Der Mann, der zweimal starb - Christopher Bush - E-Book

Der Mann, der zweimal starb E-Book

Christopher Bush

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Beschreibung

Späte Reue erscheint Ludovic Travers verdächtig: warum will der junge Verleger Clandon ausgerechnet fünfzehn Jahre nach Kriegsende seinen Lebensretter wiederfinden, der ihn schwerverwundet aus dem Niemandsland zurückgeholt hat? Warum betraut er eine Detektivagentur damit, statt sich selbst bei seinem Retter zu bedanken? Travers' Mißtrauen steigert sich zu einem bösen Verdacht, als er erfahren muß, daß der angebliche Retter schon vor dem Krieg verschollen ist … (Dieser Text bezieht sich auf eine frühere Ausgabe.)

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Christopher Bush

Der Mann, der zweimal starb

Kriminalroman

Aus dem Englischen von Brigitte Fock-Henneberg

FISCHER Digital

Inhalt

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1

Ich saß allein in meinem Büro; denn Norris, mein Geschäftsführer, war eben mit einem Klienten unterwegs. Wenn ich nicht gerade in meiner freiberuflichen Eigenschaft als beratender Sachverständiger für Scotland Yard arbeite, halte ich mich meistens in der Broad-Street-Detektivagentur auf, obwohl Norris eigentlich das Geschäft leitet. Ich bin nur eine Art Dekorationsstück: ich bin der Präsident der Gesellschaft und Inhaber der Agentur. Aber wenn Norris mich braucht und wir knapp an Personal sind, helfe ich manchmal aus, fahre herum und stelle den Leuten Fragen. Und an diesem Sonnabend morgen war ich gerade zur Hand.

Das Telefon klingelte, und Bertha Munney, unser bestes Stück, meldete sich.

«Es ist ein Herr hier, Mr. Travers, der einen der leitenden Herren sprechen möchte. Soll ich ihn hereinschicken?»

«Ist er im Wartezimmer?»

«Ja», antwortete sie und begriff, daß ich gerne etwas mehr über den Besucher erfahren wollte. «Er ist ein Gentleman, Anfang Dreißig, drückt sich gewählt aus und macht keinen besonders aufgeregten Eindruck.»

«Das wird sich ändern, wenn er unser Büro wieder verläßt», sagte ich munter. «Ich lasse also bitten. – Übrigens, Bertha, wie heißt er?»

«Clandon, Henry Clandon.»

Henry Clandon trat ein. Bertha hatte recht. Der Besucher sah tatsächlich wie ein Gentleman aus. Er hatte den ruhigen Blick, die Sicherheit im Auftreten und all die übrigen, kaum wahrnehmbaren Merkmale, die das gesellschaftliche Herkommen eines Mannes verraten. Er schien um die Dreißig zu sein, war etwa ein Meter fünfundsiebzig groß, und seine breiten Schultern und die gerade Haltung verrieten den ehemaligen Offizier. Er sah recht gut und ausgesprochen männlich aus. Sein Haar und der gepflegte Schnurrbart waren dunkelbraun. Er trug eine dunkle Hornbrille und einen gutsitzenden Anzug. Seine Krawatte ließ keine Rückschlüsse auf seine ehemalige Schule oder sein Regiment zu.

«Mr. Clandon?» sagte ich und bedeutete ihm mit einer höflichen Geste, Platz zu nehmen. Er gefiel mir auf den ersten Blick.

«Was können wir für Sie tun, Mr. Clandon?» fuhr ich fort. «Übrigens, mein Name ist Travers, Ludovic Travers.»

«Ich habe ein eigenartiges Ansinnen an Sie», sagte er, und seine Augen blinzelten hinter den scharfen Gläsern. «Ich möchte, daß Sie jemanden für mich finden.»

«Warum nicht», meinte ich liebenswürdig. «So etwas tun wir sehr häufig.»

«Aber mein Fall ist ungewöhnlich. Ich habe den Mann, den ich suche, nur zweimal gesehen, und das war im Kriege an der Front.»

«Erzählen Sie», sagte ich. «Rauchen Sie?»

Ich hielt ihm mein Feuerzeug hin, und nach einigen Zügen schien er sich etwas wohler zu fühlen. Um ihm das Reden zu erleichtern, fragte ich ihn, wie es ihm beim Heer gefallen habe. Er schien nicht überrascht, daß ich gleich die richtige Waffengattung erraten hatte.

«Ganz gut. In Sizilien, bei Villarosa, wurde ich schwer verwundet. Dort habe ich auch den Mann zum erstenmal gesehen, den Sie jetzt für mich suchen sollen. Er hieß Seeway, David Seeway.»

«Und wo haben Sie ihn zum zweitenmal gesehen?»

«Auch dort. Nur eine Woche später.»

Darauf berichtete er folgendes: Nach einem verlustreichen Nachtangriff blieb er mit einem Schrapnell im Leib vor den feindlichen Linien liegen. Ein junger Offizier eines anderen Regiments schleppte ihn zurück und besuchte ihn eine Woche darauf im Lazarett. Das war David Seeway. Er hielt sich nur wenige Minuten am Krankenbett auf, denn er, Clandon, war für eine Unterhaltung noch zu schwach gewesen.

«Das ist eigentlich alles, was ich von ihm weiß», schloß Clandon. «Aber ich verdanke ihm mein Leben und deshalb möchte ich ihn finden. Das ist bestimmt keine Gefühlsduselei; ich fühle mich meinem Lebensretter ehrlich verpflichtet. Vielleicht geht es ihm gesundheitlich nicht besonders gut, oder er braucht finanzielle Hilfe. Dann möchte ich etwas für ihn tun. Der Mann hat sich damals wirklich sehr tapfer verhalten. Er hörte mich draußen im Vorfeld stöhnen, robbte hinaus und holte mich zurück. Dabei wurde er sogar selbst verwundet.»

«Und seitdem haben Sie nie wieder von ihm gehört?»

Die Frage war heikel und die Antwort mußte mir wichtige Aufschlüsse geben. Ihm war die Bedeutung der Frage nicht entgangen, denn er zögerte mit der Antwort.

«Sie wissen, wie das so im Kriege ist», sagte er schließlich. «Heute rot und morgen tot. Das ist die Einstellung des Soldaten. Erst wenn man den Krieg überstanden hat, kommt man wieder zur Besinnung. Es dauert Jahre, bis man seine eigene Existenz aufgebaut hat, und dann …»

Er brach ab und lächelte scheu.

«Bitte, lachen Sie jetzt nicht; aber neulich sah ich einen amerikanischen Film, der eine ähnliche Geschichte zum Thema hatte. Da regte sich auf einmal das Gewissen in mir. Ich machte mir Vorwürfe, daß ich mich Seeway gegenüber sehr undankbar benommen hatte. Und der Gedanke läßt mich jetzt nicht mehr los. Da ich selbst sehr beschäftigt bin, dachte ich, daß Sie ihn vielleicht für mich auffinden könnten.»

«Wenn er noch lebt.»

«Natürlich, wenn er noch am Leben ist.»

«In Ordnung», sagte ich. «Beginnen wir also mit den Angaben zu seiner Person. Bei welchem Regiment diente er?»

Mein Besucher machte ein sehr verlegenes Gesicht.

«Sie werden mich vielleicht nicht ganz verstehen können, aber ich war damals schwer verwundet, als er mich im Lazarett besuchte. Ich achtete nicht auf seine Regimentsnummer. Ich lag nur still da und hörte zu. Mir war wohl nicht nach einem Gespräch zumute.»

«Das kann ich Ihnen nachfühlen», stimmte ich zu. «Aber an irgend etwas werden Sie sich doch noch erinnern!»

Er zog seine Brieftasche hervor und nahm einen Zettel mit Notizen heraus. Seit jenem Abend im Kino, berichtete er, habe er sich immer wieder das Gehirn zermartert und schließlich sei ihm einiges eingefallen. Seeway habe ohne Zweifel bei der Infanterie gedient. Dessen war er ganz sicher. Er wäre ziemlich groß und kräftig gewesen und müßte etwa in Clandons Alter sein. Somit wäre er jetzt etwa 35 Jahre alt. Er hätte eine kultivierte Stimme gehabt und würde ohne erkennbaren Akzent sprechen.

«Hier habe ich einen konkreten Anhaltspunkt», fuhr Clandon fort und blickte von seinen Notizen auf. «Ich glaube, daß Seeway aus Bassingford stammt. Wissen Sie, wo das liegt?»

«Ich kenne den Ort nur flüchtig», sagte ich. «Ein friedliches kleines Städtchen, ungefähr fünfundzwanzig Meilen nördlich von London.»

Die Tür ging auf und Norris trat herein. Ich stellte meinen Kollegen vor, dann schilderte ich ihm den Fall mit wenigen Worten. Er setzte sich abseits und überließ es mir, unserem Klienten weitere Tatsachen zu entlocken, die uns einen Ansatzpunkt liefern konnten. Diese Unterbrechung hatte Clandon an einen wichtigen Punkt erinnert, den er jetzt zur Sprache brachte.

«Bitte entschuldigen Sie», sagte er und blickte zu Norris hinüber, um auch dessen Zustimmung einzuholen. «Kann ich mich darauf verlassen, daß unsere Unterhaltung streng vertraulich behandelt wird?»

«Aber selbstverständlich», versicherte ich ihm. «Wir unterliegen derselben Schweigepflicht, wie ein Arzt sie seinen Patienten gegenüber einzuhalten hat.» Ich bot ihm noch eine Zigarette an.

«Gut», sagte er und blickte wieder in seine Notizen. «Ich habe hier noch etwas, das ich Ihnen aber nur unter Vorbehalt mitteilen kann. Als Seeway mich an jenem Tage im Lazarett verlassen hatte, muß ich einen Rückfall bekommen haben. Im Delirium fielen mir alle möglichen Dinge ein, so auch der Name eines Mannes. Wie das monotone Rattern der Eisenbahnräder wiederholte sich ständig ein Name in meinen Träumen: Archie Dibben, Archie Dibben – immer wieder und immer wieder.» Er schüttelte hilflos den Kopf.

«Und Sie haben keine Ahnung, weshalb Sie sich den Namen eingeprägt haben?»

«Doch», sagte er. «Gestern abend fiel es mir wieder ein. Ich glaube, daß Seeway mich danach fragte, in welchem Teil Englands ich geboren sei. In diesem Zusammenhang muß er auch Bassingford erwähnt haben. Ich weiß nicht mehr, was ich ihm antwortete – wenn ich überhaupt etwas gesagt habe. Aber ich glaube mich erinnern zu können, daß er ungefähr diese Worte gebrauchte: Wenn mir Bassingford kein Begriff wäre, könnte ich Archie Dibben auch nicht kennen. Natürlich klingt das alles sehr verworren und dunkel, aber sonst fällt mir beim besten Willen nichts mehr ein.»

«Sagen Sie mir eines», unterbrach ich ihn. «Wer brachte Sie aus dem Niemandsland zurück? Seeway allein? Oder war noch jemand dabei?»

«Das wäre eine Erklärung!» Er dachte nach und dann schüttelte er den Kopf. «Ich weiß es nicht. Es war dunkel, und ich war schwer verwundet. Ich glaube, ich wurde ohnmächtig, als Seeway mich aufhob. Ich kann mich nur noch dunkel an eine explodierende Granate erinnern – die muß ihn verwundet haben. Dann kam ich erst wieder auf dem Verbandsplatz zu Bewußtsein. Aber ich verstehe, was Sie meinen. Dieser Archie Dibben begleitete ihn vielleicht, und die beiden haben mich gemeinsam zurückgebracht. Möglicherweise wollte Seeway mir das erklären.»

«Sie können recht haben», stimmte ich zu. «Das würde uns die Aufgabe erleichtern. Wir sollen also nach zwei Leuten fahnden, und der eine könnte uns zum anderen führen, nicht wahr?»

«Ja», nickte er. Er war darüber bekümmert, daß er uns nur so spärliche Auskünfte geben konnte.

«Haben Sie selbst schon etwas unternommen?» fragte Norris aus dem Hintergrund.

«Überhaupt nichts. Ich habe sehr viel zu tun, und, wenn Sie mir die Redensart gestatten, ich halte mir keinen Hund, um selbst zu bellen. Gestern nacht kam ich zu dem Entschluß, Sie zu engagieren, damit Sie für mich bellen sollen.»

«Das ist auch sehr vernünftig», sagte ich. «Sie waren also noch nie in Bassingford?»

«Doch», gab er zu. «Aber nicht in dieser Angelegenheit. Vor einigen Wochen verhandelte ich dort mit einem Herrn wegen eines Manuskriptes. Ich bin nämlich Verleger.»

«Oh, wirklich?»

«Ich bin keine maßgebliche Persönlichkeit, nur der Juniorchef von ,Halmer und Blate’.»

«Ein angesehener Verlag», nickte ich. «Und unter welcher Adresse können wir Sie erreichen, Mr. Clandon?»

«Ich bin Junggeselle und habe eine kleine möblierte Wohnung in Westminster, Marlow Mansions 14.» Er gab mir seine Telefonnummer. Am besten könnte man ihn am frühen Vormittag bis halb zehn Uhr erreichen. Dann fragte er nach unseren Bedingungen. Ich nannte ihm eine Summe, die auch die Spesen mit einschloß, und er machte keine Einwände. Er schrieb sofort einen Scheck in Höhe der geforderten Anzahlung aus. Inzwischen füllte ich eines unserer Vertragsformulare mit den notwendigen Angaben aus. Clandon überflog den Inhalt und unterschrieb, ohne eine Frage zu stellen.

«Wenn wir eine Neuigkeit für Sie haben, werden wir Ihnen Nachricht geben», sagte ich. «Das kann schon sehr bald sein.» Und gutgelaunt fügte ich hinzu: «An Ihnen werden wir nicht viel Geld verdienen, Mr. Clandon.»

Er lächelte höflich und wurde dann wieder ernst.

«Und Sie behandeln alles streng vertraulich?»

«Vertrauen ist die Grundlage unseres Geschäftes», antwortete ich sachlich. «Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.»

Wir schüttelten uns die Hände. Ich begleitete ihn zur Türe.

Draußen stand ein schnittiger kleiner Sportwagen, der meiner Schätzung nach tausend Pfund gekostet haben mußte.

«Ein netter Mensch», sagte Norris beiläufig, als ich wieder hereinkam.

«Ja», bestätigte ich. «Wen willst du mit dem Fall beauftragen?»

«Ich weiß noch nicht», sagte er. «Ich habe gerade darüber nachgedacht.»

«Wäre es dir recht, wenn ich die ersten Ermittlungen selbst übernehmen würde?»

Norris blickte mich verwundert an. Wir waren zwar im Augenblick etwas knapp an Personal, dennoch überraschte es ihn, daß ich einen so einfachen und leichten Auftrag selbst übernehmen wollte. Aber er war einverstanden.

«Ist dir beim Zuhören etwas aufgefallen?»

Norris schüttelte den Kopf. Wenn ich auf etwas Besonderes anspielen wollte, hatte er es jedenfalls nicht bemerkt.

«Nichts Wichtiges», sagte ich. «Ein paar Dinge kamen mir etwas merkwürdig vor. Warum bestand er so sehr auf Geheimhaltung? Er will einen Mann wiederfinden, und das sollen wir für ihn übernehmen. Seeway und Dibben sind doch beide harmlose Menschen, was ist daran viel geheimzuhalten?»

«Vielleicht hat Clandons Wunsch etwas mit seiner Person oder mit seinem Beruf zu tun?»

«Na, na», sagte ich amüsiert. «Das verstehe ich nicht. Wieso sollten sein Auftrag oder unsere Ermittlungen ihm in irgendeiner Weise schaden? Es ist merkwürdig, und ich möchte wissen, warum er diesen Punkt so besonders hervorhob. Er hatte auch an unseren Forderungen nichts auszusetzen. Ich bin überzeugt, daß auch du Clandon für den Typ des sparsamen Geschäftsmannes hältst, der sein Geld nicht zum Fenster hinauswirft, nicht wahr? Trotzdem will er 100 Pfund für einen Auftrag ausgeben, den er ebensogut selbst erledigen könnte. Mißverstehe mich bitte nicht», fügte ich rasch hinzu, «aber man sollte eigentlich erwarten, daß Clandon erst einmal selbst Nachforschungen anstellen würde, ehe er uns damit beauftragt.»

«Das stimmt», gab Norris widerstrebend zu. «Du willst damit sagen, daß Bassingford bequem zu erreichen ist. Clandon kann gar nicht so beschäftigt sein, daß er nicht Zeit hätte, selbst einmal nach Bassingford zu fahren und Erkundigungen einzuholen. Zum Beispiel hätte er im Rathaus jederzeit erfahren können, ob David Seeway dort Steuern zahlt oder in die Wählerliste eingetragen ist.»

«Genau das! – Oder er hätte eine Anzeige in das Lokalblatt setzen können. Und wenn er seinen Namen aus irgendeinem Grunde nicht nennen wollte, hätte er die Anzeige ja unter einem Kennwort aufgeben können.»

«Ja», sagte Norris, dann schmunzelte er. «Warum regst du dich eigentlich auf. Wir übernehmen einen leichten Auftrag und werden gut dafür bezahlt. Wir müssen nur dafür sorgen, daß wir den Auftrag nicht leichter nehmen, als es unsere Bilanz erlaubt.»

«Das stimmt», gab ich zu. «Und wenn ich ihn übernehme, hast du die beste Gewähr dafür, daß der Fall nicht so leicht ist, wie er aussieht.»

Er machte ein zweifelndes Gesicht, aber entgegnete nichts darauf. Er wußte, daß ich nur zu gerne hinter allen Dingen ein Geheimnis vermute. Und so verabredeten wir, daß ich den Fall am nächsten Morgen in Angriff nehmen sollte.

Als ich abends in meiner Wohnung in den St. Martin Chambers die Ereignisse noch einmal überdachte, beurteilte ich die Dinge schon viel nüchterner. Zum Beispiel bot sich ein ganz einfacher Grund dafür an, warum Clandon von uns Diskretion verlangte. Die meisten Menschen haben noch nie etwas mit einem Detektivbüro zu tun gehabt. Als Clandon in unserem Arbeitszimmer saß, war ihm vielleicht das Außergewöhnliche seiner Situation zu Bewußtsein gekommen. Vielleicht schämte er sich sogar. In den Kindertagen des Kinos hatte ich ähnliche Gefühle empfunden. Da schlüpfte ich schnell in einer Seitenstraße in ein häßliches, verdunkeltes Haus und hoffte zu Gott, daß kein Freund oder Bekannter mich beim Hineingehen gesehen hatte.

Wenn Clandon uns in einer persönlichen Angelegenheit beschäftigte, weil er sich nicht die Mühe machen wollte, sie selbst zu erledigen, konnte das für die Broad-Street-Detektivagentur nur von Vorteil sein. Und trotzdem war etwas faul an der Geschichte. Clandon hatte uns die Rolle eines Mannes vorgespielt, den plötzlich das schlechte Gewissen plagte, weil er eine längst verjährte Dankesschuld noch nicht abgetragen hatte. Nun hatte er es schrecklich eilig, sein Gewissen wieder zu beruhigen. Aber man sollte doch von einem Manne, der seinem Lebensretter danken will, erwarten, daß er wenigstens die elementarsten Schritte selbst unternahm und nicht andere dafür bezahlte.

Und dann meldete sich der andere Travers in mir zu Wort, der immer eine prompte Lösung für alle Probleme zur Hand hat, selbst wenn sie falsch sind, wie George Wharton behauptet. Und der andere Travers entschied, daß Clandon tatsächlich mit Arbeit überlastet sei und einfach keine Lust habe, sich noch zusätzliche Pflichten aufzubürden, selbst wenn sie ganz persönlicher Natur waren. So beschlossen wir beide, die Dinge auf sich beruhen zu lassen. Trotzdem mußte aber der mißtrauische Travers das letzte Wort haben.

«Du kannst sagen, was du willst», sagte das eine Ich zum anderen. «Mich wirst du nicht überzeugen. Ich traue der Geschichte nicht.»

2

Bassingford ist eine kleine Stadt von etwa 12.000 Einwohnern und lebt vorwiegend von der Landwirtschaft. Von London kommend, durchquert man erst eine kleine Siedlung aus modernen Fertighäusern und fährt dann über eine Brücke in den älteren Teil der Stadt. Lange Reihen viktorianischer Häuser schließen die Straßen ein, dazwischen stehen ein paar ausladende Fachwerkhäuser der Tudorzeit, deren rote Ziegelmauern sich heute hinter einem scheußlichen grauen Putz verbergen. Hier beginnt die High Street, die Hauptgeschäftsstraße der Stadt. Sie berührt den Marktplatz mit dem schönen Rathaus, dem kitschigen Verwaltungsgebäude der Stadtwerke und dem Lichtspielhaus daneben, dem ehemaligen «Theatre Royal». Hinter der High Street steigt das Gelände ein wenig an, die Häuser werden moderner, und dann kommt man in das vornehme Wohnviertel von Bassingford, an das sich der Golfplatz anschließt.

Ich fuhr nach dem Frühstück aus London ab, und als ich meinen Wagen auf dem Marktplatz von Bassingford parkte, zeigte die Rathausuhr ein Viertel nach neun. Es war ein herrlicher Junimorgen.

Ich war glücklich und zufrieden. Glücklich, weil ich aus der Stadt herauskam, und zufrieden, weil mir die Aufgabe, die beiden Personen für Clandon aufzuspüren, leicht erschien. Vielleicht würde es sich später zeigen, daß ich die berühmte Stecknadel im Heuhaufen suchen mußte; immerhin kannte ich aber den Heuhaufen schon und wußte auch einiges über die Nadel.

Nach einer halben Stunde war ich meiner Sache nicht mehr ganz so sicher. Auf der Wählerliste und unter den Hausbesitzern fand sich weder ein David Seeway noch ein Mann namens Archie, beziehungsweise Archibald Dibben. Dann versuchte ich mein Glück in einem Schreibwarengeschäft. Ich fragte, ob sie ein Adreßbuch von Bassingford besaßen. Sie hatten eines; es war gerade neu herausgekommen, das erste nach dem Krieg. Ich borgte es mir aus, setzte mich in ein Restaurant und ging das Buch sorgfältig durch. Aber ich fand nichts. Danach ging ich zum Postamt und erregte dort Aufsehen, weil ich den Amtsleiter zu sprechen verlangte. Der Mann zeigte sich zwar sehr hilfsbereit, aber auch er kannte weder einen Seeway noch einen Dibben.

«Vielleicht hat unser Lokalblatt einmal über die beiden berichtet?» fragte er. «Wenn ja, dann sollten Sie mal im Verlag nachfragen. Gehen Sie zu Jack Finney und sagen Sie, daß ich Sie geschickt habe.»

Das war eine Idee, obwohl ich wirklich keine Lust hatte, die Zeitungen mehrerer Jahre durchzublättern. Trotzdem ging ich in das Büro der «Bassingford Gazette» und fragte nach Jack Finney. Ein Lehrling führte mich über eine Steintreppe in den Keller hinunter. Dort befand sich das Archiv des Lokalblattes.

Finney war der Verwalter des Archivs. Ich schätzte sein Alter auf 65 oder 70. Er war dünn, hatte hängende Schultern und flinke wäßrige Augen. Sein grauer Schnurrbart hing ihm über den Mund herab, er war schwerhörig und seine Stimme erinnerte mich an einen Preßlufthammer.

«Ich kenne keinen Seeway nicht», sagte er. «So’n Namen gibt es in Essex nicht. Dibben ebenfalls nicht.»

«Sie scheinen Ihrer Sache ja sehr sicher zu sein», erwiderte ich. «Sie sind ja schon lange genug hier und müssen es wissen.»

«Hab hier als Laufbursche angefangen», bellte er mich an. «Da ist nichts passiert, was ich nicht wüßte. Habe ein prima Gedächtnis für Daten und Tatsachen.»

«Sind Sie Abstinenzler?»

«Ich?» Er guckte mich an, als ob ich ihm ins Gesicht geschlagen hätte.

«Hier, kaufen Sie sich etwas zu trinken», sagte ich und gab ihm ein paar Silbermünzen. «Und wenn Ihnen noch etwas über Seeway oder Archie Dibben einfällt, geben Sie mir Bescheid.»

Er sträubte sich nicht lange, nahm das Trinkgeld und tippte sich zum Dank mit zwei Fingern an die Stirne. Als ich den Fuß schon auf die erste Stufe der Treppe setzen wollte, erschreckte mich ein bellender Ruf hinter meinem Rücken.

«He, Sie haben vorhin nichts von Archie gesagt, nur von Dibben!»

Ich drehte mich um.

«Tut mir leid. Ich dachte nicht, daß der Vorname so wichtig sei.»

Er hörte mir gar nicht zu. Er tippte sich auf seinen Schädel und schien in seinem Gedächtnis zu kramen.

«Archie Dibben», sagte er langsam. «Archie Dibben.»

Dann schüttelte er den Kopf.

«Komisch», sagte er und fuhr sich über die Stirne. «Irgendwas kommt mir in den Sinn, wissen Sie? Wie ein Lied: Archie Dibben … Archie Dibben.»

Er unterbrach sich mit einer ärgerlichen Geste.

«Ich kenne den Namen, Sir, wie meinen eigenen. Nur fällt mir um alles in der Welt nicht ein, woher.»

«Schauen Sie», schlug ich vor, «ich werde jetzt im Hotel zum ,Weißen Hirschen’ zu Mittag essen. Finden Sie mir etwas über diesen Archie Dibben heraus, und es soll mir auf eine Pfundnote nicht ankommen.»

Eine Stunde später stieg ich wieder in die Gruft der «Bassingford Gazette» hinunter. Finney hatte sich sofort, nachdem ich gegangen war, an Archie Dibben erinnert. Dann hatte er die alten Jahrgänge der Zeitungen durchgesehen und tatsächlich ein paar Anzeigen gefunden. Aber als er zu erzählen begann, argwöhnte ich, daß er auf der falschen Spur sei. Er gab mir folgenden Bericht:

Das «Theatre Royal» hatte bis zum Frühjahr 1940 als Theater gedient und wurde am Anfang des Krieges zu einem Kino umgebaut. Im März 1939 war eine Londoner Theatergruppe mit dem Erfolgsstück «Unterm Pantoffel» eine Woche lang zu Gast gewesen. Einer der Hauptdarsteller war Archie Dibben. Ich habe ein gutes Gedächtnis für Namen, besonders für Namen aus der Theaterwelt, aber der Name Archie Dibben sagte mir gar nichts. Und als ich dann noch erfuhr, daß er komische Rollen gespielt haben sollte, bezweifelte ich sehr, daß er unser Mann sei.

«Haben Sie die Vorstellung gesehen?»

«O ja», sagte Finney. «Ich hab nie eine verpaßt. Kino kann ich nicht ausstehen, ich höre nämlich nichts.»

«Was für ein Mann war dieser Dibben?»

«Ziemlich klein, mit’m Kugelbauch. So um die Fünfzig. Auf der Bühne sah er ja’n bißchen jünger aus. ’n prima Komiker.»

«Haben Sie ihn einmal auf der Straße gesehen?»

«Klar. Da die Schauspieler alle im Ort wohnten, ließ sich das gar nicht vermeiden. Ich glaube, der hockte ziemlich oft im ,Weißen Hirschen’. Ich habe ihn dort in Gesellschaft von Mr. Proden gesehn. Das ist der Mann, dem jetzt das neue Kino gehört. Das Theater gehörte früher Miss Ladely. Die hat er rumgekriegt, daß sie’n Kino draus machte. Als sie starb, erbte er ihr Geld. Er war ihr Neffe, glaube ich.»

Soweit seine Geschichte. Oberflächlich betrachtet, konnte dieser Archie Dibben kaum derjenige sein, den ich suchte. Ein fünfzigjähriger Schauspieler mit Kugelbauch zieht nicht mehr ins Feld. Außerdem hat ein älterer Mann weder die Kraft noch den Ehrgeiz, ins Niemandsland zu robben, um sich einen Orden zu verdienen. Und damit stellte sich mir noch ein größeres Problem entgegen. Warum hatte Seeway an jenem Tage im Lazarett den Namen Dibben überhaupt erwähnt? Warum hatte Seeway Clandon gefragt, ob er einen Archie Dibben kenne? Wenn Dibben wenigstens eine angesehene Persönlichkeit von Bassingford gewesen wäre! Aber dieser Schauspieler wohnte ja nicht einmal im Ort. Er war Mitglied einer Truppe gewesen, die dort eine Woche lang ein Gastspiel gab. Eine rätselhafte Geschichte.

Finneys Augen blickten mich erwartungsvoll an. Wahrscheinlich dachte er an die versprochene Pfundnote. Ich gab ihm zwei, und er machte einen Freudensprung.

«Ich glaube nicht, daß dieser Archie Dibben der Mann ist, den ich suche», sagte ich. «Mein Mann müßte viel jünger sein. Aber sie erwähnten eben einen Mr. Proden, oder wie lautete der Name?»

«Proden ist richtig. Dem gehört das Kino und ’ne ganze Menge Grundbesitz hier in der Stadt.»

«Vielleicht sollte ich einmal mit Mr. Proden reden. Es wäre ja möglich, daß Archie Dibben einen Sohn hat, der dem Alter nach eher zu meiner Beschreibung paßt. Eventuell weiß Mr. Proden darüber Bescheid.»

Proden wohnte nahe am Golfplatz in einem Haus, das er Bellevue getauft hatte. Ich hätte gerne noch etwas mehr über ihn erfahren, ehe ich ihn aufsuchte, aber Finney konnte nichts Nennenswertes mehr berichten. Er beschrieb Proden als einen Gentleman mit sportlichen Interessen. Er spielte viel Golf und hatte während des Krieges mehrere Boxveranstaltungen für die Truppen organisiert. Er mochte jetzt etwa 50 Jahre alt sein.

«Er hat ein beträchtliches Vermögen von seiner Tante geerbt, sagten Sie?»

Ich weiß nicht, warum ich diese Frage stellte; vielleicht wollte ich nur Zeit zum Überlegen gewinnen. Finney konnte über Mr. Proden viel besser Auskunft geben, denn das Lokalblatt hatte öfters über ihn berichtet. Proden war einige Zeit lang im Ausland gewesen und kam 1939 nach Bassingford, um seine Tante zu besuchen. 1941 heiratete er eine Einheimische aus einer angesehenen und sehr vermögenden Familie. Sie hieß Rosamund Vorne und war die Tochter von Oberst Vorne. Oberst Vorne war Witwer und kam beim Rückzug von Dünkirchen ums Leben. 1947 wurde die Ehe mit Proden geschieden. Mrs. Proden verließ die Stadt, und wo sie jetzt wohnte, konnte Finney nicht sagen. Proden lebte nach wie vor in Bellevue.

Finney suchte eifrig nach weiteren Berichten, aber ich hatte genug davon. Ich behauptete, ich sei in großer Eile, und kaufte mich mit dem Versprechen los, ihm jede wichtige Auskunft mit einem guten Trinkgeld zu bezahlen. Wichtig sei nur ein Bericht über Dibben, schärfte ich ihm ein, oder eine Notiz über Seeway. Alles andere interessierte mich nicht. Am Ausdruck seines Gesichtes konnte ich ablesen, daß er alle zurückliegenden Jahrgänge aufs genaueste durchkämmen würde.

Im Postamt suchte ich Prodens Telefonnummer heraus. Dabei war ich vollkommen davon überzeugt, daß ich nur meine Zeit vergeudete. Ich rief die Nummer an und wartete ein paar Minuten, dann legte ich den Hörer wieder auf. In Bellevue schien niemand zu Hause zu sein.

Deshalb stieg ich in meinen Wagen und fuhr zum Golfplatz hinaus.

Es war nicht schwer, das Haus zu finden. Es war eine große, spitzgieblige Villa im Stil der Gründerzeit, aus roten Ziegeln gebaut. Sie stand in der Mitte eines weitläufigen Grundstücks, umgeben von einem gutgepflegten Rasen und schönen Blumenrabatten.

Als ich die lange Kiesauffahrt hinaufschritt, hörte ich das Klappern eines Rasenmähers hinter dem Haus. Ich ging um die Terrasse mit den gestreiften Markisen herum und erblickte einen jungen Mann, der gerade den Rasen einer Mini-Golfanlage bearbeitete.

«Ist Mr. Proden nicht da?»

«Im Moment nicht, Sir. Er ist in die Stadt gegangen. Gegen sechs wollte er wieder zurück sein. Sie möchten ihn sprechen?»

Ich sagte, das wäre ein dringendes Anliegen von mir. Ich bat ihn, mich im «Weißen Hirschen» anzurufen, sobald Mr. Proden wieder daheim sei. Das könnte er leider nicht, antwortete er, da seine Arbeit um fünf Uhr beendet sein würde. So schrieb ich ein paar Zeilen auf ein Blatt aus meinem Notizbuch, und der Gärtner versprach, es der Haushälterin zu geben. Sie sei eben im Kino, wäre aber vor fünf wieder zurück.

Ich gab ihm ein Trinkgeld und fuhr zum Marktplatz. Dort setzte ich mich in ein Restaurant und trank eine Tasse Tee. Mein gesunder Menschenverstand riet mir, nach Hause zu fahren, um nicht meine Zeit und das Geld der Firma zu vergeuden. Aber ein sechster Sinn in mir wehrte sich dagegen: warum sollte ich meinen Aufenthalt in Bassingford schon vor dem Abend abbrechen? Vielleicht half mir das Glück doch noch in der letzten Sekunde.

So bestellte ich mir ein Abendessen im «Weißen Hirschen» und setzte mich an einen Tisch in der Nähe der Telefonzelle. Nach zwei Stunden kam der Anruf, auf den ich gewartet hatte.

«Mr. Travers?»

«Am Apparat», sagte ich.

«Hier ist Hugh Proden. Sie wollten mich sprechen?»

«Ja», sagte ich. «Es handelt sich um eine persönliche Angelegenheit. Sie ist sehr wichtig.»

«Tatsächlich?» antwortete er überrascht. «Übrigens –, kennen wir uns eigentlich?»

«Ich glaube nicht. Aber ich wäre Ihnen sehr dankbar, wenn ich Sie einmal aufsuchen dürfte.»

«Würden Sie mir vielleicht in wenigen Worten sagen, um was es sich handelt?»

«Wenn es Ihnen nichts ausmacht, möchte ich lieber vorbeikommen. Am Telefon kann ich darüber nicht reden.»

«In Ordnung», erwiderte er. «Wollen Sie gleich kommen? Es tut mir leid, daß ich Sie nicht früher anrufen konnte.»

Hier muß ich ein paar Dinge klarstellen. Ich möchte nicht den Eindruck erwecken, als hielte ich mich für allwissend. Wenn man z.B. mit einem Bekannten im Garten sitzt, dem Gezwitscher eines Vogels zuhört, und der Bekannte plötzlich ausruft: «Das ist ein Fliegenschnäpper!», dann wird man diese Feststellung nicht anzweifeln, wenn man weiß, daß der Bekannte ein erfahrener Ornithologe ist. Auch ich lasse mich nicht von einem Instinkt leiten, sondern von der Erfahrung und dem Wissen aus einer langjährigen Praxis.

Seit über zwanzig Jahren arbeite ich mit George Wharton zusammen, wenn ich einen Mord aufklären muß. Kriminalkommissar Wharton von Scotland Yard ist meistens der Wortführer bei unseren gemeinsamen Untersuchungen und ich beobachte die Reaktion der Verdächtigen oder der Zeugen. Wenn ich auf mich allein gestellt bin, muß ich beides zugleich tun. Ich habe in diesen Jahren gelernt, wie man aus einer Stimme Wahrheit und Lüge heraushören kann. Und jetzt konnte ich an Prodens Stimme und seinem Zögern erkennen, daß mein einfaches Anliegen und der kurze Wortwechsel am Telefon ihn sehr unsicher gemacht hatten.

Ich setzte mich also in meinen Wagen und fuhr ein zweites Mal zu seinem Haus. Diesmal fuhr ich direkt bis vor die Terrasse. Es war ein wunderschöner Abend, die Terrassentüren standen offen und die Markisen waren hochgezogen. Ich hatte die Klingel kaum berührt, als eine ältere Haushälterin öffnete und mich bat einzutreten. Von der geräumigen Halle aus konnte ich einen Blick in das Eßzimmer werfen, wo ein Hausmädchen gerade den Tisch abdeckte. Trotz der Dringlichkeit meiner Bitte hatte sich Proden also noch die Zeit genommen, zu essen. Ich hätte gerne gewußt, was Proden während des Abendessens noch zu überlegen hatte.

Dann wurde ich in das Wohnzimmer geführt. Es war geschmackvoll und bequem eingerichtet und gewährte einen schönen Ausblick auf den Golfplatz. Auf einem langen, niedrigen Tisch lagen Stöße von Zeitungen und Zeitschriften, vorwiegend Journale, die sich mit dem Sport und der Jagd befaßten. Ich wollte mich gerade in einen bequemen Korbsessel niederlassen, als Proden eintrat.

«Tut mir leid, daß ich Sie habe warten lassen», sagte er freundlich. «Der Kaffee ist gerade fertig – wenn Sie eine Tasse mittrinken wollen?»

Ich nahm dankend an.

«Was trinken Sie lieber – Gin oder Kognak?»

Ich sagte, er sei sehr liebenswürdig, und ich würde gerne einen Gin nehmen. Während er sich mit dem Einschenken beschäftigte, hatte ich Zeit, ihn zu betrachten. Sie haben sicher schon alle die Reklamefotos für Mäntel und Sportbekleidung gesehen, die regelmäßig in den Illustrierten erscheinen; den eleganten Herrn, mit dem gebräunten, scharf geschnittenen Gesicht, den einen Fuß auf dem Trittbrett eines teuren Sportwagens, vielleicht noch mit einem Fernglas in der Hand? Nun, genauso sah Proden aus, und seine Stimme paßte vollkommen zu seiner Erscheinung. Seine Herzlichkeit und sein Bemühen um mein Wohlergehen erhöhten noch seinen Charme.

«Worüber wollen wir uns also unterhalten?» sagte er und blickte mich fragend an.

Mein Name hatte ihm also nichts gesagt. Gut so. Wir arbeiten ziemlich anonym in Scotland Yard. Ich hatte zwar oft bei Gerichtsverhandlungen als Sachverständiger ausgesagt, aber Sachverständige erregen selten die Neugierde des Publikums. Ich klärte Proden über meine Person auf – wobei ich den Yard nicht erwähnte – und fragte dann, plötzlich und ohne Vorbereitung, nach Archie Dibben. Der Name wirkte auf ihn wie ein Tiefschlag. Er brauchte eine Sekunde, bis er sich gefaßt hatte. Dann tat er so, als habe er den Namen nicht verstanden.

«Dibben», sagte ich, «Archie Dibben.»

Er runzelte nachdenklich die Brauen.

«Dibben … Archie Dibben … Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor. Müßte ich ihn kennen?»

Ich ging nicht weiter um den heißen Brei herum und sagte ihm alles, was ich wußte. Es war wirklich großartig, mit anzusehen, wie ein langsames Erinnern in seinen Zügen aufleuchtete. Er brachte sogar ein kleines, amüsiertes Lachen zustande.

«Aber natürlich, mein Bester; jetzt erinnere ich mich. Richtig, er war hier als Mitglied einer Schauspieltruppe. Komisch, daß ich nicht gleich wußte, wo ich ihn hintun sollte.»

«Sie wissen nicht zufällig, wo er sich jetzt aufhält?»

«Du liebe Güte!» Er zuckte die Achseln. «Ich habe nicht die geringste Ahnung! Das liegt ja schon mehr als 15 Jahre zurück. Und ich habe den Mann schließlich nur einmal gesehen. Wir haben vielleicht ein paar Gläser miteinander getrunken, das war alles.» Er lehnte sich mit geschlossenen Augen zurück, und wieder huschte ein leichtes Lächeln der Erinnerung über sein Gesicht. «Wenn ich mich recht erinnere, war er ein recht unterhaltsamer Mann.»

«Haben Sie seitdem etwas von ihm gehört?»

«Kein Wort», sagte er, wieder sachlich werdend.

«Wissen Sie zufällig, ob er einen Sohn hatte?»

«Nein. – Auch nicht, ob er eine Tante hatte, die er beerben konnte.»

«Das wäre alles», sagte ich. «Übrigens, wie sah er eigentlich aus?»

«Dibben?» Er überlegte und lehnte sich mit zusammengezogenen Augen zurück. «Er war Anfang Fünfzig. Frische Farben, ungefähr ein Meter zweiundsiebzig groß. Dunkel, glatt rasiert. Etwas hager. Der typische Komiker, der immer verständnisvoll mit einem Auge blinzelt, wenn Sie verstehen, was ich meine.» Dann fiel ihm noch etwas ein und er beugte sich vor. «Er muß eine ganz ordentliche Erziehung gehabt haben, natürlich nicht Eton oder Balliol, aber er sprach wirklich sehr gebildet.»

«Eine ausgezeichnete Beschreibung», sagte ich ernsthaft. «Nur noch eine kleine Frage. Erinnern Sie sich vielleicht noch, wohin die Gastspielreise anschließend ging?»

«Mein Gott, nein!», antwortete er. «Ich bitte Sie, mein Herr! Das war vor mehr als fünfzehn Jahren, und wir hatten jede Woche ein anderes Gastspiel. Dann kam der Krieg und für mich eine Reihe familiärer Veränderungen. Und die Nachkriegsjahre waren sogar noch schwieriger. Außerdem starb meine Tante am Anfang des Krieges. Ich hatte ihr geraten, das alte ,Royal’ in ein Lichtspieltheater umzuwandeln; das ist einer der Gründe, warum Dibben nie mehr hierher kam. Er könnte sogar schon gestorben sein. Ich habe keine Ahnung, was aus ihm geworden ist.»

Er bot mir noch eine Tasse Kaffee und einen Gin an, aber ich lehnte dankend ab. Er dachte – oder hoffte vielleicht –, daß damit unsere Unterhaltung beendet sei. Aber ich rührte mich nicht, und er beugte sich wieder zu mir.

«Wäre es wohl sehr indiskret, zu fragen, wer daran interessiert sein könnte, diesen Herrn Dibben aufzutreiben?»