. „Wozu dann das Ganze?“ Er setzte den Zebra-Springer und griff Roberts Bauern an. „Man muß gegen die Theorie spielen.“
„Du spielst nicht gegen die Theorie“, sagte Robert und schob den Bauern ein Feld weiter. „Du kennst sie nur nicht.“
Sein Vater schwieg.
Dann fragte er: „Und dein Freund, kannte der die Theorie?“
„Ja, ich glaube schon“, sagte Robert. „Aber im entscheidenden Moment hat er sich nicht an sie gehalten.“
Sein Vater dachte nach.
„Du hast mir das Schachspielen beigebracht“, sagte er verwundert. „Ist das nicht erstaunlich?“
„Vielleicht, alles andere hast du mir beigebracht.“
„Schach ist wie Krieg mit festen Regeln.“
„Quatsch. Schach ist ein Brettspiel.“
„Schießt du noch?“, fragte sein Vater und hüpfte mit dem Springer neben den Bauern.
„Nur mit der Kamera.“ Robert führte den nächsten Bauern heran und jagte den Springer weiter. „Da wo ich mich aufhalte, wird für meinen Geschmack schon genug geschossen“, fügte er hinzu.
Der alte Mann starrte mißmutig auf die lästigen Bauern.
„Du mußt nichts töten. Aber wer schießen kann, der kann sich auch konzentrieren. Konzentration ist alles.“ Er hustete, und es klang wie ein Bellen. Robert sah, daß er etwas im Mund hatte und reichte ihm die Schale vom Nachttisch. Der alte Mann spuckte einen mit rostbraunen Gewebefetzen durchsetzten Schleimklumpen hinein und gab sie zurück.
„Nur wegen dem Schießen haben sie mich akzeptiert“, sagte er dann. „Dieses Herrenvolk hielt uns Sorben für eine minderwertige Rasse.“
„Keines meiner Probleme könnte ich mit einer Knarre lösen“, sagte Robert und wies auf das Brett. „Wenn du deinen Springer magst, hau ab.“
Sein Vater ließ das Zebra widerwillig flüchten.
„Aber ich habe dir das Schießen beigebracht.“ Die Feststellung schien seinen Vater mit Zufriedenheit zu erfüllen.
„Ich weiß.“ Die Lektion über das Schießen. An Roberts fünftem Geburtstag wurde er eingewiesen. „Hab ich nicht vergessen.“
„Irgendwann warst du besser als ich. Auf der Schießscheibe. In der Theorie …“
„Oder auf verfaulte Kartoffeln“, sagte Robert. „Bei den Vorführungen für die Matkas aus Depsk, die ich immer machen sollte. Shelkow Junior als Wilhelm Tell für Kartoffelbauern. Große Nummer …“
„Was hast du gegen Bauern?“, fragte sein Vater vorwurfsvoll.
Robert wandte seinen Blick nicht vom Brett. „Gar nichts. Sie sind die Seele des Schachspiels.“ Dann schickte er einen vierten Bauern ins Zentrum.
„Jedenfalls warst du talentiert“, beharrte sein Vater.
„Aber wenn wir auf Kaninchen gingen, hast du oft zu lange gewartet.“
„Wir können nicht anders schießen als wir sind.“
„Ja“, sagte sein Vater düster.
Robert erinnerte sich, wie das mit dem Schießen begann. Hinter der Scheune des Hofes hatte sein Vater eine hölzerne Schubkarre gestellt. Darüber lag ein Roggensack mit dem Gewehr. Er mußte niederknien. Spürte den ruhigen Atem seines Vaters am Ohr und hörte die ruhige Stimme.
„Faß es an, als wäre es ein Teil von dir. Hole tief Luft, atme halb aus, ziele über Kimme und Korn und gehe bis zum Druckpunkt. Wenn du glaubst, daß alles zusammenkommt, drücke durch.“
Auf dem vorstehenden Balken der Scheunenwand hatte sein Vater das Ziel arrangiert. Es waren junge Sperlinge. Frisch aus dem Nest genommen. Sein Vater haßte Sperlinge. Sie vertrieben die Blaumeisen. Die Sperlinge hockten aneinandergedrängt auf dem Holzsims. Sie waren nackt und nahezu durchsichtig. Ihre violetten Herzen pumpten das Blut.
Robert schoß. Wie es ihn sein Vater gelehrt hatte.
Sie tauschten ein Bauernpaar ab, und dann zog sein Vater den anderen Springer heran. In dieser scharfen Stellung waren die Chancen etwa gleich, wie Robert einschätzte.
Er beobachtete aus den Augenwinkeln die Hände seines Vaters, die über die Bettdecke strichen. Es waren ungewöhnlich schöne und gepflegte Hände. Hände, die falsche Rückschlüsse provozierten. Wenn Robert die langgliedrigen Finger mit den makellosen Halbmonden sah, fühlte er sich an die eigene Unbeholfenheit erinnert, an irgend etwas Hand anzulegen. An das Unvermögen, jenseits von Kamera und vielleicht auch Gewehr, Geschicklichkeit zu beweisen. Zugleich weckten sie eine tiefe Vertrautheit. Diese Hände hatten ihn nie geschlagen. Manchmal, wenn der Vater mit schnellen und sicheren Bewegungen ein Messer führte, um ein Kaninchen zu häuten, oder ein Gewehr zerlegte, um es zu reinigen, waren sie sichtbarer Ausdruck einer fast grausamen Schönheit, der man sich nur schwer entziehen konnte.
„Wenn du nicht aufpaßt, sprenge ich dein Zentrum“, sagte sein Vater sachlich. „Überdehnte Nachschublinien gefährden jeden Raumgewinn.“ Er machte eine Pause. „Wie in der Ukraine, da wollte ich hin. Schwarzerde, fruchtbares Land.“
„Ich passe auf“, sagte Robert verwirrt. „Was wolltest du in der Ukraine?“ Er versuchte, sich auf das Brett zu konzentrieren.
„Einen eigenen Hof“, sagte sein Vater erschöpft. „Als Offizier unter Wehrbauern. Deshalb habe ich mich freiwillig gemeldet.“
„Wozu brauchtest du zwei Höfe?“
„Wilhelm hätte unseren übernommen, er war der Erstgeborene.“
„Entschuldige, aber das klingt alles ziemlich … mittelalterlich.“
„Für dich vielleicht, dir bedeutet der Hof eben nichts.“
Robert schwieg. Er mußte jetzt seine Figuren entwickeln, soviel stand fest.
„Das Unsinnige ist“, fuhr sein Vater fort, „daß Wilhelm genau dort starb, wo ich hinwollte. In der Ukraine.“
„Wenn dich jetzt einer hören könnte“, sagte Robert kopfschüttelnd. Er postierte seinen Läufer.
„Er bekam nachträglich das Ritterkreuz. Sie haben es deiner Großmutter zusammen mit der Nachricht geschickt.“
Robert schaute ungläubig vom Schachbrett auf.
„Und ich“, stieß sein Vater gepreßt hervor, „ich bin nur noch gerannt …“ Ein Beben zitterte durch seinen Oberkörper und die Finger verkrallten sich wie Klauen in der Bettdecke. „Alles war vorbei, alles war falsch …“ Er krümmte sich plötzlich und warf dabei das Brett und die Figuren um und versuchte krampfhaft, die Knie an die Brust zu ziehen. Der Kopf schnellte in Richtung der Knie, die lange Nase wie ein Schnabel, der ins Leere hackte. Einige der Kabel und Schläuche zerrten am Körper des alten Mannes. Robert erhob sich halb vom Bett, verzweifelt, was er tun könnte.
„Soll ich … Brauchst du …“ Er suchte nach dem Klingelknopf, aber der Anfall verebbte schließlich. Die slawischen Wangenknochen seines Vaters arbeiteten, als zerkaute er den Schmerz.
„Schon gut“, flüsterte sein Vater tonlos. „Ich kriege Morphium, aber ich brauche … Klarheit. Verstehst du?“
Robert nickte verständnislos und zog das Bett näher an den Ständer und die anderen Apparate, die er bisher nicht beachtet hatte. Auf einem kleinen Monitor zuckte die grüne EKG-Kurve im Sinusrhythmus. In den Eingeweiden seines Vaters blubberte es wie in einem Abflußrohr. Robert legte ihm besänftigend eine Hand auf das Schulterblatt, das sich anfühlte wie der Panzer einer Schildkröte. Sein Blick fiel auf ein Glas Tee neben der Schale auf dem Nachttisch, und er nahm es und hielt es seinem Vater an die Lippen. Mit der anderen Hand stützte er den steifen Nacken.
„Trink, du mußt trinken, sonst trocknest du aus.“
Robert glaubte, unter der dünnen Haut etwas Scharfkantiges zu spüren, an einer Stelle, wo kein Knochen sein konnte.
„Was ist das? Tut das weh?“ Robert bewegte vorsichtig einen Finger dicht neben der Halswirbelsäule. Sein Vater schniefte kurz. Ein Plastikschlauch für die Sauerstoffzufuhr ringelte sich ihm wie ein bleicher Wurm in die Nase, durch einen Schaumstoffstöpsel im Nasenloch festgehalten. Tee und Speichel rannen über das Kinn. Robert setzte das Glas ab, zog mit der freien Hand sein Taschentuch aus der Hosentasche und tupfte das Kinn ab. Er bemerkte die grauen Bartstoppeln.
„Granatsplitter“, sagte sein Vater leise. „Verkapselt. Sie haben damals nicht alle rausgekriegt. Zu nah an den Nerven. Und jetzt, wo mir das Fleisch wegschmilzt, kann ich sie bald mit einem Magneten rausziehen.“ Er lächelte schwach.
„Vorher rasieren wir dich“, sagte Robert.
Der alte Mann guckte groß, erwiderte jedoch nichts. Sein Kopf entglitt Roberts Hand und sank ins Kissen zurück. Er schaute resigniert auf die verstreuten Schachfiguren.
„Die Stellung ist futsch, mein Junge. Ich hab’s versaut.“
„Nein“, sagte Robert. „Ich hab sie im Kopf. Wir waren noch in der Theorie, weißt du.“
„Dein Gedächtnis … Das hast du von mir. Es wird dich eines Tages quälen …“
Robert sagte nichts.
Sein Vater schloß die Augen.
Robert sammelte langsam die Figuren ein und packte sie in das Kästchen. Sein Vater schien weggedämmert. Draußen wurde es jetzt dunkel. Er langte vorsichtig nach dem Schalter am Kopfende des Bettes und machte das Licht aus. Er wollte aufstehen und gehen, blieb dann jedoch sitzen und stierte benommen auf den stummen Monitor mit dem unermüdlich springenden Elektronenstrahl. Minutenlang sah er so vor sich hin, unfähig einen klaren Gedanken zu fassen oder sich loszureißen.
Sein Vater schreckte hoch.
„Robert?“
„Ja.“ Robert drückte ihn behutsam ins Kissen zurück. „Ich bin noch da.“
„Da sind sie, die Springer … die Pferde.“ Sein Vater schien zu phantasieren.
„Es sind Zebras“, sagte Robert beschwichtigend.
„Nein, Pferde … Du wolltest doch immer ein Pferd … Du kannst sie reiten, wenn du willst.“
„Was für Pferde?“, fragte Robert zweifelnd.
„Die neuen Nachbarn … Ich habe ihnen erlaubt, auf unserem Feld eine Koppel zu bauen. Das viele Unkraut … Ich habe es einfach nicht mehr geschafft.“
„Versuch zu schlafen.“ Robert stand verwirrt auf, nahm im Vorbeigehen die leere Thermosflasche von der Fensterbank und verstaute sie in seinem Gepäck.
„Ich muß los.“
„Aber du kommst wirklich wieder, nicht wahr? Ich will mit dir reden. Es gibt so viel, was ich noch …“
„Schlaf jetzt“, sagte Robert ins Halbdunkel. Und dann, mehr zu sich selbst: „Wir spielen die Partie zu Ende.“
2
Robert stand auf der Sandstraße und blickte den Rücklichtern des Taxis nach, das ihn an der Einfahrt zum Hof abgesetzt hatte. Zwei glühende Punkte, die sich einander zu nähern schienen, je weiter das Fahrzeug sich entfernte, ehe es auf Höhe des Landgrabens abbog und Robert in der Dunkelheit zurückließ. Ein paar Sterne leuchteten wie Einschußlöcher am Himmel.
Der Taxifahrer hatte ihn bis zum Tor fahren wollen, aber er bestand darauf, die letzten Meter zu Fuß zu gehen.
Robert schulterte den Packsack und griff nach der Fototasche.
Er lief langsam die Einfahrt hinauf. Links von ihm war die schwarze Wand des Kiefernwaldes. Er hörte das Rauschen des Windes in den Kronen der alten Bäume, ein merkwürdig fernes Geräusch, hier am Boden wehte kaum ein Lüftchen.
Das Gerippe der alten Scheune erhob sich vor ihm aus der Finsternis, die Konturen der leeren Viehställe, und dann das stählerne Tor. Es wirkte viel zu massiv im Vergleich zu den anderen Gebäuden, die den Vierseitenhof bildeten.
Das Tor war verschlossen. Robert stellte das Gepäck ab. Er überlegte kurz, sich durch die Scheune zu tasten, verwarf es aber gleich wieder.
Dann sprang er am Tor hoch. Ein Fuß stieß gegen das Stahlblech, das wie ein Gongschlag nachhallte. Er saß rittlings auf der Oberkante und lauschte dem dumpfen Ton, der schließlich vom Wald verschluckt wurde. Beim Nachbarn schlug ein Hund an. Robert sprang auf der anderen Seite hinunter. Seine Hände berührten das vom Tau feuchte Gras, es stand hoch. Früher, als sein Vater noch Hühner züchtete, hatte es hier überhaupt kein Gras gegeben.
Robert ging zum Hühnerstall und suchte den Schlüssel, den sein Vater immer in einem der verwaisten Nester verwahrte.
Es war stockduster, und er mußte ganz seiner Erinnerung vertrauen. Die Nester hingen an der Wand. Alte, mit Stroh ausgepolsterte Weidenkörbe. Er tastete blind von einem zum anderen, ohne in einen hineinzugreifen. Er wußte wo.
Sein Vater hätte den Ort für einen so wichtigen Gegenstand niemals gewechselt.
Als er ihn fand, verspürte er dennoch Erleichterung.
Er holte sein Gepäck und schloß das Gebäude mit dem angrenzenden Backhäuschen auf. So lange er denken konnte, nannte man es die Sommerküche, weil hier früher Brotteig und Kuchen vorbereitet oder nach Schlachtungen das Fleisch verarbeitet wurde. Später diente die Sommerküche der Mittagsruhe seines Vaters.
Er schaltete das Licht im Vorraum an und bekam einen Stromschlag versetzt. Es war kein starker Schlag, aber das unangenehme Ziehen spürte er bis hinauf zu den Schläfen. Die ganze Elektrik stammte aus der Zeit kurz nach dem Ersten Weltkrieg und hatte seitdem bestimmt keinen Fachmann mehr gesehen.
An der Wand zum Backhäuschen hing die rostige Eisenklappe des Ofens halb geöffnet in den Scharnieren. Aus dem teerschwarzen Inneren strömte kalter Aschegeruch.
Er betrat das Zimmer und machte auch hier Licht. Der weißgetünchte Raum umfing ihn mit blendender Helligkeit.
Es gab noch das uralte Sofa, dessen weinroter Samtstoff in golddurchwirkten Mustern schimmerte. Robert berührte die gedrechselten Pfeiler der Rückenlehne. Sie waren wurmzerfressen. Für diese Nacht würde es reichen, auch wenn das Sofa zu kurz war. Morgen konnte er das große Bauernbett aus der Dachstube hier aufstellen.
Im Wohnhaus würde er sich jedenfalls nicht einrichten. Alles, was er brauchte, war in der Sommerküche vorhanden. Sogar eine kleine elektrische Kochplatte stand auf einem an die Wand gerückten Tischchen. Sicher mit Vorsicht zu genießen, aber immerhin. Ein Waschbecken befand sich daneben, und darunter der Wassereimer. Fließendes Wasser gab es auch im Wohnhaus nicht. Das Übrige würde er in dem schmalen Küchenvertiko finden, das die Ecke zum Fenster hin ausfüllte.
Er setzte sich in den zerfledderten Ledersessel am Fenster, in den er tief einsank, und zündete sich eine Zigarette an.
Er war völlig übermüdet, fühlte aber, daß er nicht einschlafen könnte. Wenn er wenigstens noch etwas zu trinken hätte …
Sein Blick fiel auf das handkolorierte Bild eines Reiters mit Lanze und Säbel neben der Tür. Als Gesicht hatte man dem Reiter-Ulanen ein Paßfoto des Großvaters zugeschnitten.
Über dem Bild stand in goldenen Buchstaben:
Es lebe hoch das Regiment, das sich mit Stolz Kaiser Alexander der Zweite von Rußland nennt.
Und unten war vermerkt:
Im Felde unbesiegt.
Robert betrachtete die bunte Uniform des Reiter-Ulanen und dachte an die rachitisch gekrümmte Gestalt, die an lauen Sommerabenden auf einer Hohner-Mundharmonika Muß i denn, muß i denn zum Städtele hinaus spielte. Dann spannte sich ein Speichelfaden von der Mundharmonika bis dicht über den Erdboden, federte wie ein Bungee-Seil.
Im Felde unbesiegt. Aber auf den Kartoffeläckern und Roggenfeldern war das unscheinbare Männlein verbogen und ausgelaugt worden. Felder, die elf Generationen sorbischer Bauern die Existenz sicherten, der väterlichen Familienlinie.
Die Ironie drängte sich allzu vordergründig auf. Vielleicht stimmte das nicht, vielleicht hatte ihn schon der Grabenkrieg in Flandern zu dem geduckten Männlein gemacht, dessen Lebensfreude sich zuletzt in einem Dutzend Lieder auf der Mundharmonika erschöpfte. Den Granaten entkommen, aber vom Krieg zerstört?
Robert stemmte sich aus dem zu weichen Sessel und trat näher an den Kulissenreiter, der einem unsichtbaren Ziel entgegengaloppierte. Das gerahmte Bild hatte zu Lebzeiten des Großvaters in der Guten Stube des Wohnhauses gehangen, unter einem Messingkreuz, was den Eindruck der Ehrung eines Verstorbenen erweckte. Gut möglich, daß die Großmutter, eine stolze und auf Ansehen bedachte Frau, die selten lachte, in diesem Arrangement unbewußt ihre tiefe Enttäuschung ausdrückte.
Robert hörte wieder das Zischen der sorbischen Sprache, die er nicht verstand, wenn sie mit dem verstummten Großvater schimpfte, und er hörte die böse Unzufriedenheit dahinter. Sie hatte eine Uniform und ein Kriegerbild geheiratet. Das Leben aber verbrachte sie mit dem kümmerlichen Wrack ihrer fehlgeschlagenen Erwartungen.
Hatten sich so zwei Leben verschwendet, weil in ihnen keine Liebe vorkam?
Der Großvater war in einem Februar gestorben, und es lag grauer Schnee auf den Feldern. Die Großmutter weinte, weil sie nicht wußte, was zu tun war. Robert nutzte einen unbeaufsichtigten Moment, ehe der Leichenbestatter kam, um den Großvater noch einmal zu sehen. Er lag in seinem Bett, die Kiefer mit einem Tuch über dem Kopf zusammengebunden. Es sah aus, als hätte er Zahnschmerzen, aber sein Gebiß schwamm in einem Wasserglas auf dem Nachttisch. Robert kitzelte ihn an den nackten Fußsohlen, der Großvater rührte sich nicht. Er war wirklich tot, und Robert konnte damals nicht ahnen, daß der Anblick von Toten einmal sein Leben bestimmen würde, daß man sich bis zu einem gewissen Grad sogar daran gewöhnte und daß es einen trotzdem veränderte, wie ein langsames Mitsterben, bis vielleicht eines Tages selbst die Kamera nicht mehr schützte und man eine Entscheidung treffen mußte.
Eine Entscheidung darüber, ob man für sich jenseits menschlicher Ungeheuerlichkeit einen sinnvollen Gegenentwurf sah. Etwas, auf dem man aufbauen konnte …
Die Zigarette schmeckte nicht ohne einen Drink.
Robert ging nach draußen und warf die Kippe in den Abfallbehälter neben der Tür.
Die ätherischen Düfte des Waldes, der sich langsam und unaufhaltsam die Scheune einverleibte, wehten herüber und mischten sich mit dem Geruch des feuchten Grases. Er sah den Umriß der Blautanne in der Mitte des Hofes, die sein Vater mit ihm gepflanzt hatte. Sie war kerzengerade und erreichte bereits die Höhe der Dächer. Es war die ideale Tanne, ein richtiger Weihnachtsbaum. Ihre Vollkommenheit wurde jedoch in der Spitze durch zwei oder drei Ableger bedroht, wie Robert bei genauerem Hinsehen bemerkte. Hatte sein Vater beim Beschneiden zuletzt das Ende seiner Leiter erreicht oder war es ihm zu beschwerlich geworden? Jetzt jedenfalls wuchs sie frei.
Robert hörte Wiehern und Hufgetrappel.
Die Holztür zum Brunnen und zum Feld dahinter war mit einem Keil blockiert und es dauerte geraume Zeit, ehe er sie soweit aufbekam, daß er sich hinauszwängen konnte. Er sah die Silhouette des Galgenbrunnens, ein gespenstischer Anblick in der Dunkelheit, wenn man nicht darauf vorbereitet war. Er spürte die Nässe, die durch seine Palladiums drang, als er die Wiese zum Feld überquerte, aber er ging weiter, bis er den Koppelzaun erreichte, den es vor fünf Jahren noch nicht gegeben hatte. So weit er es erkennen konnte, war das Feld verkrautet. Das scharfe Aroma von Beifuß und Pferdedung hing über der Koppel. Etwa zwanzig Schritt vor ihm stand reglos ein Pferd. Die Ohren aufgestellt und nach vorn gerichtet äugte es zu ihm herüber. Beim Nachbarn jenseits der Sandstraße begann wieder der Hund zu bellen. Robert blieb still und mit verschränkten Armen auf den Zaunbalken gelehnt.
Eine ganze Weile geschah nichts.
Dann drehte das Pferd den Kopf und rupfte ein paar Halme, es wirkte wie eine verlegene Geste. Robert mußte lächeln, schnalzte mit der Zunge und streckte einen Arm aus. Das Pferd kam vorsichtig näher, blieb aber außerhalb seiner Reichweite wieder stehen. Er redete mit leiser Stimme auf das Pferd ein, als wäre es Argumenten zugänglich. Er wollte es berühren.
Je länger er auf das Pferd einredete, um so mehr wollte er es, als hinge etwas davon ab.
Zentimeter für Zentimeter schoben sich die Nüstern seiner offenen Hand entgegen, er konnte den Atem stoßweise bereits an der Handfläche spüren, als es in seinem Augenwinkel hell aufblitzte.
Das Maul des Pferdes zog sich zurück, und Robert blinzelte in den Strahl einer Taschenlampe. Er war weniger verärgert als enttäuscht. Die Taschenlampe blieb auf sein Gesicht gerichtet und Robert fragte sich, wann der Idiot endlich genug gesehen hatte. Es verging noch eine knappe halbe Minute, ehe eine unsichtbare Stimme zu hören war.
„Was machen Sie hier?“ Die Stimme klang tief und heiser, aber es war keine Männerstimme.
Robert schirmte mit der Hand, die noch eben das Pferd gelockt hatte, seine Augen ab.
„Wonach sieht’s denn aus?“
Der Lichtkegel der Taschenlampe strich über seinen Körper nach unten und blieb bei den nassen Schuhen hängen.
„Nach Landfriedensbruch.“
„Tatsache?“
Die Taschenlampe blendete ihm wieder ins Gesicht.
„Sie befinden sich auf Privatgelände.“
„Ich weiß.“ Er hörte es knurren. Die unsichtbare Stimme zischte, und das Knurren verstummte.
„Halten Sie die Töle bloß fest“, sagte Robert. „Ich beiße nämlich.“
„Haben Sie ein Problem mit Hunden?“
„Nein, es ist eher umgekehrt.“
Die Stimme lachte höhnisch, und Robert versuchte, etwas zu erkennen.
„Sie haben Angst.“
Robert schwieg, wandte nur sein Gesicht aus dem Strahl der Taschenlampe und sah wieder zu dem Pferd hinüber. Seine Hufe steckten tief im weichen Boden, der von den wildwachsenden Gräsern noch nicht verfestigt war.
„Vorsicht ist der bessere Teil der Tapferkeit, sagt mein Vater. Sein Name ist übrigens Martin Shelkow. Ihm gehört das Feld.“
„Von einem Sohn hat er nie gesprochen.“
„Er kann Geheimnisse gut für sich behalten.“
Die Taschenlampe ging aus und Robert sah eine große und schlanke Frau. Der Hund hockte an einer Leine zu ihren Füßen. „Wo kommen Sie denn auf einmal her?“, fragte die Frau.
„Aus Afrika“, sagte Robert.
„Sehr witzig.“
„Im Ernst. Bin gerade angekommen.“
„Haben Sie Ihren Vater schon besucht?“, fragte die Frau mißtrauisch. Robert konnte noch immer keine Details von ihr ausmachen.
„Ja“, sagte er leise und lehnte sich gegen den Zaunbalken.
„Tut mir leid“, sagte die Frau und ihre merkwürdig rauhe Stimme bekam einen Anflug von Mitgefühl.
Robert nickte.
„Mir auch.“ Er merkte, daß seine klatschnassen Füße langsam kalt wurden.
„Ihr Pferd?“, sagte er nach einer Weile.
„Es sind drei“, sagte die Frau und pfiff durch die Zähne.
Robert sah, daß vom Landgraben Nebel aufstieg. Zwei Schemen bewegten sich entlang der Pappelreihe davor.
Das Pferd, das er zu streicheln versucht hatte, drängte gegen den Koppelbalken und Robert widerstand dem Impuls, es jetzt zu berühren.
Die Frau band den Hund etwas weiter weg am Balken fest und klopfte dann leise murmelnd das Pferd ab. Sie stand nur noch eine Armlänge von ihm entfernt. Im Profil sah er ihr glattes, schwarzes Haar, das sich gegen die Linie des hell schimmernden Halses wölbte.
„Verstehen Sie was von Pferden?“, fragte die Frau.
„Nein. Hier gab’s immer nur Rinder und ein paar Schweine. Pferde haben angeblich nichts gebracht. Irgendwann waren bloß noch Hühner da.“
Die Frau überlegte. „Merkwürdig“, sagte sie dann. „Herr Shelkow kennt sich nämlich mit Pferden aus.“
„Der Mann steckt voller Überraschungen“, sagte Robert.
Die Frau entließ das Pferd mit einem Klaps. Es machte ein paar Sprünge, aber der Boden bereitete sichtlich Schwierigkeiten. Bald blieb es wieder stehen und sah zurück.
„Grey“, sagte die Frau und wandte sich Robert zu. „So heißt sie.“ Die Stute wieherte wie zur Bestätigung. Robert lachte.
„Und Sie, wie heißen Sie?“, fragte er.
„Haben Sie eine Zigarette für mich?“, sagte die Frau.
„Klar …“ Er nestelte seine Zigarettenschachtel aus der Weste. Zweimal klickte sein Feuerzeug vergeblich, dann beugte die Frau sich vor und ihre Finger wölbten sich um seine verkrampfte Faust. Im aufflammenden Licht sah er geschwungene Lippen in einem fast androgynen Gesicht. Ihre Lider hielt sie gesenkt, so daß er ihre Augen nicht sehen konnte.
Sie richtete sich wieder auf. Alles geschah in einer einzigen fließenden Bewegung von beeindruckender Selbstsicherheit.
Das Feuerzeug in seiner Hand wurde heiß und er mußte es ausmachen.
„Louise Kremers“, sagte die Frau. Ein Schwall Rauch schwebte vor ihrem Gesicht.
„Sind Sie regelmäßig auf Nachtwache hier?“ Robert bemühte sich um einen lockeren Ton.
„Ich wohne mit meiner Mutter da drüben.“ Sie wies hinter sich zur Sandstraße. „Auf den Wiesen von Depsk wurde neulich ein Pferd abgestochen. Ich bin also in Sorge.“
„Ich hab ein Alibi“, sagte Robert.
„Kann ich nicht überprüfen“, sagte sie schnippisch und zog an ihrer Zigarette.
„Außerdem wollte ich als kleiner Junge immer ein Pferd … Ich war schließlich Indianer. Ein Indianer, der tagelang auf unsichtbaren Pferden ritt … Ist lange her.“
„Welche Farbe hatten Ihre Pferde denn?“, fragte sie.
„Ich sagte doch, sie waren unsichtbar.“ Robert nahm an, daß sie sich über ihn lustig machte.
„Nur für die anderen, oder? Sie haben sie doch gesehen.“ Ihre Stimme bekam etwas Dringliches.
„Klar, ich schon.“ Sollte sie ihren Spaß haben. „Ich ritt meist einen braunweißen Schecken mit langer Mähne, damit ich mich besser festhalten konnte.“
„Keine Rappen oder Schimmel?“
„Ich war Indianer und kein Märchenprinz.“
„Natürlich, Märchenprinzen behalten ihren Skalp.“
Robert faßte sich unwillkürlich an den geschorenen Kopf.
„Ich hatte nie eine andere Frisur.“
Sie schwieg einige Sekunden, dann sagte sie:
„Sie sehen Ihrem Vater gar nicht ähnlich.“
„Spricht das für oder gegen mich?“
Sie schüttelte den Kopf. „Weder noch.“
„Wie gut kennen Sie meinen Vater?“ Roberts Neugier erwachte. „Die Pferde, die Koppel …“, sagte sie vage. „Wir durften sogar Holz für den Koppelzaun im Wald schlagen. Er war sehr hilfsbereit und … äußerst charmant.“
„Aha“, sagte Robert verblüfft.
„Jedenfalls könnten Sie jetzt umsatteln, auf sichtbare Pferde und direkt vor der Haustür“, fügte sie schnell hinzu.
„Ich kann auf sichtbaren Pferden nicht reiten.“
„So was läßt sich lernen. Ich würde Ihnen ein Pferd mit langer Mähne geben. Zum Festhalten.“
„Ich bin nur auf der Durchreise.“ Robert bewegte seine klammen Zehen.
„Sind wir das nicht alle?“, sagte sie spöttisch.
Er hätte jetzt gern ihr Gesicht und ihre Augen gesehen, aber da war nur die Glut ihrer Zigarette, die sich durch dünnes Papier fraß. Bei Licht würde er sie kaum wiedererkennen.
„Wie lange wohnen Sie schon hier?“, fragte Robert, um das Thema zu wechseln.
„Wir haben das Gehöft vor drei Jahren gekauft und nach meinen Plänen ausbauen lassen. Ich arbeite in einem Architekturbüro.“ Sie machte eine Pause. „Aus dem Hof Ihres Vaters könnte man auch eine Menge machen. Allein die Lage … Ganz zu schweigen von der enormen Grundstücksfläche.“ Es klang wie eine Kundenberatung. Sie war übergangslos in eine andere Rolle geschlüpft.
„Diese enorme Grundstücksfläche kann eine ganz schön kleine Welt sein“, bemerkte Robert.
„Man muß es natürlich wollen. Es ist wie mit allen Dingen.“
„Mein Vater kann nichts mehr wollen.“
„Sagen Sie das nicht.“ Sie drückte ihre Zigarette am Zaunbalken aus, einige Glutreste fielen ins Gras. „Noch lebt er, oder?“
Robert stutzte. Ihre Äußerung enthielt etwas, das er nicht entschlüsseln konnte.
Die Frau band den Hund los, der Robert sofort anknurrte.
„Sehen Sie, er kann mich nicht leiden.“
Ihr Lachen war diesmal ohne Hohn. Und die Stimme würde er wiedererkennen.
„Er riecht Ihre Angst. Schlafen Sie die aus, Sie müssen müde sein.“ Sie faßte die Leine kürzer und schickte sich an zu gehen.
„Woher wollen Sie das wissen?“, fragte Robert.
Sie ging ein paar Schritte und rief dann über die Schulter zurück: „Afrika. War es Afrika? Ist weit weg.“
Robert sah ihr nach. Sie war bald nur noch ein Schatten, der am Galgenbrunnen vorbeischwebte.
In der Sommerküche zog er sich die nassen Schuhe aus und fischte aus dem Packsack ein paar frische Socken. Dann schlüpfte er in die Holzpantinen seines Vaters.
Das starke Verlangen etwas zu trinken, ließ ihn das Küchenvertiko durchsuchen, aber da war nur Geschirr. Außerdem trank sein Vater prinzipiell nicht. Vielleicht gab es im Keller etwas, für seltene Gäste, aber ihn beschlich bereits das Gefühl, in der Falle zu sitzen. Was sollte er überhaupt hier? Robert sah auf seine Uhr. Um die Zeit kam er nicht mal in die Stadt. Er war nicht mobil. Er mußte sehen, ob er morgen eines der alten Fahrräder im Schweinestall flottkriegte. Oder lieber gleich ein Zimmer in der Stadt nehmen? Aber das kostete und war schlichtweg unvernünftig. Wer weiß, wie lange der Aufenthalt dauerte. Ein ganzer Rattenschwanz von Dingen hing davon ab. Auf jeden Fall würde er bei seiner Agentur in Berlin vorbeischauen, vielleicht hatte Thea eine Idee, die ihm weiterhalf. Er schaltete versuchsweise sein Handy ein, es gab keinen Empfang. Der Hof seines Vaters war ein gottverdammtes Funkloch.
Robert ging noch einmal hinaus, die Holzpantinen klapperten auf der Treppe zum Keller und er fluchte, als die Kerze verlöschte und er mit dem Kopf an die niedrige Decke stieß. Wie konnte man ohne Not nur so hinterwäldlerisch leben?
Ärgerlich entzündete er die Kerze erneut und entriegelte die Kellertür. Im schwachen Licht der flackernden Kerze sah er Obststiegen voller Äpfel und Birnen. Seine Hand fuhr über staubige Einweckgläser mit Kirschen und Johannisbeeren, sorgfältig beschriftet und in Regalen aufgereiht. Sie würden von niemandem gegessen werden. Und am Fuß des letzten Regals stand, auf dem blanken Estrich, worauf er gehofft hatte:
die Schnapsflasche für seltene Gäste. Sein Ärger verflog augenblicklich. Eine Flasche Doppelkorn. Noch mit Endverbraucherpreis.
Er befestigte die Kerze auf einer Obststiege und beherrschte sich, nicht gleich aus der Flasche zu trinken. Er hebelte mit seinem Taschenmesser ein Glas Johannisbeeren auf, goß den schwarzen Saft in ein leeres Einweckglas ab und gab reichlich Doppelkorn dazu. Dann trank er.
Er konnte sich nicht entsinnen, wann er das letzte Mal einen so erlesenen Cocktail genossen hatte. Die rasche Wirkung machte ihn ein wenig schwindlig, wahrscheinlich weil er nichts gegessen hatte. Er setzte sich auf eine umgedrehte Holzkiste, zum Trinken war wie zum Sterben jeder Ort gut genug, und er hatte keine Lust, den flüchtigen Trost zu verlieren, den ihm dieser Keller mit seinen Schätzen jetzt bescherte. Er wußte, wie armselig dieser Trost war, aber er würde nachher schlafen können.
Er roch die Äpfel und Birnen, die sein Vater geerntet hatte, bevor er ins Krankenhaus mußte, aber dazwischen drang ein anderer Geruch. Es kam ihm vor, als verweste etwas. Seine immer schon sensiblen Geruchsnerven spielten unter dem Einfluß des Alkohols scheinbar verrückt.
Sterben … schlafen, nichts weiter … und zu wissen, daß ein Schlaf das Herzweh und die tausend Stöße endet, die unsers Fleisches Erbteil … Wieso kam ihm das in den Sinn?
Sein Vater liebte Monologe und Balladen, die er beim Rasieren aufzusagen pflegte. Und jetzt meldete sich des Fleisches Erbteil im Suff auch bei ihm. Ausgerechnet der Dänenprinz.
In den Augen seines Vaters ein zaudernder Schwächling …
Aber es roch irgendwie nach … Verwesung. Er nahm noch einen kräftigen Schluck, um den Geruch aus der Nase zu kriegen, den er kannte und an den man sich nie gewöhnte.
Nein, sein Vater hatte mit Hamlet nichts am Hut, für ihn kam nur Wilhelm Tell in Frage.
Vereint sind nur die Schwachen mächtig, den Vers hatte er sich zurechtgebogen, wie Robert später herausfand, damit der folgende besser wirkte: Der Starke ist am mächtigsten allein.
Robert schnüffelte. Es war zwecklos. Der Geruch war real.
Er stand auf und tappte zwischen den Obststiegen umher.
Vor einer vergitterten Lüftungsklappe lag, was er zunächst für einen alten Scheuerlappen hielt. Im zuckenden Licht der Kerze verwandelte sich der Lappen in eine tote Katze.
Sie mußte seinem Vater, als er das letzte Mal hier heruntergestiegen war, unbemerkt gefolgt sein.
Sie hatte keine Chance wieder herauszukommen.
3
„Bist du dir sicher, daß du das hinkriegst?“, fragte sein Vater zweifelnd.
Der Rasierschaum wirkte wie dicke Schminke im Gesicht eines alten Tragöden, fand Robert, hatte aber die richtige Konsistenz. Er war nicht zu wäßrig.
„Nein.“
„Ich hoffe, du hast wenigstens schon mal ein Rasiermesser in der Hand gehabt.“
Robert grinste und pinselte ihm über den Mund.
„Ich denke, das ist eine günstige Gelegenheit, um es endlich mal zu lernen“, sagte er dann, stellte die Schale und den Pinsel auf den Nachttisch und klappte das Rasiermesser auf.
Die Stirn seines Vaters runzelte sich in tiefen Verwerfungslinien, während der Rest des Gesichts unter dem sahnigen Schaum bewegungslos blieb. Robert fuhr vorsichtig mit dem Daumen über die Klinge. Sein Vater hatte es sich nicht nehmen lassen, das Messer selbst am Lederriemen zu schärfen, mit zittriger Hand, derweil Robert das andere Ende des Riemens hielt.
Ein Leben lang war sein Vater beim Rasiermesser geblieben, trotz ständig verbesserter Apparate und Elektrorasierer. Ein Anachronismus, über dessen Gründe Robert nur spekulieren konnte. Vielleicht betrachtete er es alltägliches Spiel mit der eigenen Verletzbarkeit, auf schmalem Grat ohne eingebaute Sicherheit, was seinen üblichen Bestrebungen eigentlich zuwiderlief. Vielleicht mochte er daran, die mögliche Verletzung selbst in der Hand zu haben. Als Verursacher und Leidtragender zugleich.
Jetzt hatte Robert das Rasiermesser in der Hand.
„Das kann ja heiter werden“, murmelte sein Vater, bemüht, den Schaum auf den Lippen nicht in den Mund zu bekommen.
„Du wirst mir vertrauen müssen“, sagte Robert, beugte sich über ihn und zog das Messer mit einem sanften, aber entschlossenen ersten Strich über die Wangenhaut, wobei er einen bläulichen Schatten freilegte. Es ging besser als gedacht.
„Schließlich habe ich dir früher oft genug beim Rasieren zugeschaut“, fügte er hinzu und tauchte das Messer in die Schale, um den Schaum zu lösen.
Er dachte wieder an die Balladen, die sein Vater dabei mit verhaltener Stimme und langen Pausen vortrug, als erinnerte er sich an selbsterlebte Geschichten, während er konzentriert in den Spiegel blickte und sich mit dem Rasiermesser ein neues Gesicht zu geben schien.
Es waren Balladen, in denen es meist um Trotz und Treue oder Unabhängigkeit und Freiheit ging. Ein wildes Durcheinander aus klassischen und ziemlich reaktionären Lesebuchstücken, deren kämpferische Helden für ihren Gesinnungsadel eintraten. Als Kind hatte Robert in erster Linie das unglaubliche Gedächtnis seines Vaters bewundert, das keine Strophe ausließ und keinen Vers vergaß.
„Zu Dionys, dem Tyrannen, schlich Damon, den Dolch im Gewande“, rezitierte Robert und wedelte mit dem Messer vor den Augen seines Vaters herum. Sein Vater lächelte.
„Mach weiter“, sagte er.
„Weiter weiß ich nicht.“
„Weiter rasieren.“
Robert schabte die nächste Bahn frei. Dann versuchte er sich am Hals.
„Ich habe den neuen Nachbarn getroffen“, sagte er, „es ist eine Nachbarin.“
„Sieht nicht übel aus, was?“ Der Kehlkopf seines Vaters hüpfte. Robert setzte das Messer ab.
„Es war dunkel.“
„Seit wann bist du nachtblind?“
Robert spülte das Messer ab.
„Wenn ich jünger wäre …“, sagte sein Vater versonnen. „Sie hat was.“
„Rede ruhig weiter“, stichelte Robert, „wir sind ganz unter uns.“
„Sie erinnert mich in manchem an die Baronesse, damals in Marburg.“ Der alte Mann kniff die Augen zusammen. „Hat mich fast jeden Tag besucht.“
Robert entsann sich der Frau mit dem Kopftuch und der Sonnenbrille auf einem der Schwarzweißfotos. Baronesse …
„Adrienne von Gelenczei. Österreichisch-ungarischer Adel. Hatte Geld und nichts zu tun. Besuchte erst irgendeinen Verwandten von ihr, der auch die Motten hatte. Der starb irgendwann. Sie kam aber weiterhin.“ Er hielt kurz inne.
„Ich glaube, sie suchte die Nähe von Männern. Von Männern, die getötet hatten oder selber starben. Das zog sie an.“
„Vielleicht bildest du dir das auch nur ein“, sagte Robert und setzte sich auf das Bett. „Es ist eine morbide Idee. Die Kopfgeburt eines Kranken.“
Sein Vater ignorierte die Einlassung.
„Wir waren eine lustige Truppe, nannten uns die Mottenkompanie, weil alle in irgendeiner Form Tuberkulose hatten. Sogar eine Fahne gab’s.“ Er hustete und Tränen stiegen in seine Augen.
„Unser Galgenhumor hatte Unterhaltungswert. Adrienne wurde etwas geboten. Wir warfen uns die Bälle zu und versuchten uns zu übertreffen. Jeder warb um sie. Sie war schön. Lachte viel, und wir wollten sie zum Lachen bringen.
Sie war eine echte Baronesse. Und wir waren die Mottenkompanie. Festgehalten in unseren Matratzengrüften. Es drohte ihr keine Gefahr. Sie muß das genossen haben.“
„Du hast gesagt, sie hat dich besucht“, bemerkte Robert.
„Das war später. Sie begann, ein Auge auf mich zu werfen. Ich war nicht auf den Mund gefallen. Und ich war praktisch aufgegeben. Unschlagbare Kombination.“
„Hast du sie geliebt?“
„Liebe, mein Gott. Das klingt nach Zukunft. Was konnte ich erwarten? Ich lag in einem Sarg aus Gips. Ich erzählte ihr Geschichten. Ich … ich erfand mich neu. Sie half mir unbewußt dabei. Ich sah ja nicht aus wie ein Deutscher. War fast schwarz vom Liegen auf der Sonnenterrasse. Sprach nach der Gefangenschaft in der Bretagne fließend Französisch. Sie hielt mich für einen entflohenen Fremdenlegionär. Ich habe ihren Glauben nicht mehr korrigiert. Was hätte sie mit einem Wendschen Kito anfangen sollen? Ein slawischer Bauer hätte nicht zu ihrem Spielplan gepaßt.“
„Und zu deinem Spielplan?“, fragte Robert spitz. „Paßte zu dem eine Baronesse?“
„Mein Spielplan … Der war schon lange vorher zerstört worden. Ich wollte nur noch die Vergangenheit hinter mir lassen. Und dafür kam Adrienne wie gerufen.“
„Wie ging es weiter, du bist ja irgendwann aufgestanden?“
„Das bin ich. Ein Wunder, und der Anfang vom Ende …
Adrienne sorgte für meine Verlegung in ihr feudales Palais.
Dort lernte ich mit ihrer Hilfe wieder laufen, auf glänzendem Parkett, unter Kronleuchtern und zwischen Seidentapeten …
Die Bediensteten erlebten ihre Herrin als heilige Bernadette, die mein kleines Lourdes inszenierte. Ich mußte aber noch lange dieses Stützkorsett tragen. Das Ding hatte es Adrienne angetan. Weiß der Teufel warum … Für eine Heilige hatte sie ziemlich unkeusche Vorlieben … Ich wollte nicht undankbar sein und natürlich hatte ich auch meinen Spaß. Ein Sanatorium konnte das nicht bieten. Aber je besser es mir ging, um so eingesperrter fühlte ich mich. Ein goldener Käfig. Da war nichts, was ich hätte tun können. Dieser dekadente Müßiggang war nicht meine Welt. Ich kam mir vor wie ein Ausstellungsstück. Ihrem weitläufigen Freundeskreis wurde ich in meiner Montur als geheimnisvoller Krieger oder so präsentiert. Ich ahnte, daß Adriennes Interesse an mir nachlassen würde, wenn sich mein Schauwert erschöpfte.
Irgendwann wäre ich bloß noch der Krüppel an ihrer Seite.
Sie wollte sich vergnügen. Veranstaltete rauschende Feste.
Fast jeden Tag kamen Leute vorbei, denen der Krieg nichts angetan hatte. Ihr Leben schien ohne Brüche, und ihr Reichtum war nie Gegenstand der Diskussion. Sie waren in ihm aufgewachsen, und sie hatten ihn auf wunderbare Weise in die neue Zeit gerettet. Anfangs behandelten sie mich mit Neugier, nicht unfreundlich, immer höflich und korrekt. Aber natürlich war ihnen meine zweifelhafte Herkunft suspekt. Außerdem hatte ich kein Geld. Das ließen sie mich spüren. Ich würde nie dazugehören …
Eines Tages fand eine Rebhuhnjagd auf dem Gut eines Freundes der Familie statt. Adrienne sah darin wahrscheinlich eine Gelegenheit, mir Aufmerksamkeit zu verschaffen. Oder ihr …
Wie auch immer, jedenfalls kriegte ich Aufmerksamkeit.
Eine, die mir nicht lieb sein konnte …
Zum ersten Mal seit Ende des Krieges hatte ich wieder eine Waffe in der Hand. Ich wollte erst gar nicht. Dachte auch, daß ich’s vielleicht verlernt hätte … Aber das verlernt man nicht. Das ist wie Fahrradfahren. Ich schoß wie immer, trotz meines Korsetts. Konzentriert, präzise und … automatisch.
Als wäre ein Schalter umgelegt worden.
Ich erinnere mich an das Aufflattern der Vögel … an ihr jähes Abkippen … und das dumpfe Aufschlagen im hohen Gras.
Ich sah das alles ganz deutlich … und konnte nicht aufhören.
Ich schoß, bis sich nichts mehr regte … bis die Hunde keinen gottverdammten Vogel mehr aufspürten oder alle hinüber waren … Die anderen Jagdteilnehmer hatten schon lange vorher das Schießen eingestellt. Sie guckten mir nur noch zu.
Als ich mich endlich umdrehte, sah ich in ihren Augen Staunen und … Erschrecken. Ich war auch erschrocken. Nie zuvor hatte ich bloß zum Selbstzweck gejagt. Und nie mehr Tiere als nötig getötet. Diese vielen toten Vögel … die niemand dort zum Essen brauchte … Ich hatte geschossen, als wäre ich im Krieg …
Von dem Tag an begann sich einer der hochwohlgeborenen Schnösel, die um Adrienne herumscharwenzelten, für meine Vergangenheit zu interessieren. Stellte Fragen. Wollte wissen, was ich während des Krieges gemacht hätte. Wollte es genau wissen. Ließ nicht locker. Machte Andeutungen. Schien Erkundigungen einzuziehen. Erst im Sanatorium von Marburg.
Dann wohl auch bei den Alliierten. Er wurde zunehmend feindseliger. Gab vor, daß man sich Nestbeschmutzer vom Halse halten müsse. Jetzt, wo es darauf ankam, sich neu zu arrangieren … Sagte schließlich ganz offen, daß er glaube, ich habe Dreck am Stecken. Und daß er das beweisen werde, egal wie … In Wirklichkeit, denke ich, wollte er freie Bahn bei Adrienne. Aber ich erzählte ihr nichts davon.
Ich hatte das Gefühl, daß sich eine Schlinge zuzog. Der Kerl besaß genügend Einfluß, um mich aus dem Weg zu räumen.
Denunziation ist ein sehr deutsches Geschäft …
Irgendwie kam er an Wehrmachtsunterlagen, die auswiesen, daß ich die Offiziersschule in Jena besucht hatte. Das war an sich nicht weiter belastend, aber ich wußte nun, daß er nicht eher ruhen würde, bis er mir irgend etwas in die Schuhe geschoben hatte … Meine Tage im Palais waren gezählt.
Eines Nachts, die Party war in vollem Gang, habe ich mich ohne Abschied aus dem Staub gemacht. Es kam mir vor, als ginge ich von Bord eines Musikdampfers …“
Robert sah, daß der Schaum im Gesicht seines Vaters getrocknet war. Eine rissige Maske. Er mußte noch mal von vorn beginnen.
„Verstehe ich nicht“, sagte er und schlug in seiner linken Handfläche neuen Schaum auf. „Ein Wichtigtuer droht dir, und du haust einfach ab. Sieht dir gar nicht ähnlich.“ Er lud eine frische Schaumwolke auf den Pinsel. „Er hat doch geblufft, oder?“
„Ja“, sagte sein Vater matt. „Wahrscheinlich.“
„Was heißt wahrscheinlich? Das mußt du doch wissen?“
„Ich war mir nicht sicher.“
„Das bißchen Verklärung für die Baronin? Du hast sie ins Bett gequatscht, na und? Hab ich schon bei Frauen ohne Adelstitel versucht. Ein Kavaliersdelikt.“ Robert grinste.
„Es ging nicht um das, was ich Adrienne erzählt hatte.“
„Sondern?“
„Um das, was ich ihr nicht … Was ich noch niemandem …“ Die Stimme seines Vaters versickerte in der Kehle, er rang mit sich, dann überwand ihn der Hustenanfall.
„Wollen wir für heute Schluß machen?“, fragte Robert, als sein Vater wieder ruhiger atmete.
Der alte Mann schüttelte den Kopf und zeigte auf den Rasierpinsel. Robert arbeitete jetzt zügig. Die Gesichtshaut seines Vaters war erschlafft und er straffte sie an den Schläfen. Der alte Mann ließ es mit leeren Augen geschehen und zeigte auch keine Reaktion, als das Rasiermesser am Kinn hängenblieb und Blut aus einer Schnittwunde quoll, wie eine im Zeitraffer erblühende Rose.
„Tut mir leid“, murmelte Robert und tupfte mit einem Handtuch das Blut und die Schaumreste ab.
Er ging zu der abgeteilten Toilette im Zimmer, riß ein Stück Klopapier ab und klebte dann einen Schnipsel auf die Wunde seines Vaters. Der alte Mann blieb apathisch.
Robert begutachtete unschlüssig das Ergebnis seiner Rasur. Immerhin hatte er es versucht.
„Werd mal ein frisches Handtuch besorgen“, sagte er.
Am Ende des Flurs stand Dr. Wehner, der Stationsarzt, im Gespräch mit einer Frau. Sie hielt ihn mit einer Hand am Ellbogen, eine seltsam intime Geste, und Robert wandte sich nach der anderen Seite des Flurs.
Er klopfte an die Scheibe des Schwesternzimmers und die diensthabende Schwester winkte ihn herein.
„Was gibt’s?“, fragte sie und wühlte in einem Haufen Formulare.
„Wir bräuchten mal ein frisches Handtuch.“ Robert hielt das fleckige Handtuch hoch.
„Die werden nach dem Abendessen gewechselt“, sagte sie und schaute kurz auf die Wanduhr.
„Mein Vater hat keinen Appetit, vielleicht kann er jetzt schon ein neues kriegen.“
Die Schwester sah Robert mißbilligend an und ging dann zu einem Wäschestapel.
„Die Besuchszeit ist vorbei“, sagte sie streng und gab ihm das Gewünschte.
„Ich dachte …“
„Oder haben Sie eine Erlaubnis von Dr. Wehner?“ Sie kümmerte sich bereits wieder um ihre Formulare.
„Nein, aber da kann ich ja gleich mal einen Antrag stellen oder so“, sagte Robert bissig.
„Antrag wofür?“ Die Stimme aus dem Hintergrund elektrisierte die Schwester, und Robert drehte sich um.
Dr. Wehners Zehnkämpferfigur füllte den Türrahmen, sein weißer Kittel schien eine Nummer zu eng.
„Guten Tag, Herr Shelkow!“ Er nahm Robert das fleckige Handtuch mit einer Pranke ab, die sich nur schwer mit der Vorstellung von einem Chirurgen vereinbaren ließ.
„Es geht um die Einhaltung der Besuchszeiten“, sagte die Schwester pikiert.
„Schon gut“, sagte Dr. Wehner. „Könnten Sie uns bitte einen Augenblick allein lassen, Schwester Susanne?“
Die Schwester bedachte Robert mit einem schrägen Blick und schritt hoch erhobenen Kopfes hinaus.
Dr. Wehner besah sich die Blutflecken auf dem Handtuch und warf es dann in einen Korb.
„Kleines Massaker?“, sagte er. Sein jungenhaftes Gesicht wirkte müde und abgespannt. Robert schätzte ihn auf Mitte Dreißig, etwa sein Alter.
„Ich bin als Barbier nur bedingt geeignet“, sagte Robert.
„Man tut, was man kann“, sagte Dr. Wehner. Seine rechte Hand unternahm merkwürdige Greifbewegungen, und Robert starrte auf den blitzenden Ehering.
„Klar“, sagte er.
„Ihr Vater kämpft wie ein alter Löwe.“
„Der Vergleich würde ihm gefallen, aber …“
„Aber?“ Dr. Wehner sah ihn aufmerksam an.
„Die Kämpfe alter Löwen sind in Wirklichkeit nicht heroisch, sondern höchstens mitleiderregend. Alte Löwen sind nämlich ganz übel dran. Glauben Sie mir.“
„Klingt, als würden Sie sich auskennen.“
„Sozusagen.“
„Großwildjäger?“ Dr. Wehner lächelte fein.
„Beobachter.“
„Was für ein Luxus, beneidenswert.“
Dr. Wehner fixierte mit hochgezogenen Brauen einen Punkt zwischen Roberts Augen.
„Was ich eigentlich ausdrücken wollte, ist, daß Ihr Vater über eine zähe Energie verfügt.“
„Ich weiß. Wie lange wird sie … Ich meine, wieviel Zeit bleibt ihm?“
„Schwer zu sagen. Ein paar Tage, ein paar Wochen …“
Dr. Wehner blickte auf die Papierflut auf dem Schwesternschreibtisch. „Er wirkt unruhig. Trotz des Morphiums und weniger wegen der Schmerzen, die wir in den Griff bekommen sollten. Er muß schreckliche Träume haben …“
Robert entsann sich der Nächte, als sie noch eine Familie waren, in denen der Vater sie in seinen Alpträumen aus dem Schlaf schrie. Und sie ihn zurück ins Bett brachten und beruhigend auf ihn einredeten. Ein weinender, kräftiger Mann, mit bebenden Schultern, in einem lächerlichen Schlafanzug.
Am Morgen war dann alles vergessen. Bei Licht fliegen die Gespenster fort, hatte die Mutter gesagt, und mit ihm die Gespensterstimme des Vaters.
„Jeder lebt in seiner Nacht“, sagte Robert leise.
„Ja“, sagte Dr. Wehner und drehte den Ring an seinem Finger.
„Wir können hier nur physische Schmerzen erträglich machen, wenn überhaupt.“ Dr. Wehner verschränkte die Arme vor der Brust. „Vielleicht braucht er Sie mehr als das Morphium, um Ruhe zu finden … Trotzdem denke ich daran, ihm die Pumpe zu geben.“ „Was für eine Pumpe?“
„Eine Morphiumpumpe. Die kann Ihr Vater selbst bedienen, um die Dosis den Schmerzen anzupassen. Das entlastet auch die Schwestern, die mit dem freien Willen Ihres Vaters gelegentlich in Konflikt geraten.“
„Verstehe“, sagte Robert und mußte lächeln.
„Das ist etwas heikel und gewissermaßen eine Ausnahme. Kein Arzt läßt sich sonderlich gern darauf ein. Eine ethische und juristische Grauzone, obwohl die Pumpen gegen Mißbrauch verschlüsselt sind.“
„Haben Sie vielen Dank.“
„Keine Ursache, das ist mein Job.“ Dr. Wehners Augen unter dem strubbligen Haarschopf blinzelten. „Etwas gegen das Leiden alter Löwen zu tun.“
Robert rollte das frische weiße Handtuch zusammen.
Wieder im Zimmer seines Vaters wusch Robert die Schale und den Rasierpinsel aus, reinigte sorgfältig das Messer und legte alles an den Ort, an dem er es vorgefunden hatte.
Dann griff er sich das Rasierwasser und massierte behutsam die Gesichtshaut des alten Mannes, die sich wie feuchtes Fensterleder anfühlte. Das Kinn seines Vaters ruhte auf der grotesk hervorspringenden Brücke des Schlüsselbeins. So wie es aussah, war Sterben auch ein Verlust der Proportionen.
„Ich würde so gern noch einmal den Hof sehen“, flüsterte sein Vater. „Die Bäume, die ich gepflanzt habe …“
„Ich mache ein paar Fotos“, sagte Robert. „Die bringe ich dir mit.“
„Nein, nein. Das meine ich nicht. Ich will es mit eigenen Augen sehen.“
Robert schwieg.
„Du könntest mich hinbringen. Ein Ausflug.“
„Das geht nicht. Das weißt du selbst.“
„Den kleinen Gefallen bist du mir schuldig. Nach all den Jahren, in denen du dich nicht einmal hast blicken lassen.“
„Ich bin dir überhaupt nichts schuldig“, zischte Robert und nahm die Hände vom Gesicht seines Vaters.
„Erst hat mich deine Mutter verlassen, und dann du.“ Sein Vater seufzte.
Robert konnte sich nur mit Mühe beherrschen.
„Wie bitte? Wenn ich mich richtig erinnere, warst du der Erste, der sich für immer aus dem Staub machen wollte. Schon vergessen?“
„Mag sein, daß das ein Grund für deine Mutter war. Aber nicht für dich. Denn du bist erst geblieben. Du hattest andere Gründe fortzugehen.“
„Jawohl, ich hatte andere Gründe“, sagte Robert mit Nachdruck. „Triftige Gründe.“
„Die du mir nie mitgeteilt hast.“
„Die du nicht hören wolltest.“
„Wie konnte ich?“, begehrte sein Vater auf. „Du hast dich mir entzogen. Von einem Tag zum anderen warst du nicht mehr da.“
„Ich war nicht aus der Welt. Du hattest eine Adresse. Du hättest mich erreichen können, wenn dir daran gelegen gewesen wäre.“
„Keiner von uns konnte den ersten Schritt tun, nicht wahr?“, sagte sein Vater mit trauriger Stimme.
„Ich habe dir Signale geschickt“, sagte Robert trotzig.
Er dachte an die Feldpost.
„Deine Bilder … Ja … Ich habe sie mir oft angesehen …
Du bist bestimmt sehr gut in deinem … in dem, was du tust …
Aber ich habe dich nicht gefunden … in diesen Bildern …“
„Es war immerhin mein Blick“, sagte Robert.
„Ja, natürlich … Sie sind übrigens alle da drin, deine Bilder.“ Sein Vater zeigte zum Schrank.
Robert war erstaunt, wollte aber nicht nachschauen.
„Laß uns nicht mehr streiten“, bat sein Vater. Er richtete sein Augenmerk auf das Schachkästchen, das unberührt auf dem Besuchertisch stand.
„Nur noch auf dem Schachbrett, ja?“, sagte er mit einem entwaffnenden Lächeln.
Robert zuckte mit den Schultern.
„Morgen nehmen wir unsere Hängepartie wieder auf“, verkündete sein Vater und Robert ahnte, daß noch etwas kommen würde. Der Alte verlor selten ein Ziel aus den Augen.
„Der Gewinner hat einen Wunsch frei“, sagte er listig.
„Was ist, wenn ich keinen Wunsch habe, den du erfüllen könntest?“, fragte Robert.
„Denk dir einen aus. Meinen kennst du ja.“
4
Als Robert erwachte, konnte er sich kaum bewegen. Die angezogenen Knie schmerzten und der Rücken fühlte sich an, als wäre er mit Zement ausgegossen. Er hatte nun schon die zweite Nacht auf dem zu kurzen Sofa in der Sommerküche verbracht, weil sich alles in ihm dagegen sträubte, ins Wohnhaus zu wechseln oder das Bett aus der Dachstube herüberzuschleppen. Er würde keinen Tag länger bleiben als nötig, und darum gab es auch keinen Grund, das Provisorische seines Aufenthaltes aufzugeben. Trotzdem mußte er sich zum Schlafen etwas einfallen lassen.