Bitch – Ein revolutionärer Blick auf Sex, Evolution und die Macht des Weiblichen im Tierreich - Lucy Cooke - E-Book

Bitch – Ein revolutionärer Blick auf Sex, Evolution und die Macht des Weiblichen im Tierreich E-Book

Lucy Cooke

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Beschreibung

Von Matriarchaten, Pseudopenissen, Kannibalinnen Was bedeutet es, dem weiblichen Geschlecht anzugehören? Lange wurde das Weibliche in der Wissenschaft auf das Mütterliche, das Aufopfernde, das Passive reduziert. Lucy Cooke wirft in ihrem neuen Buch einen feministischen Blick auf die Tierwelt, der die überholten, patriarchal geprägten Annahmen über Bord wirft und das Weibliche neu definiert. Ein außergewöhnliches Buch, das unsere Sicht der Welt verändern wird Sie stellt kannibalische Gottesanbeterinnen vor. Lemurenweibchen, die die Männchen ihrer Art physisch und politisch dominieren. Und Albatrosweibchen, die sich zusammentun, um ihren Nachwuchs gemeinsam großzuziehen. Ihr faszinierendes Buch zeichnet ein frisches Bild des weiblichen Tiers und der Kräfte, die die Evolution beeinflusst haben. Es ist ein fundierter und gewitzter Versuch zu ergründen, was das auch für uns bedeuten kann.  »Eine schillernde, witzige und auf elegante Weise zornige Vernichtung unserer Vorurteile über weibliches Verhalten und die Geschlechter im Tierreich … ›Bitch‹ ist ein Wahnsinnsspaß.« Observer

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Aus dem Englischen von Jorunn Wissmann und Susanne Warmuth

Mit einem Schwarz-Weiß-Foto

Von Lucy Cooke liegt im Malik Verlag vor:

Die erstaunliche Wahrheit über Tiere

© Lucy Cooke, 2022

Titel der englischen Originalausgabe: »Bitch«, Doubleday/Transworld Publishers, London 2022

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Redaktion: Antje Steinhäuser, München

Covergestaltung: Birgit Kohlhaas, kohlhaas-buchgestaltung.de, nach einem Entwurf von Holly Ovenden

Coverabbildung: Bilder unter Lizensierung von Shutterstock genutzt

Foto im Kapitel Vorbemerkug: © Lucy Cooke

Litho: Lorenz & Zeller, Inning am Ammersee

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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All den Bitches meines Lebens gewidmet.

Danke für eure Liebe und Inspiration!

Zu diesem Buch

Was bedeutet es, dem weiblichen Geschlecht anzugehören? Lange wurde das Weibliche in der Wissenschaft auf das Mütterliche, das Aufopfernde, das Passive reduziert. Doch in den letzten Jahrzehnten hat sich ein revolutionärer Umbruch in der Zoologie und der Evolutionsbiologie angekündigt. Lucy Cooke wirft in ihrem neuen Buch einen feministischen Blick auf die Tierwelt und trifft Wissenschaftler, die dabei mitwirken, die überholten, sexistisch geprägten Annahmen zu Evolution, Anatomie und Verhalten der Geschlechter zu widerlegen und das Weibliche neu zu definieren. Ihr Buch zeichnet ein frisches und diverses Bild des weiblichen Tiers und wird unsere Wahrnehmung von Geschlechterrollen, sexueller Identität und Sexualität bei Tieren und auch der Kräfte, die die Evolution beeinflusst haben, verändern.

Lucy Cooke studierte Zoologie in Oxford mit Schwerpunkt Evolution und Tierverhalten. Sie arbeitet als Dokumentarfilmemacherin und Moderatorin, schreibt für Zeitungen wie die Sunday Times, den Telegraph und die New York Times. 2018 erschien bei Malik ihr Buch »Die erstaunliche Wahrheit über Tiere«, das in 17 Sprachen übersetzt und von Bill Bryson als »unendlich faszinierend« bezeichnet wurde. www.lucycooke.tv

((Text bei Büchern mit inhaltsrelevanten Abbildungen ohne Alternativtexte))

Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Vorbemerkung

Einführung

Kapitel 1

Chaotische Chromosomen

Kapitel 2

Kapitel 3

Die Konstruktion der weiblichen Keuschheit im 19. Jahrhundert

Ein Hoch auf untreue Vögel

Lasterhafte Languren

Hoden lügen nicht

Bateman 2.0

Bald nur noch Geschichte: das keusche Weibchen

Kapitel 4

Ein Schicksal, schlimmer als der Tod

Positive Schwingungen

Sterben für Sex

Kapitel 5

Die unerforschten Vaginen

Eine schiefe Sicht auf die Evolution

Unter der Haube

And the Winner is … die Eizelle

Kapitel 6

Mythos Mutterinstinkt

Mütterliche Kontrolle

Von Angst bis Mutterschaft

Elterliche Fürsorge – eine Gemeinschaftsarbeit

Kapitel 7

Platz da für das Alpha-Huhn!

Ein Hoch auf die Fortpflanzungsautokratinnen!

Lang lebe die Königin!

Kapitel 8

Gemeinsam stark

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Schluss

Die Wahrheit liegt in Diversität und Transparenz

Dank

Anmerkungen

Anmerkungen

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Vorbemerkung

der Autorin zu Sprache und Wortwahl

Sprache entwickelt sich rasant, und derzeit wird viel über die Verknüpfung von Begriffen zu biologischem (sex) und sozialem (gender) Geschlecht geredet. Die meisten Wissenschaftler:innen stimmen darin überein, dass nicht-menschliche Tiere kein soziales Geschlecht haben. In diesem Buch beziehen sich die Begriffe weiblich und männlich auf das biologische Geschlecht eines Tieres. Bis zu einem gewissen Maße bediene ich mich vermenschlichender Begriffe, zum Teil, weil es sich dabei um die historisch verwendeten Bezeichnungen handelt. So beschreibe ich beispielsweise, dass die Genitalien eines Tieres »maskulinisiert« wurden oder sein Gehirn »feminisiert« wurde, weil dies der ursprünglichen wissenschaftlichen Beschreibung entspricht. Solche geschlechtszuweisenden Begriffe müssen und sollten in der heutigen Wissenschaft nicht benutzt werden, um Geschlechtseigenschaften und Verhaltensweisen von Tieren zu beschreiben. Ich gebrauche außerdem geschlechtszuweisende Begriffe wie »Mutter« und »Vater« zur Beschreibung von Tieren, weil dies die von den jeweiligen Wissenschaftler:innen benutzten Begriffe sind und die meisten meiner Leserinnen und Leser verstehen, was damit gemeint ist – mit »Mutter« kann beispielsweise das Eier legende Elternteil eines Individuums gemeint sein. An anderer Stelle benutze ich anthropomorphe Begriffe wie Femme fatale, Queen, Lesbe, Schwester, Lady und Bitch als Stilmittel. Diese Bezeichnungen brauchen Leserinnen und Leser in eigenen akademischen Arbeiten nicht wiederzugeben. Mir ist bewusst, dass derlei Vermenschlichungen unbeabsichtigt Auswirkungen im Zusammenhang mit dem sozialen Geschlecht haben können. Mit diesem Buch möchte ich zeigen, dass das biologische Geschlecht ungeheuer variabel ist und Gender-Vorstellungen, die auf der Annahme eines rein binären biologischen Geschlechts beruhen, unsinnig sind. Ich hoffe sehr, das hiermit deutlich kommuniziert zu haben.

Lucy Cooke mit Mary Jane West-Eberhard, Sarah Blaffer Hrdy und Jeanne Altmann (von links nach rechts)

Foto: © Lucy Cooke

Einführung

 

Zoologie zu studieren, gab mir das Gefühl, eine bedauernswerte Außenseiterin zu sein. Nicht weil ich Spinnen liebte, gerne tote Tiere zerlegte, die ich am Straßenrand gefunden hatte, oder begeistert in Tierkot herumstocherte, um herauszufinden, was seine Urheber gefressen hatten. Alle meine Mitstudent:innen teilten diese seltsamen Vorlieben mit mir, das musste einem also nicht peinlich sein. Nein, der Quell meines Unbehagens war mein Geschlecht. Weiblich zu sein, bedeutete nur eines: Ich war eine Verliererin.

»Das weibliche Geschlecht wird ausgebeutet, und die grundlegende evolutionäre Basis für diese Ausbeutung ist die Tatsache, daß Eizellen größer sind als Samenzellen«,[1] schrieb mein Hochschullehrer Richard Dawkins in seinem Evolutions-Bestseller Das egoistische Gen.

Den Lehren der Zoologie zufolge kamen wir Eizellen-Produzentinnen durch unsere massigen Gameten schon immer zu kurz. Da wir unser genetisches Erbe wenigen nährstoffreichen Eizellen anvertrauen und es nicht in Millionen von beweglichen Spermien stecken, haben unsere Urahninnen in der Lotterie des Lebens offensichtlich den Kürzeren gezogen. Somit müssen wir bis in alle Ewigkeit die zweite Geige hinter den Spermaproduzenten spielen, als weibliche Randnotiz zum männlichen Hauptereignis.

Man lehrte mich, dass dieser offensichtlich triviale Unterschied zwischen unseren Geschlechtszellen die Ungleichheit der Geschlechter fest zementiert habe. »Wie wir sehen werden, lassen sich alle anderen Unterschiede zwischen den Geschlechtern aus diesem einen grundlegenden Unterschied ableiten«, so Dawkins. »Damit beginnt die Ausbeutung des weiblichen Geschlechts.«[2]

Männliche Tiere führten demnach ein verwegenes Leben, stets vorwärtsdrängend und aktiv. Sie kämpften miteinander um die Herrschaft oder den Besitz von Weibchen. Sie paarten sich immer und überall, getrieben von dem biologischen Imperativ, ihren Samen möglichst weit zu verbreiten. Und sie dominierten sozial; Weibchen folgten widerspruchslos den männlichen Anführern. Die Rolle des Weibchens war von Natur aus die der selbstlosen Mutter; somit hielt man alle mütterlichen Anstrengungen für gleichartig: Bei uns gab es keinerlei Konkurrenzdenken. Sex war eher eine Pflicht als ein Trieb.

Im Hinblick auf die Evolution galten die Männchen als treibende Kraft des Wandels. Wir Weibchen konnten dank gemeinsamer DNA auf den Zug mit aufspringen, solange wir schön brav waren und nicht den Mund aufmachten.

Als Eizellen produzierende Studentin der Evolutionswissenschaft fand ich mich in diesem 50er-Jahre-Modell der Geschlechterrollen einfach nicht wieder. War ich als Frau etwa vollkommen aus der Art geschlagen?

Die Antwort auf diese Frage lautet zum Glück: nein.

Um die Biologie ist eine sexistische Mythologie gewoben worden, die unsere Wahrnehmung der weiblichen Tiere verzerrt. Tatsächlich gibt es in der Natur eine enorme Vielfalt weiblicher Formen und Rollen, die ein faszinierend breites Spektrum an anatomischen Eigenschaften und Verhaltensweisen abdeckt. Ja, darunter sind auch die hingebungsvollen Mütter, ebenso aber die weiblichen Blatthühnchen, die sich einen Harem aus mehreren Männchen halten und Brut sowie Jungenaufzucht diesen überlassen. Weibchen können durchaus treu sein, doch nur sieben Prozent der Arten sind sexuell monogam – somit sind viele Weibchen »untreu« und suchen sich mehrere Partner. Zudem sind bei Weitem nicht alle tierischen Gesellschaften männlich dominiert. In den verschiedensten Tierklassen gibt es Alphaweibchen, die ihre Autorität auf unterschiedlichste Weise ausüben, von wohlwollend (Bonobos) bis brutal (Bienen). Weibchen können ebenso heftig miteinander konkurrieren wie Männchen: Topiweibchen (eine Leierantilope) kämpfen mit beachtlichen Hörnern erbittert um den Zugang zu den besten Männchen, und Erdmännchen-Matriarchinnen zählen zu den mörderischsten Säugetieren unseres Planeten; sie töten die Jungen ihrer Konkurrentinnen und unterdrücken deren Fortpflanzung. Schließlich wären da noch die Femmes fatales: kannibalistische Spinnenweibchen, die ihre Partner als post- oder gar präkoitale Snacks verputzen, sowie »lesbische« Echsen, die gar keine Männchen mehr brauchen und sich nur noch per Klonen fortpflanzen.

In den letzten Jahrzehnten wurde unser Wissen darüber, was es bedeutet, weiblich zu sein, völlig revolutioniert. Von diesem Umbruch handelt das vorliegende Buch. Ich werde Ihnen darin eine (im Wortsinne) wilde Auswahl bemerkenswerter weiblicher Tiere und der Wissenschaftler:innen, die diese erforschen, präsentieren. Gemeinsam haben sie nicht nur den Begriff des Weiblichen für die Arten, sondern auch die evolutionär wirkenden Kräfte an sich neu definiert.

 

Wenn wir den Ursprung dieser verzerrten Sicht auf die Natur verstehen wollen, müssen wir ins England des 19. Jahrhunderts zurückgehen, in die Zeit meines wissenschaftlichen Idols: Charles Darwin. Seine Theorie der Evolution durch natürliche Selektion erklärte, wie sich aus einem gemeinsamen Urahn die ganze Vielfalt des Lebens entwickeln konnte. Organismen, die besser an ihre Umwelt angepasst sind als andere, haben eine größere Chance, zu überleben und jene Gene weiterzugeben, die ihnen zu diesem Erfolg verholfen haben. Dieser Prozess führt dazu, dass sich Arten im Lauf der Zeit verändern und aufspalten. Oft mit dem fälschlich »zitierten« survival of the fittest (auf Deutsch: »Überleben der am besten Angepassten«) umschrieben – die Wendung stammt von dem Philosophen Herbert Spencer und wurde von Darwin auf Druck von außen erst in die fünfte Auflage von Über den Ursprung der Arten (1859) aufgenommen[3] –, ist diese Idee so brillant wie einfach und wird zu Recht als eine der größten intellektuellen Errungenschaften aller Zeiten gefeiert.

Bei aller Genialität kann die natürliche Selektion jedoch nicht alles erklären, was wir in der Natur vorfinden. Darwins Evolutionstheorie wies einige große Erklärungslücken auf, etwa hinsichtlich ausgeprägter Merkmale wie dem Hirschgeweih oder dem Schwanz des männlichen Pfaus. Solche Extravaganzen bieten keinen allgemeinen Überlebensvorteil, sie können sogar das tägliche Leben erschweren. Somit konnten sie nicht durch die utilitaristische Kraft der natürlichen Selektion geformt worden sein. Darwin erkannte dies, was ihn lange quälte. Ihm war klar, dass hier ein anderer Evolutionsmechanismus am Werk sein musste, der eine eigene Zielsetzung hatte. Diese bestand, wie er schließlich realisierte, im Streben nach Sex, und so schuf er den Begriff der geschlechtlichen Zuchtwahl, sprich: der sexuellen Selektion.

Für Darwin erklärte diese weitere evolutionäre Kraft die auffälligen Merkmale – ihr einziger Zweck musste ihm zufolge darin bestehen, das andere Geschlecht für sich zu gewinnen oder anzulocken. Diese Nachrangigkeit drückte Darwin mit der Bezeichnung »secundäre Sexualcharaktere« (sekundäre Geschlechtsmerkmale) aus, um sie von den primären Geschlechtsmerkmalen (wie Fortpflanzungsorganen und äußeren Genitalien) zu unterscheiden, die für den Fortbestand des Lebens essenziell sind.

Ein gutes Jahrzehnt nachdem Darwin der Welt sein Konzept der natürlichen Selektion präsentiert hatte, veröffentlichte er sein zweites theoretisches Meisterwerk: Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl (1871). In diesem kraftvollen Folgewerk skizzierte er seine neue Theorie der sexuellen Selektion, die die von ihm beobachteten grundlegenden Unterschiede zwischen den Geschlechtern erklärte. Bei der natürlichen Selektion geht es ums Überleben, bei der sexuellen Selektion letztlich um die Konkurrenz um Sexualpartner. Und in Darwins Augen war dieses Konkurrieren ganz überwiegend Männersache.

»… die Männchen beinahe aller Thiere [haben] stärkere Leidenschaften … als die Weibchen. Daher sind es die Männchen, welche miteinander kämpfen und eifrig ihre Reize vor den Weibchen entfalten«, so Darwin. »Das Weibchen ist andererseits mit sehr seltenen Ausnahmen weniger begierig als das Männchen. … [es] verlangt … im Allgemeinen geworben zu werden, es ist spröde …«[4]

In Darwins Augen erstreckte sich der Geschlechtsdimorphismus, also die körperlichen Unterschiede zwischen Geschlechtern, somit auch auf die Verhaltensweisen. Diese Geschlechterrollen waren so vorhersagbar wie körperliche Merkmale. Die Männchen treiben die Evolution voran, indem sie mit extra dafür entwickelten »Waffen« oder »Reizen« um den »Besitz« der Weibchen kämpfen.[5] Die Konkurrenz bewirkt bei den Männchen einen sehr unterschiedlichen Fortpflanzungserfolg, und diese sexuelle Selektion bringt die weitere Evolution siegreicher Merkmale mit sich. Weibchen stehen unter geringerem Variationsdruck; ihre Rolle besteht darin, sich den männlichen Merkmalen zu unterwerfen und diese weiterzugeben.

Darwin war sich nicht sicher, warum dieser Unterschied bestand,[6] er vermutete aber, dass sich dies unter anderem auf die Geschlechtszellen und den Energieaufwand der Weibchen für die Jungenaufzucht (mütterliches Investment) zurückführen ließe.

Darwin wusste, dass die sexuelle Selektion neben der Konkurrenz unter den Männchen auch das Element einer Auswahl durch die Weibchen erforderte. Dies zu erklären, war schwieriger, denn es gestand dem schwachen Geschlecht eine unangenehm aktive Rolle bei der Gestaltung der Männchen zu – was im viktorianischen England nicht wohlgelitten war und, wie wir in Kapitel 2 erfahren werden, Darwins Theorie der sexuellen Selektion für das wissenschaftliche Patriarchat besonders ungenießbar machte.[7] Daher mühte sich Darwin nach Kräften, diese weibliche Macht herunterzuspielen, indem er beschrieb, dass diese »vergleichsweise passiv«[8] und auf nicht bedrohliche Art erreicht wird, indem die Weibchen der männlichen Prahlerei »als scheinbar unbeteiligte Zuschauerin« beiwohnen.[9]

Darwins Darstellung der Geschlechter als aktiv (Männchen) und passiv (Weibchen) hätte sich eine teure Werbeagentur mit unbegrenztem Budget nicht besser ausdenken können, bedient sie doch jene säuberliche Art von Dichotomie – wie richtig oder falsch, schwarz oder weiß, Freund oder Feind –, die das menschliche Gehirn so schätzt, weil es sie intuitiv als richtig empfindet.

Doch Darwin war vermutlich nicht der Erfinder dieser bequemen Klassifikation der Geschlechter. Gut möglich, dass er hier Anleihen bei Aristoteles genommen hatte, dem Vater der Zoologie. Im 4. Jahrhundert v. Chr. verfasste der griechische Philosoph den wohl ersten Almanach der Tiere: Über die Zeugung der Geschöpfe (De generatione animalium), eine Abhandlung über die Fortpflanzung. Dieses akademische Grundlagenwerk hatte Darwin sicherlich gelesen, was vielleicht erklärt, warum eine gewisse Ähnlichkeit zu Aristoteles’ Aufteilung der Geschlechterrollen besteht:

»Bei jenen Tieren, die … zwei Geschlechter aufweisen …, steht das Männliche für das Effektive und Aktive … und das Weibliche … für das Passive.«[10]

Die Stereotype von weiblicher Passivität und männlicher Tatkraft sind so alt wie die Zoologie selbst. Dass der Zahn der Zeit so wenig an ihnen genagt hat, lässt vermuten, dass sie sich für Generationen von Wissenschaftlern »richtig« angefühlt haben – was nicht bedeutet, dass sie das auch sind. Die Wissenschaft hat uns auf jedem Gebiet gelehrt, dass unsere Intuition uns oft in die Irre leitet. Das größte Problem bei dieser netten binären Klassifikation: Sie stimmt nicht.

Versuchen Sie doch einmal, die Notwendigkeit von Passivität einem dominanten Tüpfelhyänenweibchen zu erklären – es wird Ihnen ins Gesicht lachen (nachdem es es zerbissen hat). Weibliche Tiere sind genauso promisk, kompetitiv, aggressiv, dominant und dynamisch wie männliche. Sie lenken den evolutionären Wandel genauso wie die Männchen. Darwin und all die anderen Herren Zoologen, die zu seiner Erläuterung beisteuerten, konnten (oder wollten) sie nur nicht so sehen. Der größte Erkenntnisschritt in der Biologie, ja vielleicht in der gesamten Naturwissenschaft, wurde von einer Gruppe Männer Mitte des 19. Jahrhunderts vollzogen, und dementsprechend finden sich darin bestimmte Annahmen bezüglich der Natur von sozialem und biologischem Geschlecht.

Dazu sei fairerweise angemerkt, dass Darwin nicht gerade ein ausgewiesener Experte für das andere Geschlecht war. Er hatte seine Cousine Emma geheiratet, nachdem er zuvor eine Pro-und-Contra-Liste zum Thema Ehe erstellt hatte. Diese aufschlussreiche romantische Auflistung, auf die Rückseite eines Briefes an einen Freund gekritzelt, hat beschämenderweise überdauert und enthüllt nun seine intimsten Gedanken, sodass alle Welt darüber für immer urteilen kann.

In zwei kurzen Spalten (»heiraten« und »nicht heiraten«) fasste Darwin seine innere Zerrissenheit zum Thema Heirat zusammen. Besondere Sorge bereitete ihm, dass er vielleicht weniger »Unterhaltungen mit klugen Männern in Clubs« führen und damit »fett und faul« werden könnte, oder schlimmer noch: die mögliche »Verbannung und Erniedrigung mit indolentem faulem Dummkopf« (was wohl nicht ganz dem entsprach, wie Emma sich von ihrem geliebten Bräutigam gern umschrieben gesehen hätte). Als Argument dafür notierte er allerdings, dass er jemanden hätte, der »das Haus versorgt«, und eine »nette, sanfte Frau auf einem Sofa« sei »jedenfalls besser als ein Hund«.[11] Also stürzte sich Darwin mutig in die Ehe.

Man könnte meinen, dass Darwins Beweggründe, obwohl er Vater von zehn Kindern werden sollte, eher vernünftiger als fleischlicher Natur waren. Möglicherweise war er nicht sehr vertraut mit dem weiblichen Geschlecht, ja nicht einmal besonders interessiert daran. Darum war es vielleicht an sich schon unwahrscheinlich, dass er die Evolution auch aus weiblicher Sicht betrachtete, ganz unbesehen der Gesellschaft, in die er hineingeboren worden war.

Selbst die innovativsten und gewissenhaftesten Wissenschaftler:innen sind nicht immun gegen kulturelle Einflüsse. Darwins androzentrische Sicht auf die Geschlechter war zweifellos vom vorherrschenden Chauvinismus seiner Zeit geprägt.[12] In der Oberschicht des 19. Jahrhunderts hatten Frauen nur eine einzige wichtige Rolle im Leben: Sie sollten heiraten, Kinder bekommen und vielleicht noch ihren Ehemann in seinen Interessen und seinem Beruf unterstützen. Sie sollten also vor allem unterstützend und im häuslichen Bereich wirken, denn Frauen wurden – körperlich und intellektuell – als das »schwächere« Geschlecht definiert. Sie waren in jeder Hinsicht der männlichen Autorität untergeordnet, sei es der von Vätern, Ehemännern, Brüdern oder gar erwachsenen Söhnen.

Dieses soziale Vorurteil wurde von den Ansichten der zeitgenössischen Naturwissenschaft praktischerweise noch gestützt. Die führenden akademischen Köpfe des 19. Jahrhunderts sahen in den Geschlechtern grundverschiedene Kreaturen, ja eigentlich absolute Gegensätze. Man glaubte, dass weibliche Wesen in ihrer Entwicklung quasi stehen blieben; sie ähnelten jungen Individuen ihrer Art, da sie kleiner, schwächer und weniger farbenfroh waren. Männliche Wesen steckten ihre Energie ins Wachstum, die weibliche Energie dagegen wurde gebraucht, um Eizellen zu produzieren und Junge auszutragen. Da männliche Wesen meist größer gebaut waren, hielt man sie für komplexer, variabler und mental leistungsfähiger als weibliche. Diese galten als durchschnittlich intelligent; die bei den männlichen Wesen angenommene große Variabilität dagegen schloss auch intelligente Überflieger mit ein, wie man sie beim anderen Geschlecht nicht sah. Insgesamt betrachtete man männliche Wesen als höher entwickelt als weibliche.[13]

Diese Ansichten flossen allesamt in Darwins Werk Die Abstammung des Menschen und die geschlechtliche Zuchtwahl ein, das, wie der Titel schon verrät, die Evolution des Menschen und die im 19. Jahrhundert verbreiteten Vorstellungen zu Geschlechtsunterschieden mit der sexuellen und der natürlichen Selektion erklärte.

»Der hauptsächlichste Unterschied in den intellectuellen Kräften der beiden Geschlechter zeigt sich darin, dass der Mann zu einer grösseren Höhe in Allem, was er nur immer anfängt, gelangt, als zu welcher sich die Frau erheben kann, mag es nun tiefes Nachdenken, Vernunft oder Einbildung, oder bloss den Gebrauch der Sinne und der Hände erfordern«, so Darwin. »Hierdurch ist schliesslich der Mann dem Weibe überlegen geworden.«[14]

Darwins Theorie der sexuellen Selektion entstand in einer Welt der Misogynie, daher verwundert es nicht, dass das weibliche Tier darin so verzerrt dargestellt, so gering beachtet und unverstanden ist wie eine viktorianische Hausfrau. Viel überraschender und folgenschwerer ist vielleicht, welche Schwierigkeiten es bis heute bereitet, die Wissenschaft von diesem sexistischen Beigeschmack zu bereinigen, und wie sehr sie davon durchdrungen ist.

Darwins Genie war da keine Hilfe. Er wurde geradezu vergöttert, sodass ihm nachfolgende Biologen unter einem chronischen Bestätigungsfehler (Confirmation Bias) litten. Sie suchten nach Belegen für die »typisch weibliche« Passivität und sahen nur, was sie sehen wollten. Bei Ausnahmen, etwa der ausgeprägten Promiskuität von Löwinnen, die sich während des Östrus begeistert etliche Male am Tag mit verschiedenen Männchen paaren, schauten sie geflissentlich weg. Und schlimmer noch: Versuchsergebnisse, die nicht ins Muster passten, wurden sogar geschickt statistisch manipuliert, um das »korrekte« wissenschaftliche Modell zu stützen (mehr dazu später).

Ein zentrales Dogma der Wissenschaft ist das Sparsamkeitsprinzip, auch »Ockhams Rasiermesser« genannt. Es lehrt Wissenschaftler:innen, Beobachtungen zu trauen und die einfachste Erklärung für diese zu wählen, da sie wahrscheinlich zugleich die beste ist. Darwins strenge Geschlechterrollen bewirkten eine Abwendung von diesem grundlegenden Wissenschaftsprinzip, da Forscher mit immer verschraubteren Argumentationen weibliche Verhaltensweisen »wegerklären« mussten, die nicht dem Stereotyp entsprachen.

Ein Beispiel dafür ist der Nackt- oder Schlankschnabelhäher (Gymnorhinus cyanocephalus). Diese kobaltblauen Rabenvögel leben im Nordwesten der USA und bilden dort lärmende Trupps von 50 bis 500 Tieren. Hochintelligente Lebewesen mit einem derart aktiven Sozialleben verfügen wahrscheinlich über Mittel, um ihre sozialen Aktivitäten zu ordnen, kurzum: ein Dominanzgefüge. Andernfalls würde Chaos herrschen. Die Ornithologen John Marzluff und Russell Balda, die die Häher mehr als 20 Jahre lang erforschten und in den 1990er-Jahren ein Standardwerk über sie veröffentlichten, interessierten sich für die soziale Hierarchie der Tiere. Daher machten sie sich auf die Suche nach dem »Alphamännchen«.[15]

Das erforderte einigen Einfallsreichtum. Wie sich zeigte, sind die Hähermännchen strikte Pazifisten und tragen praktisch nie Kämpfe aus. Die eifrigen Ornithologen errichteten also Futterstationen mit Leckereien wie fettigem Popcorn und Mehlwürmern, um möglichst territorialen Unfrieden zu stiften. Doch noch immer kämpften die Häher nicht miteinander. Die Forscher mussten ihre Skala der kämpferischen Aktivität nach recht subtilen Hinweisen ausrichten, etwa Seitenblicken. Warf das dominante Männchen dem rangniederen Männchen auch nur einen scharfen Blick zu, verließ Letzteres die Futterstelle. Das war nicht ganz im Stile von Game of Thrones, doch die Forscher dokumentierten eifrig etwa zweieinhalbtausend solcher »aggressiven« Begegnungen.

Als es an die Auswertung der Statistik ging, wurde die Verwirrung noch größer. Nur 14 von 200 Mitgliedern des Trupps qualifizierten sich für einen Platz im Dominanzgefüge, und eine lineare Hierarchie gab es nicht. Die Männchen kehrten die Rangfolge um, und rangniedere zeigten sich »aggressiv« gegen ranghöhere. Trotz dieser verwirrenden Ergebnisse und nicht vorhandener Macho-Feindseligkeit erklärten die Wissenschaftler zufrieden: »Es besteht kaum Zweifel daran, dass Männchen aggressiv Kontrolle ausüben.«[16]

Kurioserweise hatten die Forscher durchaus Häher bei deutlich handfesteren Auseinandersetzungen beobachtet als dem Austausch schiefer Blicke. Sie dokumentierten dramatische Luftkämpfe, bei denen sich die beteiligten Individuen im Flug gegenseitig packten und »wild flatternd zu Boden fielen«, wo sie »einander heftig mit den Schnäbeln pickten«. Diese Zusammenstöße waren »das aggressivste Verhalten, das wir im gesamten Jahr beobachteten«, doch sie wurden von den Wissenschaftlern in kein Dominanzschema eingearbeitet, weil die Beteiligten nicht männlich waren. Es waren allesamt Weibchen. Die Autoren folgerten, dass dieses »gereizte« weibliche Verhalten hormonell bedingt sein musste. Sie vermuteten, dass die Häherweibchen aufgrund eines Hormonschubs im Frühling unter dem »Vogel-Äquivalent zum PMS, von uns PBS(pre-breeding syndrome) genannt«, litten.[17]

So etwas wie das aviäre PBS gibt es nicht. Hätten Marzluff und Balda das aggressive Verhalten der Häherweibchen unvoreingenommen beobachtet und mit Ockhams Rasiermesser den Staub von ihrer Schlussfolgerung geschabt, wären sie der Entschlüsselung des komplexen Sozialsystems der Nacktschnabelhäher ziemlich nahe gekommen. Die Hinweise darauf, dass unter den Weibchen tatsächlich eine starke Konkurrenz besteht und sie eine entscheidende Rolle in der Hierarchie der Tiere spielen, finden sich allesamt in ihren sorgfältig aufgezeichneten Daten, aber sie erkannten sie nicht. Stattdessen stießen sie dogmatisch noch weiter vor und suchten nach der »Krönung eines neuen Königs«,[18] die auch ihre Überzeugung gekrönt hätte – und natürlich nie stattfand.

Hier ist keine Verschwörung am Werk, lediglich bornierte Wissenschaft.[19] Marzluff und Balda zeigen beispielhaft, wie gute Wissenschaftler unter böser Voreingenommenheit leiden können. Die beiden Ornithologen hatten völlig neuartige Verhaltensweisen beobachtet, die sie innerhalb eines falschen Rahmenwerks interpretierten. Und mit diesem Fehler stehen sie keineswegs allein da. Die Wissenschaft ist, so zeigt sich, von unabsichtlichem Sexismus durchdrungen.

Erschwerend kommt hinzu, dass das akademische Establishment von Männern dominiert war und oftmals noch ist, die das Tierreich naturgemäß von ihrem Standpunkt aus betrachten;[20] die Fragen, die der Forschung zugrunde lagen, wurden also aus männlicher Perspektive gestellt. Viele Forscher interessierten sich schlichtweg nicht für weibliche Lebewesen. Männchen waren das Hauptereignis und wurden zum Standardorganismus – das Grundmodell, von dem die Weibchen abwichen, der Standard, nach dem die Art beurteilt wurde. Weibliche Tiere mit ihrem »Hormondurcheinander« waren Randerscheinungen, lenkten vom Hauptnarrativ ab und rechtfertigten nicht dasselbe Maß an wissenschaftlicher Gründlichkeit. Ihre Körper und Verhaltensweisen blieben weitgehend unerforscht, und die resultierende Datenlücke wurde dann zur selbsterfüllenden Prophezeiung. Weibliche Lebewesen gelten bis heute als eine invariante, träge Begleiterscheinung des männlichen Strebens – weil es keine Daten gibt, die ein anderes Bild von ihnen zeichnen.

Das Gefährlichste an der sexistischen Voreingenommenheit ist ihr Bumerangeffekt.[21] Was als chauvinistische Kultur des 19. Jahrhunderts begann, wurde in der Wissenschaft ein Jahrhundert lang bebrütet und dann wieder in die Gesellschaft ausgespuckt, als politische Waffe, versehen mit dem Etikett »Darwin«. Dies verlieh einer Handvoll vornehmlich männlicher Verfechter des neuen Wissenschaftszweiges der evolutionären Psychologie die ideologische Autorität zu behaupten, dass verschiedenste üble männliche Verhaltensweisen – von der Vergewaltigung über zwanghaftes Schürzenjägertum bis hin zum Überlegenheitsempfinden – menschlich nur »natürlich« wären, das hätte schließlich schon Darwin so festgestellt. Frauen wurde gesagt, sie hätten dysfunktionale Orgasmen, könnten nie die gläserne Decke durchstoßen, weil ihnen der Ehrgeiz fehle, und sollten sich aufs Muttersein beschränken.[22]

Dieses Psychogebrabbel der Jahrtausendwende wurde von einer neuen Sorte von Männermagazinen gierig aufgegriffen, die diese sexistische »Wissenschaft« in den Mainstream verlagerten. In Buch-Bestsellern und Kolumnen in der populären Presse krähten Journalisten wie Robert Wright, dass der Feminismus dem Untergang geweiht sei, weil er diese wissenschaftlichen Wahrheiten nicht anerkennen wolle. Von seinem ideologischen Sockel herab produzierte Wright anmaßende Artikel mit Titeln wie »Feminists, Meet Mr Darwin« (»Feministinnen, darf ich vorstellen: Mr Darwin«), verlieh seinen Kritiker:innen »eine Drei im Grundkurs Biologie« und behauptete, dass »keine einzige namhafte Feministin genug über modernen Darwinismus weiß, um sich ein Urteil darüber zu erlauben«.[23]

Doch das taten die Feminist:innen sehr wohl. Die zweite Welle des Feminismus hatte einst verschlossene Labortüren aufgestoßen; Frauen gingen in den besten Universitäten ein und aus und studierten selbst Darwin. Sie betrieben Feldforschung und beobachteten weibliche Tiere mit derselben Neugierde wie männliche. Sie entdeckten sexuell frühreife Affenweibchen, und statt diese zu ignorieren, wie es ihre männlichen Vorgänger getan hatten, fragten sie sich, warum sich diese so verhielten. Sie entwickelten standardisierte Methoden zur Erfassung von Verhaltensweisen, die dieselbe Aufmerksamkeit für beide Geschlechter erforderten. Sie nutzten neue Techniken, um Vogelweibchen auszukundschaften, und fanden heraus, dass diese keineswegs Opfer der männlichen Dominanz waren, sondern tatsächlich den Ton angaben. Und sie wiederholten Experimente, die Darwins Geschlechts-Stereotype empirisch untermauerten – und stellten fest, dass die Ergebnisse verzerrt waren.

Es braucht Mut, Darwin infrage zu stellen. Er ist mehr als ein ikonischer Intellekt; er ist (zumindest in Großbritannien) ein Nationalheiligtum. Wie mir ein ehemaliger Professor erklärte, kommt es akademischer Gotteslästerung gleich, wenn man anderer Ansicht ist als Darwin; dies hat bewirkt, dass die Evolutionsforschung in unserem Land eher konservativ ist. Vielleicht wurde die Saat der Rebellion deshalb auf der anderen Seite des Atlantiks ausgebracht, von einer Handvoll US-amerikanischer Wissenschaftler:innen, die sich aufmachten, alternative Narrative zu Evolution, Geschlecht und Sexualität zu entwickeln.

Sie werden diese intellektuellen Kriegerinnen auf den folgenden Seiten kennenlernen. Einige von ihnen traf ich beim Mittagessen auf einer Walnussfarm in Kalifornien, wo wir unter anderem über Darwin, Orgasmen und Geier diskutierten. Sarah Blaffer Hrdy, Jeanne Altmann, Mary Jane West-Eberhard und Patricia Gowaty sind die aufrührerischen Matriarchinnen des modernen Darwinismus, die es wagten, der wissenschaftlichen Phallokratie mit Daten und Logik entgegenzutreten. Sie nennen sich selbst »The Broads« (»die Weiber«) und treffen sich seit 30 Jahren alljährlich bei Hrdy daheim, um sich über Evolutionsforschung auszutauschen. Ich hatte das Glück, eine Einladung zu ihrer jährlichen geistigen Sause zu erhalten. Obwohl sie sich inzwischen zum Teil im Ruhestand befinden, treffen sich diese wegbereitenden Professorinnen immer noch, um einander zu unterstützen, neue Ideen zu diskutieren und die Entwicklung der Evolutionsbiologie generell auf einem guten Kurs zu halten. Ja, sie sind Feministinnen, aber sie äußern klar, was das für sie bedeutet: die gleichberechtigte Repräsentation beider Geschlechter, nicht die unverdiente Vorherrschaft nur des einen.

Ihre wissenschaftliche Arbeit hat eine neue Generation von Biolog:innen in die Lage versetzt, die weibliche Seite einer Art mit all ihren faszinierenden Eigenschaften zu betrachten – indem sie weibliche Körper und Verhaltensweisen untersuchten und sich fragten, wie Selektion aus der Sicht einer Tochter, Schwester, Mutter und Konkurrentin wirkt. Diese Wissenschaftler:innen sind willens, hinter die kulturellen Normen zu blicken, unorthodoxe Ideen zur Wechselhaftigkeit von Geschlechterrollen zu verfolgen und dabei dem – unbeabsichtigten oder sonstigen – Machismo in der Evolutionsbiologie ein Ende zu setzen. Viele von ihnen sind Frauen, aber wie wir noch erfahren werden, ist die wissenschaftliche Meuterei keine rein weibliche Angelegenheit. Alle biologischen und sozialen Geschlechter spielen dabei eine Rolle. Auf den Seiten dieses Buches werden Ihnen viele männliche Wissenschaftler begegnen. Die Pionierleistungen von Frans de Waal, William Eberhard und David Crews, um nur einige zu nennen, machen deutlich, dass man sich nicht als Frau identifizieren muss, um Wissenschaft feministisch zu betreiben. Neue Perspektiven aus der LGBTQ-Wissenschaftscommunity tragen zudem entscheidend dazu bei, die heteronormative Kurzsichtigkeit und das binäre Dogma der Zoologie anzugehen. Biolog:innen wie Anne Fausto-Sterling, Joan Roughgarden und andere haben auf die erstaunliche Vielfalt der geschlechtlichen Ausprägungen im Tierreich ebenso aufmerksam gemacht wie auf die entscheidende Rolle, die Diversität als Triebkraft der Evolution einnimmt.

Das Ergebnis ist nicht nur eine viel umfassendere, lebensnahe Darstellung des weiblichen Tiers, sondern auch eine Vielzahl erstaunlicher Erkenntnisse über die komplizierten Mechanismen der Evolution. Dies sind aufregende Zeiten für Evolutionsbiolog:innen. In der Theorie der sexuellen Selektion zeichnet sich ein Paradigmenwechsel ab. Empirische Befunde stellen bisherige »Tatsachen« auf den Kopf, und konzeptuelle Veränderungen weisen althergebrachten Annahmen die Tür. Dabei lag Darwin keinesfalls insgesamt daneben. Männliche Konkurrenz und weibliche Partnerwahl sind Triebkräfte der sexuellen Selektion, aber sie sind nur ein Teil des evolutionären Gesamtbildes. Darwin betrachtete die Natur sozusagen durch eine viktorianische Lochkamera. Das Wissen um das weibliche Geschlecht liefert uns nun ein Panoramabild vom Leben auf der Erde in voller Farbenpracht, was die Geschichte umso faszinierender macht.

In diesem Buch begebe ich mich auf eine Abenteuerreise um die Welt, zu den Tieren und zu den Wissenschaftler:innen, die die überkommene patriarchale Sicht auf die Evolution mit neuen Erkenntnissen überschreiben und die weibliche Seite der Arten neu definieren.

Auf Madagaskar erfahren wir, warum weibliche Lemuren – unsere entfernteste Primatenverwandtschaft – die männlichen physisch und geradezu politisch taktierend dominieren. In den schneebedeckten Bergen Kaliforniens entdecken wir, wie ein Roboter-Beifußhuhnweibchen Darwins Mythos vom passiven Weibchen zerlegt. Auf Hawaii lernen wir verliebte, langjährige Albatrosweibchen-Paare kennen, die traditionellen Geschlechterrollen zum Trotz ihre Jungen gemeinsam aufziehen. Und vor der Küste des US-Bundesstaates Washington fühlen wir uns einer Schwertwal-Matriarchin nahe, der weisen alten Anführerin ihrer Jagdgemeinschaft und Angehörigen einer der nur fünf bekannten Arten (einschließlich des Menschen), bei denen die weiblichen Individuen eine Menopause durchleben.

Mit meiner Erkundung aufkommender Berichte aus der Randzone des Weiblichen zeichne ich hoffentlich ein neuartiges, diverses Bild des weiblichen Tieres. Außerdem möchte ich herausfinden, was diese Erkenntnisse, wenn überhaupt, über uns Menschen aussagen.

Mindestens seit Äsops Zeiten sehen wir Tiere als Illustration und Abbild menschlichen Verhaltens. Viele glauben (nicht ganz zu Recht), dass die Natur menschlichen Gesellschaften vermittelt, was gut und richtig ist – der Denkfehler des Naturalismus. Überleben ist jedoch eine unsentimentale Angelegenheit, und tierisches Verhalten begleitet weibliche Narrative von fabelhafter Macht bis zur grauenvollsten Unterdrückung. Wissenschaftliche Erkenntnisse zu weiblichen Tieren können Streitigkeiten beiderseits des feministischen Gartenzauns befeuern; Tiere als ideologische Waffen einzusetzen, ist jedoch ein gefährliches Spiel. Zu wissen, was es bedeutet, ein weibliches Tier zu sein, kann jedoch dabei helfen, faulen Argumenten und strapazierten androzentrischen Stereotypen entgegenzutreten; es kann unsere Annahmen darüber, was natürlich, normal, ja sogar möglich ist, ins Schwanken bringen. Wenn das Weiblichsein neu definiert wird, dann nicht durch strenge, altbackene Regeln und Erwartungen, sondern durch seine dynamische und vielfältige Natur.

Die »Bitches« in diesem Buch zeigen uns, inwiefern weibliche Lebewesen nicht bloß passive Handlangerinnen sind, sondern ums Überleben kämpfen. Darwins Theorie der sexuellen Selektion trieb einen Keil zwischen die Geschlechter, indem sie den Fokus auf die Unterschiede legte, doch diese Unterschiede sind eher kultureller als biologischer Art. Merkmale von Tieren, ob körperlich oder im Verhalten, sind sowohl vielfältig als auch plastisch. Sie können sich den Launen einer Selektion anpassen, und das macht Geschlechtsmerkmale flexibel und formbar. Die Eigenschaften eines weiblichen Tieres lassen sich nicht aus der Kristallkugel seines Geschlechts ablesen, denn Umwelt, Zeit und Zufall haben allesamt Einfluss auf ihre Form. Wie wir in Kapitel 1 erfahren werden, bestehen zwischen Weibchen und Männchen weitaus mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede – so viele, dass es manchmal schwerfällt, die Grenze zwischen beiden zu ziehen.

Kapitel 1

Die Anarchie der Geschlechter: Was ist weiblich?

 

Begeben wir uns als Einstieg unter die Erde, wo ein Weibchen sein Leben vollkommen im Verborgenen lebt – als Erzfeindin aller Landschaftsgärtner:innen und unersättliche Vertilgerin von Würmern. Die Rede ist natürlich vom Europäischen Maulwurf (Talpa europaea).

Die meisten von uns kennen Maulwürfe nur zu gut – vielleicht nicht persönlich, aber immerhin ihr Werk. Die kuppenförmigen Haufen aus frisch aufgeworfener Erde lassen gepflegten Rasen aussehen, als hätte er Akne – für viele eine echte Zumutung.

In den 1970er-Jahren wurde mein Vater von Maulwurfshügeln, die sich auf seinem kostbaren Rasen ausbreiteten, schier in den Wahnsinn getrieben. Zu meinem großen Entsetzen stellte er den Baumeistern mit barbarisch aussehenden Metallfallen nach. War ein Maulwurf gefangen, bestand ich darauf, dass er mir das tote Tier aushändigte, damit ich sein samtiges Fell streicheln und sein merkwürdiges Aussehen – die winzigen Knopfaugen (die entgegen landläufiger Meinung schwachsichtig, aber nicht komplett blind sind) und die absurd überdimensionierten rosa Grabhände – bewundern konnte, bevor ich ihm ein angemessenes Begräbnis zukommen ließ. Wieder in der Erde, wo es hingehörte.

Das Maulwurfsweibchen ist ein wundersames Geschöpf. Als Einzelgängerin ernährt es sich vor allem von Regenwürmern, welche es in einem verzweigten Tunnelsystem fängt. Dringt ein Wurm durch die Wand einer dieser Jagdröhren, spürt es ihn mit seiner langen rosa Nase schnell auf. Mit dieser kann es sogar in Stereo riechen – die Nasenöffnungen arbeiten unabhängig voneinander, sodass das Gehirn die Position des Leckerbissens in der Finsternis berechnen kann. Die gefangene Beute wird nicht immer gleich getötet; besonders zum Winter hin beißen Maulwürfe den Regenwürmern die vorderen Körperglieder ab, sodass sie gelähmt sind. Dann verstauen sie sie lebend in Vorratskammern. In solch einer Vorratskammer wurden einmal ganze 470 Würmer gefunden – ein Maulwurfsweibchen mit solchem Jagderfolg kann man durchaus glücklich nennen, muss es doch täglich weit mehr als die Hälfte seines Körpergewichts an Beute verzehren.[24]

Das Leben unter der Erde ist hart. Das Graben der Tunnel ist Schwerstarbeit, und es gibt relativ wenig Sauerstoff zum Atmen. Im Laufe der Zeit hat die Evolution Maulwürfe jedoch mit einigen Besonderheiten ausgestattet, sodass sie in dieser widrigen Umgebung überleben können. Das in ihrem Blut enthaltene Hämoglobin ist so modifiziert, dass es leichter Sauerstoff bindet und die Tiere gegen Kohlendioxid (CO2) toleranter sind.[25] Zudem verfügen sie über einen Extra-»Daumen«.[26] Wie beim Großen Panda bildet ein Handwurzelknochen einen nützlichen »zusätzlichen Finger«, um mehr Erde beiseitezuschaffen. Am beeindruckendsten aber ist wohl die Tatsache, dass Maulwurfsweibchen sowohl Ovarien (Eierstöcke) als auch Hoden besitzen.

Diese Zwitterdrüsen oder Ovotestes sind innere Fortpflanzungsorgane, die an einem Ende Ovarien- und am anderen Hodengewebe umfassen. Die Ovarienseite bildet Eizellen und vergrößert sich während der kurzen Paarungszeit. Ist die Fortpflanzung jedoch erledigt, schrumpft das Ovarialgewebe, und das Hodengewebe wächst an, bis es größer ist als jenes.[27]

Das Hodengewebe der weiblichen Maulwürfe steckt voller Leydig-Zellen, die Testosteron bilden, jedoch keine Spermien. Dieses Steroid-Sexualhormon wird meist mit Männchen assoziiert, es vergrößert die Muskelmasse und steigert die Aggression. Dieselbe Wirkung zeigt es bei den Maulwurfsweibchen, was ihnen im Untergrund einen evolutionären Vorteil verschafft: mehr Kraft zum Graben und mehr Aggressivität, um ihre Jungen und Regenwurmvorräte zu verteidigen.

Und es verschafft dem Weibchen Genitalien, die von denen des Männchens nicht zu unterscheiden sind: eine vergrößerte Klitoris, die als »Phallus« oder auch »penile Klitoris« beschrieben wird,[28] und eine Vagina, die sich außerhalb der Paarungssaison verschließt.

Das Maulwurfsweibchen zwingt uns, uralte Vorstellungen davon, was die biologischen Geschlechter unterscheidet, zu überdenken. Die meiste Zeit des Jahres könnte man es anhand seiner Genitalien, Gonaden und Hormone für ein Männchen halten. Woher also wissen wir, dass es weiblich ist?

Dieses Buch befasst sich mit nicht-menschlichen Tieren, daher ist es zunächst wichtig, biologisches und soziales Geschlecht zu unterscheiden. Die meisten Biolog:innen sind sich darin einig, dass es bei Tieren kein soziales Geschlecht gibt. Dieses soziale, psychologische und kulturelle Konstrukt ist, so die allgemeine Ansicht, den Menschen vorbehalten.[29] Wenn Biolog:innen von Weibchen sprechen, meinen sie damit nur deren biologisches Geschlecht, aber: Was bedeutet das?

Am Anfang war die Fortpflanzung eine einfache Sache. Die ersten Lebensformen teilten sich einfach, sie verschmolzen, schnürten Knospen ab oder klonten sich, um sich zu vermehren. Dann kam die sexuelle Fortpflanzung auf, was die Sache ein wenig verkomplizierte. Nun mussten die Individuen Geschlechtszellen – Gameten – kombinieren, um sich fortzupflanzen. Im gesamten Tierreich gibt es diese nur in zwei Größen: groß und klein. Diese grundlegende Dichotomie liefert die biologische Standard-Definition des biologischen Geschlechts:[30] Weibliche Tiere produzieren große, nährstoffreiche Eizellen und männliche kleine, bewegliche Spermien.

So weit, so binär. Oder etwa nicht?

Um es kurz zu machen: nein. Das biologische Geschlecht ist eine komplizierte Angelegenheit. Wie wir in diesem Kapitel noch erfahren werden, kann das uralte Zusammenspiel von Genen und Sexualhormonen, das die Geschlechter festlegt und differenziert, auch eine Mixtur aus Gameten, Gonaden, Genitalien, Körpern und Verhaltensweisen erschaffen, die alle binären Erwartungen über den Haufen wirft. Und all das lässt es höchst unlogisch erscheinen, das biologische Geschlecht fein säuberlich in eine von nur zwei Schubladen einzusortieren.

 

Ganz oberflächlich betrachtet gelten die Genitalien vielen als unkomplizierter Hinweis auf das biologische Geschlecht, doch diese Vorstellung wird vom »Phallus« des Maulwurfsweibchens zunichtegemacht. Und dieses bildet durchaus keine seltsame Ausnahme. Die Weibchen Dutzender Tierarten, von winzigen, in Höhlen lebenden Staubläusen[1] bis hin zu riesigen Afrikanischen Elefanten, weisen eine uneindeutige Geschlechtsanatomie auf, die meist als phallisch beschrieben wird.

Als ich im Amazonasgebiet zum ersten Mal einen Klammeraffen sah, nahm ich aufgrund des herabbaumelnden äußeren Geschlechtsorgans an, es handele sich um ein Männchen – die ostentative Größe dieses Anhangs erschien mir für das Herumturnen in den Baumkronen nicht gerade ungefährlich. Die Primatolog:innen, mit denen ich unterwegs war, korrigierten mich jedoch höflich. Die männlichen Klammeraffen haben keinen erkennbaren Penis, weil sie ihn einziehen. Die Weibchen dagegen besitzen eine stark vergrößerte, herabhängende Klitoris, die in der Biologie auch als »Pseudo-Penis« bezeichnet wird. Eine solche androzentrische Terminologie hinkt doch ziemlich, besonders wenn man bedenkt, dass der »falsche« Phallus der Klammeraffenweibchen länger ist als der »echte« Phallus der Männchen.

Das ungewöhnlichste Beispiel aber ist möglicherweise die Fossa, auch Frettkatze genannt. Sie ist das größte Raubtier Madagaskars, gehört zur Familie der Eupleridae (Madagassische Raubtiere) und erinnert äußerlich ein wenig an einen kleinköpfigen Puma. Ihr wissenschaftlicher Name Cryptoprocta ferox bedeutet »mit verstecktem Anus, wild«. Dass die Taxonom:innen den versteckten Anus der Fossa so betonen, ist etwas merkwürdig, denn eigentlich geben eher ihre Geschlechtsorgane Rätsel auf.

Bei ihrer Geburt haben weibliche Fossas eine kleine Klitoris und Vulva, ganz so, wie man es erwarten würde. Im Alter von etwa sieben Monaten jedoch setzt eine merkwürdige Entwicklung ein. Die Klitoris der Fossa vergrößert sich, in ihrem Inneren wächst ein Knochen und sie bildet Stacheln, kurzum: Sie wird zum Abbild des männlichen Penis. Sie sondert sogar ein gelbliches Sekret an ihrer Unterseite ab, so wie es beim ausgewachsenen Männchen der Fall ist.[31] Das Fossaweibchen behält seine penile Klitoris ein bis zwei Jahre; mit einsetzender Fortpflanzungsaktivität bildet sich diese dann wie von Zauberhand wieder zurück. Die Autor:innen eines wissenschaftlichen Artikels über die Genitalien der Fossa äußerten die Vermutung, dass dies das heranwachsende Weibchen vor unerwünschter Aufmerksamkeit sexuell aufdringlicher Männchen oder aggressiver territorialer Weibchen schützt.[32]

Natürlich ist es auch möglich, dass der vorübergehende Flirt der Fossaweibchen mit einem Quasi-Penis gar keine Funktion erfüllt, denn das tun nicht alle Merkmale. Wie der Blinddarm-Wurmfortsatz des Menschen könnte er schlichtweg ein Relikt aus der evolutionären Vergangenheit der Fossa sein, das unproblematisch war und deshalb nicht durch Selektion ausgemerzt wurde. Oder er ist mit einem anderen Merkmal gekoppelt, auf das die Evolution selektiert hat. Das Entschlüsseln der ultimaten evolutionären Ursache eines neuartigen Merkmals ist eine spekulative Angelegenheit. Jahrzehntelange Forschungen an einer nahen Verwandten der Fossa haben jedoch wertvolle Hinweise zu den Mechanismen ergeben, die derart »maskulinisierten« Genitalien zugrunde liegen. Diese Erkenntnisse bringen ein althergebrachtes wissenschaftliches Vorurteil zur »passiven« Natur der weiblichen Sexualentwicklung und Geschlechts-Stereotype bezüglich der beteiligten Hormone gehörig ins Wanken.

 

Die Genitalien der Tüpfelhyäne (Crocuta crocuta) sorgen schon seit Aristoteles’ Zeiten für Unruhe. Naturgelehrte der Antike hielten die Hyäne für einen Zwitter, da die äußeren Geschlechtsorgane der Weibchen wohl die am wenigsten eindeutigen unter allen Säugetieren sind. Die weibliche Tüpfelhyäne besitzt nicht nur eine 20 Zentimeter lange Klitoris, die genauso aussieht und positioniert ist wie der Penis der Männchen, nein: Sie zeigt auch Erektionen. Weibliche wie männliche Tüpfelhyänen demonstrieren und inspizieren ihre Erektionen gegenseitig bei »Begrüßungszeremonien«.[33] Gekrönt wird all diese weibliche Virilität noch von zwei auffälligen, befellten »Hoden«.

Der vermeintliche Hodensack mit Inhalt ist jedoch nicht das, was er zu sein scheint. Die Schamlippen der Hyäne sind miteinander verwachsen und mit Fettgewebe gepolstert; sie ähneln also nur den männlichen Keimdrüsen. Die weibliche Tüpfelhyäne ist somit das einzige Säugetier, das keine Vaginalöffnung besitzt. Urinieren, kopulieren und sogar gebären muss sie durch ihre merkwürdige Multifunktions-Klitoris – daher die alte Mär von ihrem Zwitterdasein. In jüngerer Vergangenheit kam die Wissenschaft sogar zu der Erkenntnis, dass Männchen und Weibchen aufgrund ihrer Ähnlichkeit nur durch »Befühlen des Hodensacks« zu unterscheiden seien[34] – was angesichts der knochenbrechenden Beißkraft dieser Tiere jedoch nur die letzte Option der Geschlechtsbestimmung darstellen dürfte.

Die geschlechtlichen Grenzgänge der Tüpfelhyänenweibchen machen jedoch an ihren Genitalien nicht halt. Für Forscher:innen sind ihr ebenso »maskulinisierter« Körperbau und ihr Verhalten hochinteressant. Die Weibchen sind in freier Wildbahn bis zu zehn Prozent (in Gefangenschaft: 20 Prozent) schwerer als die Männchen. Das ist ungewöhnlich, denn bei Säugetieren sind üblicherweise die Männchen größer.[2] Im übrigen Tierreich und somit bei der Mehrzahl der Tierarten ist der Geschlechtsdimorphismus hinsichtlich der Größe meist umgekehrter Natur. Fruchtbarere Weibchen mit mehr Fettreserven produzieren mehr Eizellen, daher sind bei den meisten Wirbellosen und vielen Fischen, Amphibien und Reptilien die Weibchen größer.[3]

Weibliche Tüpfelhyänen sind auch aggressiver als männliche. Diese hochintelligenten, sozialen Karnivoren leben in matrilinearen Familienverbänden von bis zu 80 Individuen, die von einem Alphaweibchen angeführt werden. Die Männchen wandern meist aus ihrer Geburtsfamilie ab und bilden dann den untersten Rang der Hyänengesellschaft: unterwürfige Ausgestoßene, die um Akzeptanz, Nahrung und Sex betteln. Die Weibchen gelten in den meisten Situationen als dominant,[35] sie ergehen sich in ruppigem Spiel, setzen intensiv Duftmarken und führen die Verteidigung des Reviers an – alles Verhaltensweisen, die traditionell mit dem anderen Geschlecht assoziiert werden.

Das soziale Geschlechterrollen radikal umkrempelnde Leben der weiblichen Tüpfelhyäne sah man ursprünglich als Folge eines Übermaßes an Testosteron in ihrem Blut. Androgene, jene steroidalen Sexualhormone, zu denen auch das Testosteron gehört, gelten als eindeutig männlich; andro- ist Altgriechisch für »Mann-«, »männlich«, und -gen bedeutet »hervorbringend«. Daher lag die Vermutung nahe, dass diese großen, angriffslustigen Hyänenweibchen, ganz wie die uns schon bekannten Maulwurfsweibchen, von Testosteron durchflutet sein müssten. Zur allgemeinen Überraschung jedoch macht der Testosteronspiegel im Blut adulter weiblicher Tüpfelhyänen dem der Männchen keine Konkurrenz.

Woher also kam diese Vermännlichung? Die Pseudo-Penisse der Weibchen deuteten darauf hin, dass das Testosteron zu einem anderen Zeitpunkt seinen Einfluss entfaltete, nämlich während der Entwicklung im Mutterleib.

Das gängige Paradigma zur biologischen Geschlechtsdifferenzierung wurde in den 1940er- und 1950er-Jahren von dem französischen Endokrinologen Alfred Jost entwickelt, der es auf einer Reihe bahnbrechender, wenn auch barbarischer Experimente mit Kaninchenföten in verschiedenen Entwicklungsstadien im Mutterleib gründete.

Säugetierembryonen, ob weiblich oder männlich, verfügen anfangs allesamt über eine einheitliche Ausstattung, eine Reihe Leitern, Röhren und protogonadaler Gewebe mit dem Potenzial, sich zu Ovarien oder Hoden zu entwickeln. Der sich entwickelnde Fötus gilt daher als »geschlechtsneutral«, bis seine geschlechtliche Grundausstattung den Entwicklungsweg zu Ovarien oder Hoden einschlägt.

Josts Versuche mit Kaninchenföten klärten zwar nicht, was die ursprüngliche Differenzierung auslöst (mehr dazu später), doch er wies nach, dass Testosteron für die Entwicklung der fetalen Gonaden zu Hoden und die anschließende Ausbildung männlicher Genitalien entscheidend ist.

Wie er entdeckte, bildete der Fötus weder Penis noch Skrotum (Hodensack) aus, wenn er die männlichen embryonalen Gonaden zu einem frühen Entwicklungszeitpunkt entfernte. Stattdessen entwickelte er eine Vagina und Klitoris. Das Entfernen der sich entwickelnden Ovarien dagegen schien die Entwicklung des weiblichen Fötus offensichtlich nicht zu beeinträchtigen. Eileiter, Uterus, Gebärmutterhals und Vagina entwickelten sich allesamt in offensichtlich automatischer Abfolge, ohne dass die von den embryonalen Ovarien produzierten Steuerungshormone mitwirkten. Schon »ein einziges Testosteronkristall könnte das Fehlen der Hoden ausgleichen«[36] und die Ausbildung von männlichen Geschlechtsmerkmalen sicherstellen; das bedeutete also, dass dieses steroidale Sexualhormon das dynamische Elixier der Männlichkeit ist.

Mit Dutzenden solcher Entfernungsversuche ermittelte Jost, dass tatsächlich ein hoher Spiegel des sich im entwickelnden Hodengewebe gebildeten Testosterons im männlichen Fötus den Embryo auf den Weg der Geschlechtsdifferenzierung bringt. Die Erschaffung eines Weibchens dagegen wurde als passiver Prozess angesehen – wie eine »Grundeinstellung« für den Fall, dass gonadales Testosteron fehlt.

Josts Theorie passte wunderbar zu der weitverbreiteten und von Darwin populär gemachten Vorstellung, dass weibliche Wesen generell passiv waren und männliche aktiv. Die Theorie wurde von anderen weitergeführt und als »Organisationskonzept« (Organizational Concept) bezeichnet, das allgemein akzeptierte Modell für die Geschlechtsdifferenzierung nicht nur hinsichtlich des Körpers, sondern auch des Verhaltens. Darin nahmen männliche Gonaden und Androgene die Hauptrolle ein – Heilsbringer des Geschlechterparadigmas und wichtigste Architekten jeglicher Männlichkeit.

Die Hoden und ihre Testosteron-Produktion galten nun als treibende Kräfte der Abgrenzung nicht nur der embryonalen Gonaden und Genitalien, sondern auch des fetalen neuroendokrinen Systems und des sich entwickelnden Gehirns. Dies wiederum programmierte Geschlechterunterschiede hinsichtlich Körper und Verhalten, die später im Leben durch steroidale Sexualhormone aktiviert werden konnten.[37] Testosteron wurde so zum Exekutivdirektor des Geschlechtsdimorphismus, verantwortlich für Merkmale, die vom gewaltigen Hirschgeweih über die rasende Musth des Elefantenbullen bis hin zur furchterregenden Größe und Aggressivität von Walrossbullen reichen.

Josts Befunde revolutionierten die anhaltenden Debatten in der Endokrinologie bezüglich der hormonellen Ursprünge von Männlichkeit und Weiblichkeit. Während einer Konferenz im Jahr 1969 erklärte er: »Männlich zu werden, ist ein langes, schweres und riskantes Abenteuer; es ist eine Art von Kampf gegen inhärente Tendenzen in Richtung der Weiblichkeit.«[38]

Der maskuline Weg wurde als heroische Mission angesehen, die der Erforschung wert war. Der heute berühmte französische Endokrinologe beschrieb weibliche Wesen dagegen schlicht als »neutrales« oder »anhormonelles« Geschlecht. Ovarien und Östrogene betrachtete man als irrelevant für unsere Geschichte: inert und nicht signifikant. Unsere geschlechtliche Entwicklung war nicht reaktiv und für die Wissenschaft belanglos. Weibliche Wesen »passierten« einfach, weil sie als Embryonen nicht das Zeug dazu hatten, männlich zu sein.[39]

Dieses Vorurteil hielt sich erstaunlich lange und hatte schwere Auswirkungen. Das Vermächtnis des »Organisationskonzepts« mit seinem übermächtigen Männlichkeitsentwickler Testosteron ist ein zu wenig erforschtes weibliches System und eine unergiebige binäre Vorstellung von der Geschlechtsdifferenzierung. Doch dann kam die Tüpfelhyäne mit ihrer großen, phallischen Klitoris um die Ecke und machte ziemlich deutlich, dass das Paradigma große Schwächen hat.

Testosteron ist tatsächlich ein potentes Hormon. Zum richtigen Zeitpunkt verabreicht, kann es das gonadale Geschlecht weiblicher Fische, Amphibien und Reptilien umkehren. Bei Säugetieren kann es zwar das Geschlecht nicht komplett umwandeln, aber ein weiblicher Fötus, auf den Androgene einwirken, bildet stark veränderte Genitalien aus. So erzeugte man bei Experimenten in den 1980er-Jahren Rhesusaffenweibchen mit Penis und Skrotum, die »von denen eines Männchens nicht zu unterscheiden«[40] waren, indem man sie in entscheidenden Stadien ihrer Entwicklung im Mutterleib Testosteron aussetzte.

Natürlich fand man bei weiblichen Tüpfelhyänen während ihrer Trächtigkeit enorm hohe Testosteronwerte. Da ihnen aber nun einmal die Hoden fehlten, stellte sich die Frage, woher dieses »männliche« Hormon stammte und wie der sich entwickelnde weibliche Fötus dessen Omnipotenz zum Trotz dennoch funktionsfähige Fortpflanzungsorgane entwickeln konnte.

Die Antwort liefert der Syntheseweg des Testosterons. Alle Sexualhormone – Östrogene, Progesteron und Testosteron – leiten sich von Cholesterol ab. Dieses Steroid wird mithilfe von Enzymen in das »Schwangerschaftshormon« Progesteron umgewandelt. Progesteron ist Vorläufer der Androgene, die wiederum Vorläufer der Östrogene sind. Diese »männlichen« und »weiblichen« Sexualhormone können ineinander umgewandelt werden und kommen bei beiden biologischen Geschlechtern vor.

»So etwas wie ein ›männliches‹ oder ein ›weibliches‹ Hormon gibt es nicht. Das ist ein verbreiteter Irrtum. Wir haben alle dieselben Hormone«, erklärte mir Christine Drea via Skype. »Männchen und Weibchen unterscheiden sich nur in den relativen Mengen der Enzyme, die die Sexualhormone ineinander umwandeln, und in der Verteilung und Empfindlichkeit der Hormonrezeptoren.«

Drea ist Professorin an der Duke University im US-Bundesstaat North Carolina und weiß mehr als praktisch jede:r andere über das hormonelle Zusammenspiel bei der weiblichen Geschlechtsdifferenzierung. Sie erforscht schwerpunktmäßig eine ganze Reihe sogenannter maskulinisierter weiblicher Lebewesen, darunter neben der Tüpfelhyäne auch Erdmännchen und Kattas.

Drea ist Teil des Forscher:innenteams, das die Herkunft des Testosterons bei der trächtigen Hyäne ermittelte. Es leitet sich von einem weniger bekannten Androgen ab, dem Androstendion (kurz ASD), das von den Ovarien der Mutter gebildet wird. Dieses Androgen bezeichnet man auch als Hormonvorstufe, denn es wird je nach Aktivität der Enzyme in der Plazenta in Testosteron oder Östrogen umgewandelt.

Bei den meisten Säugetierweibchen, die mit Töchtern trächtig sind, wird ASD bevorzugt in Östrogen umgewandelt; bei der Tüpfelhyäne jedoch verwandelt es sich in Testosteron. Dieses »männliche« Hormon entfaltet dann seinen Einfluss auf die sich entwickelnden Genitalien und das Gehirn des weiblichen Fötus. So transformiert es sowohl dessen Vulva als auch dessen Verhalten nach der Geburt.[41]

In der Vergangenheit interessierte sich die Wissenschaft kaum für ASD als Sexualhormon; man tat es als »inaktiv« ab, da es nicht an bekannte Androgenrezeptoren bindet. Inzwischen aber lokalisiert man Rezeptoren, die darauf hindeuten, dass es sehr wohl eine unmittelbare Aktivität hat und dass, besonders entscheidend, seine Wirkung womöglich vom Geschlecht des Fötus abhängig ist.

»Es gibt immer mehr Veröffentlichungen, die nahelegen, dass Hormone bei unterschiedlichen Tieren je nach Geschlecht unterschiedlich wirken. Dabei dreht sich alles um die Menge, die Dauer und den Zeitpunkt«, erläuterte Drea.

Ihre Forschungen belegen klar, dass die Entwicklung zum Weiblichen alles andere als ein »passiver« Prozess ist; zudem spielen Androgene dabei oft eine aktive Rolle. »Testosteron ist kein ›männliches‹ Hormon. Es ist nur ein Hormon, das bei Männchen eine offensichtlichere Wirkung hat als bei Weibchen.«

Für Christine Drea steht fest, dass die Geschlechtsentwicklung der weiblichen Hyäne auch einer dynamischen genetischen Steuerung unterliegt, sodass eine überschießende Wirkung der großen Mengen an Androgenen verhindert wird und funktionale, wenn auch exzentrische Fortpflanzungsorgane entstehen. Wie das vor sich geht, liegt allerdings noch im Dunkeln. Die funktionalen genetischen Schritte für das eigentliche Ausbilden weiblicher Fortpflanzungsorgane sind im Vergleich zu denen bei männlichen Wesen noch immer kaum ergründet.

Diese Schräglage unseres Wissensstandes leitet sich von Josts berühmter, aber fehlerhafter Theorie zur Geschlechtsdifferenzierung ab, die immer nur erklärte, wie sich ein männliches Wesen herausbildet, und nie die Frage stellte, wie eigentlich ein weibliches entsteht. Die Vorstellung, dass ein Entwicklungsprozess überhaupt »passiv« ablaufen könne, ist ohne Frage lächerlich – Ovarien werden ebenso aktiv gebildet wie Hoden. Dennoch blieb das »voreingestellte« weibliche System 50 Jahre lang praktisch unerforscht.

Drea sieht es so: »Bei der Geschlechtsdifferenzierung geht es nicht darum zu beschreiben, wie Weibchen und Männchen entstehen. Es geht nur darum darzulegen, wie sich Männchen entwickeln. Jahrzehntelang hat es niemanden gestört, dass man nicht erklären konnte, wie die weibliche Form entsteht, man hat einfach gesagt: ›Na ja, das geschieht eben passiv‹.«

In einer grundlegenden Publikation zur Geschlechtsentwicklung bei Säugern bezeichneten die Autor:innen die Entwicklung des Ovars noch 2007 als »Terra incognita«. Die vorherrschende Meinung, der zufolge die Ovarienentwicklung der »Grundeinstellung« entsprach, führte zu der »weitverbreiteten Ansicht, dass es keinerlei aktiver genetischer Schritte bedarf, um ein Ovar oder weibliche Genitalien zu differenzieren oder hervorzubringen«, so die Autor:innen. Was, wie sie trocken anmerkten, »eine recht sonderbare Situation [ist], wenn man die Bedeutung dieses Organs für die korrekte weibliche Entwicklung und Fortpflanzung bedenkt«.[42]

Nun, die Lage bessert sich. Das unbekannte Land der ovariellen Entwicklung ist heute teilweise erforscht, doch seine genetische Landkarte hat noch deutlich mehr weiße Flecken als die der Hodenentwicklung. Die chauvinistische Unausgeglichenheit des »Organisationskonzepts« richtete das Augenmerk bei der genetischen Erforschung der Geschlechtsdetermination nur auf das Männliche; ihr Kernziel war es, jenen schwer fassbaren Faktor zu ermitteln, der die Hoden determiniert, den genetischen Trigger, der neutrale Gonadenzellen des Fötus dazu anleitet, sich aus ihrer geschlechtlichen Indifferenz zu erheben und sich in Hoden umzuwandeln (und Testosteron zu produzieren).

Das genetische Rezept aber, das über die Geschlechter bestimmt, hat tatsächlich eine sehr ausgeklügelte Zutatenliste und beteiligt eine Reihe entwicklungsgeschichtlich alter, überraschend androgyner Gene.

Chaotische Chromosomen

Man könnte glauben, die ultimative Antwort auf die Frage, was ein Tier weiblich macht, seien zwei X-Chromosomen. Wir alle haben schließlich in der Schule gelernt, dass dieses anomale Geschlechtschromosomenpaar das biologische Geschlecht definiert: XY männlich, XX weiblich. Aber so einfach ist das nicht mit dem Geschlecht.

Das Geschlechtsdeterminations-System mit X- und Y-Chromosom ist am bekanntesten, weil es bei Säugetieren (und einigen anderen Wirbellosen sowie Insekten) vorkommt. Bei diesem System tragen die Weibchen zwei Kopien desselben Geschlechtschromosoms (XX), während Männchen zwei unterschiedliche Geschlechtschromosomen haben (XY). Der erste verbreitete Irrtum besteht schon einmal darin, dass die Buchstaben X und Y die Form der Chromosomen wiedergeben. Alle Chromosomen sind wurstförmig, und als Paar haben sie höchstens zufällig einmal Ähnlichkeit mit einem Schriftzeichen.

Das X-Chromosom wurde 1891 von dem jungen deutschen Zoologen Hermann Henking entdeckt, dem bei der Untersuchung der Hoden von Feuerwanzen etwas Merkwürdiges auffiel. Chromosomen liegen im Zellkern als Paare vor, doch Henking bemerkte, dass bei allen von ihm untersuchten Spermatozyten ein Chromosom offenbar keinen Partner hatte und allein blieb. Er bezeichnete es deshalb als »X« – das mathematische Symbol für »unbekannt«. Henking stellte keinen Zusammenhang zwischen diesem heute so ikonischen und zugleich rätselhaften DNA-Strang und der Geschlechtsdetermination her, was bedauerlich ist, weil es ihm viel Ruhm beschert hätte. Stattdessen aber wandte er sich ein Jahr später von seinen zytologischen Forschungen ab und schlug eine Karriere im Fischereiwesen ein,[43] was finanziell lohnender war, aber deutlich weniger Chancen auf wissenschaftliche Berühmtheit bot.

Das Y-Chromosom wurde letztlich rund 14 Jahre später, also 1905, von der US-Amerikanerin Nettie Stevens – einer Pionierin der genetischen Zunft – in den Fortpflanzungsorganen von Mehlwürmern entdeckt. Stevens erkannte seine entscheidende Bedeutung für die Geschlechtsdetermination, erfuhr aber ebenfalls kaum Anerkennung für ihre bahnbrechende Entdeckung. Dasselbe Chromosom wurde nahezu gleichzeitig von dem Zellbiologen Edmund B. Wilson entdeckt, der den meisten Ruhm erntete. Die Bezeichnung »Y« erhielt es letztlich als alphabetische Fortführung von Henkings Benennung. Da es besonders kurz ist, ähnelt es aber tatsächlich dem Buchstaben Y, wenn es mit dem längeren X-Chromosom als Paar vorliegt.

Im Vergleich zum X-Chromosom wirkt das Y-Chromosom klein geraten, es ist geradezu kümmerlich und enthält deutlich weniger genetisches Material. Doch bei Chromosomen kommt es weniger auf die Größe an, als darauf, für was ihre Gene codieren. Und das Y-Chromosom beherbergt tatsächlich ein sehr wichtiges, das Geschlecht determinierendes Gen namens SRY (abgekürzt aus englisch Sex Determining Region of Y).

In den 1980er-Jahren identifizierte das Labor von Peter Goodfellow in London diesen bescheidenen Abschnitt als den genetischen Code für den lang gesuchten hodendeterminierenden Faktor (kurz TDF, aus englisch testis-determining factor) beim Menschen. Wie sein Team herausfand, ist das Anschalten von SRY der ausschlaggebende erste genetische Schritt, um die Entwicklung der noch neutralen Gonadenzellen des Fötus zu Hoden und somit zur Testosteron-Produktion anzustoßen. Ohne dieses Anschalten entwickelt sich die ursprüngliche Unisex-Grundausstattung zu embryonalen Ovarien.[44]

Dieses Mal gab es ein großes Tamtam. Der alles entscheidende Schalter für die Geschlechtsdetermination bei Säugetieren war endlich gefunden und die »Essenz der Männlichkeit«[45] lokalisiert. SRY war der bislang fehlende Auslöser für die Abfolge von Genen, die für die Hodenentwicklung codieren – den das männliche Geschlecht determinierenden Pfad.

Die angesehene australische Professorin für Evolutionsgenetik Jennifer Marshall Graves war Teil der internationalen Forscher:innengruppe, die nach diesem entscheidenden das männliche Geschlecht determinierenden Gen suchte. Ihre Arbeit zu Chromosomen der Beuteltiere bewirkte, dass sich die Suche auf einen anderen Abschnitt des Y-Chromosoms konzentrierte, wo SRY dann schließlich auch lokalisiert wurde. Graves erklärte mir im Gespräch, warum ihr Triumphgefühl angesichts der Lösung des Rätsels des biologischen Geschlechts nur kurz währte.

»Wir glaubten, das würde sich als Heiliger Gral entpuppen«, gestand sie mir via Zoom aus ihrem Haus in Melbourne. »Als mein Student das SRY-Gen entdeckte, dachten wir, das alles wäre ganz einfach. Eine Art Schalter. Es zeigt sich aber, dass die Geschlechtsdetermination viel komplizierter ist, als wir angenommen haben.«

Angesichts dessen, was wir in der Schule über biologische Geschlechter lernen, wäre es Ihnen nicht zu verübeln, wenn Sie die Gene für Hoden auf dem Y- und diejenigen für Ovarien auf dem X-Chromosom vermuten würden. Das wäre wirklich hilfreich. Doch leider war es der Evolution ganz egal, ob sie den Genetiker:innen die Arbeit schwer macht.

Der komplette Prozess der Determination der Geschlechtsorgane erfordert das orchestrale Zusammenspiel von rund 60 Genen. Diese das Geschlecht bestimmenden Gene befinden sich durchaus nicht alle auf den Geschlechtschromosomen und schon gar nicht fein säuberlich nach Geschlecht sortiert auf dem X- oder Y-Chromosom. In Wirklichkeit sind sie kreuz und quer im Genom verstreut.

SRY ist dabei so etwas wie ihr Dirigent. Ist dieser entscheidende hodendeterminierende Trigger vorhanden, weist er die geschlechtsbestimmenden Gene sozusagen an, in H-Dur (H wie Hoden) zu spielen. Fehlt SRY, spielt das Orchester in O-Dur (O wie Ovarien). Lange Zeit gingen Genetiker:innen davon aus, dass es sich um zwei komplett separate lineare Entwicklungswege handelt, einen für Männchen (ausgelöst durch das Vorhandensein von SRY) und einen für Weibchen (ausgelöst durch die Abwesenheit von SRY). Aber die Vorstellung, die Evolution würde eine so wohlgeordnete binäre Lösung für das biologische Geschlecht hervorbringen, erwies sich leider als naiv.

An diesem Punkt wird die Geschlechterfrage wirklich kompliziert. Abgesehen von SRY sind die 60 Mitglieder des das Geschlecht bestimmenden Genorchesters bei männlichen und weiblichen Wesen im Grunde die gleichen. Diese Gene können entweder Ovarien oder Hoden entstehen lassen, aber welche Keimdrüse sie tatsächlich hervorbringen, hängt von komplexen Verhandlungen der Gene untereinander ab.

Ich war baff. Aber Graves erklärte es mir geduldig. »Etliche dieser Gene sind keine ›Hoden‹- oder ›Ovarien‹-Gene. Sie sind eine Art ›Beides‹-Gene, und das Ergebnis hängt davon ab, wie viele es gibt und wie sie die biochemischen Reaktionen steuern. Wir stellen immer wieder fest, dass manche dieser Gene mehr als eine Funktion bei mehr als einem Entwicklungsstadium ausüben.«

Überdies sind die beiden Pfade, die zu Hoden oder Ovarien führen, weder linear noch voneinander getrennt. Sie sind vielmehr miteinander verwoben. So werden einige Gene des »Männlich«-Pfades benötigt, um die Entwicklung der Gonaden in Richtung Hoden zu fördern; andere braucht es, um zu verhindern, dass die Entwicklung in Richtung Ovarien verläuft.

»Es ist viel zu simplistisch zu behaupten, dass die Entwicklung der Hoden auf einem einzigen Weg erfolgt, denn es gibt auch einen Weg, der zur gleichen Zeit keine Ovarien hervorbringt. Das Ganze ist ein widersprüchliches Durcheinander von Reaktionen, denn es sind so viele Gene dazwischengeschaltet, die den einen Pfad hemmen und den anderen fördern. Diese beiden Geschlechter-Pfade sind also eng miteinander verknüpft«, erklärte mir Graves.

Um mir die Komplexität zu verdeutlichen, schickte sie mir eine Animation von einer verrückten Maschine, in deren Getriebe mit Dutzenden von rotierenden Zahnrädern kleine blaue Kugeln hin und her gespielt, gelegentlich auch zerdrückt und neu geschaffen wurden. Der Weg der blauen Kugeln durch das undurchschaubare Gewirr entspricht Graves’ Vorstellung davon, wie die vermeintlich so schön binären Pfade der Geschlechtsdetermination tatsächlich funktionieren.

Dieses scheinbare Durcheinander miteinander verknüpfter androgyner Gene erklärt, warum das biologische Geschlecht so plastisch ist. Schon kleine Holperer in der Ausprägung (Expression) irgendeines der beteiligten Zahnrädchen lassen neue Varianten entstehen; diese können die Evolution voranbringen und Tierarten ermöglichen, sich anzupassen und neue, herausfordernde Lebensräume zu nutzen.

Das Maulwurfsweibchen, von dem zu Beginn dieses Kapitels die Rede war, ist dafür ein anschauliches Beispiel. Ein globales Konsortium von Wissenschaftler:innen sequenzierte unlängst das komplette Genom des Iberischen Maulwurfs (Talpa occidentalis). Beim Vergleich seines genetischen Codes mit dem anderer Säugetiere fanden sie keine Unterschiede in den Proteinprodukten der Gene, die an der Geschlechtsdetermination beteiligt sind. Allerdings entdeckten sie Mutationen, die die Regulation zweier dieser Gene veränderten. Dadurch konnte ein Gen, das für die Ausbildung von Hoden entscheidend ist, beim Weibchen angeschaltet bleiben, statt gehemmt zu werden. Dies ist der Grund für den umfangreichen Anteil von Hodengewebe in den Ovarien des Weibchens. Überdies lagen von einem anderen Gen, das für ein an der Bildung von Androgenen beteiligtes Enzym codiert, zwei zusätzliche Kopien vor, was die Testosteronbildung beim Maulwurfsweibchen erhöhte und ihm die Vorteile der »adaptiven Intersexualität« verschaffte.[46]

Doch es gibt noch mehr Variationsmöglichkeiten. SRY, jener genetische Trigger für dieses Orchester der 60 geschlechts-determinierenden Gene, ist nicht der einzige Generalschalter für das biologische Geschlecht im Tierreich, ja nicht einmal bei den Säugetieren.

Auftritt Schnabeltier: Dieses Eier legende Säugetier Australiens hat sich aufs Anderssein spezialisiert,[47] und seine Geschlechtschromosomen bilden da keine Ausnahme. Graves war auch Teil des Forschungsteams, das entdeckte, dass das Schnabeltier fünf Paar Geschlechtschromosomen hat.[48] Weibchen haben die Chromosomen XXXXXXXXXX, Männchen XXXXXYYYYY. Und trotz dieser Fülle an Y-Chromosomen ist ein SRY-Generalschalter nirgends auszumachen.

»Das war ein Schock«, erinnerte sich Graves.

Das Schnabeltier ist ein urtümliches Säugetier aus der Ordnung der Kloakentiere (Monotremata), die sich vermutlich vor rund 166 Millionen Jahren von den anderen Säugern trennte. Seine skurrilen Geschlechtschromosomen verschafften Graves wertvolle Einblicke in die Evolution der Geschlechtschromosomen und die unsichere Zukunft des Y-Chromosoms.