Bitterherz - Samuel Bjørk - E-Book
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Samuel Bjørk

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Beschreibung

Ein alter Mann fährt auf einer einsamen Straße in den norwegischen Bergen. Plötzlich taucht aus dem Dunkeln eine Gestalt auf, und er schafft es gerade noch zu bremsen. Noch unter Schock kann er nicht glauben, was er sieht: Vor ihm steht ein kleiner Junge mit einem Geweih auf dem Kopf. Vierzehn Jahre später wird in einem nahegelegenen Bergsee eine Leiche gefunden. Die junge Frau trägt das Kostüm einer Balletttänzerin, und am Ufer steht eine Kamera, in deren Linse eine 4 eingeritzt ist. Kommissar Holger Munch und seine Kollegin Mia Krüger stehen vor einem Rätsel. Dann taucht eine weitere Kamera auf – und ein weiteres Opfer ...

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Seitenzahl: 673

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Buch

Ein alter Mann fährt auf einer einsamen Straße in den norwegischen Bergen nach Hause. Es ist kalt und dunkel, doch plötzlich sieht er eine Gestalt im Licht seiner Scheinwerfer. Er schafft es gerade noch zu bremsen. Noch unter Schock kann er nicht glauben, was er sieht: Vor ihm steht ein kleiner Junge mit blauen Lippen und einem Geweih auf dem Kopf … Vierzehn Jahre später wird ganz in der Nähe in einem Bergsee eine Leiche gefunden. Die junge Frau ist wie eine Balletttänzerin gekleidet, ihre Schuhe sind völlig zerfetzt. Und im angrenzenden Wald steht eine Kamera, auf deren Linse die Nummer 4 eingeritzt ist. Als auch noch eine Seite aus dem Kinderbuch »Die Brüder Löwenherz« auftaucht, ist den hinzugezogenen Ermittlern Holger Munch und Mia Krüger klar, dass der Mörder ihnen etwas sagen will. Und dann gibt es ein weiteres Opfer …

Autor

Hinter dem Pseudonym Samuel Bjørk steht der norwegische Autor, Dramatiker und Singer-Songwriter Frode Sander Øien. Er veröffentlichte zwei hochgelobte Romane sowie sechs Musikalben, bevor er seinen ersten Thriller »Engelskalt« schrieb, der auf Anhieb ein internationaler Bestseller wurde. Samuel Bjørk bei Goldmann:

Engelskalt. Ein Fall für Kommissar Munch 1 Federgrab. Ein Fall für Kommissar Munch 2 Bitterherz. Ein Fall für Kommissar Munch 3

Samuel Bjørk

Bitterherz

Der dritte Fall für Kommissar MunchThriller

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Die norwegische Originalausgabe erschien 2018 unter dem Titel »Gutten som elsket rådyr« bei Vigmostad & Bjørke, Norwegen.

Dieses Buch wurde mit finanzieller Unterstützung von NORLA übersetzt.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Data-Minings nach § 44b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2019

Copyright © der Originalausgabe 2018 by Samuel Bjørk

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2019 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published by agreement with Ahlander Agency.

Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München

Umschlagmotiv: plainpicture / Design Pics / Patrick Endres; FinePic®, München; Lee Avison/ Trevillion Images

Redaktion: Nike Karen Müller

AG · Herstellung: kw

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 978-3-641-22319-9V004

www.goldmann-verlag.de

Am ersten Weihnachtstag 1999 fuhr ein Rentner auf dem Weg von Oslo nach Hemsedal durch die Berge. Der einundsiebzig Jahre alte Witwer hatte an Heiligabend seine Tochter besucht. Er fuhr gern diese Strecke, aus zwei Gründen. Erstens mochte er die Stadt nicht. Es war immer schön, den Menschen und ihren ewigen Ansprüchen zu entkommen. Der zweite Grund war ganz einfach der, dass er unterwegs von der ungeheuer schönen Natur umgeben war. Wald, Heide, Berggipfel, Seen, zu jeder Jahreszeit gleichermaßen prachtvoll. Norwegen vom Feinsten. Echte Schönheit, so weit das Auge reichte. In diesem Jahr war es früh Winter geworden, und wenn sich der magische Schnee ausgebreitet hatte, war es, wie durch eine stille, schöne Postkarte zu fahren. Normalerweise. Der alte Mann sah nicht mehr gut, und er hatte unbedingt früh losfahren wollen, um die Rückfahrt genießen zu können. Bei Tageslicht. Aber nein, diesmal war er nicht rechtzeitig weggekommen. Dunkelheit. Die mochte er nicht. Zu Hause vor dem Kamin zu sitzen, das war das eine, dann war alles gut, dann hatte er durchaus nichts dagegen, dass der Erdball sich gedreht hatte und dass er nun von der Nacht umgeben war, nein, nein, das konnte richtig gemütlich sein. Sich ein Gläschen mit etwas Leckerem einschenken. Sich unter einer Decke auf dem Sofa verkriechen, während draußen das nächtliche Tierleben erwachte und die dicken Holzwände vor Kälte knackten. Aber im Auto? So weit weg von zu Hause? Nein, das gefiel ihm nicht. Der alte Mann fuhr jetzt langsamer und schob sein Gesicht noch näher an die Windschutzscheibe. Er hatte für sein Auto neue Scheinwerfer gekauft. Kräftige Leuchten für Notfälle wie diesen, und die schaltete er ein, als die Wolken über den Himmel glitten und das letzte kleine, schwache Licht bedeckten, das der Mond noch geliefert hatte. Plötzlich eine eiskalte, bedrückende Finsternis. Der alte Mann holte tief Luft und spielte für einen Moment mit dem Gedanken, anzuhalten und zu warten. Idiotisch, natürlich. Großer Gott. Draußen waren es fast zwanzig Grad unter null, und er war weit vom nächsten Ort entfernt. Er musste einfach durchhalten. Sehen, wie er zurechtkam. Der alte Mann wollte gerade das Radio einschalten, um einen Sender zu finden, der ihn wach halten konnte, als die Scheinwerfer plötzlich etwas trafen, was ihn dazu zwang, das Bremspedal durchzutreten.

Verdammt.

Eine Gestalt vor ihm auf der Straße.

Was zum …?

Fünfzig Meter.

Zwanzig Meter.

Zehn Meter.

Die Reifen quietschten, er spürte sein Herz im Hals pochen, er umklammerte das Lenkrad, seine Fingerknöchel waren weiß, die Welt schien vor seinen Augen einzustürzen, ehe der Wagen endlich zum Stillstand kam.

Der alte Mann rang um Atem.

Was zum Teufel?

Auf der Fahrbahn vor ihm stand ein kleiner Junge.

Ohne sich zu bewegen.

Mit blauen Lippen.

Mit einem Rehgeweih auf dem Kopf.

• Teil I •April 2013

• 1 •

Der zehn Jahre alte Junge mit dem Lockenkopf hockte auf der hinteren Sitzbank in dem kleinen Ruderboot und versuchte, so still zu sein, wie er konnte. Er schaute kurz zu seinem Vater hinüber, der an den Rudern saß, und spürte, wie ihm innerlich ganz warm wurde. Bei Papa zu Besuch. Endlich wieder. Der letzte Besuch hier oben war schon eine Weile her, Mama hatte nämlich gehört, was da passiert war. In Papas Haus weit oben im Wald, fast im Gebirge, dem Haus, das Mama als Bruchbude bezeichnete. Er hatte zu erklären versucht, dass das keine Rolle spielte, weil Papa nicht solche Mahlzeiten kochte wie Mama. Und dass er im Haus rauchte und im Wohnzimmer ein Gewehr hatte. Damit wollte er doch Schneehühner schießen, keine Menschen, aber Mama hatte nicht hören wollen. Keine Besuche mehr, sie hatte sogar die Polizei angerufen, oder vielleicht nicht die Polizei, sondern Leute, die gekommen waren und am Küchentisch mit ihm geredet und Sachen in ein Notizbuch geschrieben hatten, und danach hatte er Papa nicht wiedergesehen. Bis jetzt.

Der Junge hätte gern gesagt, dass er seit dem letzten Mal Bücher gelesen hatte. Über Angeln und Fischen. In der Bibliothek. Dass er jetzt die Namen von vielen Fischen kannte, Lavaret, Saibling, Lengfisch, Forelle, Lachs, und dass er wusste, dass es in solchen Seen wie diesem keine Hechte gab, weil sich der Hecht gern im Schilf versteckt. Schilf wuchs hier nicht, hier reichte das Moor bis ans Ufer, aber er hielt den Mund, denn das hatte er gelernt. Beim Angeln soll man eigentlich gar nichts sagen, und wenn doch, dann ganz leise und nur, wenn Papa zuerst etwas sagt.

»Erste Tour in diesem Jahr auf dem Svarttjønn«, flüsterte der Vater und lächelte ihn durch seinen Bart hindurch an.

»Immer von Neuem magisch«, flüsterte der Junge zurück und spürte wieder den schönen warmen Strom durch seinen Körper laufen, als der Vater ihm zuzwinkerte.

Der Junge hatte oft versucht, es Mama zu erklären. Das mit Papa. Dass er so gern hier war. Die Vögel vor dem Fenster. Den Duft der Bäume. Dass Geld nicht immer wichtig war, dass es nicht Papas Schuld war, dass niemand seine Zeichnungen kaufen wollte, dass man essen konnte, ohne sich vorher die Hände zu waschen, ohne Tischdecke, aber sie wollte nicht hören, und manchmal war es so schwer, die richtigen Wörter zu finden, deshalb hatte er einfach aufgehört, das zu versuchen.

Bei Papa sein.

Er hob den Blick zu den Wolken und hoffte, sie würden bald verschwinden. Es sollte sternenklar sein. Dann kam der Fisch. Der Junge schaute wieder zum Vater hinüber, zu den starken Armen, die still die Ruder durch das fast kohlschwarze Wasser zogen, und er hätte gern gesagt, dass auch er ein bisschen trainiert hatte, bald würde er es schaffen, das Boot zu rudern, aber er sagte nichts. Nicht im Fitnesscenter, wo Mama hinging, da hatten Kinder keinen Zutritt, er hatte es zu Hause in seinem Zimmer gemacht, seit fast einem halben Jahr so ungefähr jeden Nachmittag Liegestütze und Push-ups, und ja, er hatte sich mehrmals im Spiegel betrachtet, aber seine Muskeln waren nicht sehr viel größer geworden. Dennoch, er hatte immerhin einen Plan. Im nächsten Sommer vielleicht. Dann könnte es doch endlich wirken. Der Junge hatte sich vorgestellt, wie es sein würde. Er würde mit dem Rucksack auf dem Rücken durch das Tor kommen, vielleicht mit einem der T-Shirts, wie die Männer in Mamas Fitnesscenter welche hatten, mit großen Armen, dicken Muskeln, die das Boot problemlos rudern konnten, und dann könnte Papa auf der Rückbank sitzen, während er selbst die Riemen durch das Wasser zog.

»Ohne Bier gibt’s keinen Angeltörn«, flüsterte der Vater und zwinkerte noch einmal, während er sich zwischen seine Knie bückte und noch eine von den grünen Dosen öffnete, die unten im Boot lagen.

Der Junge nickte zur Antwort, obwohl er wusste, dass das zu den Dingen gehörte, über die Mama mit den Leuten gesprochen hatte, als die zu Besuch gekommen waren: Dass Papa zu viel trank, und dass das verantwortungslos war. Der Svarttjønn. Der geheime schöne See oben im Gebirge, den nicht so viele kannten, und jetzt waren sie beide hier draußen, deshalb versuchte er, nicht mehr daran zu denken. Dass Mama gesagt hatte, dass das nicht mehr vorkommen würde. Besuche bei Papa. Dass das hier vielleicht das letzte Mal war.

»Der erste Wurf?«, flüsterte der Vater und legte die Ruder ins Boot.

»Fliege oder Kunstköder?«, flüsterte der Junge mit den Locken zurück und wusste, dass das hier wichtig war, auch wenn er noch nicht so ganz begriffen hatte, weshalb.

»Was meinst du?«

»Kunstköder?«, fragte der Junge ein wenig unsicher, dann merkte er, wie angenehm seine Wangen kribbelten, als der Vater nickte, ihn anlächelte und die Dose öffnete, die neben ihm auf der Ruderbank stand.

»Zu dunkel für Fliege, findest du nicht auch?«

»Finde ich auch«, sagte der Junge, nickte und schaute wieder zu den Wolken hoch, tat einen Augenblick so, als habe er nicht bemerkt, dass der Himmel nicht so sternenklar war, wie sie es sich gewünscht hatten.

»Hier«, sagte der Vater, als er den bunten Haken an der Angelschnur befestigt hatte.

Ein feierlicher Augenblick, als er die Angelrute übernahm, die der Vater ihm gereicht hatte, und obwohl der Junge wusste, was der Vater sagen würde, gab er vor, er lerne etwas Neues, als der Vater nun flüsterte: »Kurze Züge, damit wir den Boden nicht erreichen, okay?«

»Okay«, sagte der Junge und schwenkte die Rute über das Dollbord.

Die Angelrolle festhalten. Die Angelrute heben. Zurück. Genau im richtigen Augenblick loslassen, und der Junge spürte ein weiteres Mal, wie die Wärme durch den Körper strömte, als er den Blick des Vaters bemerkte, der ihm sagte, dass er alles richtig gemacht hatte, während der bunte Haken durch die Luft flog und mit einem fast lautlosen Platschen das schwarze Wasser traf.

»Nicht zu viel«, flüsterte der Vater und nahm sich noch ein Bier. »Zupfen. Vorsichtig.«

Der Junge tat, wie ihm geheißen, und plötzlich hätte er Mama gern erzählt, dass sie sich irrte. Das Boot. Der See. Er wollte so gern bei Papa sein. Egal, was die Leute mit den Notizblöcken sagten. Vielleicht könnte er sogar herziehen? Die Vögel füttern? Mit dem Dach auf dem Haus helfen? Die losen Steinplatten der Treppe reparieren? Er war so vertieft in diese Gedanken, in die Vorstellung, wie schön alles werden könnte, dass er fast vergaß, dass er die Angelrute in Händen hielt.

»Fisch!«

»Was?«

»Du hast einen Fisch!«

Der Junge fuhr zusammen und sah, dass sich die Rute bog. Er drehte an der Angelrolle, aber die wollte sich fast nicht rühren.

»Groß!«, rief der Junge und vergaß ganz, dass er doch den Mund halten sollte.

»Shit«, sagte der Vater und rutschte zurück auf die Sitzbank. »Beim ersten Wurf, und du hast nicht den Boden erreicht?«

»Glaub … ich … nicht …«, sagte der Junge und kurbelte aus Leibeskräften, es ging so schwer, dass das Boot langsam näher zum Ufer hingetrieben wurde.

»Bald haben wir ihn«, sagte der Vater, grinste und hob die Arme über das Dollbord. »O verdammt!«

»Was ist los?«

»Nicht hinschauen, Thomas«, rief der Vater plötzlich, als das, was am Haken hing, an der Wasseroberfläche auftauchte.

»Papa?«

»Leg dich ins Boot. Nicht hinsehen!«

Aber dann schaute er eben doch.

Auf das Mädchen, das unter ihnen im Wasser lag.

Das blauweiße Gesicht.

Die offenen Augen.

Die im Wasser treibenden Kleider, viel zu wenig, um damit in den Wald zu gehen.

»Papa?«

»Runter, verdammt noch mal, Thomas!«

Der Junge konnte nichts mehr sehen, denn nun stürzte der Vater auf ihn zu.

Und presste ihn auf die Planken des Bootes.

• 2 •

Es stimmte nicht, dass Karoline Berg Angst vor dem Fliegen hatte. Sie brachte das nur als Ausrede vor. Die Wahrheit war, dass sie Angst vor allen Reisen hatte. Sie war am liebsten zu Hause. Sie liebte ihre Gewohnheiten, nein, sie brauchte ihre Gewohnheiten.

»Kannst du nicht zu Besuch kommen, Mama?«

»Das würde ich ja gern, Vivian, aber du weißt doch, bei meiner Angst vor dem Fliegen …«

»Kannst du nicht einfach die Bahn nehmen, Mama?«

»Sechzehn Stunden eingesperrt in einer Konservendose mit Menschen, die ich nicht kenne?«

»Nein, schon klar, aber ich möchte so gern, dass du mich tanzen siehst.«

»Ich hab dich doch tanzen sehen, Vivian. Schon oft.«

»Sicher, aber das hier ist nicht das Kulturhaus von Bodø. Das ist die Oper in Oslo, Mama. Die Oper! Hab ich schon erzählt, dass ich ins Ensemble von Alexander Ekman aufgenommen worden bin? Ich werde in Schwanensee tanzen. Schwanensee! Ist das nicht der totale Wahnsinn?«

»Vivian, das ist absolut fantastisch. Meinen Glückwunsch, Liebes.«

»Du wächst da oben noch fest, Mama, so ganz allein. Kannst du nicht einen Ausflug nach Oslo machen? Wir können ins Restaurant gehen. Du weißt doch, dieses Maaemo? Das im Guide Michelin steht und überhaupt, können wir nicht …?«

Natürlich wollte sie ihre Tochter tanzen sehen.

Großer Gott ja, es gab nichts, was sie lieber wollte.

»Wir sehen uns, wenn du nach Hause kommst, können wir nicht erst mal dabei bleiben?«

»Sicher, Mama. Aber du, ich muss jetzt los, wir haben Probe. Es geht dir doch gut?«

»Mir geht es gut, Vivian, denk nicht an mich.«

»Okay, Mama, dann bis bald.«

»Ja, bis bald.«

Wie war es überhaupt so weit gekommen?

Diese Tage, die einfach kamen und gingen.

Wo war ihr Leben?

Zweiundvierzig Jahre alt, aber sie fühlte sich wie hundert. Jeden Samstag, bei einem Krabbenbrot unten im Sydvest, und sie ließen es sich nicht anmerken, aber im tiefsten Herzen wusste sie, dass die anderen über sie lachten. Ihre Freundinnen. Dieselben wie damals vor so vielen Jahren. Gesamtschule Bodø. Oberstufe, Abitur, und damals hatte sie große Pläne gehabt. Wollte nach Indien. Nach Afrika. In Guatemala Äpfel pflücken. In Amsterdam auf der Straße Gitarre spielen. Die anderen, nein, die wollten nichts, wollten heiraten, Kinder bekommen, bei der Gemeindeverwaltung arbeiten, im Supermarkt, niemals Bodø verlassen jedenfalls, aber jetzt schienen alle die ganze Welt gesehen zu haben, nur sie nicht.

Im Frühjahr vor zwei Jahren war Vivian zum Vortanzen nach Oslo gefahren. Die starke, reizende Vivian, die so plötzlich gekommen war, fast aus dem Nichts. Der Flughafen von Bodø. Wo die Flugzeuge in alle Welt starteten, und wo die NATO-Soldaten zum Manöver kamen. Karoline Berg war zwanzig gewesen, ohne irgendeine Sorge. Er war aus England und ließ sie mit dickem Bauch und ohne Adresse sitzen.

Seine Schuld?

Luke Moore aus Leeds, der attraktive Pilot mit den dunklen Locken?

Dass du nie irgendwohin gefahren bist, Karoline.

Nein, das hast du allein dir selbst zuzuschreiben.

Sie wohnte in einer kleinen Wohnung nur zweihundert Meter vom Flughafen entfernt, war aber niemals dort gewesen.

Nirgendwo.

Ihr müsst einfach mal nach Alicante, da ist es einfach traumhaft.

Mette.

Die ihre beste Freundin gewesen war, eigentlich, jetzt aber nicht mehr; Mann, Kinder, schönes Haus in Hudstad, jeden Sommer Urlaub, an weit entfernten Orten.

Meine Güte, Key West, ich werd verrückt, ich hatte ja gehört, dass es schön sein soll, aber so?

Synnøve.

Die in der Grundschule kaum gewusst hatte, was zwei plus zwei ergibt, aber die sich einen Unternehmer aus Harstad unter den Nagel gerissen hatte, der Segelboote liebte und in Immobilien im Ausland investierte.

Über sie lachen, ja, das taten sie.

Immer wenn sie den COOP betraten.

Nicht laut, aber sie konnte es ihnen ansehen.

»Willst du den Bon? Eine Tüte?«

Lebensmittel auf dem Laufband, und immer dieses Geräusch.

Großer Gott, wie sie dieses Geräusch hasste.

Vollkornbrot.

Biip.

Milch.

Biip.

Vier Cola im Sonderangebot.

Biip.

Du bist hässlich.

Biip.

Du bringst es nie zu was.

Biip.

Aber dann, in aller Heimlichkeit, ja, wenn die nur wüssten, hatte sie eine Nummer angerufen, die sie im Internet gefunden hatte. Sie hatte mehrere Glas Rotwein getrunken, ehe sie sich getraut hatte. Und ja, sie hatte bei den ersten Malen wortlos aufgelegt, mit schweißnassen Handflächen, aber am Ende, beim dritten Versuch, hatte sie es gewagt, den Mund aufzumachen.

Psychologe.

Gott im Himmel, noch mehr Gesprächsstoff, noch mehr Anlässe, über sie zu lachen, aber sie hatte es trotzdem getan.

Zum Glück.

Flughafen Bodø.

Sie wohnte seit fast fünfunddreißig Jahren hier in der Nähe, hatte aber noch nie einen Fuß in die Abflughalle gesetzt.

Was hatte der Psychologe noch gesagt?

Einen Schritt nach dem anderen.

Okay, das schaffst du, Karoline.

Sie konnte ihr Spiegelbild in den blanken Schiebetüren sehen. Sie konnte es fast berühren, aber sie kam sich vor wie auf einem anderen Planeten. Sie hatte neue Kleider gekauft. Sie war beim Friseur gewesen. Ja wirklich, nachdem ihr endlich dieser Anruf gelungen war, hatte sie alles getan, was er sagte. Nicht nach den ersten Malen, nein, da war ihr alles widerlich vorgekommen. Als ströme Dreck aus ihrem Mund, wann immer sie ihn öffnete. Er hatte ihr so viele persönliche Fragen gestellt. Dinge, die sie sich noch nie überlegt hatte. Welche Beziehung hattest du zu deinem Vater? Wie war dein Verhältnis zu deiner Mutter? Gott im Himmel, ihr war furchtbar schwindlig gewesen, ihr war schlecht, Gedanken und Gefühle, die sie bis dato nicht gekannt hatte, schwirrten in ihrem Kopf herum, sie hatte nachts nicht schlafen können. Aber jetzt, nach einigen Wochen, war eine Art Durchbruch gekommen. Es war wie eine Schneelawine. Hatte sie sich einmal geöffnet, gab es kein Halten mehr.

Sie lächelte ihrem Spiegelbild zu.

Du bist so hübsch, Karoline.

Du bist so tapfer, Karoline.

Neuer Mantel, Karoline? Schick.

Du musst lernen, dich selbst zu mögen.

Oslo?

Die Hauptstadt.

Sie hatte schon so lange Lust gehabt, dort hinzureisen.

Das Schloss besichtigen. Das Parlamentsgebäude. Die Prachtstraße Karl Johan. Und nicht zuletzt die Oper.

Sie atmete noch mal tief durch, zwang sich, die letzten Schritte zu gehen. Einen Fuß vorsetzen. Dann noch einen. Sie war jetzt drinnen. Sie stand in der Abflughalle. Ihr wurde ein wenig schwindlig, aber sie blieb nicht stehen. Das geht bestimmt gut, Karoline. Nur noch ein kleines Stück. Da hinten. Ein blauer Bildschirm. SK4 111. SAS. Oslo. Abflug 12.35.

Jetzt komme ich, Vivian.

Jetzt kommt Mama, um dich tanzen zu sehen!

• 3 •

Holger Munch kam sich vor wie ein Idiot, als er am Fenster seiner kleinen Wohnung stand und sich die vierte Zigarette des Tages anzündete. Der Frühling war in die Stadt gekommen, die Bäume beim Bislett-Stadion wurden grün, aber das war auch das Einzige, was seine Laune ein wenig hob. Es war ein schwerer Winter gewesen. Nein, es war ein guter Winter gewesen, deshalb kam er sich so blöd vor. Er hatte sich beurlauben lassen. Miriam, seiner Tochter, war etwas Schreckliches zugestoßen. Er hatte sich freigenommen, um ihr auf die Beine zu helfen. Die Geschehnisse hatten die Familie einander wieder nähergebracht. Es war über zehn Jahre her, dass er sein altes Haus in Røa verlassen hatte, aber in diesem Winter schien das Tragische von damals ausgelöscht zu sein, als hätte die Scheidung von Marianne nicht stattgefunden. Miriam war zuerst im Krankenhaus gewesen, aber als sie sich dann auf dem Weg der Besserung befand, hatten sie sie in das alte Haus geholt. Und er war ebenfalls dort eingezogen. Der neue Mann seiner Exfrau, Rolf, war ausgezogen, damit Miriam sich in Ruhe erholen konnte, und Munch hatte ganz schnell seinen Platz eingenommen. Und sie waren fast wieder wie eine Familie gewesen. Verdammt, er hätte begreifen müssen, dass es nicht von Dauer sein würde. Großer Gott, wie blöd war er gewesen! Die Mahlzeiten an dem teuren Wohnzimmertisch. Den sie damals vor langer, langer Zeit zusammen gekauft hatten, als er gerade als Mordermittler angefangen hatte und sie zum ersten Mal ein bisschen mehr Geld ausgeben konnten. Die Freitagabende vor dem Fernseher, wie eine ganz normale Familie. Er und Marianne auf dem Sofa, ihr Enkelkind Marion zwischen sich. Sie hätten Miriam um ein Haar verloren, er hätte doch begreifen müssen, dass Marianne sich nur deshalb so verhielt. Als ob alles wäre wie in alten Tagen. Als ob sie wieder zusammen wären.

Nicht dass sie ihm einen Vorwurf gemacht hätte, obwohl Munch die Ursache dafür war, dass ihre Tochter fast ums Leben gekommen wäre. Oder die Ursache und der Grund. Die Mordeinheit hatte Jagd auf einen kranken Mörder gemacht, und Miriam war dessen letztes Opfer gewesen. Hätte sein letztes Opfer sein können. Munch zog wieder an der Zigarette und schüttelte den Kopf. Merkte, dass die Furcht ihn noch nicht ganz verlassen hatte. Was, wenn …? Und wenn doch ….? Aber es war gut gegangen. Zum Glück. Und dann hatte er sich in diese Behaglichkeit eingelullt. Er und Marianne. Miriam. Die kleine Marion. Er hatte sogar seinen Trauring wieder getragen. Idiot, sicher hatte sie das gesehen. Einige Tage war es erst her, sie war nach draußen auf die Treppe getreten, als er dort eine rauchte.

Du, Holger, wir müssen reden …

Er hatte es in ihrem Blick gesehen.

Rolf kommt morgen zurück …

Er hatte nur genickt. Seine wenigen Habseligkeiten zusammengepackt und das Haus mit eingekniffenem Schwanz verlassen. Noch einmal.

Was für ein Idiot.

Wie ein blöder Teenie.

Was hatte er eigentlich geglaubt?

Holger Munch drückte die halb gerauchte Zigarette im Aschenbecher auf der Fensterbank aus und wollte gerade eine neue aus dem Päckchen schnippen, als das Telefon klingelte.

Den Namen auf dem Display hatte er lange nicht gesehen.

Anette Goli.

Die fähige blonde Polizeijuristin, die die Mordeinheit während seiner Abwesenheit in Gang gehalten hatte.

»Ja, hier Munch?«

»Hallo, Holger«, sagte die freundliche Stimme.

Holger Munch war gute zehn Jahre der Leiter der Sonderermittlungseinheit in der Mariboes gate gewesen und hatte im Laufe dieser Zeit die besten Kräfte aus dem ganzen Land um sich versammelt. Anette Goli gehörte unbedingt dazu. Es ließ sich nicht verhehlen, dass es Konflikte zwischen der Einheit und der Polizeiführung unten in Grønland gegeben hatte. Munch ging gern seine eigenen Wege, und davon waren nicht alle gleichermaßen begeistert. Mikkelson, der Chef, war einer davon. Munch war ziemlich sicher, wenn ihre Aufklärungsquote nicht tadellos gewesen wäre, hätte Mikkelson sie wieder nach unten geholt, um ihnen auf die Finger schauen zu können. Kontrolle. Anette Goli spielte meistens die Diplomatin. War der Leim, der das System zusammenhielt.

»Geht es gut?«, fragte Goli. »Was macht sie?«

»Miriam geht es gut«, sagte Munch und streckte die Hand nach der neuen Zigarette aus. »Besser und besser, eigentlich, sie spricht jetzt wieder, noch nicht besonders deutlich, aber es wird.«

»Das höre ich gern«, sagte Goli, doch dann wurde ihre Stimme ernster. »Es tut mir leid, wenn ich störe, aber ich muss dich einfach fragen. Mikkelson will die Einheit wieder aktivieren. Ohne Druck natürlich, nur, wenn du bereit zur Rückkehr bist.«

»Geht es um das Mädel oben im See?«

»Ja«, sagte Goli. »Das hast du mitgekriegt?«

Munch hatte sich dort oben in Røa in seinen Kokon verkrochen, aber diesen Fall konnte einfach niemand ignorieren. Die Medien hatten ihn weidlich ausgeschlachtet. Eine junge Frau im Ballettkostüm war tot in einem Bergsee gefunden worden, weit vom nächsten Ort entfernt.

»So halbwegs«, sagte Munch. »Wissen wir, wer sie ist?«

»Vivian Berg, zweiundzwanzig, sie war beim Nationalballett.«

»Ach was«, sagte Munch. »Ist sie von hier?«

»Eigentlich aus Bodø, aber sie wohnt hier, deshalb will Mikkelson, dass wir den Fall übernehmen.«

»Gibt es eine Vermisstenmeldung?«, fragte Munch und merkte, dass es schon wieder aktiviert war.

Das Polizistendenken.

Eine junge Frau im Ballettkostüm?

In einem Bergsee?

Er hatte, wie gesagt, alles verdrängt, aber das hatte keinen Sinn mehr. Er war wieder in seiner kleinen Wohnung, allein. Der Trauring war im Badezimmerschrank verstaut.

»Ihre Mutter aus Bodø ist überraschend zu Besuch gekommen, hat sie aber zu Hause nicht angetroffen, ist daraufhin zur Polizei gegangen, die Kollegen haben alles aufgenommen.«

»Verdammt«, sagte Munch.

»Genau«, erwiderte Goli. »Was meinst du? Bist du bereit? Sollen wir den Apparat hier anwerfen? Die Einheit wieder auf die Beine bringen?«

»Wer arbeitet jetzt an dem Fall?«

»Die Kripo, aber nur bis auf Weiteres. Der Fall gehört uns, wenn du bereit bist.«

»Bist du im Büro?«

»Ja«, sagte Goli.

»Bin in zwanzig Minuten da«, sagte Munch und legte auf.

• 4 •

Mia Krüger wollte gerade den letzten Pappkarton zukleben, als das Skype-Signal in dem Laptop ertönte, der geöffnet vor ihr auf dem Wohnzimmertisch stand. Die vierunddreißig Jahre alte Polizistin lächelte, als sie sah, wer anrief.

»Endless Summer«

Sechs Monate auf einem Segelboot in der Karibik.

Sie nahm ihre Kaffeetasse vom Fußboden, setzte sich aufs Sofa und zog die Beine an.

»Hallo, Mia, wie geht’s? Hast du den Flug gebucht?«

Viktor Våge. Ein alter Kollege, der vor vielen Jahren das eiskalte Norwegen und die Truppe verlassen hatte, um seinen Traum zu leben.

»Gestern«, Mia nickte. »Ich fliege über New York und dann weiter.«

»Sehr gut«, das sonnengebräunte Gesicht auf dem Bildschirm lächelte. »Wann landest du?«

»Nächsten Dienstag. Seid ihr auf St. Thomas oder wo?«

Ein dunkelhäutiger Kellner tauchte hinter Viktor auf und stellte einen Cocktail auf den Tisch.

»Nein, wir liegen im Hafen von Road Town auf Tortola. Ist so anstrengend da drüben.«

»Auf St. Thomas?«

»Ja, Kreuzfahrthafen. Und außerdem landen da die ganzen Touristen aus den USA.«

»Soll ich dann zu euch rüberkommen?«

»Nein, nein«, sagte Viktor Våge und zog zwei Dollarscheine aus der Tasche seines farbigen Hemdes.

Der Kellner nickte und verschwand wieder. Mia konnte im Hintergrund eine Palme sehen. Einen Ventilator unter der Decke. Ein eng umschlungenes Paar, das lachend vorbeiging, Drinks in der Hand, sie in weißem Bikini, er mit bloßem Oberkörper.

Die Karibik.

Sie konnte es fast nicht glauben.

»Wir holen dich ab. Das ist kein Problem. Verdammt heiß hier heute, und da drüben? Noch immer Winter?«

Er blinzelte und fuhr sich mit dem Handrücken über die Stirn.

»Nein, es sieht jetzt so langsam nach Frühling aus«, sagte Mia und warf einen Blick aus dem Fenster.

Die schwache Sonne schickte milde Strahlen auf den fast leeren Holzboden. April. Frühling in Oslo. Dreizehn Grad. Die bleischwere Dunkelheit, die den ganzen Winter lang über der Hauptstadt gelegen hatte, war endlich verschwunden, aber das war natürlich nichts gegen das, was sie erwartete.

Die Virgin Islands.

»Hier ist das ganze Jahr lang Sommer«, sagte Viktor Våge und trank einen Schluck von seinem Cocktail. »Ich freue mich so darüber, dass wir das geschafft haben, Mia. Wird schön, dich wiederzusehen. Rufst du mich an, ehe du ins Flugzeug steigst? Damit ich weiß, dass du unterwegs bist?«

»Unbedingt«, Mia nickte. »Ich glaube, ich bin so gegen eins am Dienstag auf St. Thomas.«

»Ja, das müsste stimmen, die Morgenmaschine aus New York«, wieder nickte Viktor. »Ich sag Bescheid, wenn wir zu einem anderen Liegeplatz müssen, okay?«

»Klingt gut.«

»Die ›Endless Summer‹ wartet auf dich«, sagte Viktor Våge und hob lächelnd ein letztes Mal seinen Drink, ehe er auf seine Tastatur drückte und verschwand.

Mia Krüger schaltete den Skype-Zugang aus und spürte, wie sich die Wärme in ihrem Körper ausbreitete.

Sechs Monate auf einem Segelboot.

Warum war sie vorher noch nie auf diese Idee gekommen?

Papa in der Küche zu Hause in Åsgårdstrand, gebeugt über die Bootszeitschriften, die er abonniert hatte.

»Ach, schau mal, Mia. Eine J-Class Endeavour. Hast du schon mal so was Schönes gesehen?«

Acht Jahre war sie alt. In einem Augenblick, in dem sie mit ihm allein sein konnte. Ihre Zwillingsschwester Sigrid irgendwohin unterwegs. Chor. Ballett. Reiten. In der Hinsicht waren sie verschieden gewesen. Sigrid, immer aktiv. Sie selbst eher still. Mochte sich nicht so gern vorzeigen. Zwei Mädchen, gleichzeitig geboren und für immer aneinander gebunden, und doch so verschieden.

Willst du Schneewittchen sein, dann bin ich Dornröschen?

Warum muss ich immer Schneewittchen sein, Sigrid?

Weil du dunkle Haare hast und ich blonde, hast du das noch nicht kapiert?

Nein. Ich bin dumm.

Dumm? Das darfst du nie wieder sagen. Du bist die Klügste, die ich kenne, Mia.

Mia Krüger klappte den Laptop zu und stellte die Kaffeetasse wieder auf den Boden.

Nicht mehr daran denken.

Das war vorüber.

Sie zog das Klebeband über den Deckel des Pappkartons und holte einen Filzstift. Brauchte einen Moment, um zu überlegen, was sie schreiben wollte, entschied sich dann für etwas Schlichtes.

Bilder.

Mia hob den Karton vom Boden auf, trug ihn in das winzige Schlafzimmer und stellte ihn zu den anderen. Die Erinnerungen. Sie hatte endlich genug Kraft gefunden, sie durchzugehen, alles abzuschließen, was so schwer gewesen war. Der letzte Karton war der schlimmste gewesen. Vor allem in dem einen Fotoalbum zu blättern war hart. Mias Album. Das ihre Mutter für sie gemacht hatte. Mia als Baby auf dem Titelblatt, im Kinderwagen, ein seltenes Mal allein auf einem Bild, und dann im Album: Mia und Sigrid am 2. Geburtstag. Sigrid und Mia tanzen. Papa hat ein neues Auto gekauft! Die ganze Kindheit in Åsgårdstrand so dokumentiert, wie nur ein Fotoalbum aus den Achtzigerjahren es gekonnt hatte. Verblichene bunte Erinnerungen, die in ihr sofort den Drang ausgelöst hatten, ins Badezimmer zu stürzen und den Deckel von den Pillendosen zu drehen, sich zu betäuben, aber sie hatte es natürlich nicht gemacht.

Da war nichts mehr.

Keine Pillen mehr.

Alle Schränke leer.

Keine Flaschen mehr.

Vier Monate zuvor: Drinnen war es fast mehr Winter gewesen als draußen vor den Fenstern. Alkohol und Tabletten. Eine andauernde Betäubung einer Welt gegenüber, mit der sie einfach nicht umgehen konnte.

Zehn Jahre zuvor: Sie hatten ihre Zwillingsschwester Sigrid tot durch eine Überdosis Heroin in einem verdreckten Keller in Tøyen gefunden. In ihrer Trauer waren ihre Eltern denselben Weg gegangen, fort, tot.

Ein Jahr zuvor: Sie hatte ihre Wohnung in Oslo aufgegeben, ein Haus in Trøndelag gekauft und beschlossen, den anderen zu folgen.

Sich das Leben zu nehmen.

Komm, Mia, komm.

Ihre Zwillingsschwester Sigrid, die in einem weißen Kleid durch ein gelbes Kornfeld lief und sie rief, wie in einem hypnotischen Traum.

Großer Gott, wie dumm sie gewesen war.

Sie schämte sich noch immer.

Mia warf einen letzten Blick auf die Pappkartons, zog die Tür hinter sich zu und ging zurück ins Wohnzimmer.

Ein neues Leben.

Sechs Monate auf einem Segelboot.

Sie lächelte wieder, stellte ihre leere Kaffeetasse auf die Anrichte in der Küche und wollte gerade ins Badezimmer gehen, um zu duschen, als die Türklingel ertönte. Mia lief hinaus in die Diele und sah durch den Türspion ein vertrautes Gesicht. Ihr Nachbar Alexander, ein junger Mann von Mitte zwanzig, zusammen mit einer blonden Frau, die sicher seine Schwester war.

Könntest du dir vorstellen, deine Wohnung zu vermieten? Solange du verreist bist? Sie hat es gerade nicht so leicht …

Mia Krüger hatte mit dem Gedanken gespielt, die Wohnung zu verkaufen, diese Stadt abzuhaken, aber sie war in dieser Hinsicht immer ein bisschen wankelmütig gewesen. Jemandem in einer Notlage zu helfen … Auch da waren sie ziemlich verschieden gewesen, Sigrid und sie. Sigrid war immer viel härter gewesen, Mia immer empfindlich ihrer Umgebung gegenüber, manchmal fühlte sie sich fast durchsichtig. Sie hätte natürlich etwas ganz anderes werden sollen als Polizistin. Ab und zu machte die Bosheit sie einfach fertig. Eigentlich hatte sie damals beschlossen, Literatur zu studieren. Schon als Kind war sie in die Welt der Fiktion eingetaucht, wie in eine Freistatt von all den starken Eindrücken, die sie umgaben. Sie hatte einen Versuch gemacht, sich an der Universität immatrikuliert, einige Vorlesungen besucht, hatte es aber nie zu einem Examen gebracht. Es war ihr so sinnlos vorgekommen. Bücher zu lesen, während Sigrid auf der Straße lebte, sich in Hauseingängen Spritzen setzte, nein, sie musste etwas Konkreteres tun. Deshalb hatte sie sich an der Polizeihochschule beworben, eher durch einen Zufall, und aus irgendeinem seltsamen Grund hatte sie ihre Sache außergewöhnlich gut gemacht. Munch hatte sie zur Mordeinheit geholt, noch ehe sie mit dem Studium fertig gewesen war. Sie hatte diese Arbeit vom ersten Augenblick an geliebt. Den Zusammenhalt im Team. Extrem kompetente und intelligente Menschen. Das Gefühl, etwas beizutragen. Ein Schild gegen das viele Elend zu sein. Aber es war ein zweischneidiges Schwert. Sie war ungeheuer stark, aber zugleich so verletzlich.

Gerade das macht dich ja zu etwas so Besonderem, Mia.

Deshalb bist du die Beste, die ich habe.

Holger Munch war in den vergangenen zehn Jahren eine Art Vater für sie gewesen, und sie war ihm ewig dankbar dafür, aber es wurde jetzt Zeit.

Ein neuer Anfang.

Sechs Monate frei.

Sie spürte, wie sich die perlende Freude wieder in ihrem Körper ausbreitete, als sie die Tür öffnete und die jungen Leute hereinließ.

• 5 •

Mia bestellte einen Kaffee und ein Mineralwasser und suchte sich im Justisen einen Tisch in einer stillen Ecke. Einige Monate zuvor hätte sie um ein Bier und einen Jägermeister gebeten. Das kam ihr jetzt vor wie ein anderes Leben. Bei dem Gedanken daran wurde ihr fast schlecht. Munch verspätete sich, und während sie wartete, spielte Mia mit dem Armband, das sie am Handgelenk trug. Sie hatte einen Moment lang überlegt, ob sie es mit allen anderen Dingen wegpacken sollte, aber sie hatte sich dann dagegen entschieden. Jede hatte so eins zur Konfirmation bekommen. Ein silbernes Armband mit einem Herzen, einem Anker und einem Buchstaben. M an ihrem, S an Sigrids. Sie hatten die Armbänder zusammen studiert, im Licht, das durch das Fenster fiel, oben in ihrem gemeinsamen Zimmer, nachdem alles vorüber war, und es war Sigrids Vorschlag gewesen:

Willst du meins, dann krieg ich deins?

Mia hatte das Armband seither nie wieder abgenommen. Ihr Telefon zeigte das Datum 10. April. In acht Tagen würde es genau elf Jahre her sein. Die Überdosis. Das war noch ein Grund, warum sie ihre Abreise auf diesen Tag gelegt hatte. Sie konnte einen Besuch am Grab nicht ertragen. Hatte Angst davor, was das mit ihrem Kopf machen würde. Vier Monate ohne Drogen. Training an fast jedem einzelnen Tag. Sie hatte sich niemals besser gefühlt. Die Begegnung mit dem Grabstein könnte sie wieder hinab in diese tiefe Finsternis ziehen, und sie wollte das Risiko ganz einfach nicht eingehen.

Sigrid Krüger.

Schwester, Freundin und Tochter.

Geboren 11. November 1979. Gestorben 18. April 2002.

Zutiefst geliebt. Zutiefst vermisst.

Nein, sie hatte es nicht über sich gebracht, das Armband wegzupacken. Die Fotos und alles andere mussten reichen.

S für Sigrid.

M für Mia.

Sie trank einen Schluck Mineralwasser und warf einen Blick zum Tresen, wo sich ein älterer Mann ein frisch gezapftes Bier holte. Nein. Keine Probleme. Darauf hatte sie wirklich keine Lust.

Munch kam eine halbe Stunde zu spät. Er zog seinen beigen Dufflecoat aus und umarmte sie, ehe er sich setzte und einen Ordner vor Mia auf den Tisch legte.

»Hast du etwas zu essen bestellt?«, fragte er und schaute zum Tresen hinüber.

»Nein, keinen Hunger«, sagte Mia.

Munch winkte einen Kellner an den Tisch und bat um ein Krabbenbrot und einen Apfelsaft.

»Hör mal, Mia«, sagte er und beugte sich zu ihr vor. »Ich habe mit Mikkelson gesprochen, und wir sind da ganz einer Meinung. Er ist ein Idiot. Die Beurlaubung ist zu Ende. Es war ein Fehler seinerseits. Wir brauchen dich bei der Truppe. Okay?«

Mia deutete ein Lächeln an.

»Ich fahre in einer Woche, Holger.«

»Du bist fest entschlossen?«

»Ja.«

»Ganz sicher?«

Mia nickte.

Munch seufzte und kratzte sich am Bart.

»Ich verstehe. Okay. Ich hätte dich natürlich gern dabeigehabt, aber ich gönne dir diese Reise. Werde dich nicht weiter quälen. Musste nur fragen.«

»Die Einheit wird also wieder aktiv?«

»Ja.«

»Geht es um die Frau, die oben in dem See gefunden wurde?«

Munch nickte, als der Kellner das Bestellte brachte.

»Vivian Berg. Tänzerin. Sie wurde im Ballettkostüm gefunden. Ein kleiner Junge und sein Vater beim Angeln.«

»Wo war das?«

»Der See heißt Svarttjønn. Liegt oben in Vassfaret. Oben in den Bergen, ein seltsamer Schauplatz.«

»Wie meinst du das?«

Munch machte sich über sein Krabbenbrot her und redete mit vollem Mund.

»Sie ist am Donnerstag aus ihrer Wohnung verschwunden und wurde am Samstag in den Bergen gefunden, in ihrem Ballettkostüm, also, wenn das nicht seltsam ist.«

Er legte einen Finger auf den Ordner zwischen ihnen.

»Alles ist hier drinnen.«

»Ich weiß, worauf du hinauswillst, Holger, aber mein Entschluss steht fest.«

»Ich verstehe«, sagte Munch.

»Was meinst du mit Ballettkostüm?«

»Haare hochgesteckt. Balletttrikot mit so einem Röckchen, einem Tutu. Weiße Strumpfhose. Und solche Schuhe mit gepolsterten Spitzen.«

»Spitzenschuhe? Die hatte sie an?«

Munch nickte.

»Seltsam.«

»Ja, nicht wahr?«

»Wie weit von der Straße entfernt liegt dieser See?«

»Na ja, vielleicht eine Dreiviertelstunde zu Fuß, durch ziemlich steiles Terrain.«

»Er hat sie hochgetragen?«

»Wenn man das wüsste«, sagte Munch und zuckte mit den Schultern.

Er schaute sie über sein Brot hinweg an, und sie konnte es in seinem Blick sehen.

»Was?«, fragte sie und legte den Kopf schief.

»Wie was?«

»Was erzählst du mir nicht?«

Munch sah sie mit ernster Miene an und wischte sich den Mund mit seiner Serviette ab.

»Ich glaube, sie ist selbst gegangen«, sagte er schließlich.

»Wie meinst du das?«

»Die Ballettschuhe sind total durchlöchert und zerrissen. Die Sohlen. Also liegt es doch auf der Hand, dass sie zum See gegangen ist.«

»Selbstmord?«

»Nein, absolut nicht. Sie wurde durch einen Nadelstich ins Herz getötet.«

»Eine Spritze?«

»Ja.«

»Und was enthielt die?«

»Ethylenglykol.«

»Und das heißt?«

»Frostschutzmittel.«

»Verdammt noch mal …«

»Nicht wahr? Lebensgefährlich, kann von aller Welt an jeder Tankstelle gekauft werden.«

»Aber wieso glaubst du, dass sie nicht zu dem See hochgegangen ist und sich die Spritze selbst gesetzt hat?«

»Was meinst du?«, fragte Munch und ließ sich auf dem Stuhl zurücksinken. »Bei den Schmerzen? Hättest du das getan?«

Ein Moment der Unbedachtsamkeit, er hatte es selbst gemerkt.

Genau ein Jahr.

Ein Tisch voller Tabletten in allen erdenklichen Farben.

Allein auf einer Insel vor der Küste von Trøndelag.

Komm, Mia, komm.

»Tut mir leid«, sagte Munch und beugte sich wieder zu ihr vor. »Ich wollte natürlich nicht …«

»Schon gut, Holger«, sagte Mia und hob beschwichtigend die Hand.

»Wie geht es dir eigentlich?«, fragte Munch nun und sah noch immer verlegen aus. »Hab total vergessen, danach zu fragen. Tut mir leid. Du weißt, wie das ist.«

»Natürlich, Holger. Alles klar. Und mir geht es gut. Sehr gut sogar.«

Sie hob das Wasserglas, schwenkte es ein wenig und trank einen symbolischen Schluck.

»Gut«, Munch nickte. »Du siehst gut aus, verdammt gut sogar, wenn ich das mal so sagen darf. Ich habe dich lange nicht mehr so gesehen, so, wie soll ich sagen, so …«

»Nüchtern?«, fragte Mia lächelnd.

Munch grinste.

»War nicht ganz so gemeint, aber ja, wenn du so willst. Wie lange?«

»Vier Monate.«

»Ja, ich gratuliere.«

»Das wäre ja noch schöner«, sagte Mia und seufzte. »In der letzten Zeit war ich eine verdammt schlechte Polizistin, das tut mir wirklich leid.«

»Davon kann absolut keine Rede sein«, schnaubte Munch und schüttelte den Kopf. »Ohne dich, wer weiß, was dann passiert wäre? Ich wage gar nicht, daran zu denken. Du hast den Fall geklärt. Mir scheißegal, was du einwerfen musstest, um das zu schaffen. Aber jedenfalls, gut, dich jetzt zu sehen, so … wach.«

Mia lächelte. Spürte, dass er es ehrlich meinte.

»Wie geht es ihr?«

»Miriam? Immer besser. Sie ist stark. Sie schafft das. Ich soll übrigens grüßen. Du musst sie bald mal besuchen.«

»Werd versuchen, das noch zu schaffen, ehe ich fahre«, sagte Mia.

»Schön. Sie würde sich wirklich freuen.«

Munch lächelte freundlich und schob die Hand in seine Manteltasche.

»Leistest du mir Gesellschaft, während ich eine rauche?«

Mia nickte und folgte ihm unter die Wärmestrahler im Hinterhof. Frühling in Oslo, aber noch immer nicht besonders warm, natürlich. Sie schlang sich die Arme um den Leib, während Munch seine Zigarette anzündete und sein Blick wieder ernst wurde.

»Was, wenn du mir sieben Tage gibst?«, fragte er vorsichtig.

»Ich weiß nicht, Holger.«

»Eine Woche? Mehr nicht. Sieh es dir doch nur mal an. Und sag mir dann, was du denkst.«

Mia presste die Lippen aufeinander und dachte kurz nach.

Eine junge Frau im Ballettkostüm.

Hoch in den Bergen in einem See.

Eine Spritze mit Frostschutzmittel?

»Wir haben allerlei seltsame Dinge am Tatort gefunden«, sagte Munch hustend, und dabei sah er sie mit diesem Blick an, den sie so gut kannte.

Hier stimmt etwas nicht, Mia.

»Was habt ihr gefunden?«

»Gibst du mir eine Woche?«

Seine Blicke flehten fast.

»Okay«, sagte Mia endlich seufzend.

»Großartig«, sagte Munch und streichelte ganz kurz ihre Schulter.

»Also?«

»Ich weiß gar nicht, wo ich anfangen soll«, sagte Munch zögernd. »Er hatte eine Kamera aufgestellt.«

»Wie meinst du das?«

»Einen Fotoapparat auf einem Stativ.«

»Auf die Leiche gerichtet?«

Munch nickte ernst und nahm einen langen Zug von seiner Zigarette.

»Waren Bilder drin?«

»Nein, leer. Platz für einen Speicherchip, aber den hat er mitgenommen.«

»Warum er? Du meinst, es war ein Mann?«

»Abdrücke im Boden. Größe 43.«

»Sie lag im seichten Uferwasser?«

»Ja.«

»Und der Fotoapparat war genau auf sie gerichtet?«

»Ja.« Munch nickte.

»Seltsam«, murmelte Mia.

»Das weiß ich.«

»Habt ihr noch mehr gefunden?«

»Bin nicht sicher, ob das von Bedeutung ist, aber ein Stück entfernt lag eine Seite aus einem Kinderbuch.«

»Welches Buch war das?«

»Astrid Lindgren, Die Brüder Löwenherz. Tust du mir also den Gefallen? Schaust du dir die Sache mal an? Das würde mir viel bedeuten.«

Munch drückte die Zigarette aus.

»Das kommt mir irgendwie bekannt vor, Holger. Du tauchst mit Fotos auf, die ich mir ansehen soll.«

»Nur einen kurzen Blick darauf werfen?«

»Okay, Holger, aber nur, weil du es bist«, seufzte Mia und ging hinter ihm her zurück zum Tisch.

• 6 •

Munchs Gewissen versetzte ihm einen kleinen Stich, als er sich die nächste Zigarette zwischen die Lippen schob und einen Blick durch das Fenster nach innen warf. Urlaub. Von allem, was war und gewesen war. Großer Gott, er gönnte nur wenigen so sehr eine Pause wie Mia, aber es half nichts, er brauchte sie jetzt. Ein Fall für Mia. Das hatte er gedacht, sowie ihm die Bilder vom Tatort vorgelegt worden waren. Holger Munch arbeitete seit fast dreißig Jahren als Mordermittler, und es hatte nicht viele solcher Fälle gegeben. Eiskalt. Kalkuliert. Geplant. Als ob jemand jede Sekunde genossen hätte. Mord. Totschlag. Für die Allgemeinheit klang das natürlich entsetzlich, und das war es ja auch, für alle Beteiligten, aber meistens war die Lösung einfach. Die Motive lagen immer auf der Hand. Eifersucht. Hass. Rache. Gern in Kombination mit zu viel Alkohol. Die menschliche Natur. Nicht so schwer zu erklären. Munch konnte die Fälle, in denen er den Verlauf nicht sofort vor sich gesehen und danach den Täter gefunden hatte, an einer Hand abzählen. Es konnte dauern, natürlich, aber sein erster Gedanke war meistens der richtige. Das hier dagegen? Er schüttelte den Kopf und zog wieder an der Zigarette, als das Telefon in der Tasche seines beigen Dufflecoats vibrierte.

»Anette hier, hast du Zeit?«

»Sicher, schieß los«, sagte Munch.

»Ich habe endlich die Zuständigen im Ullevål-Krankenhaus erreicht, und es sieht aus, als sei Karoline Berg jetzt so langsam vernehmungsfähig.«

»Schön«, sagte Munch. »Haben wir eine Uhrzeit?«

»Sag einfach Bescheid, wann du kommen willst, dann kläre ich das mit Ullevål.«

»Okay, gut, und was ist mit der Leiterin des Balletts?«

»Christiane Spidsøe«, sagte Goli. »Die ist heute in der Oper am Werk. Schien total außer sich zu sein, aber da kannst du kommen, wann immer du willst.«

»Wissen wir schon etwas über das Auto?«

Die Kripo hatte einen grauen Mercedes gefunden. Verlassen am Straßenrand, in unmittelbarer Nähe begann ein Pfad, so sah es jedenfalls aus. Die Techniker hatten im Fußraum unter dem Sitz eine Halskette sichergestellt. Vivian Bergs Mutter hatte bestätigt, dass die Kette ihrer Tochter gehörte. Seltsam, das Ganze. Hatte er sie dorthin gefahren? Und dann war sie zu Fuß weitergegangen? Warum hatte jemand das Auto mit offenen Türen stehen lassen? Und warum überhaupt ein Auto so weit oben abstellen?

»Der Mercedes wurde am Mittwoch von einem Anwalt namens Torvald Lorentzen gestohlen gemeldet.«

»Haben wir etwas über den?«

»Nicht, soviel ich sehen kann, aber ich habe Grønlie gebeten, ein paar Anrufe zu übernehmen, den neuen Datenbanken hier traue ich nicht so recht.«

»Okay, gut«, Munch nickte und registrierte am Tisch drinnen im Justisen eine Bewegung.

»Wie läuft es bei euch?«, fragte Anette.

»Sie geht gerade die Bilder durch.«

»Macht sie mit?«

»Ich glaube schon«, sagte Munch.

»Gut«, sagte Goli. »Ich habe dich bei der Rechtsmedizin angekündigt, gehst du da zuerst hin?«

»Mach ich später heute. Hast du mit Ernst Hugo gesprochen?«

»Nein, der ist offenbar in Rente gegangen. Aber es gibt eine Neue. Lillian Lund.«

»Okay. Ich glaube, wir fangen mit Karoline Berg an, wenn sie mit uns sprechen kann.«

»Nimmst du Mia mit?«

»Das hoffe ich«, sagte Munch.

»Okay, viel Glück. Ich ruf dich an, wenn es was Neues gibt«, sagte Goli und war weg.

Munch warf die Kippe auf den trockenen Asphalt und ging zurück ins Lokal. Er räusperte sich leise und glitt vorsichtig auf den Stuhl auf der anderen Seite des Tisches.

»Was meinst du?«

Er hatte diesen Blick schon so oft gesehen. Blau und klar auf ihn gerichtet und doch meilenweit entfernt.

»Ich glaube, meine Ferien sind zu Ende«, sagte Mia und fuhr sich mit der Hand durch die rabenschwarzen Haare.

»Sicher?«, fragte Munch.

»Sieht so aus«, murmelte Mia.

»Was meinst du?«, fragte Munch und legte vorsichtig die Hand auf den Ordner zwischen ihnen.

»Da fehlt was.«

»Was denn?«

»Wir können nicht sehen, was der Fotoapparat gesehen hat, wurde kein solches Bild aufgenommen?«

Sie blätterte die Fotos durch und schaute dann zu Munch auf, jetzt ein wenig anwesender.

»Nicht, wenn es nicht dabeiliegt«, sagte Munch.

»Ich …«, sagte Mia und verschwand wieder.

Munch sagte nichts. Das Team mit oder ohne Mia Krüger? Wie Tag und Nacht. Sie konnte alle Zeit haben, die sie wollte.

»Was siehst du?«

»Ich begreife nicht ganz, warum er sich diese Stelle ausgesucht hat«, sagte sie endlich und schaute ihn wieder an.

»Wieso nicht?«

»Er wollte zuerst mit ihr allein sein? War das so?«

»Was meinst du mit zuerst?«

Sie legte den Kopf ein wenig schief und sah ihn an.

Munch hatte auch das schon gesehen, viele Male, diesen Blick, der fragte: Siehst du nicht, was ich sehe?

»Er hat den Fotoapparat hingestellt? Hat sie im Wasser liegen lassen, ohne den Versuch, sie zu verstecken?«

»Ja …?«, fragte Munch.

»Er wollte, dass wir sie finden«, sagte Mia und streckte die Hand aus, aber da war nichts.

Ein Drink.

Wenn er sonst beobachtet hatte, wie sie auf diese Weise Fotografien durchsah, hatte sie immer eine Flasche zur Hand gehabt, und ihr Körper schien einen Moment lang nicht zu begreifen, dass es jetzt nicht mehr so war.

»Glaubst du?«, fragte Munch.

»Du nicht?«, gab Mia zurück und trank schließlich einen Schluck aus dem Wasserglas.

»Ich weiß nicht. Erklär es mir.«

»Sie bereuen ja immer ein bisschen, oder nicht? Decken die Leiche zu, um ihre Tat vor sich selbst zu verbergen, hast du mir das nicht beigebracht? O verdammt …«

Mia verschwand ein weiteres Mal.

»Er wollte Zeit mit ihr allein haben.«

Munch sagte nichts.

»Das wolltest du doch, oder?«, fragte Mia mit einem Blick, der irgendwo tief in etwas steckte, Wörter vibrierten zwischen ihren Lippen. »Du und sie. Allein dort oben im Wald. Du gehst mit ihr da rauf. Wie hast du sie dazu gebracht, mit dir mitzugehen? Hast du sie gekannt? Ihr seid zusammen gegangen. Hat sie dir vertraut?«

»Was denkst du über das Buch?«, fragte Munch.

»Wie meinst du das?«, fragte Mia verwirrt.

»Die Seite aus dem Buch. Ist die relevant?«

»Unbedingt.«

Mia öffnete den Ordner und drehte das Foto zu ihm um.

»Siehst du?«

»Was soll ich sehen?«

»Sie ist am Donnerstag verschwunden.«

»Ja?«

»Vorige Woche hat es geregnet, diese Woche nicht. Das hat da nicht lange gelegen. Die Feuchtigkeit, die wir hier sehen, muss vom Boden kommen. Er hat es für uns liegen lassen.«

Mia ließ sich auf dem Stuhl zurücksinken und fuhr sich wieder mit der Hand durch die Haare.

»Die Brüder Löwenherz, was glaubst du, was das bedeutet?«

»Ist noch zu früh«, sagte Mia und verschwand wieder für einen Moment.

»Du machst also mit?«, fragte Munch.

»Die kürzesten Ferien aller Zeiten«, murmelte Mia und lächelte resigniert. »Du hast etwas über ihre Mutter gesagt?«

»Ist aus Bodø angereist, um sie tanzen zu sehen.« Munch nickte. »Hat sie nicht angetroffen und sie daraufhin vermisst gemeldet.«

»Wo ist sie jetzt?«

»Hat einen Schock erlitten. Liegt in Ullevål.«

»Aber wir können mit ihr sprechen?«

»Hab eben grünes Licht bekommen«, antwortete Munch.

»Gib mir zwei Minuten«, sagte Mia und verschwand in Richtung Toilette.

• 7 •

Der Polizist Jon Larsen, besser bekannt als Curry, hatte so schlimme Kopfschmerzen, dass es ihm schwerfiel, durch die Windschutzscheibe zu schauen. Er nahm einen Schluck aus der Wasserflasche, die zwischen seinen Beinen stand, kniff die Augen zusammen und konnte sich nicht entscheiden, ob er mit dem Auftrag dieses Tages zufrieden sein sollte oder nicht. Observation. Nicht gerade Action. Er schaute zu der Wohnung in der Kyrre Grepps gate hoch. Lotte. Junkie, siebzehn Jahre alt. Noch ein Mensch ganz unten in der Drogenhierarchie, aber aus irgendeinem Grund sollten sie sie trotzdem beschatten. Er hatte bei der Besprechung nicht alles mitbekommen. Hatte es schwer genug gefunden, die Augen offen und das Frühstück im Magen zu halten. Er hätte sich vielleicht eine andere Kneipe suchen sollen, aber natürlich war es wieder dieselbe geworden. Bier und Whisky. Zwei Runden am Billardtisch. Mehr Bier. Mehr Whisky. Und dann war er abermals im selben Bett aufgewacht, mit diesem jungen Gesicht auf dem anderen Kissen, und mit einem unterirdischen Kater.

Luna. Was war das eigentlich für ein Name, verdammt noch mal? Einundzwanzig Jahre alt, mit Dreads und Ring in der Nase. Irgendeine Figur, von der Curry nie auch nur gehört hatte, auf dem Arm. Luna. Wer zum Teufel nannte sein Kind denn so? Ihm ging nun auf, dass er das schon häufiger gedacht hatte. Kind. Ein Kind. Na ja, ein Kind war sie ja nicht, aber trotzdem, vierzehn Jahre jünger als er? Tresenfrau. Nein, so ging das nicht weiter. Er musste irgendetwas unternehmen.

Er versuchte, seinen Denkapparat zum Funktionieren zu bringen, eine Art Plan zu ersinnen, kam aber nicht weit, denn die Tür ging auf und sein Kollege schob sich auf den Sitz neben ihm. Allan Dahl. In vieler Hinsicht Currys Gegensatz. Groß und schlaksig, mit einem Schnurrbart, den er sich seit Currys letztem Einsatz im Drogenteam zugelegt hatte, so ein Schnurrbart, wie es plötzlich wieder modern geworden war, was den Kollegen aber nicht weiter zu interessieren schien.

»Was passiert?«

»Nix«, murmelte Curry.

»Es gibt hier keinen anderen Ausgang, oder?«

»Nein, falls die keinen gebaut haben, seit wir zuletzt hier waren.«

Dahl nahm seinen Becher aus dem Gestell zwischen den Sitzen, ohne auf den offenkundigen Sarkasmus zu reagieren.

»Mocca Latte für mich, schwarz und normal für dich, tut mir leid, dass es so lange gedauert hat, musste bis zu Kaffegutta in der Vogts gate, um etwas Ordentliches zu bekommen.«

Curry nippte an dem Kaffee, aber er konnte ehrlich gesagt keinen Unterschied zu dem erkennen, der anderswo serviert wurde.

»So«, sagte Dahl und musterte ihn neugierig. »Ich bin gestern deiner besten Freundin begegnet. Will sie verreisen?«

»Wer?«

»Die Superdetektivin. Sie war unten im Erdgeschoss und hat einen neuen Pass abgeholt. Hat sie einen Job im Ausland angenommen oder was?«

Curry trank wieder einen Schluck Kaffee und begriff langsam, von wem der Kollege da redete.

Mia Krüger.

Er deutete ein Kopfschütteln an. Die Superdetektivin, meine Güte. Er hatte schon eine Menge seltsamer Namen für sie gehört, aber dieser hier war ihm neu. Es hatte bei den anderen Kollegen in der Truppe immer einen gewissen Neid gegeben. Munchs Team war hoch angesehen, und die, die nicht dafür ausgesucht wurden, brachten ab und zu gern einen blöden Spruch. Er hatte die Drogenfahndung damals mit hocherhobenem Kopf verlassen und das zufriedene Grinsen gesehen, als er an dieses Team ausgeliehen worden war.

Ach was?

Einheit mal wieder stillgelegt?

Nicht so gut gelaufen?

Curry hielt sich nicht für den klügsten oder belesensten Menschen der Welt, aber ab und zu fand er, dass sich die Leute in seiner Umgebung fast wie Kinder aufführten. Neid auf den Gängen, Hacken in alle Richtungen, ein ständiger Kampf um den Rang in der Hierarchie, als ob sie sich in der Grundschule oder im Hühnerhof befänden.

Ja, ja, das konnte ja auch egal sein.

Heute Abend wirklich kein Suff.

Das beschloss er jetzt. Jeden Abend in dieser Woche. Dieselbe Bar, dieselbe junge Frau neben ihm im Bett, was fand sie eigentlich an ihm?

»Oder hast du keinen Kontakt mehr zu ihr?«

Dahl wollte wohl nicht lockerlassen.

»Doch, sicher, wir telefonieren ab und zu«, sagte Curry und nickte.

»War das damals Notwehr, oder hat sie den Kerl wirklich einfach so umgebracht?«

Curry gab vor, sich plötzlich ungeheuer für die Vorgänge in der Wohnung dort oben zu interessieren, aber so leicht sollte er nicht davonkommen.

»Angeblich ist sie einfach durchgedreht. Ist nicht ganz bei sich. Sie hat ihn doch umgebracht, oder? Das war doch nicht Munch.«

Curry seufzte.

Es war ein großer Fall gewesen, vor einigen Jahren. Er hatte auch damals unten in Grønland die Gemüter erregt. Munch und Mia waren einer Spur zu einem Campingplatz oben beim Tryvann gefolgt, auf der Suche nach einem verschwundenen Mädchen. Sie waren dort eingetroffen und hatten etwas ganz anderes vorgefunden. Einen bekannten Dealer und Junkie, Markus Skog. Den Ex von Mias Zwillingsschwester Sigrid. Mia hatte ihm zweimal in die Brust geschossen. Sie war sofort beurlaubt worden, und da Munch sie verteidigte, wurde auch er bestraft. In eine andere Stadt versetzt. Die Einheit war stillgelegt.

»Das war Notwehr«, sagte Curry und hoffte auf einen Themenwechsel.

»Aber sie hat geschossen?«

»Ja, das hat sie. Munch ist erst danach dazugekommen, glaube ich.«

»Wie konnte er sie dann verteidigen?«

Dahl trank einen Schluck Kaffee und zwinkerte ihm zu.

»Haben ihr die Zeitungen übrigens diesen Spitznamen gegeben?«

Curry seufzte wieder. Das war offenbar das Thema des Tages. Der Fall war von den Medien aufgegriffen worden, und im Handumdrehen war Mia Krüger im ganzen Land bekannt gewesen. Freiwild. Das neue Lieblingsobjekt der Paparazzi. Der Staub hatte sich zum Glück bald wieder gelegt, die Geier waren zum nächsten Opfer weitergezogen, aber die Neugier in der Truppe war offenbar geblieben.

»Welchen Spitznamen?«

»Mia Mondkind?«

»Nein, der Name kam von ihrer Oma.«

Curry stellte den Becher weg und drehte sich gereizt zu dem Kollegen um.

»Es liegt, glaube ich, daran, dass sie aussieht wie eine Indianerin. Du weißt schon, lange schwarze Haare. Wird im Sommer schnell braun. Sie ist übrigens adoptiert, hast du das gewusst?«

»Was? Nein …«

»Doch, alle beide«, Curry nickte. »Gleich nach der Geburt. Mia und Sigrid. Von einem Ehepaar draußen in Åsgårdstrand. Sind jetzt tot, ja, allesamt, auf demselben Friedhof begraben, nur sie ist noch übrig. Und ja, sie hat eine Narbe über einem Auge. Ein Typ bei einer Vernehmung, blitzschnell, ein Glück, dass sie nicht blind geworden ist. Ihr fehlt auch ein Glied an einem Finger. Ein Rottweiler, glaube ich. Hat ihr die Zähne einfach so in die Hand geschlagen, offenbar musste sie das Viech dann erschießen.«

Dahl fuhr sich mit der Hand durch die schütteren Haare, grinste und nickte.

Curry zog seinen Pullover hoch.

»Hier, glaube ich.«

»Ja, ja, reg dich ab«, murmelte Dahl. »War ja nur ’ne Frage. Verdammt, sollen wir den ganzen Tag hier rumsitzen?«

»Ja, warum sollen wir das eigentlich?«, fragte Curry. »Das Mädel geht ja offenbar nirgendwohin. Vermutlich schwebt sie da oben auf einer rosa Wolke, und wir verbrauchen Ressourcen, die wir anderswo besser einsetzen könnten.«

»Befehl«, sagte Dahl sauer und zuckte mit den Schultern. »Was ist heute in dich gefahren? Kein Frühstück gekriegt, oder was?«

Curry schüttelte den Kopf und trank wieder einen Schluck aus seiner Wasserflasche. Die Jungs von der Droge. Das hatte sich kein bisschen verändert. Die Stadt war in den letzten Wochen von Heroin überschwemmt worden, und Gerüchte wollten wissen, dass es besonders gute Ware war. Das Überdosisteam arbeitete rund um die Uhr, und Curry hatte keinerlei Zweifel daran, dass irgendetwas am System nicht stimmte. Hier oben im angeblich besten Land der Welt. Vielleicht wäre es richtiger, den Scheiß zu legalisieren? Struktur in die Sache zu bringen? Die Menschen hatten ein Bedürfnis, sich zu berauschen, keine Frage, warum sollte also der Staat nicht alles regeln? Nicht Heroin, vielleicht, aber die weichen Drogen, Hasch, Marihuana, den Leuten ein bisschen Bewegungsfreiheit geben, nicht auf Profit aus sein, alles entkriminalisieren? Das würde alles sehr viel einfacher machen. Einen siebzehn Jahre alten Junkie zu beobachten, das Mädel war doch vollauf damit beschäftigt, den Tag zu überleben. Wozu sollte das gut sein, zum Teufel?

Dahl saß schweigend neben ihm auf dem Sitz und hatte offenbar nichts kapiert.

Scheiß über Mia Krüger reden?

Nix da, zum Teufel.

Nicht in seiner Schicht.

Neidische Drecksäcke.

»Also«, Dahl räusperte sich nach einer Weile, in dem deutlichen Versuch, jetzt einen besseren Eindruck zu machen. »Diese Frau, die oben im See gefunden worden ist. Fetter Fall, was? Im Ballettkostüm. Hast du gehört, oder?«

»Nein«, sagte Curry.

»Komisch, dass wir nichts erfahren, findest du nicht? Ich meine, zwei Tage her, da müsste doch intern inzwischen einiges bekannt sein?«

»Die Kripo«, sagte Curry und seufzte. »Die lassen sich doch nie in die Karten gucken.«

»Na ja, ich weiß nicht«, sagte Dahl. »Ich glaube, das ist nicht alles.«

»Ach?«

»Du weißt das nicht von mir, aber ich habe eine Freundin oben in der Technik, die sagt, sie haben etwas Seltsames gefunden.«

»Was denn?«

»Nein, das hat sie nicht gesagt, denen ist offenbar allen ein Maulkorb verpasst worden.«

»Ach was«, kommentierte Curry und trank wieder einen Schluck Kaffee.

»Ja, es gibt bestimmt was, das sie uns nicht erzählen wollen«, sagte Dahl. »Mann, ich hab Hunger. Kann gern einen Moment allein hier sitzen. Vielleicht kannst du uns was zu essen besorgen?«

»Aber verdammt, du warst doch eben erst draußen? Warum hast du nichts mitgebracht?«

Dahl zuckte mit den Schultern und nickte zu der Wohnung hoch, wie um zu signalisieren, dass er so wenig wie möglich verpassen wollte.

Curry seufzte. Er konnte wirklich nicht begreifen, warum sie den ganzen Tag die siebzehn Jahre alte Junkiefrau im Auge behalten sollten.

Er wollte gerade aus dem Auto steigen, als auf seinem Telefon eine Mitteilung einging. Curry konnte sein Lächeln nicht verbergen, als er sie gelesen hatte.

»Was läuft?«, fragte Dahl.

»Dein Essen kannst du dir selber holen.«

»Wie meinst du das?«

»Das war Anette Goli. Die Einheit wird aktiviert. Viel Glück mit Junkie-Lotte.«

Curry lächelte und klopfte dem Kollegen auf die Schulter, ehe er ausstieg, ein Taxi heranwinkte und sich in die Innenstadt fahren ließ.

• 8 •

Karoline Berg war Anfang vierzig, hatte halblange blonde Haare, ihre Pupillen waren verengt aufgrund der Schmerzmedikation, aber kein Medikament auf der Welt konnte verbergen, dass etwas in ihr gestorben war und niemals wieder zum Leben erwachen würde. Sie hatte unbedingt aufstehen wollen, um die Besucher zu empfangen, auch wenn es deutlich war, dass ihre Beine sie nur mit Mühe trugen.

»Wir wissen es wie gesagt sehr zu schätzen, dass Sie sich die Zeit für ein Gespräch mit uns nehmen«, sagte Munch, als die Formalitäten erledigt waren und Karoline Berg wieder in ihrem Krankenhausbett lag.

Mia Krüger hatte kein gutes Gefühl. Frau Berg schien nicht von dieser Welt zu sein, nicht anwesend im Raum, jedenfalls nicht in der Lage, eine polizeiliche Befragung über sich ergehen zu lassen. Mia hätte am liebsten schon in der Tür wieder kehrtgemacht.

»Ich kann es einfach nicht begreifen, dass sie nicht mehr da ist.«

Eine dünne, brüchige Stimme und ein benommener Blick.