Bittere Bonbons - Julia Dengg - E-Book

Bittere Bonbons E-Book

Julia Dengg

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Beschreibung

Nach siebzig Jahren als Teil der Sowjetunion, nach Bürgerkriegsjahren, Unabhängigkeitsbestrebungen und Krieg mit Russland wächst in Georgien heute eine neue Generation heran, die auch in der Literatur neue Töne anschlägt. Dreizehn junge Autorinnen nehmen uns mit auf eine Reise durch Georgien und geben uns Einblicke in ihr Land und seine Geschichte. Sie entwerfen teils üppige, teils verstörende, immer aber sinnliche Bilder, die im Sinne des magischen Realismus verschiedene Realitäten miteinander ins Spiel bringen – farbenprächtige Bilder von Lebensentwürfen einer Gesellschaft, die im Begriff ist, sich neu zu finden. Dabei changieren die Erzählungen zwischen Kindheit und Erwachsenenalter, Wirklichkeit und Traumwelt, Stadt und Land, Gegenwart und Vergangenheit. Alle Autorinnen sind nach 1970 geboren. Sie umkreisen Aspekte des heutigen Lebens: Geschlechterbeziehungen, Sexualität, Familie, Selbstverwirklichung und Migration – und zeichnen damit ein facettenreiches Porträt ihres Landes.

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BITTEREBONBONS

Georgische Geschichten

Herausgegebenund mit einem Nachwort vonRachel Gratzfeld

Die Übersetzung wurde gefördert durch das Georgian NationalBook Center und das georgische Ministerium für Kultur und Sport.

Originalausgabe 2018

herausgegeben und mit einem Nachwort von Rachel Gratzfeld

Für die Zusammenstellung:

© 2018 editionfünf

Verlag Silke Weniger, Gräfelfing/Hamburg

Lektorat: Sophia Jungmann

Gestaltung: Kathleen Bernsdorf

Coverillustrationen: Kathleen Bernsdorf

eISBN 978-3-942374-94-1

www.editionfuenf.de

Inhalt

Nino Haratischwili

Diese Welt haben nicht wir erfunden

Mari Bekauri

Die Kindheit, wie sie in Wirklichkeit ist

Nino Tarchnischwili

Das dreizehnjährige Mädchen, die Rattenpfoten und der Apfel

Lia Likokeli

Im Erlenwäldchen am Flussufer

Nino Sadghobelaschwili

Die Geschichte des Hauses

Irma Tawelidse

Bittere Bonbons

Anna Kordsaia-Samadaschwili

Immunität

Ketino Bachia

Nanuli

Rusudan Ruchadse

In Forzas Fängen

Nestan Nene Kwinikadse

Ich, Sura, das Mädchen, die Gastgeberin, das Phantom, die Schutzengel, Naira und die ganze Welt

Tamta Melaschwili

Das andere Grau

Anina Tepnadse

Pillen

Das Haus

Tea Topuria

Morgens in den Bergen

Anmerkungen

Nachwort

Medea, Schuschanik und die ganze Welt

Herausgeberin

Autorinnen

Übersetzerinnen

Quellen

Nino Haratischwili

DIESE WELT HABEN NICHT WIR ERFUNDEN

Diese Welt haben nicht wir erfunden,diese Welt habe nicht ich erfunden.Die Welt, so erschaffen, um alles darin zu machenUnd doch, nichts zu verändern.Alla Borissowna Pugatschowa

Für Daria und mich bedeutete die Sowjetunion: die ständigen Trauermärsche und Beerdigungsprozessionen, wenn greise KP-Herren zu Grabe getragen wurden, Nelken überall, makabre Schauen, übertragen von allen Fernsehkanälen. Für uns bedeutete die Sowjetunion: die ewigen Sommerlager, die Pionierhalstücher. Die Teeplantagen, Imkereien und Kolchosen. Die weißen Strümpfe aus China, die Gobelins mit Jagdszenen an den Wänden, die Mischka im Norden-Schokoladenbonbons, die Estragonlimonade bei Lagidse. Der GAZ-13 unseres Großvaters, die bunten Plastilinklötzchen mit den Fröschen drauf, das gelbe Krja-Krja-Kindershampoo, die Start-Rasiercreme von Großvater, der Puder mit dem Katzenkopf, der im Badezimmerschrank lag und den wir nicht benutzen durften. Die Körperlotion Hygiene, das Parfüm Rotes Moskau von Stasia, das nach Altsein roch und Kopfschmerzen bereitete. Die geruchlose braune Waschseife, die auch wirklich Die Waschseife hieß.

Es waren die braunen Schuluniformen aus Moskau, die für Wohlstand standen, und die identischen, aber gröber geschnittenen Uniformen, die man in Tbilissi herstellte, die alle die trugen, die keine Direktoren, Professoren und Kommissare als Eltern hatten. Es waren die dicken Frauen mit weißen Schürzen, die in Kantinen, Lebensmittelläden, Cafés und auf Hotelfluren und vor den Malzbiertanks saßen. Das Cao Sao Vang Golden Star Aromatic Balm, auch sogenannte Vietnamsalbe, Tigerbalsam, der so bestialisch stank, mit dem man sich einreiben musste, wenn eine Erkältung im Anmarsch war.

Es waren die blau-weißen, dreieckigen Kefirpackungen, die Milch in Glasflaschen, beides zu kaufen in den Gastronoms der Stadt, die ansonsten nur ein recht überschaubares Angebot aufwiesen. Sowjetunion, das bedeutete leckere Kondensmilch, die wir heimlich schleckten, und eklige Fischkonserven. Der Tageskalender, der in jeder gutsozialistischen Küche hing, mit Rezepten für sozialistische Hausfrauen für jeden Tag, mit allen wichtigen sozialistischen Festen und Biografien, mit nützlichen, aber weniger sozialistischen Tipps für den Alltag: »Aloe Vera wirkt entzündungshemmend, wenn man …«

Es waren die roten, mit dem Leninkopf versehenen Arbeits-, Renten- und Komsomolausweise, die Spiele, die solche Namen trugen wie Der Denker oder Der junge Uhrmacher, das begehrte Spiel Der junge Chemiker, um das Daria und ich uns ständig stritten. Es waren der Mann und die Frau, die je einen Hammer und eine Sichel umklammert hielten, das Erkennungszeichen fast jedes sozialistischen Films (wie der brüllende Löwe bei MGM).

Es waren Tschiburaschka und Winnie Pu, den wir »Winy Puch« aussprachen, Figuren aus sozialistischen Zeichentrickfilmen, es waren die ätzenden Schneeanzüge, in die uns unsere Mutter im Winter packte und die man ganz ausziehen musste, wenn man pinkeln wollte, ebenso die kratzigen Wollstrümpfe. Es war der Mischa-Bär mit dem Medaillengürtel, das Maskottchen der Olympischen Sommerspiele 1980 in Moskau. (Dieser Bär lebte in Form von allen möglichen Spielsachen, auf Fahnen, Tellern und Tassen noch viele weitere Jahre nach der Olympiade in fast jedem sozialistischen Haushalt weiter.)

Es waren die gelben Schigulis, die schwarzen Wolgas und die weißen Ladas. Die roten Plastiksterne, Sticker, die man sich an die Brust heften konnte, mit dem Foto von Lenin als Baby oder Kind. (Alter nicht wirklich definierbar.) Es waren die Schallplatten von Melodie und die Maxim-Kassetten, für die man viel Geld hinblättern musste. Die Gulliver-Bonbons und Kaugummis mit Kaffeegeschmack, die bekanntlich keinem einzigen Kind auf der Welt schmecken, da Kinder keinen bitteren Kaffee mögen. Es waren Plüschtiere aus schwerem, kratzigem Wollmaterial, bevorzugt Hunde oder Bären (ja, die Bären, immer wieder die Bären!), die nur mit großem Wohlwollen noch als Plüschtiere durchgehen können. Es war der Schmelzkäse Die Freundschaft und die Wackelpuppe Wanka-Stanka, die wie eine missglückte, hohle Matrjoschka aus Plastik aussah. Es war das köstliche Leningrad -Eis, zu festen Vierecken in goldenes Papier verpackt. Es war der russische Weihnachtsmann mit seiner roten Nase (ohne den Bierbauch eines Santas aus der Cola -Werbung). Es waren schwere Teekannen aus Blech und die heißbegehrten 8-mm-Kameras. Die bunten Unterhosen mit glücklichen Sportlern drauf oder mit den Wochentagen beschriftet. Es waren billige Broschüren mit Titeln wie: »Die Wahrheit über die amerikanischen Diplomaten«. Die grauen und meist kaputten Straßentelefone. Die Einkaufsnetze der Omas. (Aber die haben wohl alle Omas auf der Welt, Gott weiß, wo sie herkommen!)

Es war Buchweizen und Frikadellen. Rosenmarmelade. Das indische Kaffeepulver. Jeansimitate von Mawin oder Lae. Blaubeige Schulranzen, Zahnpulver, Federhalter aus Plastik, Vasen mit Kremlmotiven, dünne grüne Schulhefte, auf denen »Schulheft« stand, Metro-Jetons mit einem M drauf, Tischtennis und Badminton im Sommer, schlechte Frisuren, der Kassettenrekorder Elektronika 302.

Zigaretten der Marke Astra, die Stasia rauchte, und die georgische Kosmos (Darias und mein erster Zug auf der Schultoilette war eine Kosmos), elektronische Uhren, wenn man angeben wollte, der Abakus in den Läden und auf dem Markt, in der Schule, bei der Arbeit, Domino in schmalen, schönen, mit Perlmutt bezogenen Kästchen.

Es waren die 36,50 Rubel für ein Flugticket nach Moskau. (Selber machten wir keinen Gebrauch davon.) Es war die Sendung Illusion, jeden Samstag im Ersten Georgischen Staatskanal, wo ausländische, manchmal zensierte, teilweise gekürzte Filme gezeigt wurden. Zum Beispiel Klassiker wie Ein Herz und eine Krone, bei dem Stasia immer feuchte Augen bekam, und Manche mögen’s heiß, bei dem Kostja aus vollem Herzen lachte, aber auch The Stunt Man mit Peter O’Toole und Barbara Hershey, den Daria und ich favorisierten. Es waren die Buskinos, Busse, die durch die einzelnen Stadtteile fuhren, wie Eiswagen klingelten, dann für geringes Geld meist Jugendliche aufsammelten und dort Liebesfilme zeigten. Ganz weit oben in den Top Ten der Buskinos stand natürlich die Angélique-Serie aus den 60ern. Daria und ich stritten uns ständig darüber, ob Unbezähmbare Angélique besser war oder Angélique und der Sultan. Danach erst folgten auf der Liste Der Graf von Monte Christo und die ganzen Bollywood-Streifen.

Es waren die Kinos, wie das Apollo und das Kasbeg. Es war das Magazin Ogonjok, es waren illegal ersteigerte Fotos von ausländischen Schauspielern, die man meist bei Zigeunern in Unterführungen und vor Metroeingängen kaufen konnte. Es waren die lustig-musikalischen und jede Intelligenz beleidigenden Heimat-, Liebes- und Arbeiterfilme. Die Trainingsanzüge aus Polyester und die köstlichen Milchshakes, Glace genannt, von mir favorisiert: Erdbeergeschmack, von Daria: Vanille.

Später waren es das Café Franzia und das Restaurant Budapest und das Teehaus gegenüber der Uni. Es war das heimliche Hören von Voice of America. Es waren die wie Kühlschränke aussehenden Getränkeautomaten, auf denen »Sprudelwasser« stand und die so gut wie nie funktionierten. Es waren die Burda-Magazine aus Deutschland, die man auf dem Schwarzmarkt erwerben musste und die die heißbegehrten Schnittmuster enthielten. Es waren die Trolleybusse, die unfreundlichen Milizionäre und heimlich gedruckte und verbreitete Romanmanuskripte von Dissidenten und Verrätern.

Wir lasen die russischen und georgischen Klassiker, Alexandre Dumas natürlich, die französischen Romantiker, sehr begehrt war Romain Rolland, er hatte ja mit dem Kommunismus sympathisiert und die Sowjetunion besucht. Über Joyce und Faulkner war man sich nie einig, wie sie einzustufen waren, verboten waren sie jedoch nicht. Die Existenzialisten waren schwer zu beschaffen. Gorki gab es en masse und auch die Krylow-Fabeln. Tolstoi, Henry James, Thackeray, Twain waren selbstverständlich. Lermontow und Puschkin gingen allen voran. Und natürlich Der Recke im Tigerfell – das große Nationalepos Georgiens von Rustaweli stand über allem.

Man las überwiegend die toten Dichter. Aber dank der Literaturnaja Gaseta hatte man ab und zu Glück und erfuhr auch etwas von den Lebenden.

Noch später war die Sowjetunion für uns das Zusammensparen von Geld für die raren Platten, Bücher und Videokassetten. Wir kauften die Stones, Pink Floyd, Led Zeppelin, später kam Queen dazu. In den 80ern waren es die russischen Rockbands, Kino und DDT, denen es scheißegal zu sein schien, ob lange Haare bei Männern vom Staat gebilligt wurden oder nicht.

Es waren die subversiven Lyrikabende in den Hinterhöfen, Dachgeschossen, Kellern. Man musste schon »anti« genug sein, um in diese erlauchten Kreise einzudringen. Am besten, man hatte Ärger mit den Milizionären. Es gab da die wasserstoffblond gefärbten Mädchen in solchen Hinterhöfen, Dachgeschossen, Kellern, die dunkle Augenringe hatten und oft etwas in ihre dünnen, mit getrockneten Blumen ausgeschmückten Notizhefte schrieben und die meiste Energie dafür aufbrachten, nachdenklich und weltfremd zu wirken. Die Jungs, die enthusiastisch, mit Speichel in den Mundwinkeln, subversive Poesie vortrugen, wobei niemand genau benennen konnte, welcher Grad an Subversion erreicht werden sollte, um zum König solcher Hinterhöfe, Dachgeschosse, Keller zu werden. Die bärtigen Männer über vierzig, die sich ebenfalls in diesen Hinterhöfen, Dachgeschossen, Kellern aufhielten, selten, aber doch manchmal begleitet von ebenfalls über vierzigjährigen Frauen, die meist ihre Haare nicht färbten, gern über Spiritualität sprachen und an die Prophezeiungen von Nostradamus glaubten, die es in ihrer Jugend geschafft hatten, durch den Nordkaukasus zu trampen, und heute noch nach Swanetien zelten fuhren.

Es waren die Zigeunerfrauen, die in einem geflochtenen Korb rote Marlboros runterschickten, wenn man zuvor genug Geld in den Korb gelegt hatte. Es waren die Umstände, um an eine Karte für die private Filmvorführung im Haus des Films zu kommen.

Für mich war die Sowjetunion die Kindheit, die ich mit meiner Schwester teilte.

[…]

Sowjetunion war jeden Abend Vremja und der Fernsehsprecher mit den dicken Brillengläsern, der alle Nachrichten vortrug, als würde am nächsten Tag die Welt untergehen. Sowjetunion war der rote Stern als Spitze des Tannenbaums, den man zu Silvester aufstellte. Sowjetunion war der Ort der Völkerfreundschaften und der Folkloretänze, alle waren willkommen, außer den »Ausländern«. Denn die waren Kapitalisten (und in der ganzen Welt verhungerten Menschen, weil der andere Teil der Menschheit sich nur für Geld interessierte und andere verarmen ließ, damit er reich wurde).

Das Ausland an sich, eigentlich egal welches, war Sodom und Gomorrha. Alle dort nahmen Drogen, und die Staaten interessierten sich nicht für die Bürger und ließen sie verrecken. Dort trieben es alle mit allen und zeugten Kinder, für die sich keiner interessierte und für die es auch keine Krippenplätze gab. Das Ausland war ein böser Ort, von wo bisher kein einziger Sowjetbürger je zurückgekehrt war. Das Ausland waren fiese Spione und Menschenhändler. Dort gab es weiterhin Sklaven, und Wörter wie Völkerfreundschaft und Brüderlichkeit kannte man dort nicht. Dort herrschten nur die blanken, brachialen Gesetze des Geldes oder die Illusion einer friedlichen Existenz durch die verlogene Religion, die ja bekanntlich Opium fürs Volk war.

Man musste wachsam bleiben und den Ländern, die sich aus den Klauen des bösen Kapitalismus befreien wollten, helfen. Und die Länder, die sich daraus befreit hatten, waren unsere Brüder, unsere Freunde; und dorthin durften wir auch fahren. Wir durften die Sowjetunion bereisen (wo wir im Prinzip ja bereits waren), wir durften in die Mongolei, wir durften nach Jugoslawien, Albanien, Bulgarien, Polen, Rumänien, in die Deutsche Demokratische Republik, in die Tschechoslowakei und nach Ungarn; wir durften nach Nordkorea, China, nach Kuba, nach Guinea, nach Süd-Jemen, nach Somalia, in den Kongo, nach Madagaskar, Kambodscha, Laos, Äthiopien, Angola, Mosambik, Benin, Grenada, Nicaragua, Simbabwe. Und als ich eingeschult wurde, durften wir auch nach Vietnam. Und bald sollten wir auch nach Afghanistan dürfen.

Also hatten wir genug Freunde – und die Länder mit dem bösen Kapitalismus, in die wollten wir eh nicht fahren. Was wollten wir denn in dem dekadenten, verzogenen, dem Untergang geweihten Westeuropa, ganz zu schweigen von dem allerübelsten Amerika? Was sollten wir in Frankreich, wo man Schnecken aß, oder in Italien, wo es nur so von Mafiosi wimmelte und man einen alten Mann in einem weißen Kleid anbetete? Was sollten wir schon in Lateinamerika (Kuba ausgenommen), wo es Ungeziefer und Urwälder gab? Was sollten wir in Japan, wo man Frauen viel zu kleine Schuhe anzog, damit ihre Füße klein blieben? Was sollten wir in Skandinavien, wo man nicht einmal ordentlich saufen konnte? Was sollten wir im gefährlichen Amerika, wo Drogen auf den Straßen lagen und alle Menschen, die nicht reich waren, depressiv wurden und reihenweise aus den Fenstern sprangen, weil sie eben kein Väterchen Staat hatten, das sich um sie kümmerte?! Wo es von Schwarzen und Juden nur so wimmelte? Ja, sicherlich hatte man im kapitalistischen Ausland schon auch ein paar nette Sachen, coole Musik und Filme, man musste nicht heiraten, um Sex zu haben oder eine gemeinsame Wohnung zu bekommen, sie hatten dort eindeutig die besseren Klamotten. Und um irgendein Visum zu bekommen, musste man dort nicht wochenlang vor einem Intourist-Büro campieren, und für ein Auto mussten sie auch nicht jahrelang auf einer Warteliste stehen. Aber was machte das schon? Freiheit war ja schließlich eine Definitionssache. Sie durften immerhin nicht mehr nach Vietnam und bald auch nicht mehr nach Afghanistan. Wir schon.

Für Daria und mich war in erster Linie die Familie die Sowjetunion. Unsere Familie und eine berühmte Tante im Ausland, die, wie wir lang genug glaubten, von den bösen Kapitalisten in den Westen verschleppt worden war, warum sonst hätte sie aus ihrer Heimat fliehen sollen? Die Sowjetunion: Das waren unsere Freunde. Unsere Straßen. Unsere Höfe. Unsere Parks. Unsere Spiele. Unsere Vergangenheit. Und selbstverständlich die Zukunft. (Was gab es sonst für Alternativen?)

Mari Bekauri

DIE KINDHEIT, WIE SIE IN WIRKLICHKEIT IST

Für Anni, von der ich lernte,dass man selbst auch in ein grünes Heft schreibt,wenn alle in ein grünes Heft schreiben.

Von den Mädchen spielte nur ich Krieg. Kaum dass die Schulglocke läutete, rannte ich zusammen mit den Jungs über den Flur hinaus auf den Hof. Wir teilten uns in zwei Mannschaften auf und traten gnadenlos aufeinander ein. Dabei spielte es keine Rolle, wer zu welcher Mannschaft gehörte. Es konnte leicht passieren, dass der Mitstreiter von heute morgen schon dein Feind war. Und dann gab es kein Erbarmen. Die anderen Mädchen saßen derweil im Klassenraum und malten Blumen oder spielten mit Puppen. Ich konnte sie allesamt nicht ausstehen. Eigentlich mochte ich auch die Jungs nicht. Es war, als hätte ich eine Art geheime Abmachung mit ihnen getroffen. Unsere Lehrerin Neli bestrafte nur die Jungs für die Raufereien, mich dagegen nie. Jedes Mal, wenn sie vorn aufgereiht an der Tafel standen und versuchten, mit ihren hängenden Köpfen Reue zu zeigen, die sie in Wirklichkeit nicht empfanden, und die Klassenlehrerin sagte: »Mari kann es sich leisten, ein bisschen wild zu sein, sie ist schließlich Klassenbeste«, dann sahen mich alle an, und jeder Einzelne von ihnen hasste mich in diesem Moment mehr als alles andere auf der Welt. Und ich hasste sie auch, weil sie nun alle zu meinen Feinden geworden waren und ich ihnen allein gegenüberstand. Aber Angst hatte ich nie. Im Gegenteil: Der Hass gab mir Kraft, und ich hätte jeden Einzelnen von ihnen ohne zu zögern erwürgt.

Gleich neben der Schule gab es eine Schlucht, und nach dem Unterricht gingen wir alle dorthin, alle, wie gesagt, außer den Mädchen. Wir fingen Frösche und quälten sie. Wer die meisten Frösche tötete, war der Coolste. Am Ende verglichen wir unsere Ausbeute. Ich gewann fast immer, und wieder kam der Moment, wo alle mich mit diesem Blick anstarrten und ich wusste, dass Angst nicht erlaubt war, Angst war ein unverzeihlicher Fehler.

Auf dem Nachhauseweg sammelte ich verstohlen alles Brennbare in meiner Tasche. Zu Hause hatten wir nämlich einen Kamin, neben dem jedoch nie Holz lagerte; meine Mutter saß dort oft mit geröteten Augen. Vater bekam ich selten zu Gesicht. Einen Vater hatte ich nur nachts, und dann bestand er nur aus schweren Schritten auf der Treppe oder dem Gebrüll aus dem Nebenzimmer.

Unsere Klassenlehrerin, Fräulein Neli, fragte mich jeden Tag ab und sagte jedes Mal, ich sei die Intelligenteste in der Klasse, sie habe noch nie solch eine Schülerin gehabt, und dass ich sogar im Sportunterricht die Beste sei. Ich fühlte weder Freude noch Begeisterung. Ich fand es absolut normal.

Die Lehrer beneidete ich sehr, weil ich nämlich glaubte, dass nur sie auf den Lokus gehen durften. Den Lokus stellte ich mir als großen, schönen Raum vor, wo sehr viel Spielzeug herumlag, aber keine Puppen. Den Zweck eines Lokus begriff ich erst, als ein Mitschüler von mir, Lascha, mich einmal auslachte und sagte:

»Du hast nicht das, was wir Jungs haben.«

»Was denn?«, fragte ich verwundert.

»Soll ich’s dir zeigen?«

Ich nickte.

»Nicht jetzt. In der Pause. Aber auf dem Lokus. Sonst ist es mir peinlich.«

»Ja, aber wir dürfen dort doch gar nicht rein!«, sagte ich noch erstaunter.

»Mann, bist du blöde! Alle dürfen dort rein.«

Ich konnte das Ende des Unterrichts kaum abwarten. Ich freute mich, dass auch ich dieses große, schöne Zimmer bald zu Gesicht bekommen würde. Kaum hatte es geklingelt, nahm ich Lascha bei der Hand, und wir rannten hinaus auf den Flur. Er sagte, ich solle die Augen schließen. Dann hörte ich die Tür ächzen und machte die Augen in Erwartung von etwas Großartigem auf. Lange starrte ich die schmutzigen, verschmierten Wände an und fühlte, wie etwas in meinem Innern kaputtging.

»Was ist denn das hier? Das hab ich mir ganz anders vorgestellt.«

»Was?« Lascha drehte sich zu mir um. Er lachte.

»Nichts!«

»Wie, nichts! Was ist?«

»Ich sagte doch, nichts und Schluss!«

»Gut. Wir gehen dort mal rein.«

»Und was gibt es dort?«

»Du bist so dumm. Was soll es da schon geben! Wo man pinkeln kann!« Er lachte jetzt noch lauter.

»Du bist so ein Idiot, weißt du das?«, knurrte ich ihn an.

»Ist ja gut, komm mit.«

Er nahm mich bei der Hand und führte mich hinein. Mir wurde schlecht, so sehr stank es. Ich hielt mir die Nase zu und fragte, ob wir nicht umdrehen wollten.

»Aber du wolltest es doch unbedingt sehen!«, gab er siegesgewiss zurück.

»Äh, dann zeig’s schnell, die Luft hier ist zum Ersticken.«

Er nickte. Dann zog er sich die Hose runter.

»Hier, schau mal! Hast du auch so was?«

Ich blickte ihn entgeistert und sprachlos an.

»Sag schon, hast du so was auch?«

»Pfui, wie hässlich!«, sagte ich schließlich.

»Zeig mal bei dir!«

»Ich hab nichts!«

»Aber natürlich! Nur etwas anderes.«

»Habe ich nicht!«

»Ich weiß aber, dass du da was hast.«

»Na gut. Ich zeig’s dir. Das bleibt aber unser Geheimnis, ja?«, ermahnte ich ihn.

Er nickte erneut. Aber nun lachte er nicht mehr. Dann zog ich die Hose runter und beobachtete ihn, wie er mich interessiert zwischen den Beinen musterte.

»Wie pinkelt ihr Mädchen eigentlich?«

»Ganz normal.«

»Ja, aber wo kommt es raus, ich kann es nicht sehen.«

»Lass uns gehen!«, sagte ich und zog meine Hose wieder hoch. Sein Blick war unschlüssig. Er nickte noch einmal und zog ebenfalls die Hose hoch.

An dem Tag spielte keiner von uns in der Pause Krieg.

An dem Tag sagte keiner ein Wort.

An dem Tag weigerte ich mich, im Sportunterricht beim Wettkampf mitzumachen.

An dem Tag ging ich nicht mal mit auf Froschjagd.

Nach Unterrichtsschluss rannte ich nach Hause und vergaß in der Hektik vollkommen, etwas zum Heizen zu sammeln.

Als ich am nächsten Tag in die Schule kam, lauerte Lascha mir schon am Eingang auf, packte mich und zog mich in eine Ecke. »Willst du meine Freundin sein?«, fragte er mich. Ich errötete, nickte aber. Wir gingen Hand in Hand hinauf in den Klassenraum. Seitdem kämpften wir immer auf derselben Seite, egal, wer der Feind war.

Eines Tages kam die Lehrerin mit einem fremden Kind in die Klasse. Sie blieb mitten vor der Tafel stehen und sagte: »Kinder, das ist eure neue Mitschülerin Anni.« Wir saßen alle still da. »Sie ist ab heute in eurer Klasse und ich hoffe, dass ihr euch schnell anfreundet, ja?« – »Jaaaa!«, stöhnten die Mädchen im Chor. Der Rest schwieg. Dann wandte sich Neli an die Neue und sagte: »Komm, setz dich in die letzte Bank, neben Mari!« Lächelnd zeigte sie auf mich. Irgendwie war ich beleidigt. Das Mädchen näherte sich, stellte ihre überdimensionale Mappe auf das Pult und setzte sich neben mich. Sie holte einen Zeichenblock und Buntstifte aus der Mappe. Ich schielte zu ihr hinüber und war neidisch auf ihr Heft mit dem schönen Umschlag. Während des Unterrichts sprachen wir kein Wort miteinander. Wir sahen uns nicht einmal an. Als es Zeit wurde, nach Hause zu gehen, fragte sie mich:

»Wollen wir zusammen nach Hause?«

Ich war ein bisschen verlegen, dann ärgerte ich mich sogleich darüber und schüttelte den Kopf.

»Warum denn nicht?«, wollte sie wissen.

»Ich habe keine Zeit. Ich gehe noch auf Froschjagd.«

»Wohin?«

»Auf Froschjagd.«

»Ich komme mit!«

»Darfst du aber nicht!«, antwortete ich grob und ging.

An diesem Tag war es Tato, der die meisten Frösche tötete und deshalb zum coolsten Jungen gekürt wurde.

Anni brachte nie Puppen mit in die Schule. Daraus schloss ich, dass sie mehr drauf hatte als die anderen Mädchen. Aber ich fühlte mich trotzdem nicht zu ihr hingezogen. Obwohl wir in einer Bank saßen, sprachen wir sehr selten miteinander und wenn doch, dann war es Anni, die redete. Das Einzige, was mir an ihr gefiel, war ihr Lachen. Sie lachte so, dass man zwangsläufig mitlachen musste. Und noch etwas mochte ich: ihre Hefte mit den bunten Umschlägen. Auf jeden Fall war Anni das erste Mädchen in der Klasse, mit dem ich zu tun hatte. Auch wenn ich in den Pausen weiterhin zum Kämpfen rausrannte und sie mich dann nicht mehr interessierte. Auf dem Schlachtfeld hatte sich auch etwas geändert. Ich merkte, dass es mit der Aufteilung nicht mehr gerecht zuging, auf Laschas und meiner Seite kämpften nun deutlich weniger Mitstreiter als im gegnerischen Lager. Am Ende blieben nur noch mein Freund und ich übrig. Kein einziger Junge wollte noch auf unserer Seite mitmachen. Doch wir kämpften weiter. Wir schlugen mit Fäusten und Füßen wild um uns, kassierten aber selber noch mehr. Trotzdem gestanden wir uns nie ein, dass wir astrein verprügelt wurden.

Einmal, als ich nach verlorener Schlacht in den Klassenraum zurückkam und während des Unterrichts krampfhaft versuchte, mir den Schmerz zu verbeißen, nahm Anni eines ihrer bunten Hefte aus der Mappe und schob es mir zu. »Ist für dich«, flüsterte sie. Die Verlockung, es anzunehmen, war sehr groß, aber ohne sie anzuschauen, schob ich das Heft zu ihr zurück. »Wieso nicht?«, fragte sie. Ich rührte mich nicht.

Nach diesem Tag brachte Anni nie wieder bunte Hefte mit in die Schule und hatte wie alle anderen auch immer nur die gewöhnlichen grünen dabei.

»Das dort ist Mari«, hörte ich unsere Lehrerin Neli nach dem Unterricht zu einer Frau sagen, und dann blickten beide Frauen zu mir herüber. Die Frau, die ich noch nie gesehen hatte, trat lächelnd auf mich zu. Ich ließ sie nicht aus den Augen.

»Guten Tag!«, sagte sie. »Ich bin Annis Mutter.«

»Guten Tag!«, erwiderte ich.

»Hast du nicht Lust, uns heute zu besuchen?«, fragte sie. Sie lächelte immer noch.

Ich zuckte die Schultern.

»Sehr gut. Dann lass uns gehen, zu Hause haben wir leckeren Kuchen. Anni mag dich sehr. Sie redet ununterbrochen von dir.« Sie nahm mich bei der Hand und führte mich hinaus. Vor der Tür wartete Anni. Ich wollte von der Frau loskommen, deshalb rannte ich zu ihr hin.

»Ich muss nach Hause!«, flüsterte ich ihr zu.

»Bitte, nur ganz kurz!« Sie wirkte enttäuscht.

Ihr Vater hatte ein schönes Auto. Wir setzten uns hinten rein und schwiegen den ganzen Weg über. Annis Haus war auch schön, mit farbenfrohen Zimmern und viel Spielzeug. Genauso, wie ich mir Lokusse immer vorgestellt hatte. Es war das erste Mal, dass ich etwas spielte, das nichts mit Kämpfen zu tun hatte. Später brachte mich Annis Vater nach Hause und kaufte mir unterwegs noch Schokolade. Ich versteckte sie in meiner Mappe und verließ bis zum Abend nicht mehr mein Zimmer. Etwas nagte an mir, und ich verstand nicht, weshalb ich immer wieder rot wurde, obwohl ich allein im Zimmer war. Schließlich holte ich die Schokolade aus der Mappe und ging auf den Balkon. Es schmerzte, aber ich schmiss die Schokolade hinunter.

Am Abend überredete ich meine Mutter, dass Vater mit mir und Anni in den Zirkus ging. »Wer ist denn Anni?«, fragte sie. »Meine Freundin.« Zum ersten Mal nannte ich sie so.

Wir standen vor dem Zirkuseingang. Vater wühlte in seinen Taschen. Es dauerte sehr lange, die Leute gingen alle schon rein. Wir dagegen standen draußen und warteten auf meinen Vater. Er sagte, dass er das Geld wohl verloren hätte, also fuhren wir zurück. Im Treppenhaus ließ er uns stehen und machte selbst kehrt. Damals verstand ich nicht, was passiert war. Ich verstand es auch dann nicht, als die Mutter von der Sache erfuhr und anfing zu weinen. Erst am Abend, als ich meinen Vater, das heißt seine schweren Schritte auf der Treppe und sein Gebrüll aus dem Nachbarzimmer hörte, verstand ich alles. Jetzt aber standen Anni und ich allein im Treppenhaus.

»Das macht nichts. Ich mag sowieso keine Akrobaten«, sagte Anni. Ich antwortete nicht. Es wäre mein erster Zirkusbesuch gewesen. Anni drückte mir einen Kuss auf die Wange, lächelte und ging nach Hause.

Nach ein paar Tagen rief mich Fräulein Neli zu sich nach vorne und begleitete mich hinaus. Vor der Tür wartete Annis Mutter. Das wunderte mich. Sie drückte mich und tätschelte mir den Kopf.

»Kannst du mir einen Gefallen tun?«

Ich zuckte die Schultern, wie ich es immer tat, wenn sie mit mir redete.

»Hör zu, Mari! Anni braucht eine Brille. Wir waren beim Arzt, und er sagte, wenn sie keine Brille trägt, wird sie irgendwann erblinden. Verstehst du?«

»Ja.«

»Anni sagt aber, weil du keine Brille trägst, will sie auch keine. Darum bitte ich dich, sag ihr, dass sie die Brille tragen soll, einverstanden?«

»Ja.«

»Vielen Dank. Du kannst jetzt zurück in den Unterricht. Du sagst es ihr aber wirklich, ja?«

»Ja.«

»Sehr gut.«

»Wird sie echt erblinden, wenn sie die Brille nicht trägt?«

»Ja.«

»Oh. Verstehe.«

Sie tätschelte mir noch einmal den Kopf und ging. Ich kehrte ins Klassenzimmer zurück und setzte mich auf meinen Platz.

»Anni, Brillen sind schick«, sagte ich nach dem Unterricht zu ihr.

Anni dachte nach. »Wirklich?«

»Ja.«

Und Anni setzte ihre Brille auf.

Anni setzte ihre Brille auf, und mir gefiel die rote Fassung, hinter der Annis große Augen noch größer erschienen. »Eule, Eule!«, riefen die anderen Kinder und streckten ihr die Zunge heraus. Am Anfang beachtete ich sie nicht, aber als Tato »Eule« an die Tafel schrieb und daraufhin die ganze Klasse lachte, bemerkte ich, dass Anni sich nicht mehr traute aufzuschauen, und ich wurde sehr wütend.

»Tu das nie wieder! Hörst du?«, brüllte ich Tato an.

»Bist du etwa auf ihrer Seite?« Er drehte sich zu mir um, und sein Grinsen machte mich noch wütender.

»Ja. Tu das nie wieder!«

»Ach, was du nicht sagst!«

Ich stand auf. »Hört mal alle her! Wenn einer von euch Anni noch mal ›Eule‹ nennt, zerquetsche ich ihn wie einen Frosch. Habt ihr verstanden?«

Tato starrte mich an. »Was spielst du dich denn so auf! Dein Vater ist doch nur so ein blöder Junkie.«

»Was?«

»Das hast du genau gehört!«

Tato lachte. Andere lachten mit. Ich wusste nicht, was »Junkie« bedeutet, ahnte aber, dass es mit den schweren Schritten auf der Treppe und dem Gebrüll aus dem Nachbarzimmer zu tun haben musste. Ich sprang auf und stürzte mich auf ihn. Mein Tritt traf ihn mitten in den Bauch. Er fiel hin. An den Rest kann ich mich nicht mehr erinnern. Ich weiß nur, dass ich so lange mit voller Kraft auf ihn einprügelte, bis Fräulein Neli mich nach draußen zerrte. Anni folgte ihr. Sie weinte. »Hör auf zu heulen!«, brüllte ich sie an. Sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen, und das ärgerte mich noch mehr. »Du darfst nie heulen, hörst du, niemals!«, schrie ich sie an, während ich nach unten geschleppt wurde. Irgendwann erlaubte mir die Klassenlehrerin, nach Hause zu gehen. In diesem Moment hasste ich die ganze Welt, und ich hätte jeden Einzelnen am liebsten umgebracht.

Als ich am nächsten Tag in die Schule kam, spürte ich sofort, dass etwas anders war. Die Jungs sahen mich komisch an. Einige Male ertappte ich sie dabei, wie sie flüsterten und heimlich zu mir herübersahen. An diesem Tag schlug keiner vor, Krieg zu spielen, und in der Pause blieben wir alle im Klassenzimmer sitzen. Wahrscheinlich würden wir auch nicht Frösche jagen gehen. Also ging ich nach der Schule direkt nach Hause. Als ich hinter der Schlucht abbiegen wollte, sah ich die Jungs aus meiner Klasse. Sie standen alle schweigend da und starrten mich ausdruckslos an. »Bleib stehen!«, rief Tato. Ich ging weiter. »Bleib doch mal stehen!«, wiederholte er. Ich wusste ganz genau, was jetzt passieren würde, blieb aber trotzdem nicht stehen. Als ob ich die Situation noch verschärfen wollte, damit sie mich mit ihrem Hass auffressen würden.

Es gelang mir, mein Gesicht mit den Händen zu schützen. Dies war unser letzter Kampf. Nein, eher war es ein Krieg, denn ich stand ihnen ganz allein gegenüber. Lascha war auch auf ihrer Seite. Ich erzählte später niemandem davon. Ich schluckte es einfach hinunter …

»Ich kann nichts dafür! Sie haben mich gezwungen. Sie sagten, wenn ich nicht auf ihrer Seite bin, würden sie es mir heimzahlen.«

»Du hast Schiss bekommen!«

»Nein, es war nur –«

»Doch, du hast Schiss bekommen!«

»Ja, ich hab Schiss bekommen.«

»Aber du hättest keinen Schiss bekommen dürfen!«

Ich spuckte ihn an. Er gab mir eine Ohrfeige. Ich spuckte ihn wieder an.

Seitdem habe ich ihn nicht wiedergesehen.

Er hat die Schule gewechselt.

Anni fehlte vier Tage hintereinander. Fräulein Neli sagte, dass ihr Haus gebrannt hätte und Anni im Krankenhaus liege. Bald würde sie nach Amerika gebracht und dort operiert werden, und dann würde sie wieder gesund werden. Sie wurde aber nicht mehr gesund. Sie ist zwei Tage später gestorben. Auch das erfuhren wir von der Lehrerin. Aber anders. Nämlich so, dass Anni in den Himmel geflogen sei und nun bei Gott wohne, dass Gott ihr Wasser zum Trinken reiche, sie füttere und bade und dass wir zu ihr nach Hause gehen und Anni sehen sollten, bevor ein Loch in die Erde gegraben und eine Kiste mit Anni darin in diesem Loch versenkt würde. Also gingen wir hin, um Anni in der Kiste zu sehen, und ich verstand nicht, warum all die Leute, die um Annis Kiste herum saßen, weinten …

Annis Fehlen bemerkte ich erst an ihrem leeren Stuhl in meiner Bank. Und bald drückte sich Annis Fehlen auch in meinem Schweigen während des Unterrichts aus, genau wie zwischen den Stunden, in den Pausen und nach dem Unterricht, wenn ich auf direktem Weg nach Hause ging. Gleich am ersten Tag ohne Anni antwortete ich nicht mehr auf die Fragen der Lehrerin und ging auch nicht mehr auf Froschjagd. Die Jungs spielten ab und zu noch Krieg, mit der Zeit aber auch immer seltener. Ich sprach fast nie mit ihnen, ich sprach überhaupt kaum noch. Ich wusste, dass ich keinen Verbündeten mehr hatte, ich war nun eine ganz gewöhnliche Schülerin in der hintersten Bank. Nichts weiter.

Einmal teilte uns Fräulein Neli mit, dass Annis Mutter in die Schule kommen würde, weil an dem Tag Annis Geburtstag war.

Annis Mutter trug Schwarz, und sie schwieg. Sie hatte uns eine Torte mitgebracht. Jeder bekam ein Stück. Es waren kleine Stücke, aber die Torte war lecker. Ich hätte gern noch mehr gegessen, aber ich traute mich nicht zu fragen. Fräulein Neli sagte, wir sollten aufstehen und für Anni beten. Wir standen alle auf. Als ich aufschaute, sah ich, dass alle zu mir blickten. Es war aber nicht derselbe Blick, mit dem sie mich ansahen, wenn sie mich hassten und ich ihnen allein gegenüberstand. Es war ein anderer Blick, den ich bis heute nicht habe ergründen können.

Annis Mutter nahm mich mit in die Kirche. Sie gab mir eine Kerze und bat mich, etwas zu Anni zu sagen. Ich stellte die Kerze vor die Ikone. Ich wusste nicht, was ich Anni sagen sollte. Ich hatte nichts zu sagen. Mit sehr viel Mühe fiel mir doch noch etwas ein: »Anni! Ich muss dir etwas gestehen: Eigentlich wollte ich damals das Heft gern behalten. Sei bitte nicht sauer, dass ich es nicht genommen habe«, sagte ich leise und war überzeugt, dass sie mich hörte.

Fräulein Neli gab mir in allen Fächern die schlechteste Note. Sie sagte, ich sei ein schreckliches Kind, weil ich nichts lernte, und dass ich ihre Erwartungen nicht erfüllt hätte, dass ich mich schämen sollte, zutiefst schämen sollte, und dass kein einziger Schüler mit mir befreundet sein wollte und dass ich das auch verdiente. Ich verstand nicht, warum die Lehrerin sich so ärgerte. Denn ich dachte doch, dass ich mich richtig verhalte und auch mein Wunsch, mich unsichtbar zu machen, richtig wäre. Obwohl ich die Klassenarbeiten im Herbst mit Erfolg nachschrieb und ich in die fünfte Klasse versetzt wurde, erwiderte Fräulein Neli meinen Gruß nicht mehr. Immer, wenn sie mich sah, schaute sie weg. Ich gewöhnte mich daran, dass ich nicht mehr an ihrem Raum vorbeimusste, denn ich hatte nun eine neue Klassenlehrerin.