Federgrab - Samuel Bjørk - E-Book
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Federgrab E-Book

Samuel Bjørk

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Beschreibung

Aus einem Jugendheim bei Oslo verschwindet ein siebzehnjähriges Mädchen. Einige Zeit später wird sie tot im Wald gefunden – gebettet auf Federn, umkränzt von einem Pentagramm aus Lichtern und mit einer weißen Blume zwischen den Lippen. Die Ermittlungen des Teams um Kommissar Holger Munch und seine Kollegin Mia Krüger drehen sich im Kreis, bis sie von einem mysteriösen Hacker kontaktiert werden. Er zeigt ihnen ein verstörendes Video, das neue Details über das Schicksal des Mädchens enthüllt. Und am Rande der Aufnahmen ist der Mörder zu sehen, verkleidet als Eule – der Vogel des Todes …

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Buch

Ein Botaniker macht eine grauenvolle Entdeckung: Bei einer Expedition in den Wald findet er die Leiche eines siebzehnjährigen Mädchens – nackt, gebettet auf einen Untergrund aus Federn, umkränzt von einem Pentagramm aus Lichtern und mit einer weißen Blume zwischen den Lippen. Die Tote weist seltsame Verletzungen auf, doch das Merkwürdigste ist, dass in ihrem Magen ausschließlich Tierfutter zu finden ist. Die Ermittlungen von Kommissar Holger Munch und seiner Kollegin Mia Krüger drehen sich im Kreis, bis der Computernerd des Teams, Gabriel Mørk, von einem mysteriösen Hacker kontaktiert wird, der ihm einen verstörenden Film zeigt. Das Video enthüllt neue Details über das Schicksal des Mädchens. Und am Rande der Aufnahmen sind die Konturen des Mörders zu erkennen – er ist verkleidet wie eine Eule …

Weitere Informationen zu Samuel Bjørk

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

SAMUEL BJØRK

Federgrab

Thriller

Aus dem Norwegischen

von Gabriele Haefs

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen.

Die Originalausgabe erschien 2015 unter dem Titel»Uglen« bei Vigmostad & Bjørke, Norwegen.

Copyright © der Originalausgabe 2015 by Samuel Bjørk

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2016

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Straße 28, 81673 München

Published by agreement with Ahlander Agency

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: plainpicture/Briljans/Peter Gerdehag; FinePic®, München

Redaktion: Nike Karen Müller

AG · Herstellung: Str.

Satz: omnisatz GmbH, Berlin

ISBN 978-3-641-18247-2 V008

www.goldmann-verlag.de

An einem Freitag des Jahres 1972, als der Pastor in Sandefjord für den Abend die Kirche abschließen wollte, traf ein so besonderer Besuch ein, dass der Geistliche es für angeraten hielt, sein Büro ein wenig länger offen zu halten.

Er hatte die junge Frau noch nie gesehen, der junge Mann dagegen war ihm bekannt. Es war der älteste Sohn des angesehensten Bürgers der Stadt, ein Reeder, der nicht nur zu den Reichsten des Landes gehörte, sondern zudem eine Stütze der Kirche war, und dessen Spenden unter anderem zehn Jahre zuvor den Ankauf des großen Altarbildes aus grob behauenem Mahagoni ermöglicht hatten. Geschaffen hatte das Bild, das siebzehn Szenen aus dem Leben Jesu zeigte, der Künstler Dagfin Werenskiold, und der Pastor war ungeheuer stolz auf diesen Schatz.

Die beiden jungen Leute hatten einen nicht alltäglichen Wunsch. Sie wollten heiraten und baten den Pastor, sie in aller Stille zu trauen. So etwas kam zwar vor, aber die Umstände waren in diesem Fall so außergewöhnlich, dass der Pastor die Bitte zuerst für einen Scherz hielt. Aber er kannte den Reeder, wusste, wie fromm und konservativ der alte Herr war, und begriff dann auch, dass es dem jungen Paar wirklich ernst war. Der Reeder war seit einiger Zeit schwer krank, Gerüchten zufolge lag er bereits im Sterben. Der junge Mann, der hier vor dem Geistlichen saß, würde bald ein gewaltiges Vermögen erben, sein Vater hatte damit jedoch eine Forderung verbunden. Es durfte kein fremdes Blut in die Familie geholt werden. Die Frau, die sein Erbe zu seiner Gattin machte, durfte unter keinen Umständen ein Kind aus einer früheren Verbindung haben. Und das war das Problem. Die junge Frau, in die der Reederssohn leidenschaftlich verliebt war, hatte schon Kinder. Eine kleine Tochter von zwei Jahren und einen Sohn von vier. Die Kinder mussten verschwinden, und der Pastor musste das Paar trauen, die Frau behauptete, der konservative Reeder habe es so verlangt. Wäre das also möglich?

Der Plan der beiden sah so aus: Der junge Mann hatte eine entfernte Verwandte in Australien. Sie war bereit, sich um die Kinder zu kümmern. Bis die Formalitäten geklärt wären. Ein Jahr oder zwei, dann würden die Kinder zurückgeholt werden. Vielleicht würde der Reeder auch früher den Weg ins Himmelreich finden. Wie sah der Herr Pastor das wohl? Würde er großherzig genug sein, um den beiden jungen Leuten aus ihrer Notlage herauszuhelfen?

Der Pastor gab vor, sich die Sache zu überlegen, in Wirklichkeit aber stand sein Entschluss bereits fest. Der Briefumschlag, den der junge Mann diskret vor ihn auf den Tisch gelegt hatte, war dick, und warum sollte man einem jungen Paar in Not nicht helfen? Die Bedingung des alten Reeders war nun wirklich nicht hinnehmbar. Der Pastor erklärte sich bereit, das Paar zu trauen, und in einer kleinen Zeremonie, die bei verschlossener Kirchentür vor dem farbenfrohen Altarbild abgehalten wurde, wurden die beiden weniger als eine Woche darauf zu Mann und Frau.

Nicht ganz ein Jahr später, im Januar 1973, stand abermals Besuch im Pfarrbüro, diesmal war es die junge Frau allein. Sie war sichtlich besorgt und erzählte, sie wisse nicht, an wen sie sich sonst wenden solle. Etwas könne hier nicht stimmen. Sie habe kein Wort über die Kinder gehört. Ihr seien Bilder versprochen worden, Briefe, aber es sei nichts gekommen, nicht eine Zeile, ja, ihr kämen langsam Zweifel, ob diese Verwandte in Australien wirklich existierte. Die Frau erzählte ferner, dass ihr Ehemann nicht der war, für den sie ihn gehalten hatte. Sie sprachen nicht mehr miteinander, hatten nicht einmal ein gemeinsames Schlafzimmer, und er hatte zudem Geheimnisse, finstere Geheimnisse, Dinge, die sie nicht laut sagen konnte, an die sie fast nicht zu denken wagte. Ob der Pastor ihr wohl helfen könne. Der Pastor versuchte, sie zu beruhigen, sagte, natürlich werde er ihr helfen, er müsse sich die Sache noch überlegen, sie solle einige Tage darauf zurückkommen.

Am nächsten Morgen wurde die junge Frau tot aufgefunden, sie hing über dem Lenkrad ihres Wagens in einem tiefen Graben direkt unterhalb des luxuriösen Familiensitzes auf Vesterøya, gleich außerhalb von Sandefjords Ortskern. In der Zeitung wurde angedeutet, sie habe sich in angetrunkenem Zustand hinters Steuer gesetzt, und die Polizei gehe von einem Unfall aus.

Nachdem er im Auftrag der Familie den Beerdigungsgottesdienst verrichtet hatte, beschloss der Pastor, dem jungen Reeder einen Besuch abzustatten. Er erklärte wahrheitsgemäß, dass die junge Frau am Tag vor dem Unfall bei ihm gewesen sei. Dass sie sich um ihre Kinder gesorgt habe. Dass hier etwas, na ja, vielleicht nicht so war, wie es sein sollte? Der junge Reeder hörte zu und nickte. Erklärte, seine Frau sei in letzter Zeit leider sehr krank gewesen. Habe Medikamente nehmen müssen. Zu viel getrunken. Der Herr Pastor habe das tragische Ende ja selbst gesehen. Danach schrieb der junge Reeder eine Zahl auf ein Blatt Papier und schob es über den Tisch. Sei diese Stadt nicht eigentlich ein wenig zu klein für den Pastor? Könnte es besser sein, dem Herrn in einer anderen Stellung zu dienen, vielleicht nicht so weit von der Hauptstadt entfernt? Einige Minuten darauf hatten sie sich über die Einzelheiten geeinigt. Der Pastor erhob sich, und es war das letzte Mal, dass er den mächtigen jungen Reeder sah.

Einige Wochen darauf packte er seine Koffer.

Und setzte nie wieder einen Fuß nach Sandefjord.

Das kleine Mädchen lag so still wie nur möglich unter der Decke auf dem Sofa und wartete darauf, dass die anderen Kinder einschliefen. Ihr Entschluss stand jetzt fest. In dieser Nacht sollte es passieren. Sie würde sich nicht mehr fürchten. Nicht mehr warten. Sie war sieben Jahre alt und bald groß. Sie würde es tun, wenn es etwas dunkler war. Sie hatte die Schlaftablette nicht genommen. Sie hatte sie nur unter der Zunge liegen lassen, da hatte die Tablette die ganze Zeit gelegen, auch als sie Tante Juliane gezeigt hatte, wie brav sie alles gemacht hatte.

»Lass sehen.«

Zunge raus.

»Braves Mädchen. Nächste.«

Ihr Bruder machte das schon lange so. Seit er damals in den Erdkeller eingesperrt worden war. Jeden Abend hatte er es gemacht, hatte die Tablette einfach unter die Zunge geschoben, ohne zu schlucken.

»Lass sehen.«

Zunge raus.

»Braver Junge. Nächster.«

Drei Wochen da unten in der Finsternis, weil er nicht um Entschuldigung bitten wollte. Alle Kinder wussten, dass er nichts angestellt hatte, aber die Erwachsenen hatten ihn trotzdem eingesperrt. Seit damals war er ein anderer. Jeden Abend einfach die Tablette unter die Zunge geschoben, ohne zu schlucken, und im Dämmerzustand, wenn ihre eigene Tablette anfing zu wirken, hatte sie gesehen, wie sich sein Schatten aus dem Zimmer schlich und verschwand.

Einige Male hatte sie von dem Ort geträumt, zu dem er ging. Einmal war er ein Prinz gewesen, der in ein fremdes Land ziehen musste, um eine Prinzessin aus einem langen Schlaf wachzuküssen. Ein andermal ein Ritter, der einen Drachen mit einem magischen Schwert erschlug. Das Schwert hatte vorher fest in einem Felsblock gesteckt, sodass nur ein ganz besonderer Held es herausziehen konnte. Aber in Wirklichkeit? In Wirklichkeit wusste sie nichts.

Die Kleine wartete, bis sie hörte, dass die anderen Kinder schliefen, dann schlich sie sich vorsichtig aus dem Haus. Es war jetzt Winter und noch immer warm, auch wenn sich die Dämmerung zwischen den Bäumen verdichtete. Die Kleine schlich barfuß über den Hof und hielt sich im Schatten, bis sie das Wäldchen erreicht hatte. Nachdem sie sich davon überzeugt hatte, dass niemand ihr gefolgt war, lief sie zwischen den hohen Bäumen auf das Tor zu, das mit der Aufschrift »Trespassers will be prosecuted« versehen war. Hier wollte sie anfangen zu suchen.

Sie hatte gehört, wie ihr Bruder und einer der anderen Jungen darüber getuschelt hatten. Dass es einen Ort gab, wo man allein sein könnte. Einen verfallenen alten Schuppen, eine kleine Hütte, versteckt an der Grundstücksgrenze, aber sie hatte dieses Häuschen noch nie gesehen. Sie standen jeden Morgen um sechs auf und gingen um neun Uhr schlafen. Immer pünktlich, dasselbe Programm, niemals anders, mit nur zweimal fünfzehn Minuten Pause zwischen Unterricht, Hausaufgaben, Yoga, Kleiderwäsche und allem anderen, was zu tun war. Die Kleine lächelte, als sie die Grillen zirpen hörte und spürte, wie das weiche Gras ihre Fußsohlen kitzelte, als sie vom Weg abbog und sich vorsichtig am Zaun entlang zu der Stelle bewegte, wo in ihrer Vorstellung die kleine Hütte stehen könnte. Aus irgendeinem Grund hatte sie keine Angst. Sie fühlte sich fast ein wenig erleichtert, die furchtbare Angst würde sich erst später einstellen, im Moment war sie einfach froh, wie ein freier Schmetterling, ganz allein mit ihren Gedanken in dem schönen Wald, der so gut roch. Sie lächelte noch glücklicher und ließ die Finger über eine Pflanze gleiten, die einem Stern ähnelte, es war ein bisschen so wie in einem der Träume, die sie oft hatte, wenn die Tabletten nicht so stark waren. Sie duckte sich unter einem Ast und zuckte nicht einmal zusammen, als es einige Meter weiter im Gebüsch raschelte. Vielleicht ein Koalabär, der sich von seinem Baum gewagt hatte, oder ein Känguru, das über den Zaun gesprungen war? Sie lachte leise und dachte, wie schön es wäre, einen Koala zu streicheln. Sie wusste, dass diese Tiere scharfe Krallen hatten und eigentlich durchaus nichts zum Schmusen waren, aber sie versuchte trotzdem, sich vorzustellen, wie es wäre, das weiche Fell warm zwischen ihren Fingern, die feuchte Schnauze, die an ihrem Hals kitzelte, sie vergaß fast, warum sie überhaupt hier war, aber dann erwachte sie plötzlich und blieb ganz still stehen, nur wenige Meter von der Hüttenwand entfernt. Das kleine Mädchen legte den Kopf schief und schaute neugierig die plötzlich aufgetauchten grauen Bretter an. Dann stimmte es ja doch. Das, worüber die anderen getuschelt hatten. Es gab einen Ort im Wald. Einen Ort, wo man sich verstecken konnte. Ganz allein sein. Sie schlich auf die graue Wand zu und spürte ein wunderbares Prickeln auf der Haut, als sie sich der Tür näherte.

Das kleine Mädchen wusste noch nicht, dass der Anblick, der auf sie wartete, sie für immer verändern, sie in den kommenden Jahren jede Nacht in ihre Träume verfolgen würde, bis unter die Decke auf dem harten Sofa, bis ins Flugzeug um den halben Erdball, nachdem die Polizei sie herausgeholt hatte, während sie alle weinten, bis unter die Decke in dem weichen Bett in dem neuen Land, wo alle Geräusche anders waren. Sie wusste nichts davon, als sie die Hand zur Holzklinke streckte und die ächzende Tür langsam aufzog.

Drinnen war es dunkel. Ihre Augen brauchten einige Sekunden, um wieder richtig sehen zu können, aber es konnte keinen Zweifel geben. Erst nur der Umriss, dann deutlicher, er war es, der dort saß.

Ihr Bruder.

Er trug keine Kleider. Er war nackt, aber sein ganzer Körper war bedeckt mit … Federn? Er saß zusammengekrümmt in einer Ecke, eine vogelähnliche verzerrte Gestalt aus einer anderen Welt, mit etwas im Mund. Ein kleines Tier. Eine Maus? Ihr Bruder war mit Federn bedeckt und hielt eine tote Maus zwischen den Zähnen.

Und dieses Bild sollte ihr Leben verändern. Der Bruder, der sich umdrehte und sie ansah, mit überraschtem Blick, als wisse er nicht, wer sie war. Das Licht, das durch das verdreckte Fenster auf die mit Federn bedeckte Hand fiel, die sich langsam durch die Luft bewegte. Der Mund, der zu einem Lächeln über den glänzend weißen Zähnen wurde, als er die Maus herauszog und seinen toten Blick in den des Mädchens bohrte, ehe er seine Federn rascheln ließ und sagte:

»Ich bin die Eule.«

• Teil I •

• 1 •

Der Botaniker Tom Petterson nahm die Fototasche aus dem Auto und ließ sich Zeit, um den Ausblick auf den spiegelblanken Fjord zu genießen, ehe er sich auf den Weg durch den Wald machte. Es war Anfang Oktober, und die kühle Samstagssonne hüllte die Landschaft um ihn herum in wunderschönes Licht, sanfte Strahlen über dem gelben und roten Herbstlaub, das sehr bald fallen und Platz für den Winter machen würde.

Tom Petterson liebte seinen Beruf. Vor allem wenn er draußen arbeiten konnte. Er war von der Bezirksregierung von Oslo og Akershus angestellt worden, um Exemplare der Art Drachenkopf zu registrieren, eine gefährdete Pflanze, die am Oslofjord wuchs. Jetzt war über seinen Blog ein Tipp gekommen, und dem wollte er an diesem Tag nachgehen, wollte Anzahl und genaue Position der frisch entdeckten Exemplare dieser überaus seltenen Pflanze festhalten.

Der krautartige Lippenblütler Drachenkopf war eine zehn bis fünfzehn Zentimeter große Pflanze mit blauen, dunkelblauen oder dunkellila Blüten, die im Herbst vertrockneten und eine Dolde aus braunen Früchten entwickelten, die an eine Kornähre erinnerte. Der Drachenkopf war nicht nur selten, er war noch dazu die Wohnstatt des noch viel selteneren Drachenkopfglanzkäfers, eines kleinen blau schimmernden Käfers, der ausschließlich auf diesen Drachenkopfblüten lebte. Ein Wunder der Natur, dachte Tom Pettersson und gestattete sich ein Lächeln, als er vom Pfad abbog und der Wegbeschreibung folgte, die der aufmerksame Hobbybotaniker ihm geschickt hatte. Einige Male, er sagte es niemals laut, denn er war in dem Glauben erzogen, dass es absolut keinen Gott gebe, seine Eltern hatten das sehr genau genommen, aber ja, manchmal dachte er es doch: Schöpfung. Dieses ganze Kleine und Große, das auf so sinnreiche Weise zusammenhing. Die Vögel, die jeden Herbst nach Süden flogen, gewaltige Entfernungen, jedes einzelne Mal an denselben Ort. Die Blätter, die jedes Jahr zur selben Zeit die Farbe änderten und Bäume und Boden zu lebenden Kunstwerken machten. Nein, wie gesagt, er sagte es niemals laut, dachte es aber oft.

Tom Petterson arbeitete am Institut für Biowissenschaft der Universität Oslo. Dort hatte er studiert, und nach dem Examen war ihm eine Stelle angeboten worden. Im vergangenen Herbst war auf den Gängen sogar von der Stellung des Institutsleiters gemurmelt worden. Aber Tom Petterson hatte nicht versucht, die zu erlangen. Institutsleiter? Nein, der Posten hatte für seinen Geschmack viel zu viel mit Verwaltungsaufgaben zu tun. Ihm gefielen seine Stellung, die Ausflüge in die Natur, deshalb war er Botaniker geworden, nicht um bei Besprechungen herumzusitzen.

Er hatte den Auftrag hocherfreut angenommen, als von der Bezirksregierung aus angerufen worden war. Der Beschützer des Drachenkopfes, ja, der wollte er nur zu gerne sein. Der Botaniker lächelte, als er daran dachte, was er einige Jahre zuvor auf Snarøya entdeckt hatte. Eine große Ansammlung von Pflanzen auf dem Spielplatz der Millionäre. Nicht alle waren natürlich gleichermaßen begeistert gewesen, und die, die sich bei der Fundstelle Grundstücke gekauft hatten, wollten ihre Villen und Swimmingpools in Ruhe bauen dürfen, aber der Drachenkopf war durch die Berner Konvention unter Naturschutz gestellt und durfte absolut nicht gestört werden. Er bückte sich nach rechts unter zwei großen Tannen hindurch und folgte einem Bachlauf aufwärts zu der Stelle, wo angeblich die Pflanzen standen. Tom Petterson war ein leidenschaftlicher Umweltschützer, und es hatte ihn gefreut zu sehen, dass ausnahmsweise einmal eine kleine Pflanze den Sieg über die Bagger errungen hatte.

Er stieg über einen Bach und blieb plötzlich stehen, als er vor sich im Gestrüpp ein Rascheln hörte. Petterson hob schussbereit die Kamera. Ein Dachs? Hatte er da einen Dachs gesehen? Dieses scheue Tier, das durchaus nicht so verbreitet war, wie viele glaubten? Er folgte dem Geräusch und stand bald auf einer kleinen Lichtung, zu seiner Enttäuschung, ohne etwas zu sehen. Ihm fehlte für seinen Blog ein gutes Dachsbild, und es würde auch eine schöne kleine Geschichte ergeben, drei Drachenköpfe und ein Dachs, ein perfekter Samstagsausflug.

Mitten auf der Lichtung lag etwas.

Ein blauweißer nackter Körper.

Ein Mädchen.

Ein Teenager?

Tom Pettersson zuckte dermaßen zusammen, dass ihm die Kamera ins Heidekraut fiel, ohne dass er es bemerkte.

Im Heidekraut lag ein totes Mädchen.

Federn?

Großer Gott.

Im Wald lag ein nackter Teenager.

Umgeben von Federn.

Mit einer weißen Lilie im Mund.

Tom Petterson machte auf dem Absatz kehrt, bahnte sich keuchend einen Weg durch das Dickicht, fand den Weg, lief so schnell er konnte zum Auto und wählte die 112.

• 2 •

Kommissar Holger Munch von der Mordkommission saß vor seinem alten Haus in Røa im Auto und bereute, die Einladung angenommen zu haben. Er hatte bis vor zehn Jahren mit seiner damaligen Frau Marianne in dem weißen Einfamilienhaus gewohnt und es seither nicht mehr betreten. Der beleibte Ermittler steckte sich eine Zigarette an und kurbelte das Autofenster herunter. Er hatte vor einige Tagen seinen alljährlichen Gesundheitscheck hinter sich gebracht, und der Arzt hatte ihm wieder empfohlen, weniger fett zu essen und mit dem Rauchen aufzuhören, aber das hatte der fünfundfünfzig Jahre alte Polizist durchaus nicht vor, jedenfalls nicht Letzteres. Holger Munch brauchte Zigaretten, um denken zu können, und wenn er gern etwas tat, dann genau das, sein Gehirn benutzen.

Holger Munch liebte Schach, Kreuzworträtsel, Mathematik, alles, was die Gehirnzellen auf Trab brachte. Er saß oft vor seinem Rechner und chattete mit seinen Freunden über Magnus Carlsens Schachpartien oder über die Lösung von größeren oder kleineren mathematischen Rätseln, zum Beispiel eines, das soeben per Mail von seinem Freund Juri gekommen war, einem Professor aus Minsk, den er vor einigen Jahren im Internet kennengelernt hatte.

Eine Metallstange steht in einem See. Die Hälfte der Stange ist unter der Erde. Ein Drittel der Stange ist unter Wasser. 8 Meter der Stange ragen über das Wasser. Wie lang ist die ganze Stange? Gruß, J.

Munch fand die Antwort nach kurzem Nachdenken und wollte gerade eine Mail schicken, als sein Telefon klingelte. Er schaute auf das Display. Mikkelson. Sein Chef unten im Präsidium am Grønland-Platz. Munch ließ das Telefon einige Sekunden lang klingeln, spielte mit dem Gedanken, das Gespräch anzunehmen, entschied sich dann aber dagegen. Er drückte auf die Taste mit dem roten Hörer und steckte das Telefon wieder in die Tasche. Jetzt war Familienzeit. Das war vor etwas mehr als zehn Jahren sein Fehler gewesen. Er hatte sich nicht genug Zeit für die Familie genommen. Hatte rund um die Uhr gearbeitet, und wenn er dann ein seltenes Mal nach Hause kam, war er in Gedanken anderswo gewesen. Und nun stand er wieder vor diesem Haus, in dem sie jetzt mit einem anderen wohnte.

Holger Munch kratzte sich am Bart und schaute in den Spiegel, auf das große rosa Geschenk mit dem Goldband, das auf der Rückbank lag. Marion, seine Enkelin, hatte Geburtstag. Sein kleiner Augenstern wurde sechs. Deshalb hatte er sich bereit erklärt, nach Røa zu kommen, obwohl er eigentlich beschlossen hatte, niemals wieder einen Fuß in diese vier Wände zu setzen. Munch nahm einen langen Zug von seiner Zigarette und berührte die Senke an seinem Ringfinger, wo bis vor Kurzem noch der Trauring gesessen hatte. Er hatte ihn erst zehn Jahre nach der Trennung abgelegt. Hatte das vorher nicht über sich gebracht. Marianne. Sie war seine große Liebe gewesen. Er hatte sich vorgestellt, dass sie immer zusammenbleiben würden, und nach der Trennung hatte er nie auch nur ein einziges Date gehabt. Nicht dass sich keine Möglichkeiten geboten hätten. Nicht nur eine Frau hatte ein Auge auf ihn geworfen, nur hatte er eben niemals Lust gehabt. Es war ihm nicht richtig vorgekommen. Aber nun hatte er es getan. Den Trauring abgelegt. Der lag nun zu Hause im Badezimmer im Medizinschränkchen. Er hatte es nicht über sich gebracht, den Ring wegzuwerfen. Obwohl es zehn Jahre her war, durfte man doch wohl hoffen? Oder war das ein Fehler? Sollte er das tun, was ihm mehrere seiner Freunde immer schon geraten hatten? Im Leben weitergehen? Ausschau nach einer anderen halten?

Holger Munch seufzte tief, zog abermals an seiner Zigarette und schaute sich wieder das große rosa Geschenk an. Er hatte vielleicht auch diesmal übertrieben. Seine Tochter Miriam hatte im Laufe der Jahre schon oft mit ihm geschimpft, weil sie meinte, er verwöhne die kleine Marion. Kaufe ihr alles, worauf sie zeigte. Er hatte etwas gekauft, was nicht politisch korrekt war, von dem er jedoch wusste, dass seine Enkelin es sich mehr wünschte als alles andere. Eine Barbie-Puppe mit einem großen Barbie-Haus und einem Barbie-Auto. Er konnte förmlich hören, wie Miriam zu einem Vortrag ausholte. Über verwöhnte Kinder. Über Frauenkörper, Vorbilder und Ideale, aber bei aller Liebe, es war doch nur eine Puppe. Es war doch wirklich nichts dabei, wenn das kleine Mädchen sie sich so sehr wünschte?

Abermals klingelte sein Telefon, abermals war es Mikkelson, und abermals drückte Munch auf das rote Symbol. Als das Telefon zum dritten Mal klingelte, hätte er sich fast gemeldet. Mia Krüger. Er sandte seiner jungen Kollegin einen lieben Gedanken, nahm das Gespräch aber trotzdem nicht an. Familienzeit. Später zurückrufen. Vielleicht irgendwann am Abend einen Kaffee im Justisen? Das könnte er nach der Familienrunde dann sicher brauchen. Mit Mia reden. Er hatte schon lange nicht mehr mit ihr gesprochen und merkte, dass sie ihm fehlte.

Nur wenige Monate zuvor hatte er die junge Kollegin von einer Insel vor der Küste von Trøndelag zurückgeholt. Sie hatte sich von der Umwelt isoliert, ohne Telefon, er hatte nach Værnes fliegen, sich ein Auto mieten und sich von den Kollegen vor Ort mit dem Boot hinbringen lassen müssen. Er hatte die Unterlagen über einen Fall bei sich gehabt. Und die hatten Mia dann zurück in die Hauptstadt geholt.

Holger Munch brachte allen in seiner Einheit großen Respekt entgegen, aber Mia Krüger war etwas ganz Besonderes. Er hatte sie noch vor Ende ihrer Ausbildung von der Polizeischule geholt, Anfang zwanzig war sie gewesen, auf einen Hinweis des Rektors hin, eines alten Kollegen. Holger Munch hatte sich in einem Café mit ihr getroffen, eine zwanglose Begegnung außerhalb des Polizeigebäudes. Mia Krüger. Ein junges Mädchen in weißem Pullover und in einer engen schwarzen Hose, mit langen dunklen Haaren, fast wie eine Indianerin, mit den klarsten blauen Augen, die er jemals gesehen hatte. Er war sofort von ihr begeistert gewesen. Intelligent, selbstsicher und ruhig. Sie schien zu merken, dass er sie testen wollte, aber sie hatte dennoch höflich gelächelt, mit einem Funkeln in den Augen. Hältst du mich für blöd, oder was?

Mia Krüger hatte vor vielen Jahren ihre Zwillingsschwester Sigrid verloren. Sie hatten Sigrid nach einer Überdosis Heroin tot in einem Keller in Tøyen gefunden. Mia hatte Sigrids Freund verantwortlich gemacht, und bei einer Routinedurchsuchung eines Wohnwagens am Tryvann viele Jahre später waren sie durch einen Zufall auf ihn gestoßen, zusammen mit einem neuen Opfer. Im Affekt hatte Mia Krüger ihn erschossen, hatte ihm zwei Kugeln in die Brust verpasst. Holger Munch war dabei gewesen und wusste, dass diese Tat leicht als Notwehr hätte gelten können, doch nachdem er sie verteidigt hatte, war er versetzt und Mia war in eine Klinik eingewiesen worden. Nach fast zwei Jahren auf der Wache in Hønefoss war Munch endlich als Leiter der Ermittlungsgruppe in die Mariboes gate zurückgerufen worden. Er hatte auch Mia zurückgeholt, doch nachdem der aktuelle Fall aufgeklärt worden war, hatte der Chef unten in Grønland gemeint, sie wirke weiterhin labil. Mikkelson hatte sie abermals beurlaubt und ihr untersagt, sich im Büro zu zeigen, solange sie nicht von einem Psychologen für gesund erklärt worden sei.

Munch drückte einen weiteren Anruf seines Chefs weg, blieb sitzen und musterte sein Spiegelbild. Was machte er hier eigentlich? Zehn Jahre her, und hier saß er vor dem ehemals gemeinsamen Haus, in dem sie nun mit einem anderen Mann wohnte, noch immer mit einer Art Hoffnung, dass alles wieder in Ordnung kommen könnte.

Du bist ein Idiot. Holger Munch. Es sollten noch ganz andere zum Psychologen gehen.

Munch seufzte und stieg aus. Draußen war es jetzt kälter. Der Sommer war eindeutig vorüber, der Herbst auch, wie es schien, auch wenn der Oktober gerade erst angefangen hatte. Er zog seinen Dufflecoat enger über seinem Bauch zusammen, fischte das Telefon aus der Tasche und schickte Juri die Antwort.

48 meter :-) HA.

Er zog ein letztes Mal an der Zigarette, nahm das große Geschenk vom Rücksitz, atmete zweimal tief durch und ging langsam über den Kiesweg auf das weiße Einfamilienhaus zu.

• 3 •

Mia Krüger sah, dass sich der Mund des Mannes mit dem dünnen Schnurrbart hinter dem großen Schreibtisch bewegte, aber sie brachte es nicht über sich zuzuhören. Die Wörter kamen nicht bei ihren Ohren an. Sie vermisste die Möwen. Den Geruch der Wellen, die über die Felsen schlugen. Die Stille. Und wieder fragte sie sich, warum sie sich das hier zumutete. Eine Therapie zu machen. Über sich selbst zu reden. Als ob das helfen könnte. Sie zog eine Pastille aus der Tasche und bereute ein weiteres Mal, hier zugesagt zu haben. Sie hätte sofort kündigen müssen.

Labil und nicht für den Dienst geeignet.

Scheiß-Mikkelson, der von nichts eine Ahnung hatte, der nie aktiv an einem Fall mitgearbeitet hatte, der nur auf seinem Posten saß, weil er wusste, wie man den Politikern in gewisse Öffnungen kroch.

Mia seufzte und versuchte noch einmal zu verstehen, was der Mann hinter dem Schreibtisch gesagt hatte, es wurde offenbar eine Antwort von ihr erwartet, aber sie hatte die Frage nicht gehört.

»Was meinen Sie?«, fragte sie und dachte an das dünne junge Mädchen mit dem rasierten Hinterkopf und dem blonden Pony, das aus der großen Tür in das Zimmer gekommen war, wo man warten sollte, umgeben von Zeitschriften, deren Titelseiten für sie keinen Sinn ergaben. Mit Mentaltraining gesund werden. In 1–2–3 in Form.

»Tabletten?«, fragte der Psychologe, sicher zum dritten Mal, ließ sich im Sessel zurücksinken und nahm die Brille ab.

Ein Zeichen der Nähe. Dafür, dass sie sich hier sicher fühlen konnte. Mia seufzte und legte sich die Pastille auf die Zunge. Wusste er nicht, mit wem er redete, oder was? Sie hatte schon als kleines Kind das Innere von Menschen gesehen. Deshalb fehlten ihr die Möwen. In denen gab es nichts Böses. Nur Natur. Die Wellen, die über die Felsen schlugen. Das Geräusch von Stille und Nichts überall.

»Gut«, sagte Mia und hoffte, dass das richtig war.

»Sie haben also damit aufgehört?«, fragte der Psychologe und setzte die Brille wieder auf.

»Hab sie nicht viele Wochen genommen.«

»Und Alkohol?«

»Schon lange keinen Tropfen mehr«, sagte Mia, abermals ohne die Wahrheit zu sagen.

Sie sah auf die Uhr an der Wand über seinem Kopf, auf die Zeiger, die viel zu langsam vorrückten und ihr sagten, dass sie noch eine ganze Weile hierbleiben musste. Sie schickte noch einen hasserfüllten Gedanken an Mikkelson und einen an diesen Psychologen mit Praxis im besten Osloer Westend, nahm diesen Gedanken dann aber zurück. Es war nicht die Schuld des Psychologen. Der wollte ihr nur helfen. Und er hatte einen guten Ruf. Mattias Wang. Eigentlich hatte sie Glück gehabt, sie hatte sich einfach einen Namen aus dem Internet gefischt, nachdem sie beschlossen hatte, einen Versuch würde es wert sein. Sie wollte keinen von denen, die mit der Polizei zusammenarbeiteten. Schweigepflicht unten in Grønland? Nicht sehr wahrscheinlich, nicht wenn es um sie ging, Mia Krüger.

»Wir sollten wohl ein bisschen über Sigrid reden?«

Mia hatte ihr Visier ein wenig geöffnet, ließ es jetzt aber wieder sinken. Er konnte so freundlich und kompetent sein, wie er wollte, aber Mia war nicht hier, um über ihr Innerstes zu reden. Sie wollte wieder arbeiten. Ihre Stunden beim Psychologen hinter sich bringen. Sich das Papier holen, das sie brauchte. Sie wirkt vollständig gesund, gute Gespräche, kennt ihre Probleme. Ich empfehle Rückführung in den Dienst mit augenblicklicher Wirkung.

Sie lächelte in Gedanken und zeigte dort Mikkelson einen ausgestreckten Finger.

Ungeeignet zum Dienst.

Fuck you, das war natürlich das Erste, was sie gedacht hatte, aber nach fünf Wochen allein in der neuen Wohnung, die sie in Bislett gekauft hatte, umgeben von Pappkartons, die sie nicht öffnen mochte, gefangen in einem Körper, der noch immer nach den Tabletten schrie, mit denen sie ihn so lange gefüllt hatte, hatte sie nachgegeben. Sie hatte alle verloren, die sie geliebt hatte. Sigrid. Mama, Papa, die Großmutter. Auf dem Friedhof bei Åsgårdstrand fehlte nur sie allein. Eigentlich wollte sie diese Welt einfach verlassen. Von diesem ganzen Elend befreit sein. Aber nach einer Weile hatte Mia begriffen, dass sie ihre Kollegen eigentlich sehr gernhatte. Die Zeit im Dienst, nach dem Aufenthalt auf der Insel, hatte ihr ein Gefühl gegeben, dass es vielleicht möglich sein könnte, dass es vielleicht doch einen Sinn haben könnte zu leben. Es jedenfalls zu versuchen. Eine Zeitlang. Es waren feine Menschen. Gute Menschen. Menschen, die ihr wichtig waren.

Munch. Curry. Kim. Anette. Ludvig. Gabriel Mørk.

»Sigrid?«, fragte der Mann hinter dem Schreibtisch noch einmal.

»Ja?«, fragte Mia.

Nun gab es wohl kein Entrinnen.

Sigrid Krüger.

Schwester, Freundin und Tochter.

Geboren 11. November 1979. Gestorben 18. April 2002.

Zutiefst geliebt. Zutiefst vermisst.

Der Psychologe nahm wieder die Brille ab und ließ sich wieder im Sessel zurücksinken.

»Wir sollten bald mal über sie reden, finden Sie nicht?«

Mia zog den Reißverschluss ihrer Lederjacke zu und zeigte auf die Uhr an der Wand.

»Unbedingt.« Sie nickte und deutete ein Lächeln an. »Aber das muss bis zum nächsten Mal warten.«

Mattias Wang sah fast ein wenig enttäuscht aus, als er feststellte, dass die Zeiger das Ende der Stunde ankündigten.

»Ja, schön«, sagte er und legte den Kugelschreiber auf den Notizblock vor sich auf den Tisch. »Nächste Woche, selbe Zeit?«

»Okay.«

»Es ist doch wichtig, dass …«, sagte der Mann mit dem Schnurrbart, aber Mia war schon auf dem Weg hinaus.

• 4 •

Holger Munch verspürte eine gewisse Verärgerung, aber auch eine Art Erleichterung, als er zum ersten Mal seit zehn Jahren sein altes Zuhause betrat. Verärgerung, weil er sich dazu bereit erklärt hatte, Marions Geburtstag hier oben zu feiern. Erleichterung, weil es ihm davor gegraust hatte, sich den alten Erinnerungen zu stellen, er hatte nicht so recht gewusst, wie er damit umgehen sollte, aber das Haus, in dem er jetzt stand, hatte keine Ähnlichkeit mehr mit dem alten. Sie hatten renoviert. Einige Wände herausgerissen. In anderen Farben gestrichen. Munch ertappte sich zu seiner Überraschung bei dem Gedanken, dass sein früheres Zuhause eigentlich recht gut aussah, und je mehr er sich umblickte, umso ruhiger wurde er. Er konnte auch keine Spur von Rolf entdecken, dem Lehrer aus Hurum. Vielleicht würde es doch kein so ganz furchtbarer Nachmittag werden?

Marianne hatte ihn in der Tür empfangen, mit derselben Miene wie immer, wenn sie sich treffen mussten, ob nun zu Konfirmationen, Geburtstagen oder Beerdigungen, immer mit einem höflichen und freundlichen »Hallo«. Keine Umarmung, keine Zuneigungsbeweise, aber ohne Bitterkeit, Enttäuschung oder Hass in den Augen wie die ersten Male nach der Scheidung. Nur ein knappes, aber dennoch freundliches Lächeln, willkommen, Holger, setz dich doch schon mal ins Wohnzimmer, ich muss noch den Kuchen für Marion verzieren, sechs Kerzen. Stell dir das vor, dass sie schon so groß ist!

Munch hängte seinen Dufflecoat im Flur auf und wollte das Geschenk ins Wohnzimmer bringen, als er einen Freudenschrei hörte, gefolgt von eifrigen Schritten auf der Treppe aus dem ersten Stock.

»Opa!«

Marion kam auf ihn zugerannt und umarmte ihn fest.

»Ist das für mich?«, fragte die Kleine und starrte das rosa Geschenk aus großen Augen an.

»Herzlichen Glückwunsch zum Geburtstag«, sagte Munch lächelnd und streichelte die Haare seiner Enkelin. »Na, wie fühlt es sich an, sechs Jahre alt zu sein?«

»Nicht viel anders eigentlich, fast genau wie gestern mit fünf«, sagte Marion altklug und strahlte, ohne das Geschenk aus den Augen zu lassen. »Darf ich das jetzt aufmachen, Opa, sofort? Ach bitte, darf ich?«

»Wir müssen eigentlich erst noch das Geburtstagslied singen«, sagte Miriam, die jetzt auch aus dem ersten Stock heruntergekommen war.

Sie kam auf Munch zu und umarmte ihn.

»Wie schön, dass du kommen konntest, Papa. Geht es dir gut?«

»Mir geht’s gut«, sagte Munch und half ihr, das große Geschenk ins Wohnzimmer zu bringen, zu einem Tisch, auf dem schon mehrere Geschenke lagen.

»Ach, alles ist für mich, können wir nicht bald …«, bettelte die Kleine, es war deutlich, dass sie fand, sie warte schon viel zu lange.

Munch schaute zu seiner Tochter hinüber und erntete ein Lächeln. Es tat ihm gut, ihren Blick zu sehen. Ihr Verhältnis war nach der Scheidung gelinde gesagt alles andere als gut gewesen, aber seit einigen Monaten schien der Hass, den Miriam ihm in all den Jahren entgegengebracht hatte, langsam zu verschwinden.

Zehn Jahre. Ein kühles Verhältnis zwischen Vater und Tochter. Wegen der Scheidung. Weil er zu viel gearbeitet hatte. Und dann, seltsamerweise, hatte seine Arbeit sie wieder näher zusammengebracht, als ob es auf der Welt doch so etwas wie Gerechtigkeit gäbe. Keine sechs Monate zuvor, ein großer Fall, vielleicht einer der schwersten der Einheit, und Miriam und Marion waren sogar darin verwickelt gewesen. Die fünf Jahre alte Marion war von einem kranken Menschen entführt worden, und man hätte meinen können, das hätte zu einer noch größeren Distanz zwischen Munch und seiner Tochter geführt, aber das Gegenteil war der Fall gewesen. Miriam hatte ihn überhaupt nicht verantwortlich gemacht, sie war einfach nur überglücklich gewesen, weil die Einheit den Fall gelöst hatte. Eine Art neuer Respekt. Er glaubte, das in ihrem Blick zu bemerken, sie sah ihn jetzt anders, begriff, welch wichtige Aufgabe er hatte. Sie hatten beide eine Therapie gemacht, Miriam und Marion, bei einem hervorragenden Polizeipsychologen, um diese schrecklichen Erlebnisse zu verarbeiten, aber zum Glück schienen diese die Kleine nicht zu sehr zu belasten. Zu jung vielleicht, um zu verstehen, wie schlimm es wirklich hätte kommen können. Es hatte wohl einige Nächte gegeben, in denen Marion weinend aus bösen Träumen erwacht war, aber das hatte sich rasch gegeben. Für die Mutter war es natürlich schwerer. Miriam hatte die Therapie noch eine Weile ohne Marion fortgesetzt. Vielleicht ging sie noch immer hin, so eng war ihre Beziehung nicht, dass sie ihm alles gesagt hätte, aber sie waren auf dem richtigen Weg. Ein Schritt nach dem anderen.

»Wo ist Johannes?«, fragte Munch, als sie auf dem Sofa Platz genommen hatten.

»Ach, er hat Bereitschaftsdienst, und das Krankenhaus hat angerufen. Er musste los. Er kommt zurück, so schnell es geht. Die Arbeit, weißt du. Nicht so einfach, wenn man eine wichtige Persönlichkeit ist«, sagte seine Tochter und zwinkerte ihm zu.

Munch erwiderte ihr Lächeln.

»Dann wäre der Kuchen so weit«, sagte Marianne und kam ins Wohnzimmer.

Holger Munch musterte sie verstohlen. Er wollte nicht starren, aber er konnte sie doch nicht aus den Augen lassen. Sie erwiderte für einen Moment seinen Blick, und Munch hatte plötzlich Lust, sie zurück in die Küche zu locken und in den Arm zu nehmen, wie in alten Zeiten, aber er konnte sich zusammenreißen.

»Kann ich jetzt nicht aufmachen? Die Geschenke sind doch viiiiiel wichtiger als das blöde Lied.«

»Wir müssen aber singen und die Kerzen auspusten, weißt du«, sagte Marianne und fuhr ihrem Enkelkind über die Haare. »Und dann müssen wir warten, bis alle da sind, damit alle deine schönen Geschenke sehen.«

Marianne, Miriam, Marion und er. Holger Munch hätte sich eigentlich keinen besseren Rahmen für einen schönen Nachmittag wünschen können. Aber als wäre die Erklärung seiner Exfrau, dass sie noch warten müssten, ein Stichwort in einem Theaterstück gewesen, das ein Ereignis auslöste, ging die Haustür auf, und da stand Rolf, der Lehrer aus Hurum, mit einem Lächeln um den Mund und einem riesigen Blumenstrauß in der Hand.

»Hallo, Rolf«, sagte Marion, lief zur Tür und umarmte ihn.

Munch verspürte einen kleinen Stich, als er sah, wie sich die kleinen Arme um den Mann legten, den er nicht leiden konnte, aber das war schnell vorbei. Marion war ihm wichtiger als alles andere auf der Welt, und für sie war das Leben ja immer so gewesen. Opa, allein. Oma und Rolf, zusammen.

»Sieh mal, wie viele Geschenke ich kriege!«

Sie zog den Lehrer aus Hurum ins Wohnzimmer, damit er sich den Gabentisch ansehen konnte.

»Wie schön«, sagte Rolf und strich ihr übers Haar.

»Sind die auch für mich?«, fragte Marion und zeigte auf den großen Blumenstrauß.

»Nein, die sind für Oma«, sagte der Lehrer und warf Marianne einen Blick zu, die jetzt lächelnd in der Tür stand.

Munch sah den Blick, mit dem seine Exfrau Rolf bedachte. Und dann war es eigentlich vorbei. Das gute Gefühl, die Idylle. Die Pseudoidylle. Er stand auf, gab dem Lehrer die Hand und sah zu, wie der Mann, den er eigentlich hasste, der Exfrau den riesigen Blumenstrauß überreichte und sie auf die Wange küsste.

Zum Glück wurde er von Marion gerettet, deren Gesicht vor Spannung jetzt schon knallrot war und die einfach nicht mehr länger warten wollte.

»Jetzt muss aber endlich die Singerei kommen«, sagte die Kleine laut und erinnerte Munch unbewusst und freundlich daran, warum er überhaupt da war.

Sie sangen rasch, denn Marion hörte ja doch nicht zu. Sie blies die Kerzen auf dem Kuchen aus und machte sich über die Geschenke her.

Eine knappe halbe Stunde darauf war sie fertig und saß erschöpft vor den vielen Gaben. Die Barbie-Sachen hatten ihren Geschmack voll getroffen, sie war Munch um den Hals gefallen, und obwohl er einen missbilligenden Blick von Miriam erwartet hatte, weil er Marion schon wieder verwöhnte und nicht die richtigen Geschenke brachte, kam nichts. Seine Tochter lächelte nur, wie zum Dank, und gab ihm das Gefühl, dass alles in Ordnung war.

Dann ging schon wieder Munchs Telefon. Mikkelson, und jetzt kam er wie gerufen. Munch bat um Entschuldigung, ging nach draußen auf die Treppe, steckte sich die ersehnte Zigarette an und meldete sich.

»Ja?«

»Gehst du neuerdings überhaupt nicht mehr ans Telefon, oder was?«, grunzte eine gereizte Stimme am anderen Ende der Leitung.

»Familienkram«, antwortete Munch.

»Wie reizend«, sagte Mikkelson sarkastisch. »Es tut mir wirklich leid, in die Idylle zu platzen, aber ich brauche dich.«

»Was ist los?«, fragte Munch neugierig.

»Ein junges Mädchen«, sagte Mikkelson, jetzt ein wenig ruhiger.

»Wo?«, fragte Munch.

»Hurum. Ein Spaziergänger hat sie vor einigen Stunden gefunden.«

»Und wir sind sicher?«

»Womit denn?«

»Dass es ein 233 ist?«

Munch zog lange an der Zigarette. Er konnte die kleine Marion hinter der Tür lachen hören. Jemand jagte sie durch das Haus, sicher der Idiot, der seinen Platz eingenommen hatte. Munch schüttelte gereizt den Kopf. Geburtstagsfeier in dem alten Haus. Was hatte er sich dabei eigentlich gedacht?

»Leider ja«, antwortete Mikkelson. »Ich brauche dich sofort da draußen.«

»Alles klar, bin schon unterwegs«, sagte Munch und legte auf.

Er warf die Zigarette weg und lief schon die Treppe hinunter, als die Tür aufging und Miriam herauskam.

»Alles in Ordnung, Papa?«, fragte seine Tochter und sah ihn besorgt an.

»Was? Ja, sicher … nur … der Job.«

»Okay«, sagte Miriam. »Ich wollte auch bloß …«

»Was denn?«, fragte Munch ungeduldig.

»Dich auf die große Mitteilung vorbereiten«, sagte seine Tochter, ohne ihm in die Augen zu blicken.

»Was denn für eine Mitteilung?«

»Sie wollen heiraten«, sagte Miriam, noch immer, ohne ihn anzusehen.

»Wer?«

»Mama und Rolf. Ich habe versucht, ihr zu klarzumachen, dass heute vielleicht nicht ganz der richtige Zeitpunkt dafür ist, es zu sagen, aber ja …«

Miriam sah ihn jetzt an.

»Kommst du rein, oder?«

»Hab einen Fall«, sagte Munch schroff und wusste nicht, was er noch sagen sollte.

»Du musst also los?«, fragte Miriam.

»Ja«, nickte Munch.

»Warte, ich hol deine Jacke«, sagte Miriam und kam mit seinem Dufflecoat zurück.

»Dann sag ihnen meinen herzlichen Glückwunsch«, sagte Munch trocken und ging auf sein Auto zu.

»Ruf mich an, ja? Ich würde gern etwas mit dir besprechen, was für mich schon wichtig ist, irgendwann, wenn du Zeit hast, ja?«, rief Miriam hinter ihm her.

»Klar, Miriam, ich rufe an«, sagte Munch, lief über den Kiesweg, setzte sich in seinen schwarzen Audi und ließ den Motor an.

• 5 •

Es war noch keine fünf, aber dennoch schon fast dunkel, als Holger Munch bei den Polizeisperren am Rand von Hurumlandet ankam. Er hielt seinen Ausweis ins Fenster und wurde rasch von einem jungen Dienstanwärter weitergewinkt, dem es offenbar etwas peinlich war, ihn nicht gleich erkannt zu haben.

Munch hielt einige Hundert Meter hinter der Absperrung am Straßenrand und stieg aus. Er schlüpfte in seine Jacke und steckte sich eine Zigarette an.

»Munch?«

»Ja?«

»Olsen, Einsatzleiter.«

Munch ergriff die behandschuhte Hand des hochgewachsenen Polizisten mittleren Alters, den er noch nie gesehen hatte.

»Wie ist die Lage?«

»Das Opfer wurde an die sechshundert Meter oberhalb der Straße hier in nordnordwestlicher Richtung gefunden«, sagte Olsen und zeigte am dunklen Wald nach oben.

»Wen haben wir gerade vor Ort?«

»Kriminaltechnik. Rechtsmedizin. Einer von deinen … Kolstad?«

»Kolsø.«

Munch öffnete den Kofferraum seines Audi, nahm seine Stiefel heraus und wollte sie gerade anziehen, als sein Telefon klingelte.

»Munch?«

»Hier ist Kim. Bist du angekommen?«

»Ja, stehe unten auf der Straße. Wo bist du?«

»Oben beim Zelt. Vik ist fertig und verliert hier langsam die Geduld, aber ich habe gesagt, sie müssen sie liegen lassen, bis du da bist. Ich komm dich jetzt holen.«

»Ja, schön. Wie sieht es denn aus?«

»So was wie Schlaf können wir eine Weile vergessen. Das hier war ein kranker Teufel.«

»Wie meinst du das?«, fragte Munch und spürte plötzlich, wie ihn ein Gefühl des Unbehagens überkam.

Kranker Teufel?

Holger Munch hatte fast dreißig Jahre als Mordermittler hinter sich und fast alles gesehen, Dinge, die gewöhnliche Menschen um ihre Nachtruhe bringen würden, doch er verlor nur selten die Fassung, konnte meistens ein distanziertes professionelles Verhältnis dazu behalten, was er im Dienst sah, und hätte jemand anders diese Bemerkung gemacht, wäre er nicht weiter besorgt gewesen. Mia hätte es sagen können, der alles tief unter die Haut ging, oder Curry, dessen Stimmung dauernd wechselte, aber Kim? Munch gefiel das überhaupt nicht.

»Soll ich erzählen, oder willst du es dir selbst ansehen?«, fragte Kim jetzt.

»Die Kurzversion bitte«, sagte Munch und steckte sich einen Finger ins Ohr, als ein Streifenwagen plötzlich die Sirene einschaltete und dicht an ihm vorbeifuhr.

»Bist du noch dran?«, rief Kim.

»Ja, ja, sag den letzten Satz noch mal.«

»Weiblicher Teenager, vermutlich sechzehn oder siebzehn«, sagte Kim jetzt. »Nackt. Sieht aus wie ein, wie soll ich sagen … Ritual? Es liegen jede Menge Federn um sie rum. Und Kerzen stehen da …«

Munch steckte wieder den Finger ins Ohr, als ein weiterer Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht hinter dem anderen herfuhr.

»… aufgestellt wie eine Art Symbol.« Kim war wieder verschwunden. Munch warf einen gereizten Blick zu Einsatzleiter Olsen hinüber, der seinerseits telefonierte und in Richtung Absperrung gestikulierte.

»Ich kann dich nicht hören«, sagte Munch.

»Eine Art Sternenformation«, sagte Kim noch einmal.

»Was?«

»Nackter weiblicher Teenager. Ihr Körper ist zu einer seltsamen Haltung verdreht. Die Augen stehen weit offen. Hier liegen überall Federn herum …«

Wieder war Kims Stimme weg. »Ich höre dich nicht«, rief Munch und steckte sich wieder den Finger ins Ohr.

»… eine Blume.«

»Was?«

»Jemand hat ihr eine Blume in den Mund geschoben.«

»Eine was?«

»Ich höre dich nicht mehr«, sagte Kim durch lautes Rauschen hindurch. »Ich komme runter.«

»Okay, ich stehe bei …«, rief Munch in die Leitung, aber Kim hatte bereits aufgelegt.

Munch schüttelte den Kopf und zog ausgiebig an seiner Zigarette, als Einsatzleiter Olsen vor ihm auftauchte.

»Zwei Presseleute sind zu nah herangekommen, aber jetzt haben wir endlich die ganze Umgebung absperren können.«

»Gut.« Munch nickte. »Habt ihr schon mit der Runde angefangen? Bei den Häusern da oben?«

»Ja«, sagte Olsen und nickte ebenfalls.

»Weiß irgendwer was?«

»Soviel ich weiß, bisher nicht.«

»Na gut, wir dürfen auch den Campingplatz weiter oben an der Straße nicht vergessen, der ist sicher über Winter geschlossen, aber die Wohnwagen stehen ja da. Wer weiß, vielleicht haben wir Glück.«

Der Einsatzleiter nickte noch einmal und verschwand.

Munch zog seine langen Stiefel an und holte eine Mütze aus der Jackentasche. Er warf die Zigarette weg und steckte sich mit kalten roten Fingern eine neue an, er hatte Mühe, das Feuerzeug zu betätigen. Verdammt, war nicht der Sommer eben noch da gewesen? Es war nicht mal fünf Uhr nachmittags und schon finster wie in der kalten Nacht.

Kim kam aus dem Wald auf ihn zu, mit finsterer Miene hinter einer großen Taschenlampe.

»Bist du bereit?«

Bereit?

Kim war wirklich nicht so wie sonst. Es war deutlich, dass der Anblick dort oben im Wald ihm auf eine Weise zusetzte, die Munch noch nervöser machte.

»Geh dicht hinter mir her. Das Gelände ist hier verdammt unwegsam, okay?«

Munch nickte und folgte dem sonst so gelassenen Kollegen zu dem Pfad, der durch den Wald nach oben führte.

• 6 •

Miriam Munch stand vor der Wohnung in der Møllergate und überlegte, ob sie klingeln sollte oder nicht.

Es war die Wohnung von Julie. Eine ihrer alten Freundinnen. Julie hatte mehrere SMS geschickt und gemeint, Miriam müsse unbedingt kommen. Die beiden hatten sich vor ein paar Jahren sehr nahegestanden, damals hatten sie sich in der Hausbesetzerszene herumgetrieben und sich bei Amnesty International engagiert, zwei aufrührerische junge Mädchen, die das ganze Leben noch vor sich hatten und wirklich glaubten, es könne helfen, gegen die Übermacht zu protestieren. Jetzt schien das eine Ewigkeit her zu sein. Eine ganz andere Zeit. Ein ganz anderes Leben. Miriam seufzte und näherte ihren Finger langsam dem Klingelknopf, zog ihn dann aber zurück, blieb stehen und überlegte. Marion war bei Oma und Rolf. Zum Übernachten. Sie würde das ganze Wochenende nach ihrem Geburtstag dort verbringen, das hatte sie unbedingt so gewollt. Johannes war wie immer im Dienst, die Wohnung zu Hause war leer und wenig verlockend. Es war nicht so, dass sie nicht mehr ausgegangen war, seit sie Marion hatte, sie hatte schon ihr Sozialleben, nein, was sie zögern ließ, war etwas anderes. Sie betrachtete ihre Schuhe und fand plötzlich, dass sie albern aussah. Kleid und feine Schuhe. Sie konnte sich nicht erinnern, wann sie sich das letzte Mal so zurechtgemacht hatte. Sie hatte zu Hause über eine Stunde vor dem Spiegel gestanden, hatte sich mehrmals umgezogen, sich geschminkt, sich die Sache anders überlegt, sich ausgezogen, sich abgeschminkt, sich aufs Sofa gesetzt, den Fernseher eingeschaltet, versucht, etwas zu finden, das ihr Ruhe gab, aber das war ihr nicht gelungen. Also hatte sie den Fernseher wieder ausgeschaltet, sich abermals geschminkt, in immer neuer Kleidung eine weitere Runde vor dem Spiegel gedreht, und jetzt stand sie hier. Nervös wie ein kleiner Teenie, mit Schmetterlingen im Bauch, und sie wusste nicht mehr, wann es ihr zuletzt so gegangen war.

Was machst du hier eigentlich?

Sie schüttelte über sich selbst den Kopf. Sie war doch glücklich. In Gedanken hatte sie in den vergangenen Wochen diesen Satz so oft wiederholt. Du bist glücklich, Miriam. Du hast Johannes. Du hast Marion. Du hast das Leben, das du haben willst. Aber dennoch konnte sie es nicht verhindern. Dass sie Gedanken dachte, die sie nicht denken durfte. Sie hatte es versucht, aber diese Gedanken wollten sich nicht vertreiben lassen. Abends, kurz vor dem Einschlafen, den Kopf auf dem Kissen. Morgens, in dem Augenblick, wenn sie erwachte. Vor dem Badezimmerspiegel, während sie sich die Zähne putzte. Wenn sie Marion zur Schule brachte und ihr an dem großen schmiedeeisernen Tor zum Abschied winkte. Dieselben Gedanken, wieder und wieder, und dieses Bild im Kopf. Ein Gesicht. Das Gesicht. Die ganze Zeit dasselbe Gesicht.

Nein, das geht nicht.

Jetzt hatte sie sich entschieden.

Bis hierher und nicht weiter.

Sie holte Atem und lief schon die Treppe hinunter, als plötzlich hinter ihr die Tür geöffnet wurde und Julie auftauchte.

»Miriam? Wo willst du denn hin?«

Die Freundin hatte offenbar schon tüchtig gebechert, sie winkte mit einem vollen Glas Rotwein und lachte laut.

»Ich hab dich vom Fenster aus gesehen, aber ich dachte, du hättest dich vielleicht verlaufen. Komm schon, hier sind jede Menge Leute.«

Julie trank ihr zu und winkte Miriam wieder nach oben.

»Hab mich im Stockwerk geirrt«, log Miriam, stieg langsam die Treppe wieder hoch und umarmte ihre Freundin.

»Süße«, kicherte Julie und küsste sie auf die Wange. »Jetzt komm schon rein.«

Die Freundin, mit der sie vor wenigen Jahren alles geteilt hatte, zog Miriam in die Wohnung und stieß die Tür mit einem Tritt zu.

»Nein, du brauchst die Schuhe nicht auszuziehen, komm schon, dann kannst du alle kennenlernen.«

Miriam ließ sich widerwillig ins Wohnzimmer führen. Die Gäste saßen auf Fensterbänken, auf Sofas und auf dem Boden, die kleine Wohnung war völlig überfüllt. Die Luft war gesättigt vom Geruch nach Tabak und weniger legalen Stoffen, und Miriam sah Flaschen und Gläser in allen Formen und Farben. Ein junger Mann mit grünem Hahnenkamm hatte die Stereoanlage mit Beschlag belegt und ließ so laut die Ramones laufen, dass es von den Wänden widerhallte und dass Julie brüllen musste, um sich Aufmerksamkeit zu verschaffen, eine Aufmerksamkeit, auf die Miriam gern verzichtet hätte, die ihr aber trotzdem zuteilwurde.

»He, Kåre, heeee.« Julie stieß einen Pfiff aus. »Weg mit dem Pseudopunk!«

Miriam sagte nichts und kam sich plötzlich viel zu aufgetakelt vor, als sie Hand in Hand mit der Freundin in der Türöffnung stand.

»He, allesamt, heeeeh!«, rief Julie noch einmal, als der Mann mit dem Hahnenkamm widerwillig die Anlage leiser drehte. »Das ist meine liebe alte Freundin Miriam. Sie ist in die Reihen der Snobs übergewechselt, also versucht, euch heute Abend wie Menschen zu benehmen, nicht wie Affen. Okay?«

Sie lachte laut über ihren eigenen Witz und hob abermals das Rotweinglas.

»Und ja, he, he, ich war noch nicht fertig. Miriams Vater ist bei der Polizei. Ja, ihr habt richtig gehört, ihr Vater ist kein geringerer als der Superdetektiv Holger Munch, also weg mit dem Gras, sonst kann die Drogenfahndung über uns hereinbrechen. Genau, Geir, du warst gemeint.«

Sie hob das Glas in Richtung eines Typen mit Isländer und Dreads, der mit einem riesigen Joint zwischen den Lippen grinsend auf der Fensterbank herumlümmelte.

»So, jetzt kannst du wieder lauter drehen«, sagte sie zu dem Hahnenkamm. »Aber bitte, wenn du schon Punk laufen lassen musst, dann richtigen, Black Flag oder Dead Kennedys oder so, stimmt’s, Miriam?«

Miriam zuckte mit den Schultern und hätte sich am liebsten unter dem Teppich verkrochen, aber zum Glück schien es niemanden so richtig zu interessieren, was hier gesagt wurde. Zwei Sekunden danach toste die Musik wieder los, und alle machten sich über ihre Gläser her, als ob nichts passiert wäre, während Julie Miriam in die Küche zog und ihr aus einem Karton mit Rotwein, der auf der Anrichte stand, ein großes Glas vollschenkte.

»Wie schön, dass du gekommen bist«, sagte die Freundin lächelnd und umarmte Miriam noch einmal ausgiebig. »Ich bin schon beschwipst, tut mir leid.«

»Ist schon gut«, sagte Miriam und ließ ihren Blick durch die Küche wandern.

Das Gesicht war nicht im Wohnzimmer gewesen, und hier war es auch nicht. Vielleicht hatte sie sich unnötig Sorgen gemacht. Ein Fest. Ein ganz normales Fest. Das war alles. Absolut in Ordnung. Einfach nett. Sie war oft genug bei Ärzten zum Essen gewesen. Hatte oft genug über Autos und Wochenendhäuser geredet, über Silberbesteck und edles Porzellan. Sie war falsch angezogen, aber ansonsten war alles wie in alten Tagen. Nur eine Party.

»Stimmt das?«

Miriam drehte sich nach Julie um, aber die Gastgeberin war wieder im Wohnzimmer und beugte sich vor der Stereoanlage über den Hahnenkamm.

»Stimmt das?«, wiederholte der junge Mann und lächelte zaghaft.

»Was denn?«, fragte Miriam und ließ abermals ihre Blicke durch den Raum schweifen.

»Dass Holger Munch dein Vater ist? Der Polizist? Mordermittler, das ist er doch?«

Miriam verspürte bei dieser Frage eine gewisse Gereiztheit. Sie hatte das schon so oft gehört, hatte damit umgehen müssen, seit sie klein gewesen war, ihr Papa ist bei der Polizei, wir dürfen Miriam nichts sagen.

Der junge Mann, der die Frage gestellt hatte, trug ein weißes Hemd und eine runde Brille, und er hatte keinerlei Hintergedanken. Er war nur neugierig, ohne böse Absichten.

»Ja, der ist mein Vater«, sagte Miriam und merkte zum ersten Mal seit langer Zeit, dass es absolut in Ordnung war, das zu sagen.

»Cool«, sagte der mit der runden Brille, nippte an seinem Glas und suchte nach Worten.

»Doch, ganz schön cool«, sagte Miriam und ließ ein weiteres Mal ihren Blick über den Rand ihres Rotweinglases schweifen.

»Und was machst du so?«, fragte er.

»Wie meinst du das?«, entgegnete Miriam ein wenig abweisend, aber das bereute sie sofort.

Der Mann war schüchtern und ein bisschen ungeschickt. Er versuchte nur, ein Gespräch in Gang zu bringen, vielleicht sogar etwas, das ein bisschen wie ein Flirt aussehen sollte, was er offenbar absolut nicht beherrschte. Fast tat er ihr ein wenig leid, wie er so dastand und sich an sein Glas klammerte in der Hoffnung, dass das hier vielleicht sein großer Abend werden könnte. Von der Kleidung her wirkte er ebenso fehl am Platz wie Miriam, weißes Hemd, Bügelfalte und auf den ersten Blick blank geputzte teure italienische Schuhe, die aber nur ein billiger Abklatsch waren. Sie schämte sich wegen letzterer Beobachtung. Einige Jahre zuvor hätte sie selbst auf der Fensterbank gesessen, mit einem Joint zwischen den Lippen, oder sie wäre eine von denen gewesen, die mit zerzausten Haaren und gen Himmel gehobener Flasche am Tisch standen, während sie jetzt wusste, was ein Paar Schuhe von Scarosso war.

»Ich habe eine kleine Tochter«, sagte sie freundlich. »Ich habe ein bisschen Journalismus studiert und werde vielleicht damit weitermachen, aber im Moment bin ich einfach Vollzeitmama.«

»Ach so«, sagte der Mann mit der runden Brille und sah sie mit dem leicht enttäuschtem Blick an, den sie so oft schon in Bars und Cafés registriert hatte.

Miriam Munch war eine schöne junge Frau, und es fehlte nie an Interessenten und Angeboten. Ich habe eine fast sechs Jahre alte Tochter, reichte oft genug, um die Herren mit eingekniffenem Schwanz von dannen trotten zu lassen.

»Und was machst du?«, fragte sie, aber jetzt schien die Luft aus dem Flirtballon entwichen zu sein, und der junge Mann schaute schon in eine andere Richtung.

»Er entwirft saugute Plakate, oder nicht, Jacob?«

Und dann war es plötzlich doch da.

Das Gesicht.

»Jacob, das ist Miriam. Miriam, das ist mein Freund Jacob, ich sehe, ihr habt euch schon bekannt gemacht, das ist ja schön.«

Das Gesicht zwinkerte ihr zu und lächelte.

»Ach, du bist das also, die …«, sagte er, wirkte ein wenig verlegen und wollte offenbar so schnell wie möglich das Weite suchen.

»Ich glaube, ich brauche noch einen«, murmelte er, zeigte auf sein Glas und verschwand.

»Die? Wieso denn die?«, fragte Miriam belustigt.

»Ach, du weißt schon«, sagte das Gesicht und lachte kurz.

»Schönes Kleid, übrigens, nett, hier auch mal jemanden mit Geschmack zu sehen.«

»Danke«, sagte Miriam und deutete einen Knicks an.

»Also?«, fragte das Gesicht.

»Also was?«, fragte Miriam.

»Ist es hier nicht ein bisschen voll?«

»Viel zu voll«, kicherte Miriam.

»Ich hab gehört, unten im Internasjonalen haben sie eine ziemlich gute Margarita«, sagte das Gesicht lächelnd.

»Ich hätte nicht gedacht, dass ich das jemals sagen würde«, lachte Miriam. »Aber ein Schluck Tequila wäre mir jetzt durchaus recht.«

»Dann ist das abgemacht«, sagte das Gesicht augenzwinkernd, stellte sein Glas auf die Anrichte und ging ruhig vor ihr her durch das lärmende Gedränge.

• 7 •

Kommissar Jon Larsen, unter seinen Freunden besser als Curry bekannt, versuchte, seine Wohnungstür aufzuschließen, aber er hatte Schwierigkeiten, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu bugsieren.

Er hatte seiner Freundin schon mehrmals versprochen aufzuhören. Sie hatten lange gespart. Hatten seit über einem Jahr jeden Monat zweitausend Kronen auf ein Konto eingezahlt. Fidschi, dahin wollte Sunniva. Drei Wochen im Paradies. Exotische Cocktails mit Papierschirmchen trinken. Mit knallbunten Fischen in azurblauem Wasser baden. Sich extra dafür freinehmen, und jetzt hatte er alles wieder ruiniert.

Curry fluchte leise, konnte endlich den kleinen Schlüssel in das fast unsichtbare Loch praktizieren und die Wohnung so leise wie überhaupt nur möglich betreten. Er versuchte, seine Jacke aufzuhängen, verfehlte aber den Haken und stand schwankend im Flur, während er überlegte, ob er ins Schlafzimmer gehen oder sich selbst lieber gleich aufs Sofa verbannen sollte. Dort musste er immer schlafen, wenn er so nach Hause kam wie jetzt, sternhagelvoll und unfähig zu irgendwelchen Erklärungen, nachdem er alle Ersparnisse aus dem Fenster geworfen hatte. Noch ein Pokerabend, auch diesmal ohne Gewinn, Verlust sogar, ein großer Verlust, schon wieder. Er hatte den ganzen Abend gute Karten gehabt, hatte bei einem hohen Straight alles gesetzt, nur um auf einen Flush zu stoßen, grinsende Zähne auf der anderen Seite des Tisches, doch dann hatten all seine Jetons plötzlich den Besitzer gewechselt. Und da hatte er sich doch einfach betrinken müssen, konnte sie das nicht begreifen? Nach acht Stunden am Spieltisch? Nachdem er den ganzen Abend wie ein, ja, wie ein Gott gespielt hatte? Im richtigen Moment eingestiegen war. Im richtigen Moment erhöht hatte. Im richtigen Moment geblufft hatte. Die Tischrunde hatte genickt, heute Abend spielt Curry wie ein Mann, aber am Ende war alles zum Teufel gegangen. Ein Augenblick des Übermuts, fast vierzigtausend im Topf, verdammt, die würde er nicht verlieren, das hier war sein Abend, endlich, und dann war es doch so gekommen wie sonst.

Verdammt.

Er lehnte sich mit dem Rücken an die Wand, zog die Schuhe aus, taumelte ins Wohnzimmer und peilte das Sofa an.

In letzter Zeit war es so viel gewesen, begriff sie das nicht? So viel, und da brauchte er das hier, seinen Freiraum. Fidschi, das war ihre Kiste, das mit den Cocktails hörte sich ja gut an, aber mussten sie um die halbe Welt fliegen, um einen zu trinken? Er stand nicht so sehr auf Baden und Strand, wurde gleich am ersten Tag in der Sonne knallrot, musste im Schatten sitzen. Curry schaffte es jetzt, ein bisschen wütend zu werden, als er durch das Wohnzimmer taumelte und seinen untersetzten Leib auf das weiße IKEA-Sofa fallen ließ. Er legte den Kopf auf ein Sofakissen und versuchte, sich zuzudecken, kam aber nur bis zu den Knien. Er wurde vom Telefon geweckt, dass er eingeschlafen war, hatte er nicht bemerkt.

»Hallo?«

Es war Tag. Die müde Oktobersonne schien ihm ins Gesicht, machte es unmöglich, sich der Wirklichkeit zu entziehen. Er hatte sich wieder volllaufen lassen und alles Geld verbraucht, das sie gespart hatten, für einen hohen Straight gegen einen Scheißflush.

»Bist du wach?«, fragte Munch.

»Wach?«, murmelte Curry, ohne den Kopf vom Kissen heben zu können.

Munch wirkte gestresst und überaus schlecht gelaunt.

»Wir trommeln alle zusammen, kannst du in einer Stunde zu einem allgemeinen Briefing kommen?«

»Sonntag?«, gähnte Curry.

»Bist du einsatzfähig?«, fragte Munch erbarmungslos.

»Ich bin …«, begann Curry.

»In einer Stunde im Büro?«

»Natürlich«, murmelte Curry und setzte sich halbwegs auf, dann erinnerte ihn sein Körper an den Vorabend und zwang ihn, sich sofort wieder hinzulegen.

»Muss nur … den Sonntagsspaziergang absagen … Sunniva und ich wollten in den Wald hoch, frische Luft schnappen, aber das …«

Curry schaute sich im Wohnzimmer um, durch Augen, die sich nicht ganz öffnen ließen, er suchte nach seiner Verlobten, die aber nicht zu Hause zu sein schien.

»Tut mir leid, die Familienidylle zu stören, aber du musst herkommen«, sagte Munch trocken.

»Was … ist passiert?«

»Nicht am Telefon. Eine Stunde, okay?«

»Ja, klar, bin gleich da, muss nur schnell …«, sagte der verkaterte Polizist, aber Munch hatte bereits aufgelegt.