Bis die Zeit verschwimmt - Svenja K. Buchner - E-Book

Bis die Zeit verschwimmt E-Book

Svenja K. Buchner

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Beschreibung

Eine Achterbahnfahrt der Gefühle: hochkarätiger Coming-of-Age-Roman für Mädchen ab 13.

Zeit. Für Helene bleibt sie stehen, als ihre beste Freundin Cassie stirbt. Weiterleben kann sie nur, indem sie Antworten sucht – beim Amokläufer, bei seinen Opfern, bei den Hinterbliebenen. Helene verliert sich in Wut, Trauer und Schuld. Nur manchmal, zusammen mit Erik, kommt das längst vergessene Gefühl der Leichtigkeit zurück. Aber darauf kann Helene sich nicht einlassen, ohne Cassie zu verraten ...

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Das Buch

Zeit. Für Helene bleibt sie stehen, als ihre beste Freundin Cassie stirbt. Weiterleben kann sie nur, indem sie Antworten sucht – beim Amokläufer, bei seinen Opfern, bei den Hinterbliebenen. Helene verliert sich in Wut, Trauer und Schuld. Nur manchmal, zusammen mit Erik, kommt das längst vergessene Gefühl der Leichtigkeit zurück. Aber darauf kann Helene sich nicht einlassen, ohne Cassie zu verraten …

Die Autorin

Svenja K. Buchner wurde 1995 in Franken geboren. Schon in ihrer Schulzeit schrieb sie gern Geschichten, und auch während des Psychologiestudiums ließ das Schreiben sie nicht los. Inzwischen hat sie ihr Studium abgeschlossen und arbeitet mit Krebspatienten und deren Angehörigen in einer Akutklinik. »Bis die Zeit verschwimmt« ist ihr erster Jugendroman.

Der Verlag

Du liebst Geschichten? Wir bei Thienemann in der Thienemann-Esslinger Verlag GmbH auch!Wir wählen unsere Geschichten sorgfältig aus, überarbeiten sie gründlich mit Autoren und Übersetzern, gestalten sie gemeinsam mit Illustratoren und produzieren sie als Bücher in bester Qualität für euch.

Deshalb sind alle Inhalte dieses E-Books urheberrechtlich geschützt. Du als Käufer erwirbst eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf deinen Lesegeräten. Unsere E-Books haben eine nicht direkt sichtbare technische Markierung, die die Bestellnummer enthält (digitales Wasserzeichen). Im Falle einer illegalen Verwendung kann diese zurückverfolgt werden.

Mehr über unsere Bücher, Autoren und Illustratoren: www.thienemann-esslinger.de/verlag/

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Viel Spaß beim Lesen!

Prolog

Es war ein warmer Tag im Sommer.

In meiner zu großen Latzhose lehnte ich am Apfelbaum und spürte die harte Rinde im Rücken, während meine Hände so lange Muster in die trockene Erde zeichneten, bis der Dreck unter jedem einzelnen Fingernagel zu sehen war. Ich weiß noch, wie mir das knapp schulterlange Haar immer wieder ins Gesicht fiel, sodass ich es genervt wegpusten musste, und ich weiß auch noch, wie angenehm sich der leise Windstoß anfühlte, jedes Mal, wenn Cassie an mir vorbeischaukelte.

Sie trug ein rosafarbenes Kleid mit weißer Schleife um die Taille, und ihr Haar, ihr rotes und langes und wunderhübsches Haar wehte im Wind. Wenn ich genau hinguckte, konnte ich in all dem Hin und Her des Schaukelns jede einzelne ihrer Sommersprossen erkennen. Ihre Augen waren zu und sie lachte so sehr, dass man ihre beiden Zahnlücken sah.

»Ich will auch schaukeln«, kommentierte ich, als ich genug Muster gemalt hatte.

Cassie streckte ihre nackten Füße zum Boden und ließ sie über das verbrannte Gras streifen, und während die Schaukel langsamer wurde, erwiderte sie: »Lass uns lieber klettern.«

Seufzend verwischte ich meine Malerei und stand auf, um mich an einem dicken Ast hinter mir hochzuziehen. Es war Cassies Baum, den ich da raufkletterte, er gehörte Cassie und sonst keinem, zumindest sagte sie das immer. Einmal hatte ich ihr gestanden, dass ich auch gerne einen Baum hätte, aber da hatte sie nur gelächelt und gesagt, wir könnten uns ihren ja teilen. Und auch wenn ich damals der Überzeugung war, dass man Bäume nicht teilen kann, so hatte ich mir danach nie wieder einen eigenen gewünscht, weil mir ihr Baum auf einmal genug war.

Ich war als Erste oben. Wie immer. Kleider sind nun mal unpraktisch beim Klettern, genauso wie es unpraktisch ist, wenn einen Kratzer an den Beinen und Dreck an den Händen stören. »Wo bleibst du?«, ärgerte ich sie, während ich ganz oben in einer Astgabel saß und anfing, sie mit Blättern zu bewerfen.

»Hör auf!«, beschwerte sie sich, und ich hörte wirklich auf, da sie sonst wütend geworden und wieder zur Schaukel gegangen wäre. Irgendwann saß sie mir gegenüber auf einem der Äste, und damals kam es mir so vor, als wären wir unendlich weit oben.

»Wir sind im Himmel«, stellte ich fest und schaute hoch in die Wolken.

»Nur fast«, widersprach Cassie. »Wenn ich jetzt fliegen könnte, dann könnte ich bis in den Himmel und rauf bis zu den Wolken. So weit, wie ich will, und vielleicht noch bis zur Sonne und zum Mond und zu den Sternen. Wäre das nicht toll?«

»Menschen können nicht fliegen«, belehrte ich sie.

»Aber es wäre toll, wenn sie es könnten. Bis ganz oben.«

»Dann kommst du dahin, wo die Toten sind, oder?«

»Ich glaube schon.« Sie legte den Kopf in den Nacken. »Wie stellst du es dir da vor?«

»Na ja.« Wind kam auf, so stark, dass er mir Blütenstaub ins Gesicht trieb und ich die Augen zusammenkneifen musste. »Ich glaube«, fuhr ich dann fort, »ich glaube, dass es da ganz viele Apfelbäume gibt und mehr als eine Schaukel, damit man sich nicht abwechseln muss. Und dass die Sonne immerzu scheint, und wenn es mal regnet, dann ist es ein warmer, sanfter Regen, der große Pfützen hinterlässt und Regenbögen.«

»Ich mag aber keine Pfützen«, wandte Cassie ein.

»Ich aber. Du bekommst einen Schirm und musst nicht durch sie durch laufen.«

»Hm.« Sie legte den Kopf schief. »Ich glaube, dass es da weiße Pferde gibt. Jeder, der eines will, hat ein eigenes Pferd. Meines würde Schneeflocke heißen, und man ist nie traurig und alle verstehen sich und keiner streitet.« Sie lächelte und baumelte mit den Beinen hin und her. Ein weiterer Windstoß kam auf und ließ die Blätter leise rauschen; sogar die Schaukel bewegte sich ein kleines Stück. »Denkst du, man sieht alle im Himmel wieder, wenn man tot ist?«

Ich legte den Kopf schief. »Wenn man es sich ganz arg wünscht, dann ja.«

»Dann sehen wir uns wieder und reiten auf weißen Pferden!«

»Mein Pferd muss nicht unbedingt weiß sein.«

»Na, dann hat deines eben eine andere Farbe.«

»Okay.« Nun nickte ich.

»Versprochen?«

»Versprochen.«

Und dann erschien Cassies Mutter mit ihrer kleinen Schwester auf dem Arm in der Terrassentür, um uns zum Abendessen zu rufen, und wir kletterten nach unten und rannten um die Wette bis zum Haus, wobei ich sie mit Absicht gewinnen ließ, damit sie es ihrer Mutter erzählen konnte, weil sie sonst nie im Wettrennen gewann.

Wir waren beide sieben Jahre alt.

Eins

Über Cassie

Es ist laut.

Menschen um mich herum, überall.

Sie schreien, weinen, versuchen, einander zu beruhigen.

Rennen.

Schließen einander in die Arme.

Und dazwischen immer wieder Sirenen in der Ferne, die näher kommen und erst in einigen Metern Entfernung abrupt zum Schweigen gebracht werden. Sanitäter rennen durch die Gegend, Körper werden auf Tragen verfrachtet und dann gehen die Sirenen auch schon wieder an, um kurz darauf begleitet von blauen Lichtern zu verschwinden. Wenn man genau hinhört, erkennt man, wie sie der Welt die Geschichte eines namenlosen Kindes erzählen, die keiner hören will; eine Geschichte, die dieser Welt genauso unaufhaltsam entgleitet wie die Sirene selbst.

»Wie geht es dir?« Mir wird ein Plastikbecher mit Wasser angeboten, den ich ignoriere. »Du musst trinken.« Aber ich muss gar nichts. Stattdessen starre ich auf den Seiteneingang meiner Schule, durch den Menschen mit Warnwesten huschen, sich kurz unterhalten, weitergehen. Durch den eilig Menschen geschleppt werden, einer nach dem anderen. Ihre Gesichter sind teils verdeckt; vielleicht sind das die Toten. Und die ganze Zeit über warte ich auf ihr Gesicht, darauf, dass sie endlich rauskommt, darauf, dass ich sie in den Arm nehmen und nach Hause bringen darf. Doch sie kommt nicht, weder in diesem Atemzug noch im nächsten, und das, obwohl jeder einzelne mich mehr schmerzt als alles Leid dieser Erde es je könnte.

»Kann ich jemanden für dich anrufen?« Die Sanitäterin legt mir sanft eine Hand auf die Schulter, die ich direkt abschüttle; ich würdige sie keines Blickes. »Wo ist sie?«, will ich fragen, aber aus meinem Mund kommt nichts als ein leises, stockendes Geräusch.

»Deine Eltern sollten informiert werden«, erklärt die Frau weiter.

»Wo ist sie?« Jetzt sind sie da, die Worte.

»Wer?« Der Frage folgt ein viel zu mitleidiger Blick.

»Wo ist sie?«, wiederhole ich, während wieder Sanitäter durch den Seiteneingang kommen, mit einem verdeckten Körper auf einer Trage, im Laufschritt auf uns zukommen, an uns vorbei, während mein Herz immer schneller schlägt. »Wo ist sie?«, schreie ich, springe auf, schlage die Hand der Sanitäterin an meiner Schulter weg, will losrennen, aber spüre sofort Arme um mich. Große, starke, unerbittliche Arme, die mich festhalten und mir den Atem rauben, während alles aus mir herausbricht und mein Körper unter Tränen immer wieder dieselbe Frage schreit.

Die Sanitäter laufen an uns vorbei.

Sie fahren weg.

Die Trage fährt weg.

Wie alle anderen davor.

Und mich lassen sie alleine, alleine mit den Hinterbliebenen, alleine mit der Sanitäterin und ihrem Kollegen mit den starken Armen, und während ich die Welt um mich herum wahrnehme wie durch eine dicke Glasscheibe, verliere ich jegliches Gefühl für Zeit und Raum. Sie reden auf mich ein, irgendwann fängt es an zu regnen, irgendwann setzen sie mich auf die Rückbank und fahren mit mir los, und irgendwann sitze ich in einem sterilen Sprechzimmer, bekomme viel zu viel Desinfektionsmittel auf meinen Ellenbogen gesprüht, einen Verband, tausend Fragen gestellt, die ich weder verstehe noch verstehen will und auch nicht beantworte, ich werde von irgendeiner Krankenschwester inspiziert, die erst stundenlang an meinem Verband und dann an meinen Armen und meinem Kopf herumfummelt, ohne dass ich weiß, was sie da eigentlich tut, und am Ende, als ich es endlich geschafft habe, steht da meine Mutter im Gang.

Gut zwanzig Meter entfernt.

Mit Tränen in den Augen.

Ich lasse mich umarmen, lasse zu, dass sie in meine abgetragene Sweatjacke weint, mir über den Kopf streichelt, mit dem Arzt redet, mit der Schwester, mich irgendwann zum Auto führt. All das zieht komplett an mir vorbei, denn für mich zählt nur eines.

Cassie.

Mein Name ist Helene Mey. Ich bin fünfzehneinhalb Jahre alt. Im Mai werde ich sechzehn. Ich habe nicht viele Freunde.

Genauer gesagt zwei.

Aber das macht mir nichts aus, da ich der Überzeugung bin, dass die meisten Menschen nach meiner Definition überhaupt keine Freunde haben, sondern nur flüchtige Begegnungen für bestimmte Lebensabschnitte, die ihnen dabei helfen, eine Zeit lang das Bild des eigenen Lebens weiterzuzeichnen, um dann zu verschwinden, ohne auch nur den Ansatz einer Signatur zu hinterlassen. Sie kommen und gehen, und was bleibt, sind mehr oder minder liebevoll gemalte Striche auf dem Gemälde eines anderen, doch diese gehen unter mit den Jahren, und ihre Urheber werden alle gleichermaßen vergessen, was auf der einen Seite traurig ist, auf der anderen Seite aber zu selbstverständlich, als dass sie die Traurigkeit dieses Aspekts je bemerken könnten.

Die Begegnungen, die ich habe, bleiben.

Sie heißen Cassie und Erik.

Cassie zeichnet mein Bild mit, seitdem ich denken kann. Auf zarte, unaufdringliche, liebevolle Weise, sie zeichnet in Pastelltönen, die so unauffällig sind, dass man befürchten könnte, sie würden zu schnell untergehen zwischen all den anderen, schreienden Farben des Lebens. Doch sie gehen nicht unter, denn ich schaue sie an, jeden Tag. Genauso, wie ich Erik anschaue – müsste ich ihm eine Farbe geben, wäre es vielleicht ein dunkles, ruhiges Blau, so wie ein tiefer Ozean, oder besser noch Waldgrün, wie die Bäume einer lauen Sommernacht. Sein Grün ist noch nicht so lange da wie Cassies Pastelltöne, und deswegen gehört ihm auch weniger von meinem Lebensbild, aber auch das macht nichts, weil ich weiß, dass beide bleiben und weiterzeichnen werden, genau wie ich bei ihnen bleiben will. Und sollten wir eines Tages gehen, werden wir dennoch nie vergessen sein – ein Gedanke, der mich selbst an grauen Tagen an die Farben des Daseins erinnert.

Jeden Morgen habe ich Cassie vom Bahnhof abgeholt.

Dann saß ich auf dem Boden am Gleis und wartete, bis die vertraut blecherne Stimme aus den Lautsprechern das Einfahren des nächsten Zuges verkündete; an warmen Tagen legte ich mich auf den Rücken und streckte mein Gesicht der Sonne entgegen. »Deine Hosen werden doch ganz dreckig«, hatte mich einmal ein alter Herr von siebzig oder achtzig Jahren angesprochen, mit Gehstock und Hornbrille auf der Nase und einem braunen Hut über dem grauen Haar, aber ich habe nur von unten zu ihm hochgeblinzelt, um dann zu erwidern: »Dann wasche ich sie.«

»Dahinten sind doch Bänke«, hat er gesagt, die Nase gerümpft und etwas umständlich seinen Hut zurechtgerückt. »Bringt man euch das heutzutage nicht bei, dass man sich auf Bänke setzt und sich nicht irgendwo hinlegt?«

»Doch, das tut man. Aber man bringt uns auch bei, weniger engstirnig zu denken und die Kommentare anderer Menschen an passenden Stellen zu ignorieren. Letzteres war mir wichtiger.« Nach ihm hat mich keiner mehr angesprochen, und das, obwohl ich im Sommer stets so lange am Bahnsteig lag, bis Cassies Zug anhielt und sich die Türen öffneten, um einen Schwall Menschen herauszulassen. Zugtüren am Morgen sind wie Dämme, die brechen: Dahinter wird gedrängelt, immer mehr, und sobald der Weg frei ist, scheint der Bahnsteig mit Menschen überflutet zu sein.

Cassie und ich gingen gemeinsam zur Schule, jeden Tag. Und immer, wenn wir dort ankamen, sah ich ihn. Er saß dann in halb zerrissenen, zu weit über den Knöcheln endenden Jeans auf einer Bank etwas abseits des Seiteneingangs, jeden Morgen mit demselben starren Blick und derselben Falte auf der Stirn, und während seine Shirts mit den Tagen die Farbe wechselten, blieben seine Augen stets leer.

Ich kannte ihn nicht.

Keiner kannte ihn.

Und unsere Blicke trafen sich trotzdem jedes Mal.

Doch es gefiel mir nicht, es hatte mir nie gefallen, ihn anzusehen, und noch weniger der Gedanke an seinen Blick in meinem Nacken, wenn wir stets grußlos vorübergingen. Denn er lächelte nicht, der Junge, er lächelte niemals, und je öfter ich darüber nachdachte, umso mehr ernüchterte mich die Erkenntnis, dass ich wohl nie erfahren würde, warum er nicht lächelte.

Als wir reinkommen, sitzen mein Vater und Jens am Küchentisch. Mein Vater mit zerzaustem Haar, als wäre er eben erst aufgestanden, und Jens mit Dreitagebart und langen, braunen Haaren, die er sich am Hinterkopf mit einem Haargummi zusammengeknotet hat. Er trägt ein graues T-Shirt mit Tomatensoßenflecken und darüber ein offenes, ausgewaschenes Hemd in rot-blauem Karomuster. Seit einer Woche sehe ich ihn nun damit rumrennen, und es wundert mich, dass er nicht allmählich stinkt wie die Pest.

Mein Vater steht auf und umarmt mich, wie meine Mutter, und auch er weint.

Jens und ich sind die Einzigen, die nicht weinen, und ehrlich gesagt bin ich ihm dafür sehr dankbar. Er umarmt mich auch nicht, er sitzt nur da und schaut mich an, schiebt wortlos eine Tasse mit meinem Lieblingskakao zu mir rüber, während mein Vater mich auf einen der Stühle drückt.

»Brauchst du etwas, Liebling?« Die Hände meiner Mutter sind kalt, als sie mir die Haare hinter die Ohren streicht. Ich hasse das. »Du zitterst, Himmel noch mal, ich bring dir eine Decke.« Eigentlich will ich ihr widersprechen, habe aber keine Energie dafür und lasse mich daher zudecken, während mein Vater im Wohnzimmer meine Lieblings-CD von Metallica einlegt und so laut aufdreht, dass ich es gut bis hierher hören kann.

»Was soll denn der Old-School-Scheiß?«, beschwert sich Jens.

Ich ringe mir ein Lächeln ab. »Wie geht’s Hannah?«, bemühe ich mich trotz aller Umstände um Etikette, während es im selben Moment klingelt und sie schon zwei Minuten später in der Küche steht. Sieht etwas älter aus als dreiundzwanzig, in ihrer grünen Fair-Trade-Pluderhose und mit den dunkelblonden, von bunten Holzperlen gezierten Dreadlocks.

»Bist du okay?«, will sie wissen, lässt sich neben Jens auf die Küchenbank fallen und drückt ihm einen Kuss auf die Wange. Ich nicke. »Cool«, erwidert sie und nickt auch, um sich gleich darauf auf der Unterlippe herumzubeißen. »Wir haben jetzt ’ne Katze«, meint sie und durchwühlt ihre Handtasche, die aus bunten, zusammengeflickten Stoffen besteht. Legt ein Handy auf den Tisch, ein Nokia aus den Neunzigern, und dann schiebt sie mir ein Foto über den Küchentisch zu, eines mit einer braun getigerten Babykatze. Ich nehme es in die Hand und betrachte es eine Weile. »Schön«, sage ich, und dann lächle ich sie an und sie lächelt zurück, sodass ich ihre winzige Zahnlücke zwischen den oberen beiden Schneidezähnen sehen kann.

»Es gibt da so eine Demo, nächste Woche. Magst du mit?«, fragt mich Jens.

»Eher nicht.« Ich schüttle den Kopf und linse rüber zum Telefon.

»Ist gegen Rassismus. Hilft der Welt.«

»Ich denke, deine Schwester muss sich jetzt nicht mit Allerweltsproblemen befassen.« Meine Mutter nimmt den Kakao, den ich nicht angerührt habe, und schiebt ihn in die Mikrowelle, da er inzwischen ja eventuell drei Grad zu kühl sein könnte.

Und dann reden sie weiter, ich weiß nicht wovon, denn für mich zählen sie nichts, ihre Worte. Ich starre nur auf das Telefon, das mein Vater um meinetwillen auf den Küchentisch gelegt hat, warte, dass es klingelt, damit ich Cassies Stimme hören darf, kratzig und schwach und elend durch ein Krankenhaustelefon, egal wie, ich will sie einfach nur hören, nach ihrer Zimmernummer fragen, zu ihr fahren, sie umarmen. Den Tag gemeinsam überstehen.

Und dann klingelt es tatsächlich.

»Geburtstagskind, ich wünsche dir alles, alles, alles Liebe!«

Cassie saß im Schneidersitz auf dem Bett, und als ich von hinten an sie herantrat, um sie übertrieben schwungvoll zu umarmen, kippte sie um, sodass wir beide halb neben- und halb übereinander auf die Matratze fielen. Sie lachte, glockenhell und wie ein Kind, und ich schlang meine Arme, so fest ich konnte, um sie. »Meine wunderbare beste Freundin«, sagte ich und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Ich wünsche dir«, noch ein Kuss, auf den hin sie noch mehr lachen musste, »dass alle deine Träume in Erfüllung gehen und du eine spitzenmäßige Starballerina wirst!«

»Danke.« Sie grinste mich an und wischte sich mit dem Handrücken über die Wange. »Ich hab dich auch lieb.« Sie hielt mich ein Stück von sich weg, sodass wir uns anschauen konnten. »Neue Bluse?«, wollte sie wissen und ich verdrehte erst die Augen, nickte dann aber. »Gefällt mir.«

»Ich das neu?« Ich deutete auf ein kleines, aus Holz geschnitztes Wesen, das aus einem Kopf, einem Rupf und zwei Auswüchsen vorn und hinten bestand, die offensichtlich Vorder- und Hinterbeine darstellten. Es war auf dem kleinen Regalbrett platziert worden, das über Cassies Bett an der Wand verschraubt war, und sah nun auf uns hinunter.

»Ja. Ist gestern fertig geworden.«

Ich griff danach und drehte es zwischen den Fingern.

Die Oberfläche fühlte sich angenehm glatt und weich an.

»Es ist ein Schaf«, erklärte Cassie und nahm es mir gleich wieder aus der Hand, um es zurückzustellen. »Ich hab es ganz ohne Hilfe geschnitzt, zum ersten Mal. Mein Vater hat mir zwar hin und wieder über die Schulter gesehen, musste aber nie helfen, und ich habe mich nur einmal in den Finger geschnitten.«

Ich ließ meinen Blick auf dem kleinen Holzschaf ruhen. »Es ist hübsch.«

»Danke. Es heißt Anton.«

Ich grinste und sah sie an. »Anton?«

»Ja, Anton.« Sie nickte todernst.

»Okay.« Ich begann, in meiner Tasche zu wühlen. »Aber erzähl mal, wie geht es dir?«

»Super. Ich freue mich total auf die Feier nachher. Und dir?«

Anstatt zu antworten, übergab ich ihr ein kleines, rot verpacktes Päckchen.

»Für mich?«, stellte Cassie die Frage, deren Antwort ja wohl offensichtlich war, während ihre Finger bereits dabei waren, den Tesafilm zu bearbeiten, von welchem ich Unmengen hatte verwenden müssen, bis das Päckchen endlich dicht verpackt gewesen war. Unter dem Geschenkpapier zog sie eine kleine, braune Schatulle hervor, und als sie diese öffnete und sich auf ihrem Gesicht ein Lächeln ausbreitete, atmete ich erleichtert aus. »Gott sei Dank, ich hatte Angst, dass du sie hässlich findest.«

»Die ist wunderschön.« Sie zog eine goldene Kette hervor, in dessen Anhänger ein winziger Edelstein eingearbeitet war, dessen Farbe dem Blau ihrer Augen glich. Dass es das Blau ihrer Augen war, sagte ich aber natürlich nicht, da es viel zu kitschig gewesen wäre, ebenso wie ich mir einen Monolog darüber verkniff, dass es vermutlich – angesichts des Einkaufspreises – kein echter Edelstein war. Stattdessen half ich ihr, die Kette umzulegen.

»Danke, Helene.« Sie umarmte mich und einen kleinen, zeitlosen Moment der Ewigkeit verharrten wir beide so. »Weißt du«, sagte sie dann unvermittelt und löste sich von mir. »Ich würde gerne meinen ersten Kuss bekommen, mit fünfzehn. Ich will wissen, wie das ist. Wie es sich anfühlt.« Sie schaute mich an. »Findest du das albern?«

Ich schüttelte den Kopf. »Daran ist nichts albern.«

Sie zog die Knie ans Kinn und umschlang die Beine mit den Armen. »Was ist mit dir?«

»Ich weiß nicht, wie es ist.«

»Aber wüsstest du es gerne?«

Ich legte den Kopf schief. »Keine Ahnung. Manchmal vielleicht.«

»Hat Erik schon mal wen geküsst?«, fragte sie.

»Woher soll ich das wissen?«

»Ich dachte, ihr redet über so etwas.«

»Nein.« Nach einer kurzen Pause fügte ich hinzu: »Aber ja, ich denke schon, dass er jemanden geküsst hat.«

»Denkst du, er hat sie gerngehabt?«

»Vielleicht. Vielleicht war es aber auch bedeutungslos.«

»Hm.« Cassie wirkte nachdenklich. »Ich will keinen Kuss, der bedeutungslos ist.«

»Dann wird es länger dauern, bis du geküsst wirst. Viel länger. Heutzutage werden Küsse doch verteilt wie Handschläge. Man tut es, weil einem danach ist, und danach geht man und macht es mit einem anderen, ohne das zu hinterfragen.«

»Das klingt irgendwie schwarzmalerisch.«

»Nein. Ich habe nie gesagt, dass es etwas Schlechtes sei.«

Eine Weile schwiegen wir. Ich stellte mir Erik beim Küssen vor, den großen Erik mit den hellbraunen Haaren und muskulösem Oberkörper, wie er ein Mädchen im Arm hielt und an sich zog. Es war ein komischer Gedanke, aber ich wusste, dass er darum vermutlich nicht weniger realistisch war, da unsere Gedanken viel zu oft nicht fassen können, was wahr ist, egal ob es um komplexe wissenschaftliche Gegebenheiten oder um einen einfachen ersten Kuss geht. Ja, Erik hatte mal jemanden geküsst, da war ich sicher. Ich wusste nur nicht, wen, und ehrlich gesagt spielte es auch keine Rolle.

Cassie war diejenige, die die Stille durchbrach. »Der erste Kuss kann nicht bedeutungslos sein, Helene. Es ist der erste Kuss, ganz egal mit wem. Ich denke, man wird sich immer daran erinnern, und damit hat er Bedeutung.«

»Willst du verliebt sein, bevor du jemanden küsst?«

»Ja, das will ich sehr gern.« Sie nickte und warf einen verträumten Blick aus dem Fenster in den Garten. »Und ich will, dass er in mich verliebt ist. Meine Mutter sagt, dass es sich lohnt, auf den Richtigen zu warten, und wenn es der Richtige ist, dann wird es so sein.«

»Der Gedanke ist nett«, erwidere ich.

»Nett?«

»Ja. Ich meine, klar ist Verliebtsein toll«, erwiderte ich.

»Klingt nicht überzeugt«, warf sie vorsichtig ein.

»Du kennst mich doch, ich bin da pragmatisch. Wenn ich nicht verliebt bin, dann bin ich es eben nicht. Das macht das ganze Geküsse nicht zwingend weniger wertvoll, vermute ich. Das Leben besteht ja nicht nur aus dem, was wir uns ausmalen, sondern vor allem aus dem, was am Ende passiert. Und das sind oft zwei grundverschiedene Dinge.« Einen Moment hielt ich inne, bevor ich ihr fest in die Augen schaute und sagte: »Cassie – bitte versprich, dass du es mir unbedingt und sofort sagst.«

»Was soll ich dir sagen?«

»Wenn du geküsst wirst, dann will ich es wissen. Mit allen Details.«

Sie grinste, sodass sich kleine Fältchen um ihre Augen bildeten. »Du kommst vor mir dran.«

Ich runzelte die Stirn. »Du sollst es versprechen, egal wer zuerst drankommt.«

»Gut. Ich versprech’s.«

Cassie stand auf und öffnete das Fenster, um die kühle Luft des späten Nachmittags hereinzulassen. Es roch gut, nach Erde und Gras und einem sich verabschiedenden Sommer, dessen allmählicher Fortgang vom Gesang der Vögel begleitet wurde. »Die anderen kommen in einer halben Stunde«, meinte sie mit einem Blick auf die Uhr. »Ich muss mich noch umziehen, kannst du mich beraten?«

Ich seufzte. »Wenn du meinst, dass ich dazu geeignet bin.«

Während ich mir eine dünne Wolldecke um die Schultern legte und mich mit dem Rücken gegen die Tapete lehnte, ging Cassie rüber zum Kleiderschrank. Sie zog zwei Kleider hervor, ein dunkelblaues, das ihr bis zu den Knien ging und von einem schlichten, schwarzen Gürtel geziert wurde, und ein cremefarbenes, das ganz luftig und leicht um ihren Körper fiel, etwas kürzer war und dessen Rockende von leichter Spitze geziert wurde. »Ich kann mich nicht entscheiden. Welches ist besser?«

»Das zweite, das cremefarbene.«

»Sicher?«

»Klar. Das macht dich erwachsen.«

»Hm.« Cassie musterte das Kleid, als müsste sie noch überlegen, ob sie überhaupt erwachsen aussehen wollte oder ob ihr das zu unheimlich war, dann nickte sie aber und packte das andere wieder weg. »Super, dann ist das ja geklärt.« Mit diesen Worten zog sie sich das T-Shirt über den Kopf und schlüpfte aus dem rosafarbenen Rock, sodass sie nur noch in schneeweißer Unterwäsche vor mir stand. Ich erinnere mich deutlich an den blassen Anblick ihrer Haut, während Rücken und Arme auf solch unwillkürliche Weise mit Sommersprossen bedeckt waren, als hätte jemand ein liebevoll gestaltetes Kunstwerk zum Ausdruck eigener Unbeholfenheit hinterlassen wollen, während ihre Gestalt so zierlich schien, dass ich bei genauem Hinsehen sogar sehen konnte, wie sich einzelne Rippen unter der Haut ihres Brustkorbs abzeichneten.

Cassie trug ein Bustier, keinen BH. Denn für Letzteren hatte sie einfach nicht genügend Brüste. Genauer gesagt hatte sie gar keine.

Sie war ein Kind geblieben.

»Glaubst du, dass Erik mich hübsch findet?«, fragte sie.

Die Frage war merkwürdig, wie sie so da stand, halbnackt und entblößt mit dem Rücken zu mir, sich selbst im Spiegel musternd und zugleich in Erwartung einer erhellenden Antwort auf diese beinahe entstellend direkte Frage. Es fiel mir schwer, sie weiter anzusehen; vielleicht, weil sie auf mich plötzlich verletzlich wirkte. Doch anstatt auszuweichen, wanderte mein Blick ihren Rücken hinunter, Wirbel für Wirbel bis zum Stoff ihrer Unterhose, und dann die schmalen Beine entlang bis zu den zierlichen, kleinen Füßen. »Keine Ahnung«, sagte ich dann. »Ich denke, dass ihm egal ist, was Menschen anhaben.«

»Ich rede nicht vom Kleid. Ich rede von mir. Denkst du, dass er mich hübsch findet?«

Sie drehte sich zu mir um und unsere Blicke verharrten ineinander, während Cassies Frage im Raum stand, laut und schreiend. Es fühlte sich komisch an, wie wir einander ansahen, fast wie Krieg, aber wirklich nur fast, denn ich wusste, dass es keiner war, kein echter Krieg zumindest. Denn Cassie und ich bekriegten einander nicht, niemals. Und trotzdem schaute sie an diesem Tag nicht weg, sie verdrängte die Stille nicht, sondern ließ sie zu, genauso wie die Kälte und die Spannung und das Ziehen in meinem Magen, die mich auf einmal still und heimlich und eindringlich überrannten.

»Ist es dir wichtig, was Erik denkt?«, fragte ich möglichst sachlich, ohne sie aus den Augen zu lassen, und Cassie schüttelte den Kopf. »Nein.« Sie biss sich auf die Unterlippe, senkte dann den Blick, sah mich wieder an, sah wieder weg, sah mich wieder an, und währenddessen vergruben sich ihre Finger tiefer und tiefer im Stoff des cremefarbenen Kleides, das sie immer noch in den Händen hielt. »Warum fragst du dann?«, wollte ich wissen.

»Es war ein Gedanke«, sagte Cassie.

Wir schauten uns immer noch an.

Und lasen einander wie in offenen Büchern.

Doch wir sagten nichts mehr.

Nichts über Erik, nichts über Gefühle.

Nichts über Freundschaft.

Prioritäten.

Eifersucht.

Liebe.

Denn es war egal.

Alles was zählte, waren sie und ich.

Es dauert einige Sekunden, bevor einer von uns auf das Klingeln reagiert, denn es durchdringt die Stille so unerträglich intensiv, dass meine Arme es nicht schaffen, nach dem Telefon zu greifen. Meine Mutter ist diejenige, die abnimmt, ihren Namen sagt und lauscht, während mein Herz stehen bleibt. »Sie ist okay«, sagt sie in den Hörer und reicht ihn weiter an mich, woraufhin mein Herz einen Satz macht und endlich weiterschlägt, schneller und schneller, bis es sich überschlägt und nur darauf wartet, Cassies Stimme zu hören, damit endlich alles okay ist.

»Helene?« Es ist nicht Cassie.

Und ich sage nichts, da ich nichts zu sagen habe.

Erik spricht weiter. »Helene, bist du okay? Hast du etwas von Cassie gehört?«

»Nein«, erwidere ich und lege auf.

Als die anderen Gäste kamen, begaben wir uns nach unten. Draußen war es recht warm für September, sodass Cassies Eltern Bierbänke im Garten aufgestellt und bunte Lampions in die Bäume gehängt hatten, die mit den Stunden immer heller zu leuchten schienen, während aus dem Wohnzimmer leise Musik der aktuellen Charts tönte. Es sah aus wie auf einer dieser typischen, perfekten Gartenpartys, auf denen die Mädchen ihre erste Liebe küssen und sich die Jungs den ersten Vollrausch gönnen, und aus unerklärlichen Gründen löste dieser Anblick eine solche Leichtigkeit in mir aus, dass ich wohl lieber I’m singing in the rain in ein Mikro gesungen und dabei vor allen anderen auf einem Tisch getanzt hätte, als sie jemand anderem als mir selbst einzugestehen.

Wir waren um die zwanzig Leute, Freunde von ihr, aus der Schule, der Nachbarschaft, der Ballettschule. Cassies Cousin war ebenfalls da, und er hatte seine Freundin mitgebracht, ein stilles, desinteressiert wirkendes Mädchen, das man genauso gut neben dem Apfelbaum hätte abstellen können, um sie gegen Mitternacht wieder einzusammeln, so unbeteiligt wirkte sie.

An einem Grill, der etwas abseits aufgestellt worden war, stand Cassies Vater und brutzelte eifrig. Die Mädchen standen in gackernden Grüppchen zusammen oder aßen Würstchen mit Kartoffelsalat, während die Jungs ihnen heimlich auf den Hintern guckten und politisch inkorrekte Witze rissen. Es war wie in einem amerikanischen Highschoolfilm.

Während Cassie sich unter die Ballettmädchen mischte und Erik sich ein Steak nach dem anderen holte, beobachtete ich das Treiben von einer der Bierbänke aus. Lang allein war ich dort nicht – keine fünf Minuten nach mir setzte sich Melissa, ein Mädchen aus unserer Klasse, mit so begeistertem Lächeln zu mir, als hätte sie den ganzen Abend nur auf diese einmalige Gelegenheit meiner Gesellschaft gewartet.

»Schicke Bluse«, sagte sie mit betontem Augenaufschlag. Wie zuvor Cassie meinte sie die für mich untypisch feminine Satinbluse, zu der meine Mutter mich gedrängt hatte und die nun locker über meine Schultern fiel. »Ziemlich coole Feier, oder? Normalerweise steh ich ja so gar nicht auf Partys mit Elternaufsicht, aber dieser Garten ist einfach … romantisch!« Melissas Wimpern waren so dicht und perfekt geschwungen, dass ich sicher war, sie wären künstlich und ihre Stimme klang etwas zu hoch, so wie immer. »Sag mal, euer Erik ist schon ziemlich süß, findest du nicht?«

Etwas irritiert sah ich sie an. »Er ist nicht unser Erik.«

»Aber süß ist er.« Sie zwinkerte so übertrieben, dass ich sie am liebsten gefragt hätte, ob sie eine Fliege im Auge hatte oder von irgendeiner Allergie heimgesucht wurde. In dem Moment fiel mir auf, wie alles an Melissa übertrieben war: die Gestik, die Mimik, die Stimmlage, die Schminke.

»Ich denke nicht, dass er sich selbst als süß beschreiben würde.«

»Das tun die Jungs doch nie.« Sie seufzte theatralisch, beugte sich über den Tisch zu mir rüber und senkte die Stimme, als wollte sie mir die neuesten Geheimnisse der CIA verraten. »Hand aufs Herz. Läuft da was, zwischen dir und ihm? Ich meine, ich will ja nichts sagen, aber ihr würdet so gut zusammenpassen!« Wieder dieser ätzende Augenaufschlag.

»Ich bin lesbisch«, informierte ich sie trocken.

Sie riss die Augen auf und zwinkerte nun in so hoher Frequenz, dass ich kurz eine Herzattacke befürchtete. »Wiiiiirklich?! Das tut mir ja jetzt leid, ich wusste ja nicht, dass du –«

»Nein.« Ich zog die Augenbrauen hoch und schaute in ihr übermäßig irritiertes Gesicht. »Aber man kann auch einfach so mit Jungs befreundet sein, ohne sie gleich anzuspringen. Um ehrlich zu sein hat das viele Vorteile, viel mehr als wenn man anfängt, sie zu daten. Könntest du ja auch mal versuchen, wie wär’s?«

»Hm.« Melissa zog die Augenbrauen zusammen. »Du findest ihn nicht heiß?«

»Nein, nicht so.«

»Schade.« Sie warf ihre Haare zurück, wobei mir ihre knallrot lackierten Fingernägel ins Auge stachen. »Ich würde ihn ja sofort nehmen, wenn ich nicht schon jemanden hätte.« Mit diesen Worten warf sie suchende Blicke in Richtung Grill. »Marcel, Schatz, kommst du mal?«, schrie sie und ruderte dabei mit den Armen, als wollte sie einen Fliegenschwarm verscheuchen, und gleich kam ein großer, muskulöser Typ mit zu viel Gel in den Haaren und zu tiefem Ausschnitt im T-Shirt angetrottet und küsste Melissa mit extrem gespitzten Lippen auf den Mund, was sie zu einem leisen, begeisterten Quieken veranlasste. »Kennt ihr euch schon?«, fragte sie mich, woraufhin ich ihm höflich und mit Händedruck meinen Namen nannte, aber zwei Sekunden später aufstand, um mich zu Cassies Cousin rüberzusetzen. Dieser steckte seiner Freundin die Zunge gerade extratief in den Hals – vermutlich damit bloß keinem auffiel, dass sie sonst kein einziges Wort von sich geben würde – aber dennoch schien er mir eine gesellschaftliche Verbesserung zu sein.

Als es komplett dunkel geworden war, vielleicht so gegen zehn oder halb elf, holten Cassies Vater und Erik Holz aus der Garage, um es zu einer kleinen Feuerstelle in der Nähe des Apfelbaumes zu bringen. Dann, während Cassies Vater auf dem Boden kniete und das Feuer entfachte, trugen wir zwei Bierbänke rüber, und schließlich brannte das Feuer und wir alle versammelten uns drum herum, steckten Marshmallows auf Stöcke und hielten sie über die Flammen, die so hoch aufschlugen, als würden sie sich nach den ersten Sternen verzehren, die sich am Himmel abzuzeichnen begannen. Cassie saß rechts neben mir, mit Gänsehaut auf den nackten Knien, sodass ich den Arm um sie legte und ihren Kopf auf meine Schulter zog. Sie roch gut nach ihrem süßlich-herben Lieblingsparfüm, und ihr orangerotes, langes Haar fühlte sich vertraut an an meinem Hals. Ihre linke Hand wanderte in alter Gewohnheit auf mein Knie, und ich legte meine obendrauf, spürte die vertraute Kälte in ihren Fingern und verhakte dann meine mit den ihren. Und wenig später holte Erik seine Gitarre aus dem Haus, begann zu spielen und zu singen und irgendwann, in tiefer Nacht und nur von dem Rauschen des Windes im alten Apfelbaum begleitet, stimmten wir alle mit ein. Melissa ein bisschen zu schief und zu laut, Erik mit tiefer, etwas kratziger Stimme und Cassie zart und leise, während ihr Kopf noch immer auf meiner Schulter lag und wir gemeinsam in die Flammen starrten. Es war genau dieser eine Moment, der mich daran erinnerte, wie egal die Welt eigentlich war, solange wir beide Seite an Seite in ihr bestanden, sodass ich sie noch ein Stück fester an mich ranzog, als hätte ich schon damals Angst gehabt, sie zu verlieren.

Ich bleibe am Küchentisch sitzen.

Den ganzen Tag und den ganzen Abend, und die ganze Zeit über höre ich weit entfernt dieselben Liedzeilen wie an jenem Spätsommerabend, als die Welt in Ordnung war. Gemeinsam mit den Klängen von Eriks Gitarre begleiten sie meine Gedanken an Cassie, mein Warten, meine Angst, mein Schweigen, das ich selten breche, während ich meiner Mutter irgendwann helfe, das Abendessen zuzubereiten und Jens irgendwann wieder mit Hannah zurück nach Hause fährt.

Doch trotz aller Ablenkung ziehen sich die Minuten wie Kaugummi und die Stunden fühlen sich an wie schwarze Löcher, in denen ich ertrinke, ohne zu sterben. Es dauert unerträglich lang, bis ich nachts um halb zwölf erfahre, dass Cassie tot ist.

Zwei

Isolation

Wenn du erfährst, dass der Sinn deines Lebens nicht mehr existiert, spürst du erst einmal gar nichts. Es ist still um dich herum, und du hörst dir selbst zu, wie du ein- und ausatmest und ein und aus. Du wartest darauf, dass alles zusammenbricht, aber es bricht nichts zusammen, stattdessen steht alles starr und still, als hätte die Welt einen Moment lang aufgehört, sich zu drehen. Du sagst dir, dass du weinen solltest, dass du zusammenbrechen solltest, dass deine schlimmsten Ängste nun wahr geworden sind, dass dein Herz stehen bleiben sollte. Trotzdem passiert nichts davon, und stattdessen stehst du wortlos vom Küchentisch auf und verlässt den Raum, während deine Mutter daneben steht und dich mit einem Schmerz und einem Kummer in den Augen ansieht, den eigentlich du empfinden solltest und nicht sie.

Du verlässt den Raum, läufst den Flur hinunter und gehst in dein Zimmer, verschließt die Zimmertür hinter dir und starrst das Nächstbeste an, was dir begegnet. In meinem Fall ist das mein Spiegelbild über der Kommode.

Und dann wartest du.

Du wartest, und du weißt, dass er kommen wird, der Schmerz.

Aber wenn er dann da ist, schlägt er auf dich nieder wie eine riesige Welle, größer und grausamer als du es dir je hättest vorstellen können. Und so schlägt er auch auf mich nieder, der Schmerz, von einer Sekunde auf die andere zerreißt es mein Inneres, meine Knie geben nach und ich sacke zusammen, bekomme keine Luft, kauere am Boden, strecke mein Gesicht zur Decke, als wolle ich aus einem tiefen Meer auftauchen, schluchze, als würde ich ertrinken, finde dann ganz plötzlich mich selbst und schreie.

Ich schreie, weil ich nichts anderes tun kann, während es mein Herz zerfetzt, ich schreie, so laut ich kann, in dem Versuch, lauter zu sein als der Schmerz, aber dieser ist zu groß, als dass irgendetwas ihn übertönen könnte.

Ich weine.

Nie zuvor habe ich so geweint.

Schlage auf den Boden ein.

Und doch verschwindet das Bild nicht aus meinem Kopf, das Bild von Cassie, wie sie vor mir stand, wie sie mich angesehen hat, wie sich ihre Finger um das Geländer geklammert haben, wie sie nichts mehr wollte als überleben. Das Bild von der Angst in ihrem Blick, von der Bitte um Gnade, die darin lag, das Bild von den Tränen auf ihren Wangen, dem grünen, dreckverschmierten Mantel. Es ist ein Bild, das mir das Herz bricht angesichts der Tatsache, dass ich diejenige bin, die sie letzten Endes verraten hat.

Wenn man lange genug weint und auf Böden einschlägt und schreit und sich dem Schmerz hingibt, während die eigenen Eltern verzweifelt auf der anderen Seite der Tür stehen und nichts tun können, um einen zu retten, ist man irgendwann so leer, dass man nichts davon mehr tun kann. Dann kauert man sich in eine Ecke, weit weg von der Welt, allein mit sich selbst und den Trümmern, die vor einem liegen. Man fragt sich, wann das Klopfen an der Tür aufhört, wann die Menschen endlich verstehen, dass keine Umarmung der Welt etwas verändern würde, wann endlich niemand mehr mit dir reden und dich bemitleiden will. Irgendwann hört das Klopfen auf, und dann nickt man vielleicht ein, nur um zehn Minuten später von Albträumen aus dem Schlaf gerissen zu werden. Also rolle ich mich auf meinem Bett zusammen und starre die Wand mir gegenüber an, um zu warten, bis mein eigenes Leben endlich überstanden ist.

Es ist zwei Uhr nachts, als ich aufstehe und mich aus der Jeans schäle, die ich seit heute Morgen trage. Es ist die Jeans, in der ich Cassie begrüßt habe, die Jeans, die ich in der Sekunde trug, als sie diese Welt verlassen hat. Ich will sie nicht mehr sehen und stopfe sie ganz nach hinten ins oberste Fach meines Kleiderschranks, um anschließend auch mein Shirt auszuziehen und in ein zu großes, altes Hemd aus der Jugendzeit meines Vaters zu schlüpfen. Meinen verwaschenen Baumwollslip lasse ich an, gehe dann zu meinem Schreibtisch, schalte die Musikanlage an, die ich voriges Jahr von meinen Eltern zu Weihnachten geschenkt bekommen habe, und beschalle die gesamte Wohnung mit den Klängen von AC/DC.

Sound of the drums,

Beating in my heart,

The thunder of guns

Tore me apart.

You’ve been

Thunderstruck.

Es dauert keine fünf Minuten, bis meine Eltern wieder gegen meine Zimmertür schlagen. Aber es ist mir egal, sie sind mir alle egal; ich mache die Musik so laut, dass ich auch ihr Schreien und Gehämmer nicht mehr höre. Irgendwann glaube ich, dass sie aufgehört haben.

Geschrien hat sie, lauter als alle anderen.

»Helene.«

Das hat sie geschrien.

Nur ein einziges Mal.

Ich verliere das Zeitgefühl. Es ist bereits am nächsten Vormittag, als ich in einer Pause zwischen Thunderstruck und Thunderstruck (ich höre den Song auf Repeat) aus meinem schmerzvollen Delirium erwache, weil es auf einmal wieder klopft und ich unvermittelt auf die Uhr schaue. Halb zehn. Ich frage mich, wo die Nacht hin ist, und beim Gedanken, dass sie wie Cassie ins Nirgendwo verschwunden ist, wird mir übel. Ich reagiere nicht auf das Klopfen, drehe aber die Musik ab, weil sie mir unendliche Kopfschmerzen bereitet, woraufhin die Stille mich fast erschlägt. Und dann klopft es wieder und ich kann Eriks Stimme hören. »Helene, mach auf.«

Ich gehe zur Tür und drehe den Schlüssel herum. Beobachte, wie sich die Klinke nach unten bewegt und die Tür sich einen Spalt breit öffnet.

»Kann ich reinkommen?« Eriks Stimme ist belegt; als ich nicht antworte, tritt er ein.

»Sperr wieder ab«, weise ich ihn an und schalte die Musik trotz Kopfweh aus Prinzip wieder ein. Danach gehe ich auf direktem Weg zurück zum Bett, wo ich mich in meine gewohnte Position begebe, um die Wandfarbe zu betrachten und damit von allem anderen wegsehen zu können.

Erik ist der Erste, der nicht reden will.