Herr der Flüsse - Mike Meto Mettke - E-Book

Herr der Flüsse E-Book

Mike Meto Mettke

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Beschreibung

In der Wildnis eines Brandenburger Naturschutzgebietes verschwindet spurlos ein wohlhabender Geschäftsmann. Tragischer Unfall, Entführung oder Mord? Hauptkommissar Volker Sandberg steht vor einem Rätsel. Er sieht sich einer Umgebung ausgesetzt, die sich seinen städtischen Erfahrungen entzieht. Keine Zeugen und eine misstrauische Dorfbevölkerung, die menschliche Abgründe ahnen lässt. Er beginnt routiniert zu ermitteln, aber merkt schnell, dass da draußen in den Wäldern und verzweigten Flussläufen ein raffinierter Gegner unterwegs ist, der nach eigenen Regeln spielt. Es wird ein Wettlauf mit der Zeit … Herr der Flüsse erzählt atmosphärisch dicht und in schnellem Perspektivwechsel das Erleben der Protagonisten und kommt als Gesellschaftsroman im Gewand eines Krimi-Noir daher.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 218

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Mike Meto Mettke

Herr der Flüsse

Roman

Copyright: © 2019 Mike Meto Mettke

Umschlag & Satz: Sabine Abels – e-book-erstellung.de

Titelbild: © Uta Mettke

Verlag und Druck:

tredition GmbH

An der Strusbek 10

22926 Ahrensburg

Softcover

978-3-347-76870-3

Hardcover

978-3-347-76871-0

E-Book

978-3-347-76872-7

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig. Freiheiten, die sich der Autor bei der regionalen Geografie erlaubt, dienen nur der erfundenen Wahrheit.

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

„Realität ist das, was nicht verschwindet, wenn man aufhört, daran zu glauben.“

Philip K. Dick

Gunther von Zaschwitz,

22. September 2019, 08.45 Uhr

Es ist Sonntagmorgen und der Wetterbericht für Brandenburg verspricht noch einmal Höchsttemperaturen von 25°C.

Er hat es kurz vorher auf seiner Wetter-App gecheckt, nachdem er ein paar Mails überflogen hat. Die Börsen sind geschlossen. Freizeit für ein paar Stunden.

Das Handtuch um den Bauch geschwungen, steht er nun am Steg seines Anwesens und genießt die Sonne in seinem Rücken und die Lichtreflexe vor ihm auf dem Fluss. Rita hat ihm ein Rührei-Frühstück versprochen, weil die Köchin heute nicht im Haus ist. Er hat vergessen, warum.

Er schaut stromauf und stromab, keine Paddler auf dem Fluss, der ein Nebenarm der Spree ist. Genauer betrachtet, ein zehn Kilometer langer Bypass zum Oder-Spree-Kanal. Genug Abstand zum touristischen Publikumsverkehr, auch weil hier bald keine Motorboote mehr erlaubt sind. Geplantes Naturschutzgebiet. Für ihn und sein Grundstück ein Wertzuwachs als Hort der Ruhe und Abgeschiedenheit. Die Anwohner im nahen Dorf sehen das anders.

Er streckt sich, legt das Handtuch über den Campingstuhl auf der hölzernen Plattform und geht bis an das Ende des Stegs, um an der Leiter ins Wasser zu steigen.

Der plötzliche Stich eines großen Insekts in seinem Nacken lässt ihn herumfahren. Hornisse, Bremse …

Er schlägt sich fluchend ins Genick. Streift das Insekt ab und will nachschauen, was es ist. Aber es muss in eine Spalte zwischen den Planken gefallen sein. Er reibt sich den Hals.

Dann wartet er ein Weilchen, um den Schreck abklingen zu lassen, der ihm die Vorfreude auf das Erfrischungsbad verdorben hat.

Über ihm beginnen die Kronen der Erlen zu kreisen …

Die Oberschenkel werden weich.

Er versucht noch, sich an der Leiter festzuhalten und stürzt dann ins Wasser. Spürt die augenblickliche Kühle, die ihn umgibt. Und dann auch das nicht mehr.

Jonas Kohlhaus,

22. September 2019, zur selben Zeit

Er hat nicht mehr als anderthalb Stunden warten müssen.

Kein Vergleich zur wochenlangen Vorbereitung.

Und zu warten, lernt jeder Soldat. Einer mit seiner Ausbildung sowieso.

Auch wenn das Wasser immer noch recht warm ist, mit dem Neopren-Anzug nebst Haube bleibt es komfortabel.

Wasserfeste Tarnschminke macht sein Gesicht unauffällig.

Die Kurzflossen an seinen Füßen sinken im Uferschlamm nicht ein. Das Blasrohr, ein Professional 4 Foot Big Bore .625 Magnum Blowgun, ist auf der Astgabel eines überhängenden Strauches ruhiggestellt, hinter dem er sich verbirgt.

Als sich die Zielperson etwas vorbeugt und den bloßen Nacken freigibt, bläst er ins Rohr.

Der Injektionspfeil entlädt die Hellabrunner Mischung in den Hals des Opfers. Xylazin und Ketamin. Für die Tierbetäubung entwickelt.

Jetzt muss er abwarten, ob die Dosis reicht.

Er sieht, wie die Zielperson vom Steg ins Wasser fällt.

Steckt das Blasrohr schnell in den Köcher und gleitet zu dem leblosen Körper im Wasser.

Jonas dreht den dickbäuchigen Mann auf den Rücken, klemmt ihm einen aufgeblasenen Schwimmkragen um den Hals, schlingt eine Brustleine, deren Ende er sich an den Tauchgürtel klippt und zieht den Mann hinter den Strauch am Ufer.

Dort startet er den Yamaha-Tauchscooter, den er im Wurzelwerk deponiert hat. Leise surrt der Elektromotor.

Dann geht es stromauf.

Nach zwei Kilometern biegt er links in ein schmales Fließ ein. Stoppt nach knapp hundert Metern den Tauchscooter und laviert die menschliche Fracht vor einen großen und verlassenen Biberbau.

Dort stupst er den noch immer Bewusstlosen kurz unter die Wasserlinie und dann in den Eingang der Höhle.

Er muss die heftigen Schmerzen in seiner Wirbelsäule mit zusammengebissenen Zähnen unterdrücken, als er den schwergewichtigen Mann ins Innere des Biberbaus zerrt.

In Eckernförde haben sie die Bergung von Verwundeten trainiert, aber da war er auch im Vollbesitz seiner Kräfte. Jetzt ist er nur noch im Wasser einigermaßen schmerzfrei.

Jonas horcht kurz an der Nase seines Opfers, fühlt den Puls.

Der Mann lebt.

Jonas schaltet eine kleine LED-Lampe ein.

Auch wenn der Biberbau im Grunde nur noch eine äußere Tarnhülle darstellt, dessen Inneres er erweitert, abgestützt und ausgekleidet hat, erinnert er ihn an die Idee eines Wigwams, wie aus den Abenteuerbüchern seiner Kindheit, die ihm die Frau, die seine Ersatzmutter werden sollte, damals in der Bibliothek zugänglich machte. Aber er verbietet sich, jetzt daran zu denken. Er muss kühl bleiben. Ruhig und gefasst. Wie der Fluss, der jenseits des Biberbaus vorüberfließt.

Rita von Zaschwitz,

22. September 2019, 09.55 Uhr

Das Frühstück, das sie ihm bereitet hat, weil Zuzanna heute zur Beerdigung ihrer Großmutter in Slubice ist, steht längst kaltgeworden auf dem Tresen der Wohnküche. Das kurze Flussbad dauert nun schon über eine Stunde. Wahrscheinlich sitzt Gunther aber am Ufer und führt unaufschiebbare Telefonate.

Rita spürt den gärenden Verdruss aufkommen, den sie an den gemeinsamen Wochenenden zu unterdrücken sucht, weil sie für ihre Kinder eine harmonische Familienatmosphäre wünscht. Es ist doch nicht zu viel verlangt, wenigstens am Sonntag die Aufmerksamkeit der Familie zuzuwenden.

Er arbeite nur für sie, pflegt ihr Mann bei entsprechenden Vorwürfen zu antworten. Er schaffe schließlich den Wohlstand, in dem sie leben.

Als hinge Glück nur vom Wohlstand ab.

Sie öffnet den Kühlschrank und gießt sich aus der Flasche Chablis ein erstes Glas voll.

Dann ruft sie nach Leon, ihrem Sohn, der oben in seinem Zimmer garantiert an der Playstation zockt.

Ihr Blick fällt auf die Freizeitkleidung, die ihr Mann achtlos neben der großen Terrassentür fallengelassen hat.

Hinter der Terrasse rollt sich der kurzgeschorene Rasen bis zur frühherbstlichen Feuerwand der Essigbäume ab, die mit den darüber aufragenden Erlen die Sicht auf die Plattform und den Steg versperren.

Sie hebt Gunthers Sachen auf, um sie auf einen der Küchenhocker zu legen, als sein Smartphone scheppernd auf die Fliesen fällt.

Neugierig wischt sie das Z für Zaschwitz, um es zu entsperren.

Sechs Anrufe in Abwesenheit.

Sie ruft noch einmal, lauter, nach Leon. Dann scrollt sie sich durch die WhatsApp-Historie ihres Mannes.

„Was gibt’s denn?“, hört sie Leon hinter sich.

„Hol … Gunther! Der ist unten am Wasser.“ Beinahe hätte sie Hole deinen Vater gesagt, aber dann gäbe es wieder eine Grundsatzdiskussion.

„Kannst du das nicht machen?“

Rita dreht sich um und sieht ihren Sohn auf halber Treppe. Leons langes, ungekämmtes Haar wirkt wie eine Flagge des Trotzes. Ein pubertierender Vierzehnjähriger. An sich normal. Aber sie hat jetzt keinen Nerv dafür. Mit Sophie ist alles leichter. Sie ist Gunthers geliebter Sonnenschein und ihrer beider Tochter, und sie ist erst sieben.

„Tu einfach, was ich dir sage.“

Leon kommt nach zehn Minuten zurück.

„Der iss nirgends“, knurrt er und schleicht an ihr vorbei.

Rita läuft zum Ufer, um sich selbst ein Bild zu machen.

Sie sieht Gunthers Badelatschen auf der Plattform und das Handtuch über der Lehne des Campingstuhls.

Dann geht sie bis zum Ende des Stegs. Schaut nach links, schaut nach rechts, wo der weite Blick erst von den Biegungen des Flusses begrenzt wird.

Sie weiß sofort, dass ihr Mann nicht so weit geschwommen ist.

Sie weiß auch, dass er nicht barfuß in den Wald gegangen ist.

Gunther, dessen empfindliche Fußsohlen nicht einmal einen Kiesstrand beim Urlaub an der Adria vertragen haben.

Über ihr klopft ein Specht. Hämmert, wie verrückt. Es hört sich an, als wolle er sie zur Eile antreiben.

Sie ruft Gunthers Namen. Zunächst zaghaft. Dann nachdrücklicher. Schließlich schreit sie so laut, wie sie es sich nie hätte vorstellen können. Sie hört ihren Groll, die gesteigerte Wut, die sich entladen. Am Ende tränenlose Verzweiflung.

Ihr fröstelt plötzlich. Es will ihr nichts einfallen, was die Situation erklären könnte.

Dann rennt sie schnell zum Haus zurück.

Gunther von Zaschwitz,

22. September 2019, 10.15 Uhr

Als er die Augen aufschlägt, blickt er in pures Gold.

Zugleich spürt er den einschießenden Kopfschmerz und Übelkeit, was ihn die Augen wieder zukneifen lässt.

Er bewegt vorsichtig Hände und Zehen, bekommt langsam sein Körpergefühl zurück, merkt, wie kalt ihm ist und dass er nackt auf dem Boden liegt. Hinter seiner Stirn pulsieren die Schmerzwellen. Das Herz beginnt zu rasen, stottert, nimmt wieder Fahrt auf.

Ich habe einen Herzinfarkt, ist sein erster Gedanke.

Oder einen Schlaganfall. Noch einmal bewegt er Arme und Beine. Die gehorchen. Besser so. Einen Angriff aufs Herz kann er eher verkraften als einen aufs Hirn.

Er öffnet erneut die Augen, und der Goldhimmel ist immer noch da. Wölbt sich jetzt allerdings klein wie die Kuppel eines Iglus und wirkt knittrig, als hätte man es mit Goldfolie zu tapezieren versucht.

Leider kann er sich beim besten Willen nicht erinnern, was ihn in diese Lage gebracht hat.

Er bemerkt die Bewegung eines Schattens im Augenwinkel und dreht den Kopf. Was er sieht, befördert keine Erinnerung.

Eine Art Yogi im Schneidersitz und Taucheranzug, der ihn mit Kriegsbemalung im Gesicht reglos beobachtet. Wenn es nicht so absurd wäre und ihm so schlecht, könnte er lachen. Und wenn er zu den Lebenden zurückkehrte, davon berichten, dass der Himmel dringend einen besseren Innendekorateur brauche und Gott ein beschissener Yogi mit unangemessen amphibischen Neigungen ohne sichtbares Mitgefühl sei.

Er ist also nicht in einem Krankenhaus.

Aber wo ist er dann?

Der Yogi gibt seine Stellung auf und wirft ihm ein paar Sachen auf den Bauch.

„Zieh das an!“

Weil ihm furchtbar kalt ist, stellt er keine Fragen.

Er richtet sich auf, aber ihm ist schwindlig.

Der Yogi hilft ihm beim Überstreifen des Trainingsanzuges.

Dann reicht er ihm eine Mineralwasserflasche.

Gunther trinkt. Schaut dabei in das ausdruckslose Gesicht seines Gegenübers, dessen geschminktes Gesicht nichts verrät.

Der Yogi nimmt ihm die Flasche ab und schraubt den Verschluss zu.

„Wo bin ich hier? Und … warum?“ Wenn er jetzt doch nur den Ansatz einer Erinnerung fände.

„Wo du bist, ist unwichtig. Das Warum, ist die richtige Frage. Ich werde dir Zeit geben, darüber nachzudenken.“

„Oh Mann, das können wir doch jetzt gleich …“

„Nein!“, fährt ihm der Yogi dazwischen. „Es ist völlig klar, was du dir in diesem Moment erhoffst. Aber das bringt dich nicht weiter. Du hast eine Chance, die ich dir verspreche, und in meiner Welt gelten Versprechen noch. Du riskierst diese Chance, wenn du darauf hoffst, mich zu täuschen. Du erhältst dir diese Chance, wenn du nicht wie ein typisches Opfer handelst. Du hoffst nicht auf Hilfe von außen. Du spekulierst nicht mit meinen Fehlern. Nein, du denkst über die Einsicht einer ungesühnten Schuld nach. Ernsthaft. So kannst du überleben. Und nur darum geht es für dich: Überleben.“

„Aber … Woher soll ich … Ist das irgendeine religiöse Scheiße? Oder was Politisches? Oder … bist du einer von den Öko-Spinnern? Weltrettern? Mann …“

„Nein. Nimm es persönlich.“

Der Yogi legt ihm Handschellen an. Hinter dem Rücken.

Und dann wickelt er ihn in eine Plastikfolie, rollt ihn zu einer bewegungslosen Mumie. Versiegelt ihn mit Gaffa Tape.

Zum Schluss verklebt er ihm den Mund.

„Frage dich einfach: Was habe ich getan, wofür ich sühnen sollte? Ich werde morgen wiederkommen.“

Gunther bemerkt noch stumm, wie der Yogi eine Schwimmbrille vors Gesicht schiebt, Flossen anzieht und die LED-Lampe ausschaltet. Dann plätschert Wasser und eine von ihm noch nie so erlebte schwarze Stille kehrt ein.

Leon,

22. September 2019, 16.03 Uhr

Seine Mutter hat die Bullen gerufen. Zwei Beamte in Uniform haben sich ziemlich relaxt seine aufgeregte Mutter angehört.

Und Sophie hat geweint. Sophie ist lieb, aber sie weiß auch schon genau, wann man weinen sollte.

Danach kam auf dem Gelände jedoch Betrieb auf. Gunther ist nicht irgendwer. Jetzt wird nach ihm gesucht.

Er steht auf dem Flachdach des Hauses, auf das er – verbotenerweise – über die Leiter im Lichtschacht geklettert ist und lässt die Mavic DJI Mini 2 in den Himmel steigen.

Gunther hat ihm die Drohne zu Weihnachten geschenkt. Natürlich, um sich bei ihm einzuschleimen. Aber das Ding ist trotzdem ziemlich krass.

Leon schaut auf sein Smartphone und steuert die Drohne, die nur so viel wie ein Apfel wiegt und in eine Handfläche passt.

Vier kleine Propeller lassen sie über die Wipfel der Bäume am Ufer steigen, und er sieht jetzt das Schlauchboot und die Taucher, die nach Gunther suchen.

Er lässt die Mavic zehn Meter über dem Fluss auf einer fixen Position schweben. Das Wasser ist zu dieser Jahreszeit glasklar. Man kann an den flacheren Stellen bis auf den Grund sehen. Erkennt sogar die vielen Muschelschalen. Im Sommer ist das anders. Da überzieht Entengrütze die Ufer und das Wasser ist trüb.

Die Taucher suchen vor allem stromab.

Er hat mitbekommen, dass man einen Unfall vermutet. Herzkasper oder so. Gunther ist für ihn ein alter dicker Mann, der viel Geld hat und mit seiner Mutter zusammen ist. Gunther kann nett sein und den Kumpel raushängen lassen. Und er ist nicht geizig. Aber man spürt immer die Absicht.

Jetzt sieht Leon, wie ein Hundeführer seine Töle an Gunthers Handtuch riechen lässt. Was so wirkt, als würde er dessen Schnauze abtrocknen, bevor er lange Leine gibt. Er hört das Bellen.

Er folgt dem Hund mit der Drohne.

Der Hund rennt durchs Unterholz, kommt aber schnell zurück und umkreist die Uferplattform. Das wiederholt sich ein paarmal.

Manchmal sitzen sie zusammen am Ufer, in Familie, wenn Gunther mal Zeit hat. Mit Kerzen in einer Laterne von IKEA.

In der Dämmerung kann es dann vorkommen, dass ein Biber sehr nah vorbeischwimmt. Das ist schön, aber Gunther will das danach immer irgendwie auswerten. Spricht über die Natur, als hätte er Ahnung davon. Dabei weiß er rein gar nichts.

Armin redet anders. Der ist aus dem Dorf und noch viel älter als Gunther. Sie haben sich beim Angeln angefreundet.

Armin besitzt nicht mal ein Handy. Aber er hat Ahnung von Technik. Einer Technik, die ihm vorkommt, als wäre sie aus einem anderen Jahrhundert. Riesige Radios und Röhrenfernseher. Fotoapparate, in die man noch Filmrollen einlegt. Antike Uhren, so groß wie Kindersärge.

Wenn es Probleme mit irgendwelchen elektrischen Geräten gibt, läuft seine Mutter ins Dorf zu Armin. Und Armin lötet dann den Fön oder Rührmixer oder sowas.

Deshalb darf er auch zu Armin gehen, wann immer er will.

Dann sitzen sie im Kabuff, wie es Armin nennt, und sie labern über Technik. Er lernt von ihm, aber Armin lernt auch von Leon. Fragt, wie er programmiert und wie das Internet funktioniert und welche Spiele er so spielt. Und erinnert ihn daran, dass es letztlich immer Geräte sind, die das alles machen. Kondensatoren und Widerstände und solches Zeug. Gleichstrom und Wechselstrom.

Und dass es ohne Strom nichts mehr gibt, was man nicht im Kopf hat.

Leon lässt die Drohne an Höhe gewinnen. Der Akku erlaubt knapp dreißig Minuten in der Luft. Bis auf 4000 Meter kann sie abheben.

Er nimmt die Taucher ins Visier, die wie Eidechsen auf einer Glasplatte ergebnislos nach Gunther suchen.

Die Drohne steigt höher. Und Leon wird wieder bewusst, wie weit sich die Wälder und Felder rund um ihr Haus erstrecken, wie weit die nächsten Dörfer jenseits von Dabenow entfernt sind und wie weit sich der Fluss unbesiedelt durch die Landschaft schlängelt.

Sie wohnen am Arsch der Welt, aber das stört ihn nicht. Er ist sowieso lieber allein. Er wird mit dem Auto zur Schule in Beeskow gebracht, weil der Bus nur zweimal am Tag nach Dabenow kommt. Manchmal fährt er auch mit dem Rad. Wenn seine Mutter am Vorabend wieder zu viel getrunken hat und Gunther schon weg ist.

Einmal hat ihn Armin in seinem alten UAZ-469 zur Schule gebracht. In so einem echt abgefuckten Russen-Jeep vorzufahren, war ziemlich cool. Und unterwegs durfte er auf der Straße durch den Sauener Wald selbst fahren. Armin hat ihm die Schaltung erklärt, und los ging es. Ein paar Mal hat er den Motor abgewürgt, aber Armin blieb völlig entspannt und hat gemeint, dass es jedem Anfänger so gehe. Danach hat er sich gar nicht so blöd angestellt und Armin hat ihm versprochen, dass sie das Autofahren demnächst üben würden. Im Wald.

Bei mir lernst du es von der Pike auf, hat Armin gesagt.

Danach hat er sich so gut wie lange nicht gefühlt.

Gunther lässt ihn nicht mal ans Navi seines BMW-SUV. Obwohl er das Ding nicht mal halbwegs begriffen hat. Gunther denkt nur in PS.

Leon folgt den Tauchern mit der Drohne bis zum Wehr.

Spätestens dort bleibt alles hängen, was größer als ein Schwimmring ist. Das weiß er, weil Sophie einmal ihren aufblasbaren XXL-Schwan unbemerkt im Wasser treiben ließ und sie ihn später am Wehrgitter wiederfanden.

Leon sieht auf seinem Display, wie die Taucher wieder in das Schlauchboot klettern.

Was, wenn Gunther tatsächlich ertrunken ist, denkt Leon jetzt zum ersten Mal. Müsste er dann nicht traurig sein?

Aber ihm fällt nur seine Mutter ein. Und er will, dass seine Mutter nicht unglücklicher wird als sie ohnehin zu sein scheint.

Jonas Kohlhaus,

22. September 2019, 19.08 Uhr

Jonas schiebt sein Mountainbike die letzten Meter bis zum Kontrolldurchlass der Kurmark-Kaserne.

Willkommen im IT-Standort Storkow, liest er nun schon gewohnheitsmäßig von dem Schild ab, das am Zaun der Kaserne des Informationstechnikbataillons 381 hängt.

Nach seiner Verwundung vor der somalischen Küste ist er hierher versetzt worden, was vor allem damit zusammenhing, dass er in der nahen Klinik in Bad Saarow optimale Bedingungen für seine Reha vorfand. Auf dem Kasernengelände darf er ein kleines Apartment bewohnen und sein lockerer Dienstplan erlaubt ihm einige Freiräume bis zur vollständigen Genesung. Er fühlt sich den Kameraden verbunden, die ihm von hier aus, so weit von den Gewässern am Horn Afrikas entfernt, mit den von ihnen bereitgestellten Funkverbindungen das Leben gerettet haben. Und die Kameraden, mit denen er hier Kontakt hat, respektieren ihn, weil er einer von den Männern da draußen ist, die ihren Arsch sehr real riskieren, während sie das Ganze vor Bildschirmen erleben. Jeder von ihnen hat auch schon geschossen. Auf dem neuen Schießplatz, der im Osten an die Glubig-Seenkette grenzt. Sie haben Jonas von den Umweltauflagen für dessen Errichtung erzählt und dabei meist die Augen verdreht, als wäre es ihnen peinlich.

Auf keinen von ihnen ist je in einem Gefecht geschossen worden. Und niemand von ihnen hat je auf einen Feind gezielt, geschweige denn jemanden getötet. Das Letztere fragen sie nach ein paar Bier in kleiner Runde. Und Jonas verweist dann jedes Mal auf seine Schweigepflicht. Aber sie können sehen, wie sehr ihn noch immer seine Verwundung behindert, auch wenn er die Schmerzen zu verbergen versucht.

Das Informationstechnikbataillon 381 in Storkow ist eine Dienststelle des Cyber- und Informationsraumes der Bundeswehr. Es betreibt mit seinen Soldaten die Kommunikationssysteme der Bundeswehr im Einsatz.

Jonas zeigt dem Posten seinen Dienstausweis und radelt dann zu seiner Unterkunft.

In seinem Zimmer angekommen, schaltet er sein Smartphone ein, das er dort zurückgelassen hat und sieht, dass ihm Marit in seiner Abwesenheit zwölf Nachrichten geschickt hat.

Jonas hat ihr oft erklärt, dass er aus Geheimhaltungsgründen selten erreichbar sei. Dass er sich aber immer, wenn möglich, von selbst melden würde. Dass sie ihm einfach vertrauen müsse oder auf eine Beziehung mit ihm verzichten.

Sie hat das bis jetzt akzeptiert. Die nächsten drei Wochen seien kompliziert, aber danach oder kurzfristig vorher, würden sie ihre Reise antreten können.

Habe heute alles in die Wege geleitet, sei unbesorgt, auch wenn von mir keine neuen Nachrichten kommen, tippt er als Antwort.

Dann schaltet er das Smartphone wieder aus.

Marit Mellner,

22. September 2019, 22.20 Uhr

Dein Englischer Patient, nennt Sandra ihren Freund.

Sandra mag alte romantische Filme. Sie arbeiten auf derselben Station. Und Sandra ist Expertin für Filme, in denen Krankenschwestern Hauptrollen spielen.

Marit hat sich den Film mit Juliette Binoche angeschaut, aber keine Ähnlichkeiten erkennen können. Vielleicht fehlt es ihr an Phantasie. Aber der Patient, den Ralph Fiennes verkörpert, ist ihrer Empfindung nach viel unmännlicher als Jonas. Oder weicher. Jonas ist oft schroff und verschlossen, kann aber auch überraschend sanft sein. Jonas kommt für sie aus einer sehr anderen Zeit. Sie trennen zwar nur 12 Jahre, aber seine Ansichten sind merkwürdig gegenwartslos.

Die Nachricht von ihm, die sie erst jetzt nach Dienstschluss einsieht, stimmt sie hoffnungsvoll, ist aber wie immer viel zu kurz und unbestimmt, um sie zu beruhigen.

Vor anderthalb Jahren haben sie sich in der Klinik kennengelernt, als ihr Jonas für eine Physiotherapie zugeteilt wurde. Da hatte er schon zwei Operationen an der Wirbelsäule hinter sich und ging noch immer zur Entlastung an Krücken.

Über die Herkunft seiner Verletzung weiß sie bis heute nur umrisshaft Bescheid.

Ein Steckschuss, hatte ihr der Chefarzt erklärt, der allerdings auch nichts über die genauen Umstände weiß.

Ein Querschläger, hatte Jonas korrigiert. Viel mehr an Information ist seitdem nicht hinzugekommen.

Jonas war Mitglied eines Sondereinsatzkommandos als Kampfschwimmer. Er war in ein Gefecht mit Piraten vor Somalia verwickelt, er ist verwundet worden und man hat ihn letztlich gerettet. Trotz Nachfragen blieb Jonas diesbezüglich einsilbig. Es war nicht so, dass er sich interessant machen wollte. Er konnte oder durfte einfach nicht darüber sprechen. Und es war auch kein Trick, sie ist nicht naiv, denn er hat in den ersten Monaten nicht ein einziges Mal versucht, sie anzubaggern.

Und alle, wirklich alle, die noch irgendwie meinen, in Frage zu kommen, flirten mit ihr wie Käfer, die man auf den Rücken geworfen hat.

Ein halbes Jahr lang hatte sie seinen Körper professionell kennengelernt, bevor sie das erste Mal miteinander schliefen.

Natürlich konnte sie nicht übersehen, wie dieser Mann, mit dem sie stundenlang und viermal die Woche Übungen und Tests absolvierte, halbnackt aussah. Er wirkte für sie wie einer der Käfig-Kämpfer, für die sich ihre Freundin Sandra in einer anderen widersprüchlichen Sphäre ihrer Aufmerksamkeit und mit einem Abonnement ausgestattet, an Stelle von Softpornos interessierte.

Jonas‘ Körperfettanteil betrug nach letzter Messung siebenkommaneun Prozent. Wenn sie über seinen Bauch strich, war es, als berühre man eine dünne Membran über einer Metallstruktur.

Ihr erstes Date war kein Restaurantbesuch in Bad Saarow.

Sie fuhren in die Lubischer Heide.

Und dort ließ er sie durch ein Nachtsichtgerät eine Wolfsfamilie beobachten. Es wirkte wie in einem Computerspiel, aber die Wölfe waren echt.

Hauptkommissar Volker Sandberg,

23. September 2019, 10.05 Uhr

Am frühen Morgen hat ihn die Oberstaatsanwältin angerufen, da war er noch beim Frühstück und in Gedanken an seinen Quarterback, der sich am Samstag gegen die Spandau Bulldogs bei einem unglücklichen Passversuch das Kreuzband gerissen hat. Könnte sein, dass damit die Saison gelaufen ist, denn der Nachfolger ist noch nicht so weit, die Position ausfüllen zu können.

Jetzt ist er hier im Nirgendwo brandenburgischer Einöde, weil ein einflussreicher Geschäftsmann verschwunden ist. Da muss er sich erstmal sortieren. Sein Kollege Kleefeld hat ihn kurz instruiert.

Sandberg steht allein auf der Uferplattform und schaut sich um. Kleefeld befragt die Familienmitglieder oben im Haus.

Schön, wenn man sich diese Abgeschiedenheit leisten kann, denkt Sandberg. Diese Ruhe. Von dem Haus ganz zu schweigen.

Was kommt in Frage?

Die Taucher und Spürhunde haben nichts gefunden.

Der betreffende Flussabschnitt stromab bis zum Wehr ist überschaubar, Leichen schwimmen nicht gegen den Strom.

Das Wasser sei sehr klar gewesen, meinen die Taucher. Der Hubschrauber mit Wärmebildkamera hat in der Umgebung auch nichts Verdächtiges feststellen können. Nur ein Wildschweinrudel in einer Schonung und Rotwild auf einer Lichtung. Nicht mal Spaziergänger.

Mord? An sich ein günstiger, entlegener Tatort. Aber was machst du hier und schnell mit der Leiche? Ein Fahrzeug schließt Sandberg aus, weil es von zu Vielen aus dem Dorf und auch vom Haus aus hätte wahrgenommen werden können oder sogar müssen. Wegen der Hunde auch kein Verscharren nah bei.

Die Spurensicherung hat kein Blut gefunden. Auch keine Anzeichen eines möglichen Kampfes.

Entführung? Eigentlich nur flussseitig machbar. Und es bedürfte eines motorbetriebenen Bootes, das bis zur nächsten Ortschaft stromauf etwa acht Kilometer unterwegs und manchen Anglern begegnet wäre. Oder eine Kombination? Irgendwo dazwischen wartet im Wald ein Lieferwagen, der ein Schlauchboot, das Opfer und mindestens zwei Leute aufnehmen kann …

Niemals zu früh festlegen. Nicht zu viel spekulieren. Erstmal abklären, was sich abklären lässt.

Sandberg steigt von der Plattform und bückt sich.

Er sieht im Hohlraum darunter einen Besen und einen Kescher und eine Angelrute.

Dann geht er noch einmal auf den Steg, steigt an der Leiter bis zur Wasserlinie hinab und schaut unter die Trittbretter.

Spinnweben. Und ein winziges rotes Büschel in einer Ritze, wie von einer Angelpose, aber vom Angeln hat er keine Ahnung.

Er pflückt das rote Ding ab und steigt wieder nach oben.

Es ähnelt diesen Fliegen, die man wohl zum Fischen verwendet, hat aber einen Röhrchenfortsatz und eine Nadel.

Die Nadel erweist sich bei näherem Hinsehen als Kanüle.

Merkwürdig. Hat vielleicht nichts zu bedeuten, aber er zieht gewohnheitsmäßig einen Spurensicherungsbeutel aus der Jackentasche.

„Frau von Zaschwitz, entschuldigen Sie bitte die Frage, aber hat Ihr Mann Feinde?“

Sandbergs Stimme ist, wie meist, sanft oder fast zartfühlend.

So empfindet es Kleefeld. Vor allem, weil sein Kollege, ein Zweimeterriese, andere Erwartungen auslöst. Sie kennen sich aus Ermittlungen in der Rockerszene. Und Kleefeld weiß, dass Sandberg auch andere Tonarten anschlagen kann.

„Gunther definiert sich über Feinde. Aber, keine Ahnung, ich weiß nichts Konkretes.“ Rita nippt an ihrem Glas.

„Drohanrufe, unerwartete Besucher, die Sie nicht kennen, irgendetwas Befremdliches?“

„Nicht, dass ich wüsste.“

„Was genau macht Ihr Mann beruflich?“

„Er macht Geld.“

Sandberg wartet lächelnd.

„Das sagt er dauernd.“

Sandberg hält sein Lächeln.

„Na ja, viel läuft übers Internet. Daytrading mit Aktien, Währungen, Edelmetallen und Rohstoffen, aber er kümmert sich auch um Immobilien und so.“

„Die Immobilien befinden sich meist wo?“

„In der Region. Manchmal auch in Polen. Er fühlt sich hier zu Hause.“

„Sie nicht?“

Rita hebt nur die Schultern.

„Wie würden Sie das Verhältnis zu Ihrem Ehemann beschreiben?“

„Er sorgt für uns.“

Sandberg wendet sich den beiden anderen Personen in der Küche zu, die bislang schweigend zugehört haben. Dem Sohn und der Haushälterin, wie ihm Kleefeld bedeutet hat.

Er zieht die Tüte mit dem Angelzubehör aus der Jackentasche und zeigt sie dem Sohn.

„Du angelst?“

„Ich stippe.“

„Heißt?“

„Rute, Schnur, Pose, Haken und Köder.“