Bitter ist die Wahrheit - Monika Bauer - E-Book

Bitter ist die Wahrheit E-Book

Monika Bauer

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Beschreibung

Jörg von Westhof stand am Ende des Wäldchens, das zu seinem Gut gehörte und das sich im Sommer, wenn Fingerhut und Lupinen blühten, in ein leuchtendes Märchen verwandelte. Er blickte auf das Gut, das zu seinen Füßen lag, und sein eben noch so heiteres Gesicht verschattete sich. Der altvertraute Anblick schien ihm fremd und unwirklich. Sein Blick hing an dem weißen Herrenhaus, dessen Fenster hell aufblitzten im Sonnenlicht. Ihm war es, als senkten sich plötzlich dunkle schwere Wolken auf das Haus und hüllten es ein. Mit einer ungeduldigen Bewegung strich er sich über die Augen. Was war heute nur mit ihm? Warum war ihm so schwer ums Herz, als käme eine Gefahr auf ihn zu, der er nicht mehr ausweichen konnte? Unruhig tänzelte der Rappe neben ihm und scharrte mit den ­Hu­fen. Sein Kopf flog hoch. Er riß an den Zügeln, während er leise schnaubte. Jörg wandte sich dem Rappen zu und nickte, als verstände er dessen Ungeduld. »Hast ganz recht, Stromer, wenn du ungeduldig wirst. Mir langt es auch. Wo sie heute nur bleibt? Ist doch sonst nicht ihre Art, unpünktlich zu sein.« Er warf einen Blick auf seine Uhr und fuhr dann in seinem Selbstgespräch fort: »Warten wir noch zehn Minuten. Ist sie bis dahin nicht erschienen, reiten wir runter und sehen, warum sie uns hier warten läßt, wie bestellt und nicht abgeholt.« In der Ferne klang Hundegebell auf. Der Rappe spitzte die Ohren und wieherte freudig auf. Ihm schienen die Laute bekannt und vertraut zu sein. Nun sah auch Jörg den Schatten, der plötzlich zwischen den Bäumen aufgetaucht E-Book 1: E-Book 2: E-Book 3:

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Monika Bauer –1–

Bitter ist die Wahrheit

Roman von Monika Bauer

Inhalt

Textbeginn

Deine Liebe war nur Schein

Sie war so schön wie die Sünde

Schicksal unterm Unglücksstern

Jörg von Westhof stand am Ende des Wäldchens, das zu seinem Gut gehörte und das sich im Sommer, wenn Fingerhut und Lupinen blühten, in ein leuchtendes Märchen verwandelte.

Er blickte auf das Gut, das zu seinen Füßen lag, und sein eben noch so heiteres Gesicht verschattete sich.

Der altvertraute Anblick schien ihm fremd und unwirklich.

Sein Blick hing an dem weißen Herrenhaus, dessen Fenster hell aufblitzten im Sonnenlicht. Ihm war es, als senkten sich plötzlich dunkle schwere Wolken auf das Haus und hüllten es ein.

Mit einer ungeduldigen Bewegung strich er sich über die Augen.

Was war heute nur mit ihm? Warum war ihm so schwer ums Herz, als käme eine Gefahr auf ihn zu, der er nicht mehr ausweichen konnte?

Unruhig tänzelte der Rappe neben ihm und scharrte mit den ­Hu­fen. Sein Kopf flog hoch. Er riß an den Zügeln, während er leise schnaubte.

Jörg wandte sich dem Rappen zu und nickte, als verstände er dessen Ungeduld.

»Hast ganz recht, Stromer, wenn du ungeduldig wirst. Mir langt es auch. Wo sie heute nur bleibt? Ist doch sonst nicht ihre Art, unpünktlich zu sein.« Er warf einen Blick auf seine Uhr und fuhr dann in seinem Selbstgespräch fort: »Warten wir noch zehn Minuten. Ist sie bis dahin nicht erschienen, reiten wir runter und sehen, warum sie uns hier warten läßt, wie bestellt und nicht abgeholt.«

In der Ferne klang Hundegebell auf. Der Rappe spitzte die Ohren und wieherte freudig auf.

Ihm schienen die Laute bekannt und vertraut zu sein.

Nun sah auch Jörg den Schatten, der plötzlich zwischen den Bäumen aufgetaucht war und nun eilig den Weg heraufgefegt kam.

»Das ist Struppi. Wo er ist, da ist sein Frauchen auch nicht mehr weit«, sagte Jörg zufrieden.

Da schoß es auch schon heran. Ein kleines graues Wollknäuel, bei dem man zweimal hinsehen mußte, um festzustellen, daß es sich wirklich um einen Hund handelte.

Der kleine Hund trug seinen Namen zu Recht. Struppig und kraus war sein graues Fell. Am lustigsten aber waren seine Ohren. Während das eine steil hochstand, kippte das andere meist um, und das gab seinem Gesicht einen so pfiffigen Ausdruck, daß allein sein Anblick zum Lachen reizte.

Aber was dem kleinen Hund an Schönheit fehlen mochte, das ersetzte er durch unbestechliche Treue, durch Schlauheit und Überlegenheit, die immer wieder Verwundern hervorrief und fast an Menschenverstand glauben ließ.

Liane von Dahlberg hatte den kleinen Hund einmal unter Lebensgefahr aus dem Wasser geholt, wo ein grausamer Junge das Tierchen, mit einem Stein am Hals beschwert, hineingeworfen hatte.

Wie es dem Hund gelungen war, den Stein loszuwerden, hatte sie nie herausgefunden. Tatsache war, daß ein kläglich winselndes Etwas plötzlich wieder an der Oberfläche erschien und sich verzweifelt bemühte, aus der heftigen Strömung, die es direkt auf den Wasserfall zutrieb, herauszukommen.

Ungerührt stand der Bursche und sah dem Kampf zu, ohne auch nur den geringsten Versuch zu machen, dem Hund zu helfen.

Liane aber konnte das Wimmern nicht anhören. Sie sprang auf den Burschen zu, versetzte ihm zwei schallende Ohrfeigen und hatte auch schon ihre Schuhe und ihr Kleid abgestreift, ehe der Bursche überhaupt begriffen hatte, wie ihm geschehen war, und war ins Wasser gesprungen.

Es war ein leichtsinniges Unterfangen, denn an dieser Stelle war die Strömung reißend, und da half es auch nicht viel, daß sie eine geübte Schwimmerin war.

Aber es war ihr gelungen, den kleinen Hund im allerletzten Augenblick noch beim Schopf zu packen, ehe er in den tosenden Wasserfall gezerrt wurde.

Völlig erschöpft und nur mit Hilfe des Burschen, der plötzlich sehr eifrig um sie bemüht war, war sie heil ans Ufer gekommen.

Versöhnt schieden die beiden, als Liane sich wieder erholt hatte. Aber den kleinen Hund gab sie nicht mehr her, den trug sie, fest an sich gedrückt, nach Hause.

Stein struppiges Fell gab ihm den Namen, aber er war sehr bald durch sein drolliges, lausbubenhaftes Wesen der Liebling des ganzen Gutes, und selbst mit allen Tieren war er gut Freund.

Seitdem war er der ständige Begleiter seines Frauchens. Wo Struppi auftauchte, wo sein übermütiges Gebell erklang, da war auch seine junge Herrin nicht weit.

Richtig, jetzt tauchte ihr feuriger Apfelschimmel zwischen den Bäumen auf. Der Boden dröhnte unter den Hufschlägen. Wie die Windsbraut stoben sie heran – das große, kraftvolle Tier, auf dem Rücken das feingliedrige Mädchen, dessen mittelblondes gelöstes Haar flatterte.

Dicht vor Jörg parierte Liane ihr Pferd. Sie blies sich eine Haarsträhne aus der Stirn und sah ihn wie um Entschuldigung bittend an.

»Ich konnte wirklich nicht früher kommen, Jörg. Mein Vater fühlt sich heute nicht wohl, und da wir noch auf unseren neuen Müllermeister warten, mußte ich helfen.«

»So ist er noch immer nicht eingetroffen? Er wollte doch schon gestern kommen.«

»Das ist es ja. Ich bin direkt wütend auf ihn. Wenn er schon gleich am Anfang mit Unpünktlichkeit beginnt, was soll denn erst werden, wenn er sich eingelebt hat?«

Beschwichtigend wehrte Jörg ab.

»Nun verurteile ihn nicht gleich in Grund und Boden, Ly. Warte doch erst einmal ab, was er zu sagen hat. Er wird wohl einen Grund für seine Verspätung haben. Soviel dein Vater mir sagte, soll er doch einen sehr zuverlässigen Eindruck gemacht haben. Und auf das Urteil deines Vaters kannst du dich doch sonst meist verlassen, oder?«

Er sagte es eindringlich, denn er kannte die vorschnelle Art seiner Freundin, sich ein Urteil zu bilden, und meist war sie dann nur sehr schwer davon abzubringen.

»Na ja, warten wir eben, was der Herr zu sagen hat. Aber – um ehrlich zu sein – ich mag ihn nicht. Er hat so etwas Überhebliches in seiner Art. Das ist mir einfach zuwider.« Sie zuckte mit den Schultern.

Sie hatten die Pferde wieder antraben lassen. Sie verließen den Hauptweg und schlugen einen Saumpfad ein, der durch unbebautes Land südlich führte. Hier gab es keine gepflegten Wiesen, keine Äcker mehr. Der Boden war bedeckt mit Unkraut und Feldblumen, die in friedlicher Eintracht hier wuchsen.

Der Pfad zeigte keine Spuren von Pferdehufen oder Bauernkarren. Kein Auto hatte bisher den Weg gefunden, und niemand wußte um die beiden jungen Menschen, die hier nebeneinander ritten.

Der Pfad hatte die Höhe erreicht, und er schlängelte sich jetzt auf der anderen Seite des Hügels an einem Bach vorbei.

Und dann lag plötzlich ein halbverfallenes altes Gehöft vor ihnen.

Ein verrostetes Gitter bildete den Zugang zu einer zauberhaften Wildnis.

Hier wuchsen kein Getreide und keine Gartenfrüchte, sondern nur herrlich duftende wilde Rosen, Disteln, Kreuzkraut und Brombeeren.

Eine verwilderte Hecke umgab das Ganze wie ein schützender Wall.

Die beiden lenkten ihre Pferde durch das Gestrüpp auf einen schmalen, grasbewachsenen Pfad, der direkt zum Hauptgebäude führte, das man auch heute noch als Wohnhaus erkennen konnte.

An beiden Seiten stand lichtes Birkengehölz. Links ging ein Weg direkt in den Föhrenwald hinauf

Friedliche Stille lag über dem Anwesen, das wie ein kleines, verwunschenes Paradies anmutete.

Früher hatten die beiden Kinder sich hier ihr eigenes kleines Reich errichtet. Es war ihre versteckte Zuflucht gewesen, und dieses Stückchen Erde in seiner ganzen Wildheit gehörte einfach zu ihnen wie ihre wundervolle Kinderzeit und ihre erste heimliche Liebe, die sich in einem scheuen Kuß zum erstenmal äußerte.

Nun verhielt Jörg das Pferd und sah sich mit aufleuchtenden Augen um.

Neugierig blickte Liane ihn von der Seite an.

»Willst du mir nicht endlich sagen, warum wir heute unbedingt in diese Wildnis reiten mußten, Jörg? Langsam finde ich es an der Zeit, mit der Geheimniskrämerei Schluß zu machen.«

Er lachte verhalten und sprang aus dem Sattel, und ehe sie etwas sagen konnte, hatte er sie vom Pferd gehoben und neben sich auf den Boden gestellt. Sein Arm lag fest und besitzergreifend um ihre Taille, und sie ließ es willig geschehen.

»Ja, jetzt sollst du es endlich wissen, Ly.« Er streckte die Hand aus und zeigte um sich. »Das alles hier hat mein Vater mir gestern überschrieben. Es gehört von nun an mir.«

Sie glaubte nicht recht gehört zu haben und sah ungläubig zu ihm auf.

»Ist das wahr, Jörg, wirklich wahr?« fragte sie dann in jäh aufbrechender Freude.

Er nickte. Er hatte gewußt, wie sehr sie sich darüber freuen würde, und hatte es kaum erwarten können, es ihr mitzuteilen.

»Ja, Ly. Ich werde es restaurieren lassen. Ich habe von Großmutter etwas Geld geerbt und werde es dafür verwenden, das Haus und die Stallungen wieder in Ordnung zu bringen. Vater wird mir zwei Kühe und alles, was für den Anfang notwendig ist, zur Verfügung stellen. Freilich werden wir zwei tüchtig anfassen müssen, um das alles hier wieder instand zu setzen.«

In jäher Aufwallung warf sie die Arme um seinen Hals und gab ihrem überschäumenden Glück so Ausdruck.

»Wir werden es schaffen, Jörg. Ich bin ja so glücklich. Der Gedanke, daß wir nun für immer hier leben werden, hat etwas Berauschendes, so daß ich fürchte, es ist alles nur ein Traum, aus dem ich jeden Augenblick erwache.«

Er schloß sie in die Arme.

»Glaubst du noch immer zu träumen, Ly?« flüsterte er dicht an ihrem Ohr. Sein Mund suchte den ihren, und für Sekunden versank alles um sie herum in einem Meer von Seligkeit.

Dann löste sie sich sanft, aber nachdrücklich aus seinen Armen und trat etwas zurück.

Eine dunkle Röte hatte Lianes Wangen gefärbt. Ihre grauen Augen schimmerten fast schwarz und verrieten, daß sie nicht so ruhig war, wie sie sich zeigte.

»Wir müssen doch vernünftig sein, Jörg«, sagte sie mit verhangener Stimme.

Vernünftig? Er fuhr sich mit den Fingern durch das Haar. Es war eine unwillige, ungeduldige Geste, die sie nur allzugut an ihm kannte.

»Ja, ja, ich weiß. Jedesmal, wenn ich dich in meine Arme nehmen will, redest du von Vernunft. Spürst du denn nicht, wie schwer es mir wird, wie ich mich nach dir sehne? Wir lieben uns doch, wir gehören zusammen, und wir wissen es beide. Warum verweigerst du dich mir immer wieder?«

Er hatte sie ungestüm umfaßt und drückte sie an sich, als wollte er sie nie mehr loslassen.

»Ly, ich liebe dich. – Verstehst du denn nicht, wie qualvoll dieses ewige Warten für mich ist?«

Sie lag sekundenlang willenlos in seinen Armen und trank seine leidenschaftliche Zärtlichkeit durstig in sich hinein.

Es bereitete ihr fast körperliche Schmerzen, sich aus seinen Armen loszureißen. Heftig atmend stand sie vor ihm. Ihr Gesicht glühte.

»Nicht, Jörg, nicht! Hast du unseren Schwur vergessen?« stammelte sie.

Er sah sie schmerzlich berührt an.

Sie stieß ihn zurück, in diesem Augenblick zurück, und erinnerte ihn an den Schwur, den sie als unerfahrene Kinder geleistet hatten, als ihnen Leidenschaft und brennendes Verlangen noch fremd gewesen waren?

»Ly, wir waren doch noch Kinder. Was wußten wir denn schon von der Liebe, die besitzen will, sich verschenken an den anderen, völlig eins mit ihm werden«, stieß er hervor.

Sie sah ihn mit einem Blick an, in dem Verlangen und Leidenschaft glühten.

»Jörg, wir müssen vernünftig sein. Glaube mir, es fällt auch mir schwer. Ich – ich liebe dich doch, und ich…« Sie konnte nicht weitersprechen.

Ihr Kopf sank gegen seine Schulter. Sie hatte nicht mehr die Kraft, sich zu wehren.

Sie liebte ihn, liebte ihn, seit sie denken konnte, und immer schon hatte es für beide festgestanden, daß sie einmal Mann und Frau sein würden.

Aber sie hatten sich ihr eigenes Idealbild geformt, als sie anfingen, erwachsen zu werden. Was wußten sie in ihrer Unschuld von Leidenschaft und verlangender Sehnsucht, von der Qual des Verzichts?

Aber jetzt wünschte Liane sich, daß er sie in die Arme nehmen möge.

Jörg mochte spüren, was in ihr vor sich ging, und seine aufschäumende Leidenschaft machte einem zärtlichen Verstehen Platz.

Er schob Liane zart von sich, hob ihr Gesicht zu sich auf und küßte die Tränen von den langen dunklen Wimpern fort.

»Verzeih, Liebes, wenn ich dich gequält habe, es soll nie mehr vorkommen.« Er trat zurück und wandte sich dem Haus zu.

»Komm, wir wollen uns alles einmal ganz genau ansehen und uns überlegen, wie wir alles ändern wollen.«

Sie stand noch einen winzigen Augenblick und rang sichtlich mit einer schmerzlichen Enttäuschung.

Nun, wo sie bereit gewesen wäre, nun tat er, als gäbe es nichts Wichtigeres als das Haus und wie sie es umbauen lassen wollten.

Aber dieses Gefühl hielt nur für den Bruchteil einer Sekunde an, dann hatte sie sich wieder gefangen und folgte ihm.

Später, als sie heimritten, stand Schweigen zwischen ihnen. Zum erstenmal hatten sie nicht zu dem alten, vertrauten Ton zurückgefunden.

Ihre Hände lagen ineinander, und Jörgs Blick verriet deutlich, daß er innerlich nicht so ruhig war, wie er sich gab.

»Wir werden sehr bald heiraten, Ly«, sagte er ganz plötzlich. »Bitte, sprich endlich mit deinem Vater. Ich will nicht mehr länger warten.«

Sie verstand ihn, wußte in seinen Augen zu lesen, was er empfand.

»Ich werde mit ihm sprechen, Jörg. Ich glaube nicht, daß er jetzt noch etwas dagegen einzuwenden hat. Schließlich werde ich jetzt zwanzig und habe ein Anrecht darauf, mein eigenes Leben zu führen.«

Er nickte.

»Denke daran, Ly, ich liebe dich. Ich – ich kann nicht immer so neben dir leben. Es geht über meine Kraft.«

Er wartete keine Antwort ab. Mit einem Ruck riß er sein Pferd herum und jagte den Weg zum väterlichen Gut hinunter.

Liane saß reglos im Sattel und sah hinter ihm her. Wie ein Stein lag ihr das Herz in der Brust, und sie wußte selbst nicht, warum ihr so nach Weinen zumute war.

Mußte sein Geständnis sie, Liane, nicht glücklich machen?

Warum war plötzlich dieses dumpfe Gefühl von Angst und Schmerz in ihr? Warum trieb etwas in ihrem Innern sie ungestüm vorwärts, wollte sie zwingen, ihm zu folgen, ihn zu bitten, nicht so von ihr zu gehen? Warum nur, warum?

Sie fand keine Erklärung für das seltsam ziehende Gefühl in ihrem Herzen, und sie schalt sich selbst töricht.

Du bist selbst krank vor Sehnsucht, Ly, du solltest dich schämen, schalt sie sich.

In diesem Augenblick ahnte sie noch nicht, mit welcher Bitterkeit es sie an diese Stunde erinnern würde.

*

Hubert von Dahlburg gehörte wohl zu den reichsten Männern der ganzen Umgebung. Woher er gekommen war, wußte man bis heute nicht. Eines Tages tauchte er im Ort auf, kaufte die halbverfallene Mühle und setzte sie wieder instand, ohne sich um das verwunderte und spöttische Gerede der Dorfbewohner zu kümmern.

Was er eigentlich vorhatte, dar­über sprach er nicht. Aber daß er über sehr viel Geld verfügen mußte, stand für alle fest.

Das Wohnhaus war modernisiert worden. Freundliche helle Fenster blitzten im Sonnenlicht, und bunte, leuchtende Blumen gaben dem Anwesen ein anmutiges Aussehen.

Als die Mühlräder sich zu drehen begannen, kamen die ersten Bauern, wenn auch noch ein wenig mißtrauisch, um ihren Weizen mahlen zu lassen. Natürlich war es zuerst eine Probe aufs Exempel, und der neue Müller wußte, daß er erst das Vertrauen der Dorfbewohner erringen mußte.

Aber er war voller Zuversicht. Er verstand es, mit den einfachen Leuten zu reden, ihnen die Scheu zu nehmen. Schon bald kamen sie alle und waren froh, nicht mehr den weiten Weg in die Stadt machen zu müssen.

Dahlberg hatte sich nicht verrechnet, als er sein ganzes Vermögen einsetzte, um die alte Mühle wieder in Gang zu bringen. Er wußte, daß im weiten Umkreis keine Mühle mehr war und es ein gutes Geschäft für ihn werden mußte, wenn er erst einmal Fuß gefaßt hatte.

Da seine derbe Art den Bauern vertrauter war, als wenn er jetzt den feinen Herrn gespielt hätte, wurde er sehr bald als ihresgleichen betrachtet, und man sprach mit ihm, als habe er schon immer zu ihnen gehört.

Nach zwei Jahren heiratete er ein Mädchen aus dem Dorf aus einer kinderreichen, einfachen Familie.

Hubert von Dahlburg hatte es keinen einzigen Augenblick bereuen müssen, sie gewählt zu haben. Sie schenkte ihm ein Zwillingspärchen Liane und Johannes, der von allen nur Jan gerufen wurde.

Während Ly, wie sie das kleine Mädchen nannten, mit abgöttischer Liebe an dem Vater hing, stand dieser mit seinem hitzigen, ungebärdigen Sohn meist auf dem Kriegsfuß.

Nur die Mutter konnte den ungestümen Jungen bändigen. Ein bittender Blick aus ihren Augen, ein Streicheln über sein krauses braunes Haar – und Jan wurde sanft und folgsam.

Aber noch eine gewann immer mehr Macht über ihn – Liane, seine Zwillingsschwester. Ihr konnte er keine Bitte abschlagen.

Oft liefen die beiden zum Bach, der nahe an ihrem Haus vorbeifloß.

Dann setzte Jan seine Papierschiffchen ins Wasser und schickte sie auf große Fahrt.

Der lebhafte Junge besaß eine rege Phantasie, und wenn er dann allerhand selbsterfundene Geschichten erzählte, saß Ly mit glänzenden Augen dabei und lauschte versunken seinen Worten.

So wuchsen die Kinder heran. Jan sollte auf Wunsch seines Vaters ein Gymnasium besuchen. Der Junge aber war von Fernweh erfüllt, und er hatte nur den einen Wunsch, zur See zu gehen und hinauszufahren in die weite Welt.

Wieder stießen Vater und Sohn erbittert aneinander. Jan mußte sich widerwillig dem strengen Befehl des Vaters beugen. Er kam in ein Internat, und zum erstenmal war auch seine Mutter machtlos und nicht in der Lage, den Vater umzustimmen.

Jan, der die Freiheit über alles liebte, ging fast seelisch zugrunde. Er kam sich eingesperrt vor.

Zweimal kam er in den Ferien nach Hause. Aber er war völlig verändert. Er sprach kaum noch und lief meist mit einem abweisenden Gesicht herum. Selbst seine Mutter fand nicht mehr den Weg zu seinem Herzen.

Nur zu Ly sprach er genauso lieb und zärtlich wie früher. Ihr vertraute er auch an, daß er eines Tages fortgehen wollte und nicht eher wieder zurückkommen würde, bis er es zu etwas gebracht hatte.

Liana hatte Angst um den Bruder. Sie beschwor ihn, zu bleiben, aber Jan schüttelte nur den Kopf und erinnerte sie an ihren Schwur, keinem Menschen etwas zu verraten.

Ly hielt ihren Schwur. Sie sprach zu keinem davon, noch nicht einmal zu Jörg, der doch ihr einziger und bester Freund war, nachdem Jan nicht mehr bei ihr war.

Jahre vergingen. Aus dem Knaben wurde ein halbwüchsiger Junge, der sich seinem Vater immer mehr entfremdet hatte.

Als er sechzehn wurde, ließ sein Vater ihn zu sich kommen und fragte ihn, ob er sich nun darüber klar war, welchen Beruf er ergreifen wolle. Alle Türen standen ihm offen, er sollte nur entscheiden.

Ohne zu überlegen sagte der Junge: »Laß mich zur See fahren, Vater. Es ist der einzige Wunsch, den ich habe.«

Aber wieder stieß er auf Ablehnung.

»Die See kommt nicht in Frage. Die Dahlbergs gehören nicht auf schwankende Schiffsplanken. Du bist ein Dahlberg, mein einziger Sohn und Nachfolger. Ich erwarte von dir, daß du dich meinen Wünschen fügst. Also schlage dir diesen Unsinn aus dem Kopf. Nie werde ich dir meine Einwilligung geben.«

Das war die letzte Unterredung, die Vater und Sohn miteinander geführt hatten.

Eines Tages war Jan aus dem Internat verschwunden. Da er um Urlaub gebeten hatte, um seine Familie zu besuchen, fiel sein Verschwinden vorerst nicht auf. Erst als er zur bestimmten Zeit nicht ins Internat zurückkehrte und eine Nachfrage an den Vater erging, stellte sich heraus, daß Jan spurlos verschwunden war.

Der Junge hatte die Flucht gut vorbereitet. Alles Suchen, alle Aufrufe durch Zeitungen und Rundfunk blieben erfolglos.

Vielleicht wäre es anders gekommen, wenn die Mutter noch gelebt hätte. Ihr plötzlicher Tod schien Jans Handeln gelenkt zu haben. Er war fest davon überzeugt, daß sein Verschwinden keine Lücke hinterlassen würde.

Vater hatte seinen Liebling Ly und würde ihm keine Träne nachweinen.

Aber Jan hatte sich getäuscht. Er hatte den Vater nie verstanden. Er ahnte nicht, wie dieser unter dem Verschwinden seines Sohnes litt.

Wie stolz war er auf seinen prächtigen Jan gewesen. Seine Zukunftsträume hatten sich nur um ihn gedreht, und Ly hatte darin kaum Platz gefunden, obwohl sie doch sein erklärter Liebling war.

Aber sie war eben ein Mädchen, das zu schmeicheln und zu schmusen verstand.

In die Mühle aber gehörte ein Mann, einer der fest zupacken konnte, der es verstand, das Ererbte gut zu verwalten, es zu halten und zu mehren.

Da war es schwer zu verwinden, daß der einzige Sohn all sein Hoffen zerschlug, daß er auf all das, was der Vater geschafft und aufgebaut hatte, keinen Wert legte.

Vier Gesellen arbeiteten in der Mühle, und nun war Hubert von Dahlberg gezwungen, noch einen Meister einzustellen, da er selbst nicht mehr in der Lage war, überall selbst nach dem Rechten zu sehen.

Es waren schmerzliche Gedanken, die sich hinter der Stirn des Mannes bewegten. Er saß an seinem Schreibtisch und sah mit einem verlorenen Blick aus dem Fenster.

Sein Arbeitszimmer war einfach und solide eingerichtet.

Die schweren, gedrungenen Möbel gehörten einfach zu dem kräftigen Mann.

Nach leisem Klopfen trat die alte Haushälterin, die schon seit vielen Jahren bei ihnen war und so gut wie zur Familie gehörte, ins Zimmer.

»Gnädiger Herr, der neue Meister ist eben angekommen. Soll ich ihn zu Ihnen hereinführen?« wollte er wissen, während ein schneller, prüfender Blick den Schreibtisch überflog, ob auch kein Staub auf der dunklen Platte zu sehen war.

»Endlich!« Ein Zug von Erleichterung ging über das schmale Männergesicht. »Nun führ ihn schon herein, Erni. Lange genug habe ich auf ihn warten müssen.«

Erni verschwand, so schnell es ihre Rundlichkeit erlaubte, und ließ Sekunden später einen schlanken, hochgewachsenen Mann eintreten, der an der Tür stehenblieb und mit ruhiger Gelassenheit Dahlbergs prüfendem Blick standhielt.

»Herr Derrik?« Dahlberg machte eine einladende Handbewegung. »Bitte, nehmen Sie Platz. Sie müssen entschuldigen, daß ich sitzen bleibe, aber ich habe heute wieder einmal einen ganz verflixten Tag, und die Beine wollen nicht mehr so, wie ich es gern möchte.«

Der schlanke Mann, der ungefähr dreißig Jahre alt sein mochte, kam mit elastischen Schritten näher und reichte dem Mühlenbesitzer die Hand.

»Ich hatte mir schon Sorgen gemacht, Herr Derrik, da ich Sie bereits gestern erwartete«, begann Dahlberg höflich.

»Aber ich habe doch telegrafiert, Herr von Dahlberg, daß ich einen Tag später eintreffe. Haben Sie mein Telegramm denn nicht erhalten?« fragte Derrik verwundert.

Dahlbergs buschige Augenbrauen hoben sich unmutig.

»Nein, aber das wird wieder einmal an dem Hinner liegen. Er wollte sich den Weg nach hier bestimmt sparen, und ich wundere mich nicht, wenn Ihr Telegramm mit der allgemeinen täglichen Post ankommt.«

»Das bedauere ich sehr, Herr von Dahlberg, aber es war wirklich unmöglich, eher zu kommen. Es gab noch eine dringende Privatsache, die ich geregelt wissen mußte, ehe ich mich auf die Reise machen konnte.«

»Es ist nicht so schlimm, Herr Derrik. Eigentlich beginnt Ihre Arbeitszeit ja erst morgen. Aber es wäre mir lieb, wenn Sie sich vorher mit allem schon etwas vertraut machen würden. Zwischen uns wurde ja schon alles auf schriftlichem Wege geordnet. Was ich von Ihnen erwarte, das habe ich Ihnen bereits mitgeteilt. Hoffen wir auf gute Zusammenarbeit, Herr Derrik.«

»Ich werde mir alle Mühe geben, Herr von Dahlberg.«

Dahlberg erging es seltsam mit seinem neuen Meister. Er mochte ihn auf den ersten Blick. Es ging etwas Vertrauenerweckendes von dem scharfgeschnittenen braunen Antlitz aus. Man hatte sofort das Gefühl, hier einem Menschen gegenüberzustehen, der genau wußte, was er wollte.

»Ich muß Sie bitten, sich etwas zu gedulden, bis meine Tochter Ly heimkommt. Sie wird Sie durch den Betrieb führen und Ihnen alles zeigen. Wie gesagt – heute wollen meine Beine wieder einmal gar nicht. Es ist ein Jammer, hier zu sitzen und sich wie ein Krüppel zu fühlen.«

Es war in einer solchen grimmigen Erbitterung hervorgestoßen worden, daß Derrik sofort klar wurde, daß der kräftige Hubert von Dahlberg sich mit seinem Geschick noch nicht abgefunden hatte und sich immer wieder gegen das unerbittliche Schicksal auflehnte, das ihn verdammte, hier tatenlos herumzusitzen.

Jeder andere an seiner Seite hätte jetzt irgendein höfliches Trostwort gesagt. Aber ihm widerstrebte es.

Mit einem belanglosen Trost war diesem Mann nicht gedient, und er machte auch nicht den Eindruck, als lege er darauf großen Wert.

Roy Derrik hatte gute Menschenkenntnis, und er schätzte seinen neuen Chef ganz richtig ein, wenn er sich sagte, daß er trotz seiner Krankheit mit dem Leben schon allein fertig wurde.

Dahlberg aber war Roy Derrik dankbar, daß er nicht weiter auf seine Worte einging und nicht den Versuch machte, ihm billigen Trost zu spenden.

Angeregt unterhielten die beiden Männer sich. Dahlberg hatte Muße, festzustellen, daß sein neuer Meister sehr viel von seinem Fach verstand und er, der allem Neuen und Modernen zugetan war, freute sich, von Derrik, manchen guten Tip zu bekommen.

Warum er seinen bisherigen Betrieb verlassen hatte, in dem er einen führenden Posten hatte, darüber sprach er nicht, und Dahlberg fragte auch nicht danach. Derrik hatte vorzügliche Referenzen, und das war für Dahlberg ausschlaggebend gewesen.

Hufschlag klang vor dem Gebäude auf.

Der Hausherr hob den Kopf.

»Das ist meine Tochter, Herr Derrik. Ly wird Ihnen nun Ihr Zimmer zeigen und später den Betrieb. Meine Tochter kennt sich in allen Dingen vorzüglich aus. Ich selbst kann es kaum besser machen.«

Väterlicher Stolz sprach aus seinen Worten.

Keine Miene regte sich in Derriks Gesicht. Nur in seinen Augen schien es sekundenlang unmutig aufzuzucken.

Da ging auch schon die Tür auf. Ein schlankes blondes Mädchen betrat das Zimmer, blieb beim Anblick des fremden Mannes, der bei ihrem Eintreten höflich aufgestanden war, jäh stehen und sah fragend von ihm zu dem Vater.

»Komm näher, Ly, ich möchte dich mit unserem neuen Müllermeister, Herrn Derrik, bekannt machen.« Der Vater winkte sie zu sich heran.

Ly begegnete dem Blick blauer Augen, die sie kühl musterten, und spürte eine jähe Abneigung in sich aufsteigen, die sie sich nicht erklären konnte.

Gelassen reichte sie Derrik die Hand.

»Wir hatten Sie schon gestern erwartet, Herr Derrik.«

Verwundert hob der Vater bei dem kühlen Klang ihrer Stimme den Kopf und sah seine Tochter prüfend an.

Er war es nicht gewohnt, daß Ly so zurückhaltend war. War es, weil Derrik einen ganzen Tag auf sich hatte warten lassen?

»Stell dir vor, Ly, Herr Derrik hat uns ein Telegramm geschickt. Aber der Hinner wird es wohl erst heute mit der normalen Post bringen«, sagte er, ehe Derrik sein Ausbleiben erklären konnte.

Über Lys Gesicht lief ein ärgerlicher Ausdruck.

»Du solltest es Hinner einmal nachdrücklich klarmachen, Vater, daß er nicht so nachlässig handeln darf. Schließlich wird ein Telegramm ja aufgegeben, damit es sofort seinen Bestimmungsort erreicht. Hinner handelt unverantwortlich.«

Gutmütig wehrte Dahlberg ab.

»Vergiß nicht, er ist schon betagt, und es ist ein weiter Weg zu uns hinaus. Soll ich ihm deswegen Schwierigkeiten machen, Ly?«

»Dann soll man bei der Post für diese Wege einen jungen Burschen einstellen. Ich kann deine Meinung nicht teilen, so lieb mir der Hinner auch ist.«

Sie bat den Mann mit einer Handbewegung, wieder Platz zu nehmen, aber der Vater sagte schnell: »Bitte, Ly, zeige Herrn Derrik sein Zimmer. Später kannst du ihn dann durch den Betrieb führen.«

Sie nickte zustimmend. Aber ehe sie das Zimmer verließ, trat sie noch einmal auf den Vater zu, und Derrik sah verwundert, wie zärtlich ihr eben noch so abweisendes Gesicht wurde.

»Komm hinaus in die Sonne, Vater. Es ist nicht gut für dich, wenn du dich den ganzen Tag hier in deinem Zimmer vergräbst. Laß doch die Schreibarbeit. Ich erledige das heute abend. Mir macht es wirklich nichts aus, das weißt du doch.«

Er lächelte liebevoll.

»Du hast genug zu tun, Ly. Ich will nicht, daß du auch noch deine Abende opferst, um den Schreibkram zu erledigen Aber damit du zufrieden bist, mache ich jetzt wirklich für ein paar Stunden Schluß. Wenn Herr Derrik gut untergebracht ist, dann komm und hilf mir nach draußen.«

»Gut, Vater, ich komme gleich zurück.« Sie gab ihm noch schnell einen Kuß auf die Stirn und wandte sich dann Derrik zu.

»Wenn Sie mir folgen wollen, Herr Derrik«, sagte sie höflich und schritt ihm voraus.

Er öffnete die Tür und ließ sie an sich vorbeitreten.

Schweigend legten sie den Weg durch den langen Gang zurück. Sie gingen ein paar Stufen hinunter und standen nun draußen auf einem Vorplatz, auf dem ein langgestrecktes Gebäude lag, dessen blankgeputzte Fenster in der Sonne blinkten.

Dahlberg hatte dieses Gebäude für seine Leute errichten lassen, und er hielt auf peinliche Sauberkeit.

Ly schritt auf das Haus zu und öffnete die Tür.

»Sie haben oben Ihre Räume, Herr Derrik. Das Bad ist hier unten. Im Augenblick sind nicht alle Zimmer bewohnt, da wir drei Knechte entlassen mußten. Vater hat für Sie zwei Zimmer und einen Arbeitsraum bestimmt. Somit wohnen Sie auf der ersten Etage völlig ungestört und können sich die Räume ganz nach Ihrem eigenen Geschmack einrichten. Wenn Sie irgendeinen Wunsch haben, so wenden Sie sich bitte an mich oder an unsere alte Erni, die hier so etwas wie Befehlsgewalt hat.«

Sie hatte ihm Zeit gelassen, sich alles anzusehen, und bat ihn nun, ihr nach oben zu folgen.

In seinem Gesicht zeigte sich keinerlei Verwunderung über das modern und hübsch eingerichtete Wohnhaus für die Angestellten.

Aber in seinem Innern war er doch verblüfft; denn so viel Komfort hatte er nicht erwartet.

»Ich hoffe, Sie fühlen sich hier wohl, Herr Derrik«, sagte Ly, und zum erstenmal war ihre Stimme nicht kühl und frostig.

»Vater braucht unbedingt jemanden, auf den er sich voll und ganz verlassen kann, Herr Derrik. Der Betrieb hier wächst ihm über den Kopf. Meine Kräfte reichen nicht aus, um ihn zu ersetzen, obwohl ich mir alle Mühe gegeben habe. Aber ich bin eben nur ein Mädchen, und welcher Mann arbeitet schon gern unter weiblichem Befehl?

Unsere Knechte und Gesellen haben sich leidlich daran gewöhnt, auch Befehle von mir entgegenzunehmen. Aber es behagt ihnen nicht, ich sehe es deutlich an ihren Gesichtern.«

Nun lachte sie leise auf. Es war ein schwingendes dunkles Lachen, dem er unwillkürlich nachlauschte. Wie anziehend ihr eben noch so hochmütiges Gesicht wirkte!

»Ich weiß nicht, wie man es bei euch in der Stadt hält. Hat man da auch noch solche Vorurteile? Hier auf dem Land gehört eine Frau in die Küche, und alles andere ist eben Männersache, da hat sie ihre Nase nicht hineinzustecken. Denken Sie auch so, Herr Derrik?«

Er lächelte ein wenig.

»Ich kenne viele große Betriebe, die nur von Frauen geleitet werden, gnädiges Fräulein, und ich muß eingestehen, sie verstehen sehr viel davon, kein Mann könnte es besser machen. Ich bin aber auch ehrlich genug, Ihnen zu sagen, daß auch ich nicht begeistert davon bin, mit einer Frau arbeiten zu müssen. Ich nehme meine Befehle lieber von einem Mann entgegen. Das soll jedoch nicht heißen, daß ich mich weigere, solange sie mir vernünftig und richtig erscheinen«, schränkte er ein, indem er sich leicht verneigte.

Sekundenlang sah sie ihn etwas verblüfft an. Das war sehr deutlich und ließ keine Zweifel aufkommen, wie er sich ihr Gegenüber zu verhalten gedachte.

Im ersten Augenblick wollte sie auffahren, aber dann hielt sie es für besser, nicht schon in den ersten Stunden Unstimmigkeiten heraufzubeschwören.

Abwarten, mein Lieber, schwor sie sich heimlich. Ich werde dir auf die Finger gucken, um zu sehen, was du kannst. Bemerke ich auch nur den kleinsten Fehler, dann werde ich dir zeigen, wie es läuft. Dir werde ich schon Respekt vor der Tüchtigkeit einer Frau beibringen.

Dabei vergaß sie völlig, daß er mit großer Achtung von den Frauen im allgemeinen gesprochen hatte und auch nicht mit Lob über ihre Tüchtigkeit gespart hatte.

»Wir werden sehen«, sagte sie und wandte sich zum Gehen.

So entging ihr das spöttische Lächeln, das sekundenlang seinen Mund umspielte.

Er trat ans Fenster und blickte gedankenverloren hinaus.

Er sah Ly aus dem Haus treten und mit schnellen, anmutigen Schritten über den Hof gehen, nahm wahr, wie ein anderes Mädchen aus dem gegenüberliegenden Herrenhaus trat und auf Liane zuging.

Die beiden blieben stehen und gaben sich die Hände. Dann schritten sie zusammen in das Gebäude zurück.

Beide waren fast gleich groß, und doch schien ein Unterschied wie Tag und Nacht zwischen ihnen zu sein.

Während Ly von Dahlberg in einem einfachen Reitanzug herumlief, war das andere Mädchen auffallend elegant gekleidet. Silberblondes Haar umrahmte den Kopf, den sie sehr selbstbewußt erhoben trug.

Während Ly mit ruhigen, schwingenden Schritten daherging, trippelte die andere auf ihren hochhackigen Schuhen mit kleinen, gezierten Schritten neben ihr her.

Langsam wandte Derrik sich wieder ins Zimmer zurück und begann seine Koffer, die schon vor ihm angekommen waren, auszupacken.

*

Joan Tabler kam in der letzten Zeit häufiger zu Ly, mit der sie früher kein besonders gutes Verhältnis gehabt hatte.

Die beiden grundverschiedenen Mädchen standen schon in der Schule auf dem Kriegsfuß. Joans hochmütige und überhebliche Art reizte die gutmütige Ly jedesmal, und es kam zu manchen Handgreiflichkeiten zwischen den beiden. Dann verließ Joan die Schule. Sie fuhr mit den Eltern ins Ausland. Nach Jahren kehrte Tabler mit seiner kranken Frau allein in die weiße Villa zurück, und Joan kam nur noch in den Ferien nach Hause.

Als die Frau starb, lebte der reiche, unabhängige Mann allein.

Wochenlang betrat er seine Villa nicht. Er hauste wie ein Einsiedler in seiner Jagdhütte und wurde wortkarg und menschenscheu.

Es wurde anders, als Joan sich endlich vor einem halben Jahr entschloß, ihr unruhiges Leben aufzugeben und wieder nach Hause zurückzukehren.

Aus dem Pummelchen, dessen Pausbacken und farblos ausgebleichtes Haar Zielscheibe des Spotts gewesen war, war ein verführerisch schönes Mädchen geworden, nach dem die Männer sich umdrehten. Silberblondes Haar, das weich wie Seide schimmerte, lag in natürlichen Wellen um den feinen Kopf.

Das Gesicht war zart und herzförmig geschnitten. Der volle Mund hatte einen eigenwilligen Ausdruck und verriet, daß Joan gewohnt war, ihren Willen durchzusetzen.

Große, leidenschaftliche Augen von fast bläulicher Schwärze beherrschten das Gesicht.

Joan wußte, daß sie schön war und die Männer sich nach ihr umdrehten.

Sie war kein unerfahrenes Mäd­chen mehr, obwohl sie sich gern so gab. Sie kannte die Liebe, den Flirt, wußte von Leidenschaftlichkeit und dem Rausch verliebter Stunden.

Aber natürlich hütete sie sich, etwas davon verlauten zu lassen. Sie kannte die Menschen hier zu Genüge und wußte, daß man nur wenig Verständnis für ein leichtfertiges Leben, wie sie es hinter sich hatte, haben würde.

Hier legte man noch sehr großen Wert auf Anstand und Sitte. Auch das hohe Ansehen ihres Vaters würde sie nicht vor gesellschaftlichem Boykott bewahren, wenn etwas von ihrem früheren Leben durchsickerte.

Joan hatte schon immer die Veranlagung zu einer guten Schauspielerin gehabt.

So gelang es ihr, auch jetzt ohne weiteres das unerfahrene Mädchen zu mimen, was ihr jeder auf Anhieb glaubte, weil ihr kindlich, unschuldiges Gesicht alle täuschte.

Joan war von ihren Eltern sehr verwöhnt worden. Sie hatte nie gelernt, sich einen Wunsch zu versagen.

Was man ihr nicht freiwillig geben wollte, ertrotzte sie sich. Kein Wunder, daß sie auch heute noch glaubte, alles würde sich nur um sie drehen und jeder würde sich glücklich schätzen, ihr zu Willen zu sein.

Ly aber behielt ihr gegenüber ihre reservierte Zurückhaltung bei und schien keinerlei Wert auf eine nähere Beziehung zwischen ihnen zu legen.

Ihre Einladungen zu den wöchentlichen Parties, die Joan gab, hatte sie im Anfang jedesmal höflich, aber entschieden abgelehnt.

Das hatte Joan nicht verwunden. Es kränkte sie, daß es jemanden gab, der von ihr nichts wissen wollte, der ihrem Zauber nicht unterlag.

Unerwartet tauchte sie in der Mühle auf und gab sich von einer so bestechenden Liebenswürdigkeit Ly gegenüber, daß diese sich davon überrumpelt fühlte und sich geschlagen gab.

Freilich konnte Ly nicht ahnen, daß Joan einen ganz bestimmten Zweck mit ihrer betonten Freundlichkeit verfolgte.

Im Grunde ihres rachsüchtigen Herzens hatte Joan sich geschworen, Ly ihren Hochmut heimzuzahlen. Daß sie den Mut gehabt hatte, sie, Joan Tabler, einfach zur Seite zu schieben, ihr die kalte Schulter zu zeigen, das sollte sie büßen

Schon immer war ihr Lys Freundschaft mit Jörg von Westhof ein Dorn im Auge gewesen. Schon als kleines Mädchen hatte sie Ly den Jungen nicht gegönnt, der für sie nur ein Schulterzucken hatte und nur Augen und Ohren für Ly.

Dabei lag Gut Westhof in der Nähe ihres Landhauses, und es wäre doch viel verständlicher gewesen, wenn sie und Jörg Freunde geworden wären.

Aber Jörg hatte sie kaum beachtet, was sie auch versucht hatte, um seine Aufmerksamkeit zu erregen.

Zum erstenmal bekam Joan nicht, was sie haben wollte und auch ihr Vater konnte seinem vergötterten Liebling einen Wunsch nicht erfüllen, da er keinen Einfluß auf den Jungen hatte.

Daß Ly wie selbstverständlich zufiel, wonach sie, Joan, sich verzehrte, das würde sie ihr nie verzeihen, deshalb haßte sie das blonde Mädchen heute fast noch mehr als zu ihrer Kinderzeit.

Sie wußte, sie mußte sich zuerst an Ly heranmachen. Hatte sie erst einmal deren Freundschaft errungen, dann würde Jörg von selbst in ihren Kreis hineingezogen. Denn daß die beiden heute noch genauso unzertrennlich waren wie als Kinder, hatte sie auf den ersten Blick festgestellt.

Sie hatte geglaubt, die beiden vergessen zu haben, oder war doch wenigstens davon überzeugt gewesen, daß ein Jörg von Westhof ihr heute nicht mehr gefährlich werden könnte.

Aber Joan Tabler hatte sich ge­täuscht.

Der kräftige, sportgewandte Mann mit den breiten Schultern, den scharfgeschnittenen Zügen, den braunen Augen in dem von Luft und Sonne gebräunten Gesicht, rief ihre alte Schwärmerei wieder wach, und ganz plötzlich spürte sie wieder das alte Verlangen in sich, diesen Mann für sich zu gewinnen.

Sie wußte, daß Liane von Dahlberg und Jörg von Westhof so gut wie verlobt waren, aber das kümmerte sie nicht.

Der Gedanke, zwei Menschen auseinanderzubringen, die sich einig waren, belastete keine einzige Sekunde ihr Gewissen.

Sie wollte den Mann, und sie würde ihn erringen, ganz gleich, zu welchen Mitteln sie greifen mußte.

Die beiden Mädchen hatten Lys hübsches Mädchenzimmer aufgesucht und saßen sich nun an dem kleinen, reizenden Tisch gegenüber.

Joan hatte in lässiger Eleganz die schlanken Beine übereinandergeschlagen und hielt eine Zigarette zwischen den Fingern.

»Nein, Ly«, sagte sie jetzt entschieden, auf das kurze Gespräch zurückkommend, das sie miteinander geführt hatten, ehe sie das Zimmer betreten hatten, »das kannst du mir nicht antun. Du mußt kommen. Schließlich ist es mein erstes Kostümfest, und ich bin davon überzeugt, daß es einmalig wird. Ich habe schon einige Erfahrungen gesammelt, wie man so etwas aufzieht. Ihr werdet bestimmt auf eure Kosten kommen.«

Lys Blick schweifte an ihr vorbei aus dem Fenster.

»Es tut mir leid, Jo, aber woher soll ich so schnell ein passendes Kostüm nehmen? Ja, wenn du es eine Woche früher gesagt hättest, dann wäre es vielleicht noch gegangen. Aber jetzt? Nein, die Zeit bis übermorgen ist wirklich zu knapp, das ist einfach unmöglich.«

Ehrliches Bedauern lag in ihrer Stimme. Schließlich war sie jung, und ein Kostümfest war schon immer ihr Traum gewesen. Aber leider war es ihr bis heute noch nicht vergönnt gewesen, an so etwas einmal teilnehmen zu dürfen.

»Wenn es das ist, Ly, ich kann dir mit einem Kostüm aushelfen. Ich habe mehrere im Schrank hängen.« Ein Gedanke durchzuckte sie.

»Ich habe sie mir anfertigen lassen, als ich in Venedig war. Komm, reiten wir zu mir hinüber. Du kannst dir aussuchen, was dir gefällt.«

Fast heftig wehrte Ly ab.

»Aber das geht doch nicht. Ich kann doch nicht eines von deinen Kostümen tragen.«

»Warum denn nicht? Sind wir nicht Freundinnen, Ly? Außerdem haben wir fast die gleiche Figur. Aber wenn du nicht willst«, Joan sann einen Moment vor sich hin, dann fuhr sie entschlossen fort: »Dann gibt es noch eine andere Möglichkeit. Wir fahren zu ›Dirks und Sohn‹. Dort wirst du bestimmt finden, was du suchst. Die Dirks arbeitet für mich und wird bestimmt sofort bereit sein, kleine Änderungen vorzunehmen, wenn ich sie darum bitte.«

Unschlüssig sah Ly sie an. Aber dann siegte die Freude, einmal ein solches Fest mitmachen zu können, über ihre Bedenken.

»Gut, Joan, damit bin ich einverstanden. Warte, ich sage nur eben meinem Vater Bescheid. Er wird bestimmt nichts einzuwenden haben. Aber hast du auch so viel Zeit? Ich muß mich noch umkleiden, so kann ich nicht mit dir in die Stadt fahren.«

»Wir schaffen es schon noch. Ich habe ja meinen Wagen mit.« Man merkte es Joan deutlich an, wie froh sie war, daß Ly sich bereit erklärt hatte, das Kostümfest mitzumachen.

Sie wußte selbst noch nicht, was sie sich eigentlich davon versprach. Aber sie setzte ihre ganze Hoffnung auf diesen Abend.

Jo blieb allein zurück, als Ly das Zimmer verlassen hatte. Sie stand auf und begann sich neugierig umzusehen.

Die einfache Schlichtheit, die ihr ins Auge fiel, rief ein verächtliches Lächeln bei ihr hervor.

Wie konnte ein so reiches Mädchen, wie Ly es doch war, sich mit solch schmucklosem Kram umgeben? Es mutete fast wie das Zimmer einer kleinen Angestellten an.

Na ja, teuer und solide mochten die Möbel ja sein, aber für ihren Geschmack zuwenig prunkvoll und verspielt. Alles hier war ihr zu nüchtern, zu alltäglich. Sie mußte immer etwas Besonderes, Ausgefallenes um sich haben, etwas, was nicht jedermann haben konnte. Nur so fühlte sie sich glücklich und zufrieden.

Ein Bild von Jörg, das auf dem hübschen Sekretär stand, zog sie wie magnetisch an. Sie ging darauf zu und betrachtete es eingehend.

Ihr war, als ob die braunen Augen ein Feuer in ihr auslösten, und je länger sie das Bild betrachtete, um so heißer wurde das Verlangen in ihr, um so wilder loderte der leidenschaftliche Wunsch in ihr, diesen Mann zu erringen, ihn zu besitzen, koste es, was es wolle.

»Mir sollst du gehören, mir allein, Jörg von Westhof«, flüsterte sie leidenschaftlich dem Bild zu, und ihr war, als läge plötzlich der Widerschein ihrer brennenden Sehnsucht in seinen braunen Augen, als umspiele ein zärtliches Lächeln seinen Mund.

»Ja, ja, ich weiß, ich fühle es, der Tag wird kommen, wo ich in deinen Armen liegen werde. Du kannst an meiner Liebe nicht vorbeigehen. Ich will dich, dich, und ich werde dich erringen. Was soll dir diese Ly? Sie hat doch kein Feuer im Blut. Sie kann einem Mann wie dir nicht das höchste Glück geben, die Erfüllung, die er doch in jeder Frau sucht.

Ich aber, Jörg, ich werde sie dir geben, ich werde dich durch alle Höhen einer leidenschaftlichen Liebe führen, die keine Hemmung kennt, kein Maß und kein Ziel. In meinen Armen sollst du erst die richtige Liebe kennenlernen, eine Liebe, an der du verglühst. Das ist Liebe, Jörg, die einzig wirkliche Liebe, die unser Leben ausmacht. Was weißt du denn schon davon? Was kann dir Ly denn schon sein, dir schon geben? Komm, Jörg, komm zu mir. Ich werde mit einem einzigen Kuß einen Feuerbrand in dir entfesseln, wie du ihn noch nie in deinem Leben kennengelernt hast. Wir werden in einem Rausch versinken, so daß du wünschen wirst, nie mehr in die Wirklichkeit zurückkehren zu müssen, Jörg – Jörg.«

Sie hatte das Bild ergriffen und preßte ihre Lippen in verzehrender Leidenschaft immer wieder auf den lächelnden Mund.

Leise stöhnte sie auf und schloß sekundenlang die Augen.

Die Qual, diese höllische Qual. Noch nie hatte sie einen Mann so geliebt, sich noch nie so nach seinen Zärtlichkeiten gesehnt.

Nein, nein, ich ertrage es nicht, nie, nie! Der Gedanke, daß er sie in seinen Armen hält, daß er sie küßt, ihr all die Zärtlichkeiten schenkt, nach denen ich hungere, macht mich rasend.

Mit einem Ruck stellte sie das Bild auf seinen Platz zurück.

Keinen Augenblick zu früh, denn in diesem Moment trat Ly ein. Ihr Gesicht war lebhaft gerötet, ihre Augen strahlten.

»Vater ist damit einverstanden, Jo. Gedulde dich nur einen Augenblick. Ich bin schnell umgezogen, dann können wir fahren. Mein Vater meint, wenn ich schon einmal Gelegenheit habe, ein Kostümfest mitzumachen, dann soll ich mir auch etwas sehr Hübsches aussuchen, damit ich das Fest voll genießen kann.«

Joan hatte sich hastig abgewandt und stand nun am Fenster, Ly den Rücken zuwendend.

Ihr war es nicht möglich, Ly jetzt anzusehen, da sie fürchtete, diese würde in ihren Augen den schwelenden Haß erkennen.

Aber Ly bemerkte das sonderbare Verhalten der Freundin nicht. Sie war ganz von ihrer Freude erfüllt und beeilte sich, schnell fertig zu werden.

Es dauerte auch nicht lange, da stand sie umgezogen hinter Jo, die sich jetzt wieder völlig in der Gewalt hatte.

»Das ging aber fix«, lobte sie, während ein prüfender Blick über die biegsame Gestalt fuhr.

Wie bringt sie nur fertig, sich in so unbeschreiblich kurzer Zeit so hübsch zu machen? fragte sie sich.

Bei ihr, Jo, dauerte das bedeutend länger. Schon ihr Make-up nahm eine beträchtliche Zeit in Anspruch.

Aber Ly schien keinen Puder und noch viel weniger einen Lippenstift zu benutzen. So viel frische Natürlichkeit konnte doch einfach nicht fein und damenhaft wirken.

Eine Dame machte sich zurecht, dazu gehörten nun einmal Schminke und Puder, davon war Joan überzeugt.

Ly merkte Jos verächtlichen Blick nicht. Sie plauderte lebhaft und konnte es kaum abwarten, bis sie endlich losfuhren.

Jo lächelte leicht in sich hinein. Wie einfach es doch war, dieses gutgläubige Mädchen einzufangen, das sie für seine beste Freundin hielt und nicht ahnte, daß sie eine gefihrliche Schlange an seinem Busen nährte, die nur darauf wartete, ihr den tödlichen Biß zu versetzen.

*

Der sommerlichen Hitze Rechnung tragend, hatte Joan sich entschlossen, das Kostümfest im Freien abzuhalten.

Gelbe und rote Lampions hingen in den Bäumen und spendeten ein romantisches Licht.

Der Mond, der voll und rund am Nachthimmel stand, lächelte über Zigeunerinnen und Apachen, über Maharadschas und Kammerkätzchen, über Maria Stuart, die mit gemessenen Schritten lustwandelte, lächelte über eine kleine Gruppe Kobolde, die in bunten, farbenfrohen Kostümen überall auftauchten und ihr neckisches Spiel trieben.

Jörg von Westhof war auf der Suche nach Ly. Er selbst war als Pierrot verkleidet.

Auf seiner Suche nach dem geliebten Mädchen geriet er immer wieder in den Kreis übermütiger Menschen, die ihn umtanzten und mitrissen. Manchmal mußte er sich erst mit einem Kuß freikaufen, was er auch lachend tat, da er kein Spielverderber sein wollte.

Er hatte Ly in den letzten zwei Tagen nicht gesehen, da er verreist gewesen war.

Erst heute morgen, als er zurückkam, fand er die Nachricht von ihr, daß sie auf dem Kostümfest bei Jo zugesagt hatte. Sie bat ihn, auch zu kommen.

Natürlich würde sie ihm ihr Kostüm nicht verraten. Er sollte einmal beweisen, daß er sie herausfinden würde, ganz gleich, wie sie sich auch verkleidet hatte.

Er hatte nur gelacht. Er würde sie finden, das stand für ihn fest. War ihtn nicht jede ihrer Bewegungen vertraut und bekannt? Die Art, wie sie daherschritt, wie sie den Kopf hielt, ja, sogar wie sie das Glas zum Mund führte, war ihm bekannt – und da sollte sie sich vor ihm verstecken können?

Aber so sehr er auch Ausschau hielt, er konnte niemand unter der bunt durcheinandergewürfelten Gesellschaft entdecken, dem Ly auch nur im geringsten ähnlich war.

Jemand streifte dicht an ihm vorbei. Er sah in ein bemaltes Gesicht mit funkelnden Augen. Er spürte, wie ihm etwas in die Hand gedrückt wurde, und sah verdutzt auf das Stückchen Papier, das ihm der ­Clown, der jetzt mit grotesken Sprüngen davonstob und in der Dunkelheit zwischen den Bäumen untertauchte, gereicht hatte.

Kopfschüttelnd suchte er das Licht eines Lampions, damit er die wenigen Worte, die auf dem Zettel geschrieben worden waren, entziffern konnte.

»Suche nach der Colombine, dann hast du die gefunden, deren Herz nur für dich schlägt, schöner Pierrot.«

Sekundenlang starrte er auf den Zettel herunter und begriff nicht, wer ihm diese Nachricht geschickt haben konnte.

Suchend sah er sich um, aber niemand beachtete ihn, alle hatten mit sich selbst zu tun. Vielleicht Jo, die ihm helfen konnte?

Wie dem auch sei, für ihn stand es fest, daß es sich hier nur um Ly handeln konnte, die sich in dem Kostüm einer Colombine vor ihm verbarg.

Warte nur, nun ist das Versteckspiel bald vorbei. Du wirst dich wundern, wenn ich auf einmal neben dir auftauche und dich nicht mehr aus den Augen lasse.

Jörg nahm sich fest vor, das Versteckspiel mitzumachen. Sollte Ly wirklich glauben, daß er sich noch nicht richtig im klaren war, ob sie es war oder nicht, würde das nur noch den Reiz des amüsanten Spiels erhöhen.

Er wandte sich suchend um – und dann entdeckte er sie. Sie stand neben einem Baum und sah unverwandt zu ihm hinüber.

Sie sah wundervoll aus in ihrem weißseidenen Kostüm mit dem kurzen Röckchen und einer Halskrause aus Tüll, mit purpurroten Pompons am Mieder und auf dem hohen spitzen Hut, der auf einer weißen Lockenpracht prangte. Eine schwar­ze Halbmaske verdeckte das Gesicht. Blutrot leuchtete der Mund. Er kam ihm etwas fremd vor, aber das mochte wohl sein, weil er ihn noch nie geschminkt gesehen hatte.

Außerdem täuschte das Licht der Lampions, die seltsame Schatten hervorzauberten und alles ein wenig unwirklich erscheinen ließen.

Er trat auf die noch immer reglos verharrende Gestalt zu und verneigte sich tief vor ihr.

»So einsam, schöne Colombine? Darf ich dir Gesellschaft leisten?« fragte er lachend.

Sie neigte zustimmend den Kopf. Lustig hüpften die roten Pompons an ihrem Mieder.

»Pierrot und Colombine – ein schönes Paar, findest du nicht auch, Pierrot? Komm, laß uns tanzen«, sagte sie lockend, und ein verführerisches Lächeln umspielte ihren Mund.

Sekundenlang zuckte er betroffen zurück und lauschte dem Klang der sichtlich verstellten Stimme nach. Sie kam ihm so fremd vor.

Aber dann verlachte er sich selbst. Daß Ly ihre Stimme verstellte, um ihn irre zu führen, konnte er sich doch an den fünf Fingern abzählen. Nein, es gab keine Zweifel mehr, die bezaubernde Colombine war Ly, seine Ly.

»Ja, tanzen wir, schöne Colombine, tanzen wir direkt in den Himmel hinein«, lachte er und legte fest und besitzergreifend seinen Arm um sie.

Sie wehrte sich nicht. Beglückt fühlte er, wie sie sich fest an ihn drängte, und es gab keinen Zweifel mehr für ihn.

Zwar schien es ihm manchmal, als ob die Augen hinter der Maske dunkler und leidenschaftlicher als die der Geliebten wären.

Aber er hielt es für eine Täuschung, und er war viel zu sehr von dem Zauber des betörenden Geschöpfes in seinen Armen gefesselt, um noch einen klaren Gedanken fassen zu können.

Der Sekt stieg ihm berauschend zu Kopf und verwirrte sein Denken. Er fühlte sich leicht und beschwingt, als schwebe er über den Wolken dahin. Alles erschien ihm wie ein wunderbarer, verwirrender Traum, und er wünschte sich, niemals mehr aufzuwachen.

Noch nie war Ly so anschmiegsam, so zärtlich gewesen. Noch nie hatte sie ihn so leidenschaftlich geküßt, noch nie ihn so mit Zärtlichkeit überschüttet.

Ihm war, als verglühe er an ihren Küssen, als rase sein Blut wie Feuer durch die Adern. Rote Nebel tanzten vor seinen Augen auf und nieder. Alles andere um ihn herum versank, nur der lachende Mund des zärtlichen Geschöpfes, das in seinen Armen lag, war noch Wirklichkeit.

»Komm, schöner Pierrot, komm«, lockte das zauberhafte Wesen.

Er fühlte sich bei der Hand ergriffen und folgte der Colombine wie ein Blinder, der sich der führenden Hand seines Begleiters willig überläßt.

Und dann versank alles für ihn.

Er trank die glühenden Küsse wie süßes Gift in sich hinein, überschüttete das junge Geschöpf in seinen Armen mit einer auflodernden Zärtlichkeit, die er so lange be­kämpft hatte.

»Ly«, stöhnte er.

Lachend drängte das Mädchen sich ihm entgegen. Sie machte keinen Versuch, seinem festen, besitzergreifenden Griff zu entkommen.

Unbemerkt hatte sie die Maske zurückgeschoben. Sie spürte, daß er wie unter einem Schlag zusammenzuckte, wie er nur mühsam begriff, daß es nicht Ly war, die er in seinen Armen hielt, sondern Jo. Sie wußte, sie durfte ihm keine Zeit geben, zur Besinnung zu kommen.

Ihre Arme legten sich um seinen Hals. Sie zog den widerstrebenden Mann tief zu sich herunter, so daß er die großen, leidenschaftlichen Augen ganz dicht vor sich sah, Augen, in denen ein verzehrendes Feuer schwelte, das ihn zu versengen drohte.

»Küß mich, küß mich«, flüsterte sie.

Sie war schön, teuflisch schön, und sie war eine Frau, die gewillt war, den begehrten Mann zu erobern, ihn sich hörig zu machen.

Noch einmal versuchte Jörg verzweifelt, sich aus ihrem Bann zu befreien, aber er hatte nicht mehr die Kraft dazu.

Er fühlte nur den brennendheißen Mund auf dem seinen, spürte ihre Hingabe, und all sein Widerstand sank in sich zusammen.

Mit einem dumpfen Aufstöhnen riß er sie an sich, daß sie leise aufstöhnte.

Aber es war ein triumphierender Laut, der wie ein heimliches Jauchzen klang.

Mir gehörst du, schrie es in ihr, und ich gebe dich nie mehr her.

Jörg, der sich ganz dem augenblicklichen Taumel hingab, sah nicht den wilden Triumph in ihren Augen. Er spürte nur das wilde Rauschen seines Blutes, und alles versank um ihn in einem wogenden Nebel.

*

Ly kniete mit bleichem, zuckendem Gesicht am Bett ihres Vaters, der mit geschlossenen Augen in den Kissen lag und einem Toten glich.

Noch trug sie das schillernde Kostüm der Colombine, in dem sie heute zu Jo auf das Kostümfest hatte gehen wollen.

Wie hatte sie sich gefreut, als sie oben in ihrem Zimmer vor dem Spiegel stand und leise lachte.

Sie und Jo hatten sich ein reizvolles Spiel ausgedacht, um Jörg an der Nase herumzuführen. Beide hatten sie sich das gleiche Kostüm anfertigen lassen, und Joans Einfluß war es zu verdanken, daß die Geschäftsführerin ihnen ihr Wort gab, daß beide Kostüme zur bestimmten Zeit geliefert würden.

Immer wieder hatte Ly sich ausgemalt, was für ein Gesicht Jörg wohl machen würde, wenn er auf einmal zwei Colombinen vor sich hatte.

Ly hatte behauptet, daß Jörg sie sofort erkennen würde, während Jo skeptisch war und vorschlug, es auf einen Versuch ankommen zu lassen.

Ly war darauf eingegangen, weil es für sie einfach keine Zweifel geben konnte. Einen Menschen, mit dem man so verbunden war, den man liebte, den mußte man doch unter jeder Maske herausfinden. Das stand für sie fest.

Ly ahnte nicht, daß sie, während sie am Bett ihres Vaters kniete, der ganz plötzlich einen zweiten Schlaganfall erlitten hatte, in diesem Augenblick auch den Mann verlor, den sie liebte.

Sie ängstigte sich jetzt nur um den geliebten Vater.

Leise trat der Müllermeister ein. Er sah auf das junge Mädchen, das in seinem Faschingskostüm am Bett kniete

Er gab der alten Erni ein Zeichen und trat dann hinter Ly, ihr behutsam die Hand auf die bebende Schulter legend.

Ly schrak zusammen und wandte ihm ihr verweintes Gesicht zu. Sie sah jetzt wie ein verängstigtes Kind aus und hatte nichts mehr von dem selbstbewußten Mädchen an sich das er am Tage seiner Ankunft kennengelernt hatte und dessen Art ihn so gereizt hatte.

»Sie sollten sich umkleiden, Fräulein Liane«, sagte er leise und eindringlich. »Ich werde bei Ihrem Vater bleiben.«

Sie sah ihn einen Augenblick verständnislos an. Dann glitt ihr Blick wie abwesend über ihr Kostüm, und in ihre Augen trat ein Ausdruck des Erschreckens.

Erst jetzt wurde ihr klar, daß sie ja noch ihr Kostüm trug Sie hatte keine Zeit gefunden, sich umzuziehen, als der gellende Schrei der alten Erni, die ihren Herrn bewußtlos neben seinem Schreibtisch gefunden hatte, durch das Haus hallte.

Ly stand schwerfällig auf und strich mit einer verlorenen hilflosen Geste über die knisternde Seide.

»Ja, ich werde mich wohl umziehen müssen«, murmelte sie. Sie hob den Blick voll zu ihm auf, und es lag eine solche Hoffnungslosigkeit in ihren Augen, daß es ihn mehr erschütterte, als er zugeben wollte.

»Das Fest ist ja nun zu Ende«, hörte er sie flüstern.

Er faßte nach ihren Schultern und schüttelte sie, als wollte er sie aufrütteln.

»Reißen Sie sich zusammen, Fränlein Liane. Ihr Vater braucht Sie jetzt nötiger als je zuvor. Für ihn müssen Sie stark sein. Sie dürfen Ihrer Schwäche nicht nachgeben«, sagte er fast grob.

Etwas schien von seiner Stimme auszugehen, das sie aus ihrer Fassungslosigkeit riß.

Er sah, wie ihre Gestalt sich straffte, wie sie unwillkürlich den Kopf hochwarf und wie sich ein trotziger Zug um ihren Mund legte.

Sekundenlang stand sie reglos und sah auf den Kranken. Dann wandte sie sich ab und verließ das Zimmer.

Schon nach kurzer Zeit kam sie zurück.

Sie trug jetzt ein einfaches Leinenkleid. Das Haar hatte sie im Nacken zusammengebunden, was ihrem Gesicht einen reifen Ausdruck gab.

Ihm war, als wäre das Mädchen in den wenigen Minuten um Jahre älter geworden.

»Ich danke Ihnen, Roy«, sagte Ly leise und nahm den Platz neben dem Vater wieder ein.

Sie redete den Meister mit seinem Vornamen an, wie sie es mit allen Angestellten tat. Aber das Du ging ihr bei dem stolzen Mann nicht über die Lippen.

Er nannte sie auch weiterhin Fräulein Liane, obwohl sie ihn gebeten hatte, nur einfach Liane zu sagen.

Obwohl sie seine Arbeit und sein Können anerkannte und bewunderte, fand sie kein rechtes Verhältnis zu dem Mann, der einen Wall um sich errichtet hatte, den keiner zu durchbrechen wagte.

Er war seinen Leuten ein gerechter Vorgesetzter, und sie hatten Vertrauen zu ihm. Er verstand es, sich bereits in der ersten Stunde Respekt zu verschaffen. Sogar der großmäulige Richard, mit dem der Vater und besonders sie oft Schwierigkeiten hatten, fügte sich widerspruchslos der befehlsgewohnten Stimme.

Nachdenklich sah Ly hinter ihm her, als er nun lautlos das Zimmer verließ und behutsam die Tür schloß.

Aber dann waren ihre Gedanken wieder bei dem Vater. Angst preßte ihr das Herz zusammen und wollte die Tränen wieder in ihr hochjagen.

Aber sie schluckte sie tapfer hinunter.

»Nein, ich will nicht schwach sein. Vater braucht mich.« Sie sagte es wie beschwörend vor sich hin, als müßte sie sich an ihre eigenen Worte wie an ein rettendes Seil klammern.

Jörg würde sie vergebens suchen. Wenn er doch jetzt bei ihr wäre. Wenn sie sich in seine Arme werfen könnte und ihre Not an seinem Herz ausweinen. Wenn sie ihn neben sich wüßte, dann wäre sie nicht so entsetzlich allein in ihrer Angst und Sorge um den Vater.

Sehnsucht nach dem Geliebten stieg in ihr auf.

»Jörg, Jörg«, flüsterte sie, als könnte ihr Ruf ihn erreichen und zu ihr führen.

Aber Jörg hörte sie nicht. Er war berauscht von dem Zauber der schönen Colombine, und während Ly am Bett ihres todkranken Vaters wachte, lag er in den Armen einer verführerisch schönen Frau, aus deren Bann er sich nicht mehr befreien konnte.

*

Tage waren seitdem vergangen. Dahlberg hatte sich etwas erholt. Aber er war vollkommen hilflos und auf seine Tochter angewiesen.

Ly opferte sich für den kranken Vater förmlich auf. Sie las ihm jeden Wunsch von den Augen ab und wurde zu einer unwiderstehlichen Schmeichelkatze, wenn er sich verbissen weigerte, die Arznei einzunehmen, die ihm zuwider war.

Anfangs konnte er nur unverständlich lallen, und es war entsetzlich anzusehen, wie er sich quälte.

Nun hatte sein Zustand sich wenigstens etwas gebessert, daß er sich wieder verständlich machen konnte, wenn ihm die Worte auch nur schwerfällig über die Lippen kamen.

Jörg erschien am nächsten Tag bestürzt über das Geschehen. Wortlos nahm er Ly in die Arme, und in seinen Augen stand Scham, während er sie mit einer fast verzweifelten Zärtlichkeit küßte.

»Ich habe so auf dich gewartet, Jörg, ich war so entsetzlich allein in meiner Angst«, stöhnte sie und preßte sich zitternd an ihn.

»Ich hatte doch keine Ahnung, Ly, sonst wäre ich doch sofort gekommen«, beteuerte er leidenschaftlich.

Sie sah ihn ungläubig an.

»Aber ich habe doch bei Jo Bescheid geben lassen, gleich als es mit Vater geschehen war. Hat man es dir denn nicht ausgerichtet?«

Sein Gesicht verhärtete sich.

»Nein, Ly, man hat mir nichts gesagt. Ich konnte nicht verstehen, warum du nicht gekommen warst.«

Wenn sie nicht so erregt gewesen wäre, hätte der dumpfe Klang seiner Stimme ihr zu denken geben müssen.

»Aber Jo hat es doch gewußt? Warum hat sie dir denn nichts davon gesagt?« Sie konnte es nicht begreifen.

»Ich weiß nicht, ob sie es gewußt hat, Ly. Vielleicht hat man vergessen, es ihr auszurichten?« Es war nur ein kläglicher Versuch, Jos Verhalten zu entschuldigen. Für ihn konnte es keinen Zweifel mehr geben, daß Jo ihm mit Absicht verschwiegen hatte, daß Ly nicht kommen konnte. Sie mußte genau gewußt haben, daß auch er sofort das Fest verlassen hätte, wenn er von der jähen Erkrankung von Lys Vater in Kenntnis gesetzt worden wäre.

Jo! Er war sehr schnell aus seinem Rausch erwacht und begriff heute noch nicht, wie das alles hatte geschehen können.

Wie konnte er auch nur einen einzigen Augenblick glauben, daß es wirklich Ly war, die sich hinter der schwarzen Maske verbarg?

Jo und Ly, ein Unterschied wie Feuer und Wasser.

Ly war unerfahren, voll mädchenhafter Scham, der jede Verführungskunst fremd war. Und Jo war eine Teufelin, voll Leidenschaft und Feuer. Ihre Küsse brannten wie süßes, betäubendes Gift. Ihre Zärtlichkeit ließ jeden eigenen Willen, jeden klaren Gedanken untergehen. Man sah nur noch diesen schönen, geschmeidigen Körper, und man fühlte nur noch das Verlangen, das wie Feuer brannte.