Bis Gras darüber wuchs - Christopher Bush - E-Book

Bis Gras darüber wuchs E-Book

Christopher Bush

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Beschreibung

Der Auftrag, mit dem die alte Dame zu Ludovic Travers kam, war ein zu heißes Eisen für einen Privatdetektiv: Mordkandidaten gehören nun einmal unter die Fittiche von Scotland Yard. Doch einen Fall ablehnen hieß nicht, ihn aufgeben! Daher war Travers zur Stelle, als der gefürchtete Anschlag erfolgte – der mutmaßliche Mörder hingegen war weit fort, in Dänemark beim Pen-Kongreß. Und Scotland Yard? Dort erfuhr man erst nach Wochen durch seltsame Umwege von der ganzen Sache. (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Christopher Bush

Bis Gras darüber wuchs

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Maria Meinert

FISCHER Digital

Inhalt

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1

Auf den ersten Blick erscheint es vielleicht wie ein merkwürdiger Zufall, wenn zwei Mitglieder der gleichen Familie – unabhängig voneinander – ein und dasselbe Detektivbüro zu Rate ziehen. Aber ich glaube eher, es waren die regelmäßig erscheinenden Zeitungsinserate, die Alice Stonhill und ihren Neffen Peter Wesslake in das Büro an der Broad Street führten. Schon ehe ich die Agentur erwarb, hatte mein Vorgänger als einziger in seiner Branche in den größten Zeitungen inseriert, und ich hatte diese Gepflogenheit wie alles übrige in dem gutgeführten Unternehmen einfach übernommen. Die beste Hinterlassenschaft, wenn ich so sagen darf, war der Senior des Büros, Hallows, und er war es auch, der die ersten Besprechungen in der Wesslake-Angelegenheit führte, die sich zu einem ziemlich aufreibenden Fall auswachsen sollte.

Ich war gerade von einer Reise zurückgekehrt, etwas früher zwar als erwartet, aber abgekämpft genug, um nur auf einen Sprung ins Büro zu gehen, und ich wollte mich eben verabschieden, als Hallows mit einem Blick auf die Uhr sagte:

«In wenigen Minuten erwarte ich einen interessanten Besuch. Wollen Sie nicht hineingehen» – er meinte den inneren Raum – «und einen Blick auf sie werfen?»

«Jung und knusperig, wie?» fragte ich scherzhaft.

«Nein, durchaus älteren Datums», entgegnete er. «Machte einen sehr interessanten Eindruck am Telefon. Außerdem ganz Dame. War höchst aufgebracht, als ich vorschlug, sie aufzusuchen, um ihr den Weg zu ersparen. Erklärte, so alt sei sie nun auch gerade nicht.»

«Woher kommt sie?»

«Winstode. Kennen Sie es zufällig?»

Ich sagte ihm, es habe einen wirklich guten Golfplatz und am Rande der Stadt ein erstklassiges Wohnhotel, das Malfroi-Wappen.

«Dort wohnt sie», versetzte Hallows, und ich zog erstaunt die Augenbrauen hoch.

«Dann muß sie ziemlich begütert sein. Das Malfroi-Wappen ist nicht billig.»

Der Summer ertönte, und Bertha Munney, unser Mädchen für alles, verkündete, daß Mrs. Stonhill eingetroffen sei.

«Warten Sie genau eine Minute, und dann führen Sie sie herein», sagte Hallows in den Apparat. Er blickte mich fragend an. «Na, wie ist’s?»

Ich schlüpfte in den inneren Raum. Die dünnen Füllungen der Verbindungstür ermöglichten es mir, jedes im Büro gesprochene Wort deutlich zu verstehen. Zunächst ließ ich die Tür noch etwas angelehnt, um mir Alice Stonhill rasch anzusehen, als sie eintrat.

Meinen ersten Anblick von ihr werde ich wohl nie vergessen. Sie war unauffällig und tadellos gekleidet. Ihr Haar war silberweiß, und in ihren Augen lag ein humorvolles Zwinkern. Sie war sehr klein – höchstens 1,57 – und schlank, besaß aber die Haltung und das Auftreten einer großen, die Welt durchs Lorgnon betrachtenden Herzogin.

«Mr. Hallows?»

In diesen beiden Worten lag ein ungeheurer Charme. Es war die Stimme einer Dame von Welt, reich an Erfahrung und amüsiert-enttäuscht.

Hallows mußte lächelnd genickt haben.

«Ich fürchte, ich bin reichlich früh gekommen», fuhr sie fort. «Pünktlichkeit ist eine der wenigen Tugenden, die mir noch geblieben sind.»

«Und eine bewundernswerte, Mrs. Stonhill, wenn ich mir die Bemerkung gestatten darf. Nehmen Sie doch bitte Platz … Eine Zigarette? Oder rauchen Sie nicht?»

«Aber natürlich», erwiderte sie mit einem reizenden Lachen. «Ich bin nicht so alt, daß ich allen Lastern entsagt hätte.»

«Aber Sie sind doch gar nicht alt, Mrs. Stonhill», sagte Hallows väterlich, während er ihre Zigarette anzündete. «Meine Mutter dagegen: sie ist weit über achtzig.»

«In drei Wochen bin ich ebenfalls achtzig», versetzte sie und schien ein wenig amüsiert. «Aber wir dürfen Ihre Zeit nicht verschwenden, indem wir von mir reden. Sie wollen sicher wissen, weshalb ich gekommen bin.»

«Aber natürlich. Und was hat Sie hierhergeführt, Mrs. Stonhill?»

«Einen Augenblick», sagte sie. «Gestatten Sie einer alten Dame eine offene Frage. Wird alles, was ich hier zu Ihnen sage, streng vertraulich behandelt?»

«Bei uns herrscht dieselbe Schweigepflicht wie im Beichtstuhl oder im Sprechzimmer des Arztes», versicherte ihr Hallows. «Und wenn Sie uns um etwas bitten, was wir nicht unternehmen können, sagen wir es Ihnen unverblümt und vergessen, daß Sie je in diesem Zimmer waren.»

Es war, als habe das Wort «Zimmer» eine suggestive Wirkung auf sie ausgeübt. Ich sah, wie sich ihr Kopf bewegte, und wußte, daß ihr Blick im nächsten Moment auf meine Tür fallen mochte. Ich schob sie daher sanft zu.

«Also zur Sache, Mrs. Stonhill», fuhr Hallows fort. «Sie wünschen, daß wir Ihnen irgendwie helfen, nicht wahr?»

«Mir nicht», warf sie rasch ein, und alle mutwillige Ironie war plötzlich aus ihrer Stimme verschwunden. «Meiner Nichte sollen Sie helfen. Ich will es verhindern, daß sie ermordet wird.»

 

An dieser Stelle möchte ich dem Leser einen kurzen chronologischen Überblick über die Familie Wesslake geben, wie er sich aus Alice Stonhills Worten ergab, und zwar mit Hilfe eines winzigen Stammbaums:

Die einzigen Überlebenden dieser Fam ilie waren die beiden Vettern Peter und James, ihre Tante Alice, und Peters Kinder: David und Nelda. An Peters Namen könnte ich mich schwach erinnern, weil man mir einmal gesagt hatte, daß Peter Arden, der Verfasser der sensationellen Abenteuerbücher, in Wirklichkeit Peter Wesslake sei. Der Name James Collinson war mir hinreichend bekannt. Er war der Verfasser literarhistorischer Bücher und eine Autorität für das Elisabethanische Zeitalter. Was ich nicht wußte, ging aus Alice Stonhills Worten hervor – nämlich daß die beiden Vettern gemeinsam die beliebte Serie von Detektiv geschichten schrieben, die seit einigen Jahren unter dem Namen Colin Lake erschienen.

Alice Stonhill hatte keine Kinder. Ihr verstorbener Gatte war ein wohlhabender Mann gewesen, und die beiden hatten große Reisen gemacht. Seine Finanzen waren durch die Depression beträchtlich ins Wanken geraten, doch Alice Stonhill verfügte offenbar immer noch über bedeutende Mittel, selbst wenn sie in diesen Zeiten des Dienstbotenmangels in einem Landhaus wohnte, das sie als Cottage bezeichnete – The Briars, Ashenby, Buckinghamshire. Aber sie hielt sich dort nicht ständig auf. Für lange Perioden pflegte sie das Haus abzuschließen und in das Hotel Malfroi-Wappen überzusiedeln. Major Laddon, der Besitzer, war ein entfernter Verwandter ihres Mannes und hielt ihr stets ein Zimmer frei. James Collinson, der jüngere Neffe, war Junggeselle. Peter Wesslake, der ältere, hatte eine gewisse Drina Farman geheiratet, und aus dieser Ehe stammten zwei Kinder: David, zweiundzwanzig, und Nelda, zwanzig. Vor vier Jahren hatte Drina sich von ihm scheiden lassen, und er hatte sofort eine gewisse Camilla Grace geheiratet – ein Mannequin, das er bei einer Modenschau gesehen hatte, die er mit seiner Frau besuchte. Diese angeheiratete Nichte war die Ursache, weshalb Alice Stonhill dem Broad-Street-Detektivbüro einen persönlichen Besuch abstattete.

«Ehe wir näher auf diese mutmaßlichen Mordversuche eingehen», sagte Hallows, «möchte ich gern hören, warum Ihr Neffe sie eigentlich aus dem Wege schaffen möchte.»

«Mit Tatsachen kann ich Ihnen nicht aufwarten», erklärte Alice Stonhill. «Ich kann Ihnen nur sagen, was ich vermute. Allerdings habe ich auch einige Erkundigungen eingezogen.»

Wie sie schilderte, lagen die Verhältnisse folgendermaßen. James Collinson war ein vermögender Mann. Seit Jahren hatte ihm die Zusammenarbeit an den Detektivromanen keinen Spaß mehr gemacht, und jetzt verweigerte er entschieden seine Mitarbeit. Diese gemeinsam verfaßten Bücher, von denen drei verfilmt wurden, hatten große Summen eingebracht. Für Peter Wesslake bildeten sie sogar die Hauptquelle seines Einkommens, und der Ausfall würde ihn in große Verlegenheit bringen, denn der Absatz seiner Peter-Arden-Bücher war stark zurückgegangen. Peter Wesslake hatte sehr viel Geld verdient, aber auch Unsummen ausgegeben. Alice Stonhill bezweifelte es, daß er, abgesehen von seiner Stadtwohnung und einem kleinen Landhaus bei Sevenoaks, über genügend Reserven verfügte, um ein Jahr davon leben zu können.

Und so kam das Gespräch auf Drina Farman, die nach ihrer Scheidung wieder ihren Mädchennamen angenommen hatte.

«Sie ist ein armes närrisches Wesen», erklärte Alice Stonhill. «Sie würde morgen zu ihm zurückkehren. Und sie hat das dicke Portemonnaie. Ich weiß zufällig, daß sie sich erst vor sechs Monaten noch – wahrscheinlich auf Peters Veranlassung – an Camilla gewandt und ihr eine beträchtliche Geldsumme angeboten hat, wenn sie sich scheiden lassen würde.»

Sie mußte in Hallows’ Augen eine Frage gelesen haben, denn sie fuhr fort:

«Sie wundern sich gewiß im stillen, warum ich auf der Seite des ehemaligen Mannequins und nicht auf der Seite seiner ersten Frau stehe. Ich werde es Ihnen verraten. In erster Linie hätte er nie in die Scheidung einwilligen sollen. In meiner eigenen Ehe gab es Zeiten, Mr. Hallows, wo auch ich hätte Scheidungsgründe finden können. Aber wir sind alle nicht ohne Fehler, und schließlich gehen wir mit offenen Augen in die Ehe. Aber Camilla war aufrichtig in ihn verliebt. Ob sie es noch ist, weiß ich nicht – aber ich weiß, daß sie Angst hat. Und ich mag sie gern. Ich wünsche nicht, daß man sie malträtiert – oder ihr noch Schlimmeres zufügt.»

«Ja», meinte Hallows, «und wegen der letzteren Alternative sind Sie hier. Würden Sie vielleicht etwas näher darauf eingehen?»

Zwei Begebenheiten ließen auf Mordversuche schließen, obgleich, wie sie erläuterte, jede auch als ein merkwürdiger Zufall ausgelegt werden konnte, wenn man ein Auge zudrückte und die Motive außer acht ließ. Das erste Vorkommnis fand vor etwa zehn Wochen, im Februar, in der Nähe von Wesslakes Haus Millside im Dorf Burnbury bei Sevenoaks statt. James Collinson verbrachte gerade ein Wochenende bei den Wesslakes, und David Wesslake hielt sich ebenfalls dort auf.

«Das ist der Sohn aus erster Ehe, nicht wahr?»

«Ganz recht. David will Kunstmaler werden. Er studiert in Paris, vertrödelt aber meiner Ansicht nach zuviel Zeit zu Hause.»

Im Garten von Millside, der wie die meisten Gärten dort von Kastanienwäldern umgeben ist, wimmelte es von Dohlen, die großen Schaden anrichteten. Peter Wesslake und James Collinson zogen daher, mit Flinten und einem kalten Lunch ausgerüstet, in den Wald, um dieser Plage zu Leibe zu gehen. Camilla hatte erklärt, daß auch sie am Nachmittag in den Wald gehen würde, da es ein schöner Tag war und die ersten Primeln sich auf den sonnigeren Hängen zeigten. Sie schlug dann ihren gewohnten Pfad ein, und als sie tief im Walde war, krachte ein Schuß, und sie spürte den Windhauch der Kugel an ihrem Kopf. Später stellte sie fest, daß die Kugel tatsächlich etwas von ihrem Haar abgeschoren hatte. Ihr Mann und Collinson stritten beide ab, um die Zeit oder in die Richtung geschossen zu haben. Wesslake behauptete nachher, er habe einen dritten Mann schießen hören, ohne ihn jedoch gesehen zu haben. Das ließ sich natürlich nicht beweisen. Collinson hatte den Schuß gehört und angenommen, er stamme aus Wesslakes Flinte. Von dem dritten Mann hatte er auch nichts gesehen.

«Und wo war David?» erkundigte sich Hallows.

«Ebenfalls im Wald. Aber er hatte keine Flinte – er malte.»

Hallows seufzte. «Und die zweite Gelegenheit?»

Die hatte sich an einem anderen Wochenende einen Monat später ergeben, und zwar ebenfalls in Millside. Collinson und David waren wiederum anwesend. Ebenso Frank Deen, Wesslakes Sekretär. Vor dem Essen wurden im Wohnzimmer Drinks gereicht. Wesslake wählte Whisky. Die anderen Männer tranken Sherry, und Camilla Gin mit Limetta. Bald nach dem Essen wurde Camilla von furchtbaren Magenkrämpfen befallen, mit anschließender heftiger Diarrhöe. Es wurde sofort ein Arzt gerufen, aber es verging eine Woche, ehe Camilla sich wieder erholte.

«Wie wurden die Drinks serviert?» erkundigte sich Hallows.

«Upman trug das Tablett ins Zimmer. Upman und seine Frau halten nämlich das Haus in Ordnung, und er bekleidet jeden Posten vom Butler bis zum Gärtner. Aber herumgereicht wurden die Gläser von Mr. Collinson.»

Bill seufzte abermals. «Und dieser Anfall konnte nicht durch irgendeine Speise während des Essens verursacht worden sein?»

«Unmöglich. Alle aßen dasselbe. Nur ihr Drink war verschieden.»

«Wie ist das augenblickliche Verhältnis zwischen Mann und Frau?»

«Er ist jetzt selten in Millside, und wenn er erscheint, ist er nach meiner Auffassung unnatürlich um sie bemüht. Sein ganzes Verhalten spricht von versteckter Ironie und einem gewissen Sadismus.»

«Wie äußert sich das, zum Beispiel?»

«Nun, er bemüht sich auf viel zu charmante Art, kleine gesellschaftliche Verstöße oder ungeschickte Redewendungen bei ihr zu korrigieren, wodurch er sie in raffinierter Weise an ihre Herkunft erinnert.»

«Und ist sie immer noch in Millside?»

«Im Augenblick – nein. Sie stand vor einem nervösen Zusammenbruch, und da habe ich sie zu mir ins Hotel geholt.»

«Und ihr Gatte?»

«Er hält sich meistens in seiner Stadtwohnung auf: Bridge Mansions, Westminster. Dort arbeitet er mit seinem Sekretär.»

«Der Sekretär hat wohl mit der Sache nichts zu tun, wie?»

«Deen?» Sie lachte kurz auf. «Überhaupt nicht. Er ist ein farbloser Mann, der schon eine Reihe von Jahren für meinen Neffen arbeitet.»

«Und sonst hat sich nichts Verdächtiges ereignet?»

«Nein … höchstens das Feuer.»

«Das Feuer?»

«Ja. Das Feuer im Gartenhaus in Millside. Im Februar verkündete Peter plötzlich, daß er das Gartenhaus als Arbeitsraum benutzen wolle. Er ließ ein größeres Fenster einsetzen, elektrische Kabel vom Haus hinüberleiten und einen Schreibtisch und einen elektrischen Ofen hineinstellen.»

«Warum suchte er sich ausgerechnet den Februar dazu aus?»

«Ganz richtig! Wir hatten zwar schon einige wunderbare Tage. Dennoch schien der Plan absurd, besonders da Peter stets großen Wert auf Komfort und Wohlleben legte. Und kaum hatte er ein paar Wochen darin gehaust, als das Feuer ausbrach und das Häuschen gänzlich zerstörte.»

«War es versichert?»

«O ja. Ich glaube, sie sind immer noch am Verhandeln wegen der Entschädigung. Das hat mich eigentlich stutzig gemacht. Das und noch etwas anderes.»

Das andere war die Schreibmaschine. Wesslake hing sehr an seiner alten Remington-Reisemaschine. In der Nacht, als das Feuer ausbrach, hatte er sie nicht im Gartenhaus zurückgelassen; Camilla sah sie in seinem Schlafzimmer. Und dennoch hätte sie im Gartenhaus bleiben sollen, da er am nächsten Morgen wieder dort arbeiten wollte.

«War Deen bei Ihrem Neffen?» fragte Hallows.

«Er war immer da, wenn Peter arbeitete», entgegnete sie und fügte eine wichtige Bemerkung hinzu. «Aber ich kann nicht verstehen, was für eine Rolle das Feuer in der Kampagne gegen Camilla spielt. Es sei denn, daß die Absicht bestand, sie in den Flammen umkommen zu lassen.»

Das eintretende Schweigen deutete an, daß Hallows sich entweder Notizen machte oder zu einer Entscheidung kam.

«Und was sollen wir in dieser Angelegenheit unternehmen, Mrs. Stonhill?» fragte er schließlich.

«Das überlasse ich Ihnen, Mr. Hallows», versetzte sie rasch. «Mein Mann pflegte zu sagen: ‚Ich bin bereit, einen Hund zu kaufen, und habe nicht die Absicht, das Bellen selbst zu besorgen.‘»

«Das ist deutlich genug», erklärte Hallows. «Aber auch ich will ganz offen sein, Mrs. Stonhill. Ich sehe im Augenblick keine Möglichkeit, etwas zu unternehmen. Wie ich annehme, befindet sich Mrs. Wesslake bei Ihnen in ziemlicher Sicherheit, nicht wahr?»

«Ich glaube», erwiderte Mrs. Stonhill, wenn auch nicht gerade mit dem Brustton tiefster Überzeugung. «Und heute in acht Tagen verreist Peter für drei Wochen. Er fährt zum Kongreß des Pen-Clubs nach Kopenhagen, aber schon eine Woche früher, weil er Verwandte aufsuchen will. Seine Mutter war nämlich Dänin.»

«Fährt Collinson auch hin?»

«Er ist kein Mitglied», erwiderte sie. «Außerdem soll er an meiner Geburtstagsfeier teilnehmen, die am neunundzwanzigsten Mai stattfindet. Alle erscheinen – außer Peter.»

«Und die erste Mrs. Wesslake wahrscheinlich auch nicht, wie?»

«O doch», sagte sie, offensichtlich amüsiert. «Drina kommt auch.»

«Dann ist ja für Kurzweil gesorgt», meinte Hallows und setzte rasch hinzu: «Das hätte ich vielleicht nicht sagen dürfen.»

«Aber warum nicht? Ich freue mich schon darauf.»

«Nun, Mrs. Stonhill, Sie sind zu uns gekommen, um sich Rat zu holen. Den werde ich Ihnen geben, aber ich fürchte, er wird Ihnen nicht zusagen. Gehen Sie zur Polizei, und erzählen Sie ihr alles, was Sie mir erzählt haben.»

«Nein!» Mit größerem Nachdruck hätte sie das Wort nicht hervorstoßen können. «Ich bin gewissermaßen für die Familie verantwortlich und wünsche nicht, daß ihr Name in den Schmutz gezogen wird.»

«Wenn aber tatsächlich etwas passieren sollte? Dann können Sie diesen Vorgang nicht aufhalten. Der Polizei und der Presse können Sie den Mund nicht stopfen.»

«Aber bin ich nicht deshalb zu Ihnen gekommen? Es darf eben nichts geschehen. Um das zu verhindern, scheue ich keine Kosten.»

«Sehen Sie mal, Mrs. Stonhill», sagte Hallows in ruhigem, gewinnendem Ton. «Wenn etwas passierte, und einer unserer Leute fungierte im Malfroi-Wappen als Leibwache, dann würden dieser Mann und dieses Büro mit in die Affäre hineingezogen. Ich glaube zwar nicht, daß etwas so Schwerwiegendes wie ein Mord geschehen wird, aber wir dürfen es nicht darauf ankommen lassen. Denn im Ernstfall würde man uns – und mit Recht – beschuldigen, der Polizei wichtige Informationen vorenthalten zu haben.»

«Warum sind Sie der Ansicht, daß nichts so Schwerwiegendes wie ein Mord geschehen wird?»

«Nun, das will ich Ihnen erklären. Vor sechs Monaten versuchte die erste Mrs. Wesslake, die zweite durch Bestechung zu einer Scheidung zu bewegen. Der Versuch mißglückte. Daraufhin bediente sich Wesslake einer anderen Methode: er wollte sein Ziel erreichen, indem er seiner zweiten Frau Furcht und Schrecken einjagte. Verstehen Sie etwas von Kleinkaliberwaffen?»

«Nicht das geringste.»

«Nun, mit seiner Flinte hätte Wesslake eine Person bei einer Entfernung von drei bis fünf Metern glatt töten können. Er war in einem Gestrüpp verborgen und schoß aus dieser Entfernung. Da hätte er ein so großes Ziel nicht verfehlen können. Aber es sollte eben nur ein Schreckschuß sein. Ebenso verhielt es sich mit der Cocktail-Geschichte. Er schüttete eine große Dosis Kalomel oder dergleichen in ihr Glas. Daraufhin bekam sie diese Krämpfe und nahm an, daß man einen Versuch gemacht habe, sie zu vergiften – genau das, was er erreichen wollte. Es will mir daher nicht einleuchten, daß Mrs. Wesslake in ernster Gefahr schwebt. Trotz alledem bin ich immer noch der Ansicht, daß Sie zur Polizei gehen sollten. Wenn Sie das aber nicht wollen, kann ich nur vorschlagen, daß Sie sich sofort mit diesem Büro hier in Verbindung setzen, sobald sich weitere Zwischenfälle ereignen. Wir sind Tag und Nacht telefonisch zu erreichen.»

Es folgte ein langes Schweigen, das abermals von Hallows unterbrochen wurde.

«Überlegen Sie es sich gründlich, Mrs. Stonhill. Fragen Sie sich selbst, ob Wesslake wirklich Mordabsichten hegt. Wenn ja, warum sollte er seine Absichten durch diese beiden mißlungenen Attentate an die große Glocke hängen?»

«Ich glaube, er ist in ziemlich verzweifelter Verfassung.»

«Verzweifelt genug, um einen Mord zu begehen? Aber warum?»

«Weil er stets einen luxuriösen Lebensstandard verlangt und auch gehabt hat und demnächst gezwungen ist, sich sehr einzuschränken.» Das Lachen, das sie ausstieß, klang entschieden verächtlich. «Sie kennen Peter Wesslake nicht.»

«Nun, so liegt die Sache», meinte Hallows resigniert. «Erklären Sie sich mit meinem Vorschlag einverstanden?»

«Vielleicht ja. Aber ich werde selbst Schritte unternehmen, um mich und Camilla zu schützen.»

An dieser Stelle schlich ich mich auf Zehenspitzen zu der Tür, die nach außen führt, und schlüpfte durch den Hof in die Broad Street und dann zu Bertha ins Zimmer. Ich bat sie, mir ein Zeichen zu geben, wenn die Klientin im Begriff stand, aus der Tür zu treten. Und da ich einen plötzlichen Geistesblitz hatte, bat ich sie auch noch um etwas anderes. Im Augenblick wünschte ich lediglich, von Mrs. Stonhill bemerkt zu werden, und weiter nichts.

2

Von der Haustür führt ein Korridor an Berthas Zimmer vorbei zu dem kleinen Warteraum. In diesem Korridor stand ich, als Mrs. Stonhill Hallows’ Büro verließ, und hatte mich so kunstvoll vor Berthas Tür drapiert, daß ich den Korridor teilweise versperrte.

«Aber ich kann wirklich nicht länger warten», sagte ich gerade zu Bertha. «Ich war auf zwölf Uhr bestellt, und jetzt ist es halb eins.»

«Mr. Hallows ist gleich frei», erwiderte Bertha. «Sie sind Mr. Travers, nicht wahr?»

«Jawohl, mein Name ist Travers», wiederholte ich würdevoll und trat dann zur Seite in Berthas Zimmer, während ich mich an Mrs. Stonhill wandte: «Entschuldigen Sie vielmals. Aber ich habe Sie leider nicht gesehen.»

Mrs. Stonhill, die Ludovic Travers, den Inhaber des Detektivbüros, auf Reisen wähnte, warf mir ob der Namensgleichheit einen etwas belustigten Blick zu und ließ sich arglos von Bertha zur Haustür begleiten, wo ein dunkler Wagen vorfuhr. Als der verschwand, verschwand auch ich – in Hallows’ Büro.

«Wozu dieses Manöver, Sir?» fragte Hallows erstaunt.

«Ich wollte, daß sie sich meine Züge einprägte, und ich glaube, es ist mir gelungen. Wenn sich dieser Fall weiterentwickelt, fahre ich besser, wenn ich mich als harmloser Gast unter den Familienklüngel mische, sagen wir mal, im Malfroi-Wappen. Gibt’s in diesem Falle eine bessere Methode, eine Bekanntschaft anzuknüpfen, als die Entdeckung, daß wir beide Klienten des Broad-Street-Detektiv-Büros gewesen sind?»

Hallows, der sich an meine Methoden allmählich gewöhnt hatte, brummte nur vor sich hin. Ihm lag vor allem daran, das Interview mit mir zu besprechen. Während er mir zerstreut sein Feuerzeug reichte, obwohl ich keine Zigarette im Mund hatte, fragte er mich, was ich von der alten Dame hielte.

«Ein Original», erklärte ich. «Sie gefällt mir sehr. Ich wollte, sie wäre meine Großmutter.»

«In ihrem Alter habe ich mich geirrt. Ich hätte sie höchstens auf siebzig geschätzt. Und was halten Sie von ihrer Geschichte?»

«Sie betrachtet sich ganz entschieden als das Oberhaupt der Familie Wesslake. Und warum auch nicht? Ich habe den Eindruck, daß James Collinson ihr Lieblingsneffe ist, während sie Peter Wesslake nicht leiden kann und kein Vertrauen zu ihm hat. Daher schlägt sie sich nur allzugern auf die Seite dieser Camilla. Vielleicht hat sie ihr sogar Marotten in den Kopf gesetzt und auch zur Auflösung der Partnerschaft zwischen Collinson und Wesslake beigetragen.»

Hallows schien keine hohe Meinung von diesen Bemerkungen zu haben. Seine Gedanken beschäftigten sich mehr mit den Mord- oder Einschüchterungsversuchen.

«Darüber lassen sich alle möglichen Vermutungen anstellen», erklärte ich. «Wesslakes Versuche mögen ernsthafter Natur gewesen sein; und dann dürfen wir eine andere Möglichkeit nicht vergessen: James Collinson hatte ebenfalls die Gelegenheit, den Schuß abzufeuern oder das Zeug in ihr Glas zu schütten.»

«Nun ja, warten wir die Geschichte ab», sagte Hallows und erhob sich. «Für uns ist es entweder ein Blindgänger oder Dynamit. Blindgänger interessieren uns nicht, und Dynamit ist zu riskant. Im übrigen wird gar nichts passieren. Das Ganze ist ein Einschüchterungsmanöver. Wesslake will durch diese Schreckensmethode eine Scheidung erzwingen, und die alte Dame wird alles daransetzen, um das zu verhindern.»

Dabei ließen wir es bewenden. Aber aus Hallows’ zuversichtlicher Äußerung klangen Zweifel und Bedauern. Nur ungern hatte er einen außergewöhnlichen Fall abgelehnt und eine Klientin abgewiesen, die ihn faszinierte. Auf mich hatte sie die gleiche Wirkung ausgeübt. Alice Stonhill war eine Frau, die ich unbedingt wiedersehen und studieren wollte. Auch verlangte es mich, die beiden Frauen um Wesslake, Wesslake selbst und Collinson kennenzulernen. Und da ein ungelöstes Rätsel an mir nagt wie ein schmerzender Zahn, wußte ich im tiefsten Innern, daß ich dies auf Biegen oder Brechen irgendwie bewerkstelligen würde.

Meine Wohnung befindet sich in St. Martin’s Chambers – sehr günstig gelegen. Hier hatte ich gerade mit meiner Frau zu Abend gespeist, als das Telefon läutete. Hallows war am Apparat.

«Etwas Merkwürdiges hat sich zugetragen», meinte er.

«Hat die alte Dame etwa wieder angerufen?»

«Weitaus merkwürdiger. Morgen früh um zehn Uhr will Wesslake kommen. Und zwar wegen des Brandes in seinem Gartenhaus. Näheres weiß ich auch nicht. Er drückte sich sehr vorsichtig aus.»

«Wie klang seine Stimme?»

«Nicht ungewöhnlich. Vielleicht ein wenig herzhaft.»

«Fein, Hallows, nehmen Sie ihn in Empfang. Ich bin um zehn Uhr dort.»

Aber diese Nachricht rief neue Unruhe in mir hervor – eine Unruhe, die im Menschen das Verlangen erweckt, den Ereignissen irgendwie vorzugreifen. Vor allen Dingen mußte ich Näheres über Peter Wesslake erfahren, und in meiner Wohnung gab es kein Nachschlagewerk, das mir diese Auskunft verschaffte. In meinem «Who’s Who» fand ich nur James Collinson, ohne jeglichen Hinweis auf Wesslake.

Ich eilte in meinen Klub, wo ich einen Literaturkalender einsah und entdeckte, daß Peter Wesslake unter dem Namen Peter Arden – «Arden für Abenteuer» lautete das Schlagwort seines Verlegers – bisher fünfundzwanzig Romane geschrieben hatte. Der Name Colin Lake wurde im Zusammenhang mit Peter Wesslake nicht erwähnt – dieses Pseudonym der beiden Vettern schien also ein kleines Geheimnis zu sein. Unter dem Namen Colin Lake waren zwanzig Detektivromane aufgeführt. Und das war alles, was ich erfuhr.

Der nächste Morgen verlief genauso wie der vorhergehende. Abermals stand ich in dem inneren Zimmer bei der angelehnten Tür, und wiederum entsprach die eintretende Person ganz und gar nicht meinen Erwartungen. Vielleicht lag es daran, daß Hallows von Herzhaftigkeit gesprochen hatte; jedenfalls hatte ich etwas Kräftiges und Stämmiges erwartet. Doch Wesslake war nur mittelgroß und reichlich hager, und das erste, was mir buchstäblich die Augen blendete, war sein blonder, aus der Stirn zurückgebürsteter Haarschopf, der um so greller schimmerte, als er ein so purpurrotes Gesicht einrahmte, wie ich es nicht hätte haben mögen. Dieses Gesicht war jedoch gut geschnitten, und in seiner frischen Art machte Wesslake einen recht ansehnlichen Eindruck.

Aber die Herzhaftigkeit war schon vorhanden; sie zeigte sich gleich beim Eintritt, als er Hallows lächelnd die Hand entgegenstreckte.

«Freut mich, Sie kennenzulernen, Mr. Hallows.»

Leise schloß ich die Tür und legte das Ohr an die Füllung. Zunächst drehte sich die Unterhaltung um Bücher. Wesslake hatte ihm wohl mitgeteilt, daß er ein Schriftsteller sei. Vielleicht hatte er versucht, Hallows damit zu beeindrucken. Jedenfalls sprach Hallows wacker über Bücher. Auch er mußte nächtliche Forschungsarbeit getrieben haben; denn er kannte tatsächlich ein paar Arden-Titel. Wesslakes Stimme war übrigens ein ganz angenehmer, wenn auch leicht salbungsvoller Bariton.

«Ich deutete bereits an, in welcher Angelegenheit ich komme», begann er. «Aber jetzt, wo ich hier bin, erscheint mir das Ganze etwas lächerlich. Es ist eine solche Lappalie.»

«Kleine Fische, heißt es, sind wohlschmeckend», versetzte Hallows mit ungewohnter Scherzhaftigkeit.

«Hoffentlich trifft das auf diesen zu.»

«Und was können wir für Sie tun?»

Noch einmal hörten wir die Geschichte vom Gartenhaus in Millside. Wesslake war der Ansicht, daß der Brand durch Kurzschluß verursacht sei, aber die Versicherungsgesellschaft machte alle möglichen Schwierigkeiten bei der Zahlung.

«Es ist zum Davonlaufen», erklärte Wesslake, «wenn man bedenkt, daß der Brand schon im März stattfand. Außerdem ist noch etwas Bedenklicheres an der Sache. Ich gelange allmählich zu der Ansicht, daß man mich irgendwie in Mißkredit bringen will. Um ganz ungeschminkt zu reden, ich glaube, daß man den Brand für einen Schwindel hält.»

«Das ist aber doch absurd! Ein Mann von Ihrem Ruf, Mr. Wesslake. Sie sind doch nicht in Geldverlegenheit, wie?»

«Selbst wenn es so wäre, würden dreihundert Pfund wohl kaum ins Gewicht fallen. Wenn ich mich je aufs Gaunern verlegte, müßte schon etwas mehr auf dem Spiele stehen.»

Hallows lächelte kurz auf. In meinen Augen hatte sich Wesslake sehr geschickt aus der Affäre gezogen, als die Geldverlegenheit zur Sprache kam.

«Wie heißt die Versicherungsgesellschaft?» erkundigte sich Hallows.

«Die London Providential. Bei ihnen habe ich alles versichert – außer meinem Leben.»

«Und was sollen wir in der Sache unternehmen?»

«In meinem Namen eine Untersuchung veranstalten. Ich habe die Versicherung gestern angerufen und ihr meine Absicht mitgeteilt. Ich möchte mich selbst überzeugen und schrecke nicht vor Ihrem Befund zurück. Hier auf der Stelle gebe ich Ihnen mein Wort, daß ich mich zu Ihrem Resultat bekennen werde. Wenn Sie aber – und es ist ein großes Aber – einen Schwindel entdecken, dann wünsche ich, daß Sie den Brandstifter finden. Ist das klar?»

«Ich wollte, alle unsere Klienten drückten sich so klar aus», entgegnete Hallows. «Aber betrachten wir einmal die düstere Seite. Nehmen wir an, es handelt sich wirklich um eine Brandstiftung. Könnten Sie mir eine Liste derer geben, die als Brandstifter in Frage kämen?»

Wesslake zählte sie ganz ernsthaft auf. An erster Stelle John und Edith Upman, das Haushälterehepaar in Millside. Dann Frank Deen, Wesslakes Sekretär, und schließlich Mrs. Wesslake, Wesslake selbst und sein Sohn David. Dies waren die einzigen Personen im Haus in der Nacht, als das Feuer ausbrach, und nicht einer von ihnen besaß auch nur das leiseste Motiv.

«Meine Frau allerdings», sagte Wesslake nonchalant – und wie mir schien, kamen wir der Sache etwas näher –, «hat es nicht gern gesehen, daß ich im Gartenhaus arbeitete und es in Unordnung brachte, wie sie es nannte. Aber das ist schließlich kein Grund, um das Haus niederzubrennen.»

Hallows verwarf die Idee als lächerlich, obwohl sie ihm, wie auch mir, zu denken geben mußte.

«Ist Ihre Frau jetzt in Millside?»

«Im Augenblick nicht», erklärte Wesslake. «Sie weilt bei einer älteren Tante von mir in Winstode – Hotel Malfroi-Wappen.»

Dann folgte der rein geschäftliche Teil mit einer Erörterung des Honorars und der Berichterstattung.

«Wenn Sie zu einem raschen Resultat kommen», sagte Wesslake, «geben Sie mir Bescheid. Aber nur bis nächsten Donnerstag. Am Freitag fahre ich nach Kopenhagen. Dort tagt der Pen-Club. Der Kongreß wird zwar erst am 31. eröffnet, aber ich möchte vorher noch eine Ferienwoche einlegen und anschließend auch noch etwas bleiben. Meine Mutter stammt aus Dänemark, und ich möchte die Gelegenheit wahrnehmen und die Verwandten aufsuchen. Am 12. Juni werde ich wieder zurück sein. Dann können Sie mir berichten.»

«Gut», sagte Hallows. «Aber ich habe noch zwei Fragen. Haben Sie dieses Ehepaar davon in Kenntnis gesetzt, daß einige meiner Leute dort erscheinen werden?»

«Noch nicht», erwiderte Wesslake. «Aber es wird sofort geschehen.»

«Nun zur anderen Frage. Zwischen uns wird natürlich alles streng vertraulich behandelt. Falls wir aber Schmutz aufdecken sollten – nun, dann decken wir ihn auf. Ich möchte nur gern wissen, was für eine Wirkung das auf Sie und die Versicherungsgesellschaft hat.»

«Was Sie auch aufdecken mögen, wird der Gesellschaft unterbreitet», erklärte Wesslake, etwas gezwungen, wie mir schien.

 

«Was halten Sie davon?» fragte Hallows, als ich wieder das Büro betrat.

«Das frage ich Sie», sagte ich. «Sie haben sein Gesicht gesehen. Ich aber nicht.»

Hallows zupfte sich am Kinn. «Ich glaube, er bekommt etwas Angst. Es sollte mich nicht überraschen, wenn die London Providential ihm etwas am Zeuge flicken kann. Er hofft verzweifelt, daß wir ein Wunder für ihn tun können.»

«Schien er sehr nervös?»

«Es war ziemlich schwer, hinter das Äußere zu blicken», meinte Hallows, «hinter diese weltmännische Herzhaftigkeit. Er leidet übrigens an einem Tic. Immer wenn er erregt ist, zuckt es in seinem Augenlid und in seiner Wange. Ich habe es ein paarmal beobachtet, als ich ihm eine heikle Frage stellte.»

«Aber zum Kuckuck, warum sollte ein Mann wie er eine solche Dummheit begehen und sein Gartenhaus in Brand stecken? Ob ihn der Schuh schon drückt? Ich meine, ist er wirklich um dreihundert Pfund verlegen?»

«Ich kann’s mir eigentlich nicht denken. Es stehen ihm doch sicher noch Tantiemen zu. Und das macht mir Kopfzerbrechen. Wenn er es tatsächlich getan hat, dann warum?»

«Meines Erachtens hat er es getan. Er weiß, daß die Versicherungsgesellschaft dahintergekommen ist, und wir sind seine letzte Rettung. Wir sollen ihn vorm Skandal oder gar Gefängnis bewahren. Aber wenn das Gartenhaus völlig ausgebrannt ist und die Versicherungsleute schon dort gewesen sind und etwaiges Beweismaterial eingeheimst haben, warum sollte er von uns erwarten, daß wir ihn aus der Klemme ziehen? Kommt Ihnen da nicht auch der Gedanke, daß er gefälschtes Beweismaterial für uns bereit hat?»

«Wir werden Palton hinschicken», erklärte Hallows. «Dem kann er keinen blauen Dunst vormachen. Außerdem werde ich mal mit der London Providential ein Wörtchen unter vier Augen reden.»

Es war jetzt elf Uhr, und Wesslake hatte erwähnt, daß er um eins mit einem Verleger im Café Royal essen würde. Das lag ziemlich weit von seiner Westminster-Etage entfernt. Die Zwischenzeit benutzte ich dazu, um einem mir bekannten Schriftsteller in Hampstead einen Besuch abzustatten und ihn bei einem Glas Sherry über den Pen-Club auszufragen. Im Laufe unserer Unterhaltung reichte er mir eine an Mitglieder ausgehändigte Pen-Broschüre. Als ich sie rasch durchblätterte, fiel mein Blick auf etwas Außergewöhnliches, das mich stutzen ließ, und ich bat ihn, mir die Broschüre zu überlassen. Ich lehnte ein zweites Glas Sherry ab und eilte nach zahlreichen Dankesbezeugungen davon. Die Mittagsstunde war inzwischen vorgerückt, und es dünkte mich, daß ich jetzt beruhigt die Etage No. 8 im Hause Bridge Mansions, Westminster, aufsuchen konnte.

Während der Busfahrt dachte ich über die seltsame Entdeckung nach, die ich gemacht hatte, und ließ mir in Gedanken meine Theorie von Hallows zerpflücken. Um zehn Minuten vor eins betrat ich das Etagenhaus, das nur sehr kostspielige Wohnungen enthielt. Aber die Etage No. 8 interessierte mich nicht sonderlich. Im Augenblick lag mir hauptsächlich daran, eine gegenwärtig unbekannte Größe in Augenschein zu nehmen – den Sekretär Frank Deen.

Ich hatte Glück; denn er war es, der an die Tür kam. Alice Stonhill hatte ihn als ein farbloses Individuum beschrieben, und sie hatte so ziemlich den Nagel auf den Kopf getroffen. Allerdings sah ich wieder einmal einen Mann, den ich mir ganz anders vorgestellt hatte. Er war mittelgroß und schien etwa fünfzig zu sein. Sein Haar war offenbar vorzeitig schneeweiß geworden. Ein merkwürdiges Unbehagen befiel mich bei seinem Anblick.

«Guten Tag», sagte ich. «Sie sind wohl neu hier, wie?»

«Neu, Sir?» Sein Blick ruhte forschend auf mir.

«Ich habe Sie hier noch nicht gesehen», versetzte ich mit naivem Erstaunen.

«Ich bin schon seit einer ganzen Reihe von Jahren hier», versicherte er mir, und aus seiner Stimme sprachen zum Teil Vorwurf und zum Teil eine entschiedene Unruhe, wie mir schien.

«Merkwürdig», sagte ich. «Ist Mrs. Wellington zu Hause?»

«Wellington?» wiederholte er. «Hier wohnt keine Mrs. Wellington, Sir.»

Ich ließ meine Augen zur Tür wandern.

«Grundgütiger Himmel!» rief ich aus und hoffte, daß ich etwas blöde dreinschaute. «Verzeihen Sie vielmals, aber ich dachte, dies sei Etage No. 18.»

Im nächsten Augenblick grinsten wir übers ganze Gesicht und waren die Liebenswürdigkeit selber. Ich gestand, daß ich zerstreut gewesen sei und nie viel Sinn für Zahlen gehabt hätte, und er war voller Verständnis. Ich lächelte, er lächelte, und dann stieg ich die Treppe zum nächsten Stock empor. Zehn Minuten später stand ich wieder auf der Straße. Alles war offenbar wie am Schnürchen gelaufen. In der Haupthalle hing ein Verzeichnis der Mieter, und ich nahm nicht an, daß Deen oder Wesslake mit Mrs. Wellington bekannt war, die die Etage No. 18