Kräheninsel - Samuel Bjørk - E-Book

Kräheninsel E-Book

Samuel Bjørk

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Beschreibung

Der neue Thriller von SPIEGEL-Bestsellerautor Samuel Bjørk.

Auf einer norwegischen Insel verschwindet ein Junge spurlos. Drei Jahre später steht sein Name im Blut eines Mädchens ...
Mia Krüger hat der Osloer Polizei den Rücken gekehrt und sich auf die kleine Insel Hitra zurückgezogen. Zu sehr haben sie die letzten Fälle aufgerieben. Doch auch auf der beschaulichen Fischerinsel lässt das Verbrechen Mia nicht los, und sie bittet ihren befreundeten Kollegen Holger Munch um Mithilfe: Drei Jahre nachdem der achtjährige Jonathan Holmen spurlos verschwand, erschüttern erneut rätselhafte Ereignisse die Inselgemeinschaft. Erst hängen am Altar der Kirche drei tote Krähen. Dann wird in einem alten Boot die grausam zugerichtete Leiche eines Mädchens gefunden – und in der Blutlache steht ein Name geschrieben: Jonathan …

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Buch

Mia Krüger hat der Osloer Polizei den Rücken gekehrt und sich auf die kleine Insel Hitra zurückgezogen. Zu sehr haben sie die letzten Fälle aufgerieben. Doch auch auf der beschaulichen Fischerinsel lässt das Verbrechen Mia nicht los, und sie bittet ihren befreundeten Kollegen Holger Munch um Mithilfe: Drei Jahre nachdem der achtjährige Jonathan Holmen spurlos verschwand, erschüttern erneut rätselhafte Ereignisse die Inselgemeinschaft. Erst hängen am Altar der Kirche drei tote Krähen. Dann wird in einem alten Boot die grausam zugerichtete Leiche eines Mädchens gefunden – und in der Blutlache steht ein Name geschrieben: Jonathan …

Weitere Informationen zu Samuel Bjørk

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

Samuel Bjørk

Kräheninsel

Thriller

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Die norwegische Originalausgabe erschien 2023 unter dem Titel »Hitra« bei Bonnier Norsk Forlag, Oslo.

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

Der Verlag behält sich die Verwertung der urheberrechtlich geschützten Inhalte dieses Werkes für Zwecke des Text- und Dataminings nach § 44 b UrhG ausdrücklich vor. Jegliche unbefugte Nutzung ist hiermit ausgeschlossen.

Deutsche Erstveröffentlichung Februar 2024

Copyright © Samuel Bjørk, 2023

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2024

by Wilhelm Goldmann Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH,

Neumarkter Str. 28, 81673 München

Published by arrangement with Ahlander Agency

Covergestaltung: UNO Werbeagentur, München

Covermotive: © Michael Trevillion / Trevillion Images; FinePic®, München

Redaktion: Julie Hübner

KS · Herstellung: ik

Satz und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN: 978-3-641-30349-5V001

www.goldmann-verlag.de

»Hallo?«

»Huhu, Mama, ich bin’s.«

»Jonathan, wo bist du?«

»Ich bin bei Erik, wir haben Krebse geangelt.«

»Aber Jonathan, es ist schon fast neun! Du weißt doch, dass wir morgen zu Oma wollen?«

»Klar, Mama, aber du …?«

»Nein, kommt nicht infrage.«

»Was? Aber du weißt ja noch nicht mal, was ich fragen wollte …?«

»Doch, du willst bei Erik übernachten.«

»Ach, bitte, Mama, darf ich?«

»Nein, Jonathan. Das geht nicht. Du musst morgen früh aufstehen.«

»Kannst du mich wenigstens abholen?«

»Nein, ich habe ein Glas Wein getrunken. Ich kann nicht fahren. Du bist doch mit dem Fahrrad, oder?«

»Das schon …«

»Gut, dann sehen wir uns gleich. Okay?«

»Okay, Mama.«

• Teil 1 •

• 1 •

Dorothea Krogh saß auf der Veranda des weißen Pfarrhauses und lächelte in das Licht, das das Meer hinter Eaholmen glitzern ließ. Es war ein fantastischer Sommer gewesen. Vielleicht der beste Sommer aller Zeiten auf Hitra. Negative Stimmen wollten den Klimawandel dafür verantwortlich machen. Sie behaupteten, die Welt sei wärmer geworden, und die Menschen würden bald eine neue Arche Noah brauchen, aber Dorothea Krogh hörte nicht mehr auf negative Stimmen. Oder, was hieß schon Stimmen, eigentlich ging es ja nur um Nora Strand, die übellaunige Küsterin, die Dorothea eben noch zu Besuch gehabt hatte. Was für eine negative Person. Ewig unverheiratet und unzufrieden mit allem zwischen Himmel und Erde, natürlich auch mit dem neuen Altarbild.

»Sponsoren in der Kirche? Seit wann darf das Kapital über Gott bestimmen?«

Dorothea war nicht unbedingt anderer Meinung, aber sie wusste auch, dass die Kirche dringend renoviert werden musste. Sie brauchte ein neues Dach und einen neuen Anstrich. Die Mittel, die vom Staat kamen, reichten vorne und hinten nicht. Ein Geschenk von dem wohlhabenderen Teil der Gemeinde? Was könnte das schon schaden?

Hitra. Diese schöne Insel vor der Küste von Trøndelag, zwei Stunden westlich von Trondheim, wo sie schon ihr ganzes Leben lang wohnte. Mit einer Natur, die ihr noch immer den Atem rauben konnte. Allein der Geruch. Nach Seetang und Algen. Nach den Wellen, die sich unten am Strand brachen. Als ob Gott das Beste aus seinem Fundus genommen hätte, um einen Ort zu erschaffen, der der Himmel auf Erden wäre. Das Licht. Das Meer. Die nackten Felsen. Die windgebeutelten Bäume. Eine Freistätte, ein Paradies. Allerdings war sie jetzt ein bisschen gestört worden, diese kleine Inselgemeinschaft, das musste sie zugeben. Durch diese Familie, die so erfolgreich gewesen war, und die deshalb fast mehr Geld besaß als das restliche Land zusammengenommen.

Henry Prytz.

Gründer und Besitzer der Firma Royal Arctic Salmon. Früher war er einmal ein ganz normaler Bauernjunge gewesen, jetzt Multimilliardär, einer der reichsten Menschen auf der Welt, Das Lachsabenteuer vor der Küste von Trøndelag, und durchaus nicht alle hielten das für ganz gerecht.

»Als ob diese Familie nicht ohnehin schon genug hätte. Soll denen jetzt auch noch die Kirche gehören?«, hatte die Küsterin angemerkt.

Dorothea Krogh schüttelte den Kopf und merkte, dass sie sich im Nachhinein über die hoffnungslos negative Küsterin ärgerte, die unangemeldet vorbeigekommen war und ihr den schönen Tag verdüstert hatte. Nein, das wollte sie nicht wichtig nehmen. Die ältere Dame erhob sich in dem schönen Licht und räumte Kaffeetassen und Kekse weg. Die Uhr am Fenster zeigte Viertel vor elf. War das zu früh für einen kleinen Portwein? Nein, natürlich nicht. Solche Dinge konnte sie inzwischen allein entscheiden, da der alte Pastor zu seinem Herrn heimgegangen war. Sie kam gerade mit der Flasche und einem kleinen Glas zurück in die stechende Sonne, als ihr Handy auf dem Tisch zu vibrieren begann.

Nein, wirklich, so ein Ärger. Konnte man denn nie in Ruhe gelassen werden? Wo sie sich doch gerade das Kreuzworträtsel zurechtgelegt hatte und überhaupt.

Dorothea seufzte und tippte auf den grünen Knopf.

»Ja, Dorothea hier?«

»Kannst du kurz herkommen?« Der neue Pastor klang genau wie immer. Nervös, besorgt, vielleicht noch mehr als sonst. Sie hatte schon bei der ersten Begegnung gedacht, dass Geistliche andere ja eigentlich beruhigen sollten, statt sie noch besorgter zu machen. Aber das würde sich sicher alles finden. Er war jung und aus der Stadt, wenn er erst ein paar Jahre hier draußen auf dem Buckel hätte, würde er sicher zur Ruhe kommen. Doch jetzt war fast ein Jahr vergangen, und noch immer wirkte er wie ein kleiner Junge, der nicht so ganz weiß, auf welchem Bein er stehen soll.

»Du musst herkommen, es ist etwas passiert …«

»Sind die Hühner wieder abgehauen? Du weißt, dass sie hier frei herumlaufen können, sie kommen zurück, wenn sie es wollen.«

»Was? Nein, nein, darum geht es nicht. Es geht um das neue Altarbild. Du musst es wirklich selbst sehen, bist du zu Hause? Kannst du kurz vorbeikommen?«

Dorothea seufzte und stellte den Portwein weg.

»Jetzt sofort?«

»Ja. Geht das?«

»Hat das nicht Zeit bis heute Abend?«

»Nein, nein, ich glaube, jemand will uns bestrafen. Von oben. Ich habe ja gesagt, wir hätten dieses Geschenk nicht annehmen dürfen …« Der junge Pastor schien wirklich mit den Tränen zu kämpfen.

»Gib mir fünf Minuten.«

»Gut, ich bin dann in der Sakristei.«

»Ich bin gleich da.«

Dorothea Krogh räumte Flasche und Glas wieder weg und ging in die Diele, um sich ihren Strohhut zu holen. Heute war offenbar kein Tag, um sich auszuruhen. Zuerst die schlecht gelaunte Küsterin, und jetzt der nervöse junge Pastor. Vielleicht wurde es doch Zeit, dass sie hier auszog, in die Seniorenwohnung, die ihr oben in Fillan angeboten worden war?

Ja, das würde sie sich wirklich überlegen.

Sie war gerade hinaus auf die Treppe getreten, als sie hinten beim Friedhof eine Gestalt entdeckte, bei deren Anblick sie zusammenzuckte.

O nein! War es heute? Sie warf eilig einen Blick auf ihr Handy. 16. Juli. Natürlich. Dorothea wollte eigentlich nicht hinsehen, konnte es aber nicht lassen.

Anita Holmen.

Die Mutter. Vor dem leeren Grab.

Drei Jahre war es her. Hier, auf Hitra, dieser sicheren Insel. Ihr Junge hatte nur mit dem Fahrrad von einem Freund nach Hause fahren wollen, aber seither war er nicht wieder gesehen worden.

Jonathan Holmen. Acht Jahre alt.

Jetzt schämte sich Dorothea, weil sie es bisher vermieden hatte, zu ihr zu gehen und mit ihr zu sprechen.

Sie haben Ihren Sohn verloren? Nein, wirklich?

Sie war doch Trønderin und hatte gelernt, sich aus dem Privatleben anderer Leute herauszuhalten, aber jetzt war es verflixt noch mal genug.

Drei Jahre? Ohne eine Spur von dem Jungen? Nein, es musste ja wohl Grenzen geben. Dorothea Krogh setzte den Strohhut auf und ging mit festen, energischen Schritten hinüber zum Friedhof.

• 2 •

Mia Krüger wurde vom schrillen Geschrei der Möwen geweckt, aber diesmal war alles anders. Die dunkelhaarige Mordermittlerin hatte am Vorabend auf den Felsen gesessen, hatte auf das offene Meer gestarrt und nicht so ganz begreifen können, wer sie einmal gewesen war. Der Anblick, der sie in ihrem alten weißen Haus auf dieser abgelegenen Insel empfangen hatte, war für sie ein Schock gewesen. Mein altes Ich. Ihr war schlecht geworden, als sie in dem kleinen Wohnzimmer aufgeräumt hatte. Sie hatte Tabletten in allen Farben und Formen gefunden, einige von Ärzten verschrieben, andere von Orten, bei denen sie lieber vergessen wollte, dass sie dort gewesen war. Sie entdeckte klirrende leere Flaschen auf Boden und Tischen, aber das Schlimmste war doch der Kalender. Das Datum, das sie eingekreist hatte. 21. April. An diesem Tag hatte sie sterben, mit allem hier fertig sein und ihre Zwillingsschwester wiedersehen wollen. Sigrid. Die diese Welt vor zehn Jahren verlassen hatte, in einem verdreckten Keller in Oslo, mit einer Nadel im Arm. Alle waren fort. Mama, Papa. Die Großmutter, die ihr so ähnlich gewesen war, die sie besser verstanden hatte als sie sich selbst. Du siehst Dinge, die andere nicht sehen, nicht wahr, Mia? Die ganze Familie. Alle tot. Und dann dieses viele Elend. Mordermittlerin bei der absoluten Eliteeinheit unter Holger Munch in der Mariboes gate 13. Die schwersten Fälle. Ihre Verantwortung. Das Elend der Welt. Auf ihren Schultern.

Aber jetzt nicht mehr.

Mia schlug die dünne Sommerdecke zur Seite und ging vorsichtig über den knackenden Mansardenboden. Die Vorhänge wehten in dem milden Wind. Sieben Wochen waren vergangen, seit sie ihre Kündigung als Mordermittlerin in Oslo eingereicht hatte, und seither war sie hier draußen, allein, auf Edøya, ihrer eigenen Insel, die einige Bootsminuten vor Hitra lag. Die Sonne stand hoch am Himmel, und das kristallklare Wasser glitzerte vor den Felsen. Als sie zuletzt hier draußen gewesen war, hatte sie nichts registriert, war sie zugedröhnt gewesen, betäubt, aus der Welt. Sie hatte die Tage im Kalender gezählt, und es war ein Schock gewesen, zurückzukommen, während alle Sinne offen waren, der Körper clean, der Kopf wieder an Ort und Stelle. Auch der Kloß im Bauch verschwand jetzt langsam, der, von dem sie nicht einmal gewusst hatte, dass sie ihn mit sich herumschleppte.

Du siehst Dinge, die andere nicht sehen, nicht wahr, Mia?

Sie ging langsam durch das Zimmer ins Bad und zwang sich dazu, vor dem Spiegel stehen zu bleiben. So hatte sie auch vor weniger als einem Jahr hier gestanden, mit Nebel vor den Augen und langen dunklen Haaren, die schlaff über den Wangen hingen. Dünn, viel zu schmächtig war sie gewesen, fast schon tot. Sie hatte ihre Verletzungen gezählt, die physischen, nach zehn Jahren bei der Polizei. Ihr fehlten die beiden obersten Gelenke des einen kleinen Fingers, und sie hatte eine Narbe über dem linken Auge.

Jetzt entfernte Mia vorsichtig den Verband von ihrer Hüfte und konnte zu ihrer Erleichterung sehen, dass diese Wunde gut verheilte. Sie stammte aus ihrem letzten Fall. Ein Stalker. Er hatte aus nächster Nähe auf sie geschossen, zuerst ins Bein, dann in die Hüfte. Sie trat näher an den Spiegel und musterte die Wunde. Das Narbengewebe sah gut aus. Noch ein oder zwei Tage, dann würde sie den Verband weglassen können. Es wurde Zeit, endlich ins Wasser zu kommen, wieder zu tauchen. Sie sehnte sich schon danach, seit sie das Boot am Steg vertäut hatte. An ihrem eigenen Steg, auf ihrer eigenen Insel. Diese Gefühle waren fast zu stark gewesen. Mia Krüger weinte nicht oft, aber auf dem Weg hinauf zu ihrem wunderschönen Haus hatte sie eine Träne vergossen.

Sie war am Leben. Aber verdammt noch mal auch nur haarscharf. Pures Schwein. Wenn Munch nicht gekommen wäre, um sie zu suchen, wegen eines Falls, der sie nach Oslo zurückbringen sollte, wäre sie jetzt tot.

Es ging ihr besser jetzt. Viel besser.

Mia sandte einen kleinen Dank hinaus in die Atmosphäre und ging unter die Dusche. Sie überlegte, ob sie noch länger hier draußen am Meer bleiben sollte, nur noch einige Wochen, aber nein, sie hatte etwas versprochen. Und bald würde der Herbst kommen und dann der Winter mit seinen Stürmen hier draußen im Januar, nein, das wäre nicht das Richtige. Sie würde sich vorher eine neue Bleibe suchen müssen. Die Häuser in Åsgårdstrand, das der Eltern und das der Großmutter, waren längst verkauft. Die in Oslo geerbte Wohnung hatte sie ebenfalls verkauft. Mia hatte sich lange überlegt, wo sie nun hingehen sollte. Sie und ihre Schwester Sigrid hatten immer den Traum gehabt, in den Norden von Thailand zu reisen und dort eine kleine Bar zu eröffnen, aber Mia konnte sich das nicht so recht vorstellen.

Dann hatte er angerufen. Cheng, ihr koreanischer Freund.

Hallo, Mia, Gerüchte behaupten, dass du eine Beschäftigung brauchst? Dass du mit der Polizei fertig bist?

Er war ihr alter Trainer, der jetzt in Südfrankreich ein Klettercamp für Jugendliche betrieb, die auf die schiefe Bahn geraten waren. Die durften sich an der Felswand austoben, während sich Cheng damit die ewige Jagd auf neue, fast unmögliche Klettertouren finanzierte.

Ich brauche noch mehr Ausbilder. Warum kommst du nicht her?

Perfekt.

Sie stieg aus der Dusche und lächelte bei dem bloßen Gedanken.

Allein hier draußen? Doch, ja, absolut fantastisch. Aber sie konnte nicht ewig hierbleiben.

Einige Jahre lang in Frankreich klettern? Das Leben könnte nicht besser sein.

Mia schlenderte lächelnd nach unten in die Küche, machte sich eine Tasse Espresso und ging barfuß hinaus auf die bereits von der Morgensonne angewärmten glatten Felsen. Das Licht hier draußen war umwerfend, fast überirdisch. Tag und Nacht. Tatsächlich war sie fast froh darüber, dass etwas mit ihrem Auto nicht in Ordnung war, denn so hatte sie noch einige Tage, ehe sie aufbrechen musste.

Ich komme, wenn der Jaguar wieder heil ist, okay?

Na klar, komm, wann du willst.

Das Auto. Sie musste heute hinüberfahren und auch ein paar Einkäufe machen.

Mia wollte gerade wieder ins Haus gehen, als sie ein Boot durch die Bucht tuckern sah.

Wer konnte das sein? Sie kannte hier draußen niemanden.

Sie streifte rasch eine Jeans über und lief hinaus auf den Felsen.

Es war eine kleine Jolle mit einem Mädchen an Bord. Sie war vielleicht zehn oder elf, hatte blonde, flatternde Haare und trug ein geblümtes Sommerkleid.

»Bist du die berühmte Polizeifrau?« Das Mädchen kletterte aus dem Boot und zog sich auf den Steg. »Bist du das?«

Mia lächelte.

»Vielleicht. Und wer bist du?«

»Du musst mir helfen.«

Mia konnte jetzt den Ernst in ihrem Blick sehen.

»Ich bin Sofia. Es war meine Schuld, dass Jonathan verschwunden ist. Kannst du mir helfen? Bitte?«

• 3 •

Luca Eriksen erhob sich vom Schreibtisch, ging an das eine Ende des kleinen Büroraums und nahm das Bild seiner Frau von der Wand. Er trug es feierlich durch das Zimmer, legte es vorsichtig in die Schublade und saß dann da und starrte ins Leere. Er sollte so viel wie möglich loswerden, von ihren Kleidern, ihren persönlichen Habseligkeiten, sollte alles in Kartons packen, es weggeben, wenn das möglich wäre. Wenn nicht, sollte er die Kartons irgendwo abstellen, wo er sie nicht jeden Tag sehen müsste. Auf dem Dachboden vielleicht, oder im Keller. So viel wie möglich von allem. Auch die Fotos. Er musste endlich aufhören, abends in dem leeren Haus zu sitzen, vor dem Computerbildschirm, und sich Filme anzusehen, immer wieder dieselben, während seine Finger über ihr schönes Gesicht strichen.

Filmst du schon wieder, Luca? Hör doch auf, ich hab mich noch nicht zurechtgemacht, ich sehe unmöglich aus.

Er stand wieder auf, ging zur Kaffeemaschine und blieb mit der Tasse in der Hand stehen. Es war ein Jahr, drei Monate und vier Tage her, dass er sie zuletzt gesehen hatte, und sie fehlte ihm so sehr, dass er manchmal nicht wusste, was er mit sich anfangen sollte.

Hitra Lensmannsbüro, Luca Eriksen am Apparat?

Es hat einen Unfall gegeben.

Wo denn?

Unten im Tunnel. Ein Wagen auf der falschen Fahrspur. Hier herrscht das Chaos.

Hast du die 112 angerufen?

Ja, die sind unterwegs, aber … Luca?

Ja?

Es ist Amanda.

Was?

Amanda. Es ist ihr Wagen.

Luca wurde fast ein bisschen schlecht, und er überlegte es sich anders, lief rasch zurück zum Schreibtisch, öffnete die Schublade, brachte das Foto zurück an seinen alten Platz und fuhr mit der Hand über das Glas.

»Tut mir leid, Amanda.«

Er fuhr zusammen, als das Telefon auf dem Schreibtisch klingelte. Vielleicht sollte er den Rat, der ihm gegeben worden war, doch beherzigen. Ich finde, du solltest nicht arbeiten, Luca. Es ist noch zu früh für dich. Du musst dir mehr Zeit geben.

Nicht arbeiten? Nein, das ging nicht. Zu Hause herumsitzen? Ohne sie? Ohne Pläne? Nein, das ging wirklich nicht. Er musste wieder hinaus zu den Menschen, sich nützlich machen.

Luca Eriksen riss sich zusammen, beschwor seine offizielle Stimme und nahm den Hörer ab.

»Hitra Lensmannsbüro, Luca am Apparat?«

»Hallo, Luca. Hier ist Dorothea. Hast du gerade Zeit?«

»Natürlich, Dorothea. Worum geht es?«

»Wir hatten hier in der Kirche einen kleinen Zwischenfall. Der Pastor ist ziemlich außer sich. Könntest du vielleicht mal vorbeischauen, oder hast du viel zu tun?«

Luca lächelte. Viel zu tun? Das Lensmannsbüro auf Hitra hatte eigentlich nur an zwei Tagen in der Woche geöffnet, von zehn bis zwei. Das sagte wohl genug aus über die kriminellen Aktivitäten auf dieser kleinen Insel. Früher war Luca nach Orkanger gependelt und hatte dort gearbeitet, wenn das Büro auf Hitra nicht geöffnet war. Aber er hatte dann doch auf den Rat gehört und nur eine Stelle behalten, die auf Hitra, und jetzt arbeitete er nur montags und mittwochs.

Mittwochs.

Ach, müssen wir das jeden Mittwoch machen, Luca? Hätte ein Tag im Monat nicht gereicht?

Er sah ihr Gesicht im Spiegel vor sich. Der Blick, den er so gut kannte, irgendwie irritiert, irgendwie auch nicht, das Klirren der Autoschlüssel, der Geruch ihres Parfüms, als sie seine Wange mit ihren Lippen streifte.

Und bitte, spiel heute ein bisschen besser, okay? Ich habe es satt zu verlieren.

Vier Paare. Immer dieselben. Lachen und Trinken, und immer war er derjenige, der später fahren musste.

Heute war Samstag und eigentlich frei, aber eigentlich doch nicht. Natürlich musste er reagieren, wenn jemand anrief.

»Bist du noch da, Luca?«

»Ja, entschuldige, Dorothea, was hast du gesagt?«

»Wir hatten einen kleinen Zwischenfall in der Kirche. Es ist sicher nicht so wichtig, aber du kennst ja den Pastor, er macht sich Sorgen wegen allem, könntest du wohl mal vorbeischauen?«

»Natürlich, dann komme ich sofort.«

»Prima, dann sehen wir uns gleich.«

Wie ein Roboter. So kam er sich manchmal vor. Als ob er nur eine Maschine wäre. Nichts machte noch Freude.

In dem großen Bett aufzuwachen.

Allein.

Zähne zu putzen.

Allein.

Zu frühstücken.

Allein.

Abends vor dem leeren Fernsehschirm zu sitzen.

Allein.

Luca Eriksen erhob sich mühsam, nahm die Schlüssel vom Haken neben der Tür und ging die Treppe hinunter. Er saß einen Moment bewegungslos hinter dem Lenkrad, ehe er endlich auf die Fernbedienung drückte, die die Garagentür öffnete, und mit dem Streifenwagen hinaus in die Sonne fuhr.

Sonne. Immerhin. Bisher war es ein schöner Sommer, einer der besten seit vielen Jahren. Das schlechte Wetter war einer der Gründe für seine damalige Skepsis gewesen.

Auf Hitra gibt es eine Stelle als Lehrerin, Luca. Was hältst du davon? Sollen wir nach Norden gehen? Vielleicht können wir in meinem Elternhaus wohnen? Wäre das nicht romantisch?

Zufälle. Der Schmetterlingseffekt. Wenn das eine nicht passiert wäre, hätte sich auch das andere nicht zugetragen. Hätte er damals Nein gesagt, wäre sie noch am Leben.

Es war perfekt gewesen. Liebe auf den ersten Blick.

Luca war nach Oslo gegangen, um die Polizeihochschule zu besuchen. Er war eigentlich so gar nicht auf der Jagd nach irgendetwas gewesen. Er war viel zu sehr mit seinen Angelegenheiten beschäftigt, mit dem Training, dem Laufen. Dafür lebte er. Jeden Morgen um sechs aufstehen, pro Jahr mehrere Paar Joggingschuhe verschleißen. So hatte er sie kennengelernt. Eine zwanzig Jahre alte angehende Lehrerin, die in einem Schuhgeschäft in Majorstua jobbte. Amanda. Von Hitra.

Dorothea Krogh wartete schon auf der Kirchentreppe auf ihn.

»Hallo, Luca. Wie geht’s?«

»Na ja, nicht so schlecht.«

»Du weißt, dass du bei mir immer willkommen bist? Falls du mal mit jemandem reden musst?«

»Danke. Es hat einen Zwischenfall gegeben, hast du gesagt?«

»Na ja, ich bin mir nicht so sicher. Bestimmt nur Pöbelstreiche. Ich habe angerufen, weil der Pastor darauf bestanden hat. Du weißt ja, wie nervös er wird, der Arme. Er musste sich sogar hinlegen. Komm, ich zeig es dir.«

Er stieg hinter ihr die Treppe hoch.

»Hier lang.«

Sie gingen durch den Mittelgang, und er blieb stehen und schaute neugierig die Wand hinter der Kanzel hoch.

Ein großes neues Altarbild hatte das alte ersetzt.

Luca lächelte und schüttelte den Kopf.

»Jetzt verstehe ich das Gerede.«

»Ach ja?« Die alte Frau drehte sich zu ihm um. »Du findest es übertrieben?«

»Na ja, ich weiß nicht …«

»Zu viel Lachs? Das habe ich mich auch schon gefragt, weißt du. Ob jemand sich so darüber ärgert, dass er uns das auf diese Weise mitteilen will.« Sie ging zu einem Stück Stoff, das auf dem Boden der Sakristei lag. »Die hier hingen am Altarbild.« Dorothea zog das Tuch weg und trat einen kleinen Schritt zurück.

Auf dem Boden lagen drei tote Krähen.

»Ein bisschen eklig, findest du nicht?«

»Doch, unbedingt.«

Luca Eriksen kniete nieder und hob den einen Vogel vom Steinboden auf.

»Was ist mit den Augen passiert?«

Dorothea schnitt eine kleine Grimasse.

»Irgendwer hat sie entfernt.«

»Meine Güte.«

Er legte den Vogel vorsichtig wieder hin.

»Und dann, ja, ich weiß nicht, ob das eine Mitteilung sein soll oder was.« Dorothea zeigte auf eine an dem einen Vogelbein befestigte kleine Metallplatte.

Luca drehte den Vogel um und schaute sich die eingravierten Zeichen an.

»KTTY3?«

»Ja, mich darfst du nicht fragen. Ich habe keine Ahnung, was das bedeuten soll. Vielleicht war der markiert. Du weißt schon, von Ornithologen oder so. Ich weiß nicht. Nein, das ist wirklich eklig.«

»Und die hingen da oben?«

»Ja. Heute Morgen. Was meinst du?« Die alte Frau legte die Hände übereinander und sah ihn besorgt an.

»Na ja, schwer zu sagen.«

»Pöbelstreiche?«

»Aller Wahrscheinlichkeit nach ja. Aber trotzdem unangenehm. Gut, dass du angerufen hast. Ich hör mich mal um.«

»Danke«, sagte Dorothea, streichelte ihm freundlich den Rücken und ging vor ihm her aus der Kirche.

• 4 •

Die Kleine hatte ihr Boot gerade erst am Steg vertäut, da kam auch schon ein größeres Boot in hohem Tempo um die Odde gesaust. Mia sah das graue flache Rib mit zwei kräftigen Außenbordmotoren nicht zum ersten Mal. Es hatte vor dem Coop gelegen, wo sie ihre Lebensmittel kaufte. Das Logo auf der Bootsseite hatte sie natürlich neugierig gemacht: Hitra Tauchsport.

»Ach, typisch«, seufzte das Mädchen und legte seine schmalen Hände auf seiner Brust übereinander. »Für wie alt hält der mich eigentlich? Für drei?« Sie schüttelte den Kopf und machte einige mürrische Schritte auf die Felsen zu, als das elegante graue Boot den Steg erreichte.

»Sofia?«

Mia fing die Leine auf und befestigte sie an einem Pfosten, während der offenbar bootsbewanderte Mann den Motor ausschaltete und die Leiter hochkletterte.

»Sofia, hab ich nicht gesagt, dass du sie nicht stören sollst?«

Sofia lief trotzig weiter hoch und verschwand hinter einer Felskuppe.

»Das tut mir wirklich leid«, seufzte der Mann und schob sich den blonden Pony aus den Augen. »Sie weiß eigentlich, dass sie so was nicht tun darf. Hat sie Sie belästigt?«

Mia lächelte.

»Nicht doch, es ist doch nett, Besuch zu bekommen.«

Noch einmal bat der Mann um Entschuldigung und reichte ihr die Hand. Auch er war ihr am Anleger aufgefallen. Schlank, hochgewachsen, in ihrem Alter, mit blauen Augen und einem T-Shirt mit demselben Logo wie auf dem Boot. Sie tat das nicht oft, aber sie war wirklich stehen geblieben und hatte ihn einen Moment lang beobachtet, während er Sauerstofftanks an Bord lud. Sie wusste nicht so recht, was es war, aber etwas kam ihr bekannt vor, als ob sie ihn schon einmal irgendwo gesehen hätte.

»Ich bin Simon, tut mir wirklich leid, aber sie hat es sich in den Kopf gesetzt, Sie kennenzulernen, seit sie erfahren hat, wer Sie sind.«

»Mia Krüger.« Mia nickte.

Der Mann deutete ein Lachen an.

»Ja, das wissen wir. Wie gesagt, sie hat über nichts anderes mehr geredet, und jetzt konnte ich sie nicht aufhalten. Ich hätte ihr nie das Boot kaufen dürfen, aber Sie wissen schon. Das Meer.« Er drehte sich um und nickte in Richtung des offenen Meeres. »Besser, die Kinder gewöhnen sich so früh wie möglich daran. Sofia?« Wieder zuckte der Mann bedauernd mit den Schultern. »Ich hole sie. Sie haben sicher auch so genug zu tun.«

Mia lächelte.

»Kein Problem. Aber sie hat so aufgebracht gewirkt und etwas darüber gesagt, dass es ihre Schuld war? Dieser Junge?«

Jetzt sah er sie mit einem etwas düsteren Blick an.

»Ach ja, tut mir leid. Sie war an dem Abend, an dem er verschwunden ist, mit ihm zusammen. Mit Jonathan Holmen. Ich weiß nicht, ob Sie Bescheid wissen …?«

»Doch, sicher.« Mia nickte.

Wer wusste das schließlich nicht. Es war ein kleines Land. Der Fall hatte damals große Aufmerksamkeit erregt. Ein acht Jahre alter Junge, der einfach nur mit dem Rad nach Hause fahren wollte und seither nicht mehr gesehen worden war. Sie hatte damit nichts zu tun gehabt, damals hatte die Kripo die Ermittlungen übernommen.

»Und stimmt das denn irgendwie?«

Der attraktive Mann roch nach Salzwasser und Sonne, als er auf dem kleinen Steg an ihr vorüberging und dem Mädchen den Hang hinauf folgte.

»Nein, natürlich nicht. Was hätte sie denn machen können?«

»Warum glaubt sie dann, dass es ihre Schuld ist?«

Er schüttelte den Kopf.

»Sie ist zu empfindlich und nimmt sich alles so sehr zu Herzen. Wenn ihre Mutter hier gewesen wäre, wäre es vielleicht leichter gewesen, aber ich war allein damit, und …«

Der Mann wandte sich ab und biss sich auf die Lippe, als ob er mehr gesagt hatte, als er eigentlich wollte.

»Ist schon klar«, sagte Mia und ging hinter ihm her in Richtung Haus.

Sofia saß schmollend auf der Treppe und hatte unter dem geblümten Kleid die Knie hochgezogen.

Sie warf ihrem Vater einen strengen Blick zu, als der und Mia näher kamen.

»Ich bin elf Jahre alt, und ich entscheide selbst.«

»Natürlich, Sofia, aber du kannst doch nicht einfach …«

»Doch, das kann ich. Es war meine Schuld, dass Jonathan verschwunden ist, und da kann ich doch wohl um Hilfe bitten, wen und so viel ich will?«

»Sicher, Herzchen, ich meine doch nur …« Simon setzte sich neben sie auf die Steintreppe und strich ihr vorsichtig über die Haare, während Sofia die Hände vors Gesicht schlug.

»Warum war es deine Schuld?«, fragte Mia und setzte sich vor die beiden auf einen Felsblock.

»Ich hätte ihn doch aufhalten können«, schluchzte das Mädchen. »Ich habe gesagt, dass er nicht losfahren sollte. Dass er warten sollte. Dass er bestimmt bei uns übernachten dürfte, wenn er nur noch mal fragte. Sie war doch so … seine Mama … du weißt schon, das mit dem Wein, sie war …«

Der Vater fiel ihr ins Wort.

»Nein, Sofia, so etwas sagen wir nicht. Darüber wissen wir nichts, oder?«

Sofia nickte und sprach weiter.

»So war es immer abends. Und da konnte sie ihn natürlich nicht abholen, nicht wahr? Es war nicht das erste Mal. Erik hat Super Mario, deshalb waren wir da. Und wir wollten gerade einen Boss machen, Bowser, und Jonathan hat so gern gegen Bowser gekämpft. Das Mal davor haben wir es auch so gemacht, da hat er noch mal angerufen, und dann hat sie Ja gesagt.«

»Sofia, ich glaube, jetzt …«

»Aber es stimmt doch. Ich hätte ihn überreden müssen!« Sie schlug sich wieder die Hände vors Gesicht.

Simon streichelte liebevoll ihren Rücken und warf Mia einen Blick zu.

»Wie gesagt, Sofia ist ein bisschen sensibel …«

»Bin ich nicht!«

»Ich kann dich gut verstehen«, sagte Mia und rückte in den Schatten.

»Wirklich?«, fragte das Mädchen überrascht.

»Mir ist so was Ähnliches auch mal passiert. Als ich in deinem Alter war.«

»Wie meinst du das?«

»Nicht genau dasselbe, aber ich hatte eine Schwester. Sie hatte sogar Ähnlichkeit mit dir. Lange blonde Haare. Sehr gescheit.«

»Ist sie auch verschwunden?«

»Fast«, antwortete Mia. »Ich habe auch am Meer gewohnt, so wie du. Und eines Tages wollte sie mit mir mit dem Boot rausfahren, obwohl wir das nicht durften. Ich habe versucht, ihr das auszureden, weil wir keine Schwimmwesten hatten, aber sie ließ sich nicht beirren, und am Ende habe ich nachgegeben.«

»Was ist passiert?«, fragte Sofia und rümpfte die Nase.

»Sie wäre fast ertrunken.«

»Was?«

»Wir sind gekentert. Zum Glück waren Leute in der Nähe, die uns geholfen haben, aber sie musste lange im Krankenhaus liegen, weil sie zu viel Wasser in die Lunge bekommen hatte.«

»Oi …«

»Also weiß ich, wie dir zumute ist. Und, findest du, es war meine Schuld? Dass sie fast gestorben ist?«

»Was?« Sofia sah ihren Vater unsicher an. »Nein, ich weiß nicht …«

»Wir können doch nicht über andere bestimmen, oder? Alle müssten eigentlich ihre eigenen Entscheidungen treffen.«

»Das schon …«

Mia fing einen dankbaren Blick des Vaters auf, als er aufstand, seine Tochter an der Hand nahm und mit ihr den Hang hinuntergehen wollte.

»Also gut, Sofia. Dann hast du ja getan, wozu du gekommen bist, und jetzt lassen wir Mia in Ruhe, okay?«

»Was?«, fragte Sofia. »Nein, ich bin noch nicht fertig.« Sie riss sich los, kam zurück und stand nun mit großen, flehenden Augen vor Mia.

»Kannst du ihn für mich suchen? Wo du so eine tolle Polizistin bist? Kannst du Jonathan suchen? Bitte?«

• 5 •

Mia vertäute das Boot am Anleger unterhalb des Ladens und konnte die flehende Stimme nicht vergessen. Auch im Supermarkt kam sie nicht auf andere Gedanken, denn dort hing am Schwarzen Brett direkt am Eingang ein Plakat. Ein ausgeblichenes Farbfoto des Jungen, der aus zusammengekniffenen Augen in die Kamera schaute. Drei Jahre seit dem Verschwinden, aber das Plakat war neueren Datums. Offenbar hängte noch immer jemand diese Aufrufe aus, hatte die Hoffnung nicht aufgegeben.

Drei Jahre.

Plötzlich huschte ein Erinnerungsbild an einen heruntergekommenen Campingwagen oben beim Tryvann durch ihre Gedanken. Munch und sie. Ein junges Mädchen war verschwunden, und sie hatten einen Hinweis darauf bekommen, dass es sich vielleicht dort oben aufhielt. Mia war nicht darauf vorbereitet gewesen, was sie dort vorfinden würde.

Den Ex ihrer Zwillingsschwester.

Den Junkie, der auch Sigrid an die Nadel gebracht hatte.

Die meisten Erinnerungen waren verschwunden, waren nur Bruchstücke von Bildern, Explosionen in ihr.

Sie hatte auf ihn geschossen, zweimal in die Brust.

Der Krankenwagen.

Später die Vernehmungen, bei der Spezialeinheit.

Wenn Munch nicht gelogen hätte, wäre sie im Gefängnis gelandet.

Notwehr.

Natürlich nicht.

Mord.

Danach Absturz.

Dunkelheit.

Tage und Nächte, an die sie sich nicht erinnern konnte.

Verdammt, Mia.

Nicht das Ganze.

Nicht schon wieder.

Neben dem Suchaufruf für Jonathan hing ein anderes Plakat.

Hast du das Leben auf der Erde satt? Komm mit zum Jupiter.

Sie lächelte. Das Leben satthaben?

Nein. Nicht mehr. Sie war eine neue Mia.

Sie holte Luft und hob ihr Gesicht in die warme Sonne, blieb eine Weile so stehen, bis sich das gute Gefühl wieder eingestellt hatte, dann ging sie zum Weg hoch und dann weiter in Richtung Werkstatt, zu Roars Auto.

Sie hatte den Wagen eigentlich nicht hier in Kvenvær zur Reparatur geben wollen, aber sie hatte dann rasch festgestellt, dass sie nicht viele Alternativen hatte. Dieser Teil der Insel war vielleicht der schönste. Die Touristen, deren Unterhaltung sie im Laden mit angehört hatte, hatten den Namen ausgesprochen, als wäre er fast magisch. Als ob sie nicht glauben könnten, dass es solche Orte wirklich gab. Weiß gestrichene schöne Holzhäuser und rote Scheunen, gepflegte Gärten und wehende Wimpel in den norwegischen Farben, wie eine lebende Postkarte, die idyllische norwegische Küste, wo sie am schönsten war. Roars Auto dagegen sah aus wie eine Garage in einer armen Gegend in den Südstaaten der USA. Als ob jemand einfach das Gebäude und alles, was dazugehörte, aufgehoben, über den Atlantik geflogen und irrtümlicherweise hier abgesetzt hätte. Das niedrige cremegelbe Steingebäude hatte bessere Zeiten gesehen, an mehreren Stellen war die Farbe abgeblättert. Die beiden Garagentüren hingen an dermaßen verrosteten Angeln, dass sie aussahen, als ob sie nicht mehr geschlossen werden könnten. Auf dem ganzen Grundstück, egal, wohin Mia sich wandte, standen ramponierte Autos. In der Mitte des Gebäudes gab es eine schmale weiße Metalltür und ein großes Fenster, das niemand mehr geputzt hatte, seit es seinen Platz bekommen hatte. Durch den Schmutz konnte man Geschmack und Persönlichkeit des Besitzers erahnen. Barbusige Damen, herausgerissen aus allerlei Zeitschriften, eine alte LP von Kenny Rogers, und, natürlich hatte Mia deshalb an die Luftreise über das Meer gedacht, eine große Südstaatenflagge, allerdings eine Version, bei der die zehn Sterne jeweils durch eine Cannabispflanze ersetzt worden waren.

Ihr Jaguar stand genau dort, wo sie ihn zwei Wochen zuvor abgestellt hatte, und fiel total auf. Die Ästhetik der englischen Oberklasse hatte hier rein gar nichts zu suchen. Mia war überrascht, dass es hier so still war, dass nicht irgendein Musikstück von ZZ Top über den von Öl verschmutzten Asphalt strömte. Das hatte vielleicht damit zu tun, dass der einzige Lautsprecher, den sie entdecken konnte, an einem Kabel aus der Wand hing, umgeben von Löchern in der Mauer, als ob jemand mit einem Schrotgewehr darauf geschossen hätte. Sie war dem Besitzer noch nicht begegnet, hatte nur eine Nummer angerufen, die sie auf einem Zettel neben der Tür gefunden hatte, und war aufgefordert worden, die Karre hinzusetzen, wo es dir grad passt, und sie merkte, dass sie fast ein wenig neugierig darauf war, was für ein Typ nun auftauchen würde. Ob der Besitzer ebensolche Ähnlichkeit mit einem amerikanischen Weihnachtsbaum hatte wie seine Umgebung. Das Einzige, was hier fehlte, war ein Ku-Klux-Klan-Kostüm, andererseits, wer wusste schon, was sich im Haus verbarg.

Mia bog um die Ecke und konnte jetzt doch etwas hören. Leise Countrymusik aus einem Radio, in einer kleinen Werkstatt, wo ein Auto auf der Rampe stand. Auf einem Campingstuhl, verborgen unter einer Schirmmütze, saß ein Mann mit Boots und verdrecktem Blaumann und schlief.

»Hallo?« Sie klopfte vorsichtig an den Metallrahmen. »Sind Sie Roar?«

Der Mann erwachte langsam zum Leben, seufzte, als er sie erblickte, als ob sie ihn bei etwas Wichtigem gestört hätte.

»Ja?«

»Mia Krüger. Der Jaguar? Ich wollte nur fragen, ob Sie fertig sind. Nicht so leicht, hier auf der Insel ohne Auto zurechtzukommen.«

»Fertig?« Er lachte trocken und zeigte Zähne, die vermutlich schon seit geraumer Zeit keinen Zahnarzt mehr gesehen hatten. »Nein, nein. Die Kurbelwelle ist erledigt, und die Zylinderkopfdichtung muss ausgetauscht werden; ein Wunder, dass Sie damit überhaupt noch hergekommen sind.«

»Ach ja?«

Er erhob sich widerwillig und kam gähnend auf Mia zu.

»Muss Ersatzteile aus England besorgen.«

»Ach wirklich? Und wann kommen die?«

»Ich soll die also bestellen?«

»Haben Sie das noch nicht …?« Mia musste sich auf die Lippe beißen, um den Kerl nicht zusammenzustauchen. Es war die einzige Werkstatt in diesem Teil der Insel, und wenn sie je wieder mit ihrem Auto fahren wollte, wäre es wohl besser, den Mann nicht noch übellauniger und unwilliger zu machen, als er es ohnehin schon war. »Ja, tun Sie das.«

»Okay«, sagte Roar und wischte sich mit einem schmutzigen Lappen die Finger ab. »Dauert wohl ein paar Wochen.«

»Sie haben nicht zufällig einen … also, einen Mietwagen?«, fragte Mia, begriff aber natürlich die Absurdität ihrer Frage, noch ehe sie den Satz beendet hatte.

Sie war schließlich nicht mehr in Oslo, sondern auf dem Dorf.

»Mietwagen?« Der Werkstattbesitzer grinste und zeigte wieder sein Prachtgebiss.

»Nein, ist schon klar«, sagte Mia.

»Sie kommen also nicht von hier weg?«

»Nein, aber trotzdem danke.« Sie wollte sich schon umdrehen und gehen, als er sein Verhalten plötzlich ein wenig änderte, als sei er im tiefsten Herzen eben doch ein Mensch.

»Ich hab die da«, sagte er, räusperte sich und nickte zu einer Plane hinten in dem überfüllten Raum hinüber. »Hab die als Pfand genommen. Scheißbonzenbrut! Lachszucht, meine Fresse! Diamantuhren, die wollen sie haben, aber ihre Rechnungen bezahlen …? Scheißattrappen, die ganze Bande.« Roar legte den Lappen weg und zog an der Plane.

Mia merkte, wie sich ein Lächeln in ihrem Gesicht ausbreitete.

Vor ihr stand eine schwarze mattlackierte Ducati.

»Wow.«

»Sie mögen Motorräder?«

Wieder dieser Anflug von echtem Mensch, als Roar sie mit etwas ansah, das zum ersten Mal einem Lächeln ähnelte.

»Ich bin selbst ein Harley-Mann, kein großer Fan dieser italienischen Winzlinge, aber doch, feine Mühle, kann ich nicht abstreiten.« Er spuckte aus und schob sich die Mütze auf den Hinterkopf. »Also ja, es kann einige Wochen dauern, wie gesagt. Für die Zwischenzeit an der hier interessiert?«

»Unbedingt.«

»Die nimmt hier drinnen ja doch nur Platz weg. Also, ist dieser Mietwagen gut genug für Sie?«

»Mehr als gut genug.«

»Alles klar. Ich geb die Bestellung heute noch auf. Ich melde mich, wenn alles erledigt ist, abgemacht?«

»Ja, tun Sie das«, sagte Mia und grinste.

Dann schob sie das schwarze Wunder hinaus an die Sonne.

• 6 •

Hannah Holmen schaute sich ein letztes Mal um, ehe sie nach der Klinke fasste. Psychologe Fabian Stengel. Als sie das erste Mal hier gewesen war, hatte sie sich geschämt, und sie schämte sich noch immer ein bisschen. Nicht, weil sie es so schlimm fand herzukommen, sondern wegen des vielen Geredes hier draußen. Auf Hitra. Es war einfach so ein kleiner Ort, mit neugierigen Menschen. Und wenn hier in den letzten Jahren über jemanden geredet worden war, dann ja wohl über ihre Familie.

Hannah Holmen, große Schwester.

Jonathan Holmen, kleiner Bruder.

Drei Jahre war es her, und es hatte überall wehgetan. Sie hatte fast ihr Kleid nicht anziehen können. Ihre Füße hatten die Pedale am Fahrrad nur mit Mühe durchtreten können, als wäre ihr Körper hundert Kilo schwer.

Sie war zu früh gewesen, fast eine ganze Stunde, hatte auf einer Bank im Schatten hinter dem Kulturhaus gesessen, in der Hoffnung, dass niemand sie entdecken würde.

Elf Jahre.

So alt wäre er jetzt.

Hannah ging die Treppe hoch und setzte sich in einen der hellen Sessel. Das Wartezimmer war leer. Darauf legte er Wert, dieser Fabian Stengel, ihm war klar, wo er als Psychologe arbeitete und wer hier draußen auf der kleinen Insel wohnte. Niemand hatte Lust, die Nachbarn oder die Mutter von Leuten aus der Klasse im Wartezimmer zu treffen, deshalb ließ er zwischen den Terminen immer ausreichend Zeit.

Einmal … Ja, also, das war Klatsch, und Hannah mochte eigentlich keinen Klatsch, aber es war doch zu geil, um es für sich zu behalten. Einmal, als sie auf ihren Termin wartete, stand eine Tasche auf dem Boden, eine sehr exklusive. Und sie hatte nur gedacht: Hä? Wer hier draußen hat denn eine Birkin Bag von Hermès? Diese Taschen sind doch schweineteuer! Und in diesem Moment war die Tür aufgegangen, und wer hatte sich dort herausgeschlichen?

Cynthia Prytz.

Danach hatten sie herzlich darüber gelacht, zu Hause bei Sylvia, dem einzigen Ort, wo es zurzeit auszuhalten war. Jessicas Mutter war ja verrückt, es war kein Wunder, dass Jessica so geworden war, wie sie eben war. Und zu Hause bei Hannah selbst war es so still, dass sie fast nicht atmen konnte.

»Cynthia Prytz? Echt??« Jessica hatte noch lauter gelacht als sonst, und Sylvia hatte so große Augen gemacht, dass es aussah, als ob sie ihr gleich aus dem Kopf kullern würden.

»Beim Psychologen?«

Mit Handschuhen, Sonnenbrille und einem um den Kopf gebundenen Schal, als wäre sie ein Filmstar aus alten Zeiten; mit einem Räuspern hatte sie sich in ihrem teuren roten Marni-Mantel zum Ausgang geschlichen.

Hannah hatte sich nichts anmerken lassen, aber sie hatte sehen können, dass sich die Milliardärsgattin schämte.

Cynthia Prytz.

Die Frau von Henry Prytz.

Die Mutter von Alexander und Benjamin Prytz.

Die feinste Familie auf der Insel.

»Da siehst du’s«, hatte Jessica gesagt. »Geld ist keine Hilfe. Es macht dich nur unglücklich.«

Sie hatten genickt. Keine von ihren Familien hatte viel Geld, natürlich nicht, und deshalb war es fast ein gutes Gefühl, dass diese Leute zwar Ferrier-Uhren, Lamborghinis, einen Pool und einen eigenen Stall mit Warmblütern hatten, dass es aber trotzdem Dinge gab, über die mit dem Psychologen gesprochen werden musste.

Und da hatte Jessica es gesagt. Sie hatte die Stimme gesenkt und die anderen gebeten, näher zu kommen. Sie hatten dicht beieinander auf dem rosa Teppich gesessen.

Ich weiß was über sie. Flüsternd, mit Ernst in den Augen. Geheimnisse.

Sie waren natürlich ungeheuer neugierig geworden, aber Jessica hatte sich geweigert, mehr zu sagen, war sich nur mit dem Finger über die Lippen gefahren, wie bei einem Reißverschluss. Ich wage gar nicht, daran zu denken, was passiert, wenn es rauskommt, mehr sag ich nicht.

»Hannah?«

Plötzlich stand der Psychologe da. Er lächelte, und dann saß sie in seinem Sprechzimmer, und es war ein gutes Gefühl, denn sie fühlte sich hier sicherer, hinter der geschlossenen Tür.

Sie hatte beim ersten Mal gedacht, das hier sei, wie in eine andere Welt zu kommen. Ruhig. Geborgen. Es gab keinen Schreibtisch und auch keine Couch, auf der sie liegen musste. Davor hatte sie sich gefürchtet. Sie saßen einander gegenüber in beigen Ledersesseln. Der Teppich, auf dem die Sessel standen, war weiß und unglaublich weich. Ein Bücherregal lehnte an der einen Wand, nicht überfüllt, es enthielt nur ein Dutzend Bücher, nach Farben sortiert.

Sie fühlte sich hier drinnen unglaublich wohl. So wohl, dass sie fast ein schlechtes Gewissen hatte.

Ich wünschte, ich könnte für immer hierbleiben, müsste nie wieder nach Hause gehen.

In das tote Haus.

Zu dem toten Blick.

Zu Mama.

Die so lebendig gewesen war.

Die ihr großes Vorbild gewesen war.

Jetzt aber nur noch ein verschrumpeltes Gespenst.

Bewegungslos auf dem Wohnzimmersofa.

Nicht ein Laut.

Nirgendwo.

»Wie geht es dir, Hannah?«

Sie verdrängte die schmerzhaften Gedanken.

»Es geht gut«, sagte Hannah und zog die Beine unter sich auf den Sessel.

»Und deiner Mutter, wie geht es ihr?«

»Alles beim Alten.«

»Sie spricht noch immer nicht?«

Hannah schüttelte den Kopf.

»Heute ist ein besonderer Tag, nicht wahr? Möchtest du darüber reden?«

Sie überlegte, merkte, dass sie eigentlich keine Lust hatte.

Der 16. Juli. Drei Jahre seit dem Verschwinden.

Sie hatte gehofft, sie und ihre Mutter könnten zusammen hingehen.

Zu der Stelle, wo er zuletzt gesehen worden war.

Aber nein.

Sie war allein mit dem Rad hingefahren.

Wie voriges Jahr.

Hatte unterwegs Blumen gepflückt.

»Muss ich?«, fragte Hannah schließlich und hoffte, der Kloß im Hals, den sie auf der Herfahrt verspürt hatte, werde nicht in Form von Tränen herauskommen.

»Nein, nein, natürlich nicht. Du entscheidest. Das hier ist dein Raum. Wir können über alles Mögliche reden.«

Sie war anfangs skeptisch gewesen, wie gesagt. Der Psychologe. Sie hatte alles an ihm blöd gefunden. Den Namen. Wer hieß denn wohl Fabian Stengel? Das hörte sich doch an wie eine Figur aus einem Kinderbuch. Und wer zog sich so an? Hemd und Weste? Brille mit dickem schwarzem Rahmen. Leitete er etwa eine Galerie? Glaubte er, er wohne in New York? Das waren eigentlich nicht ihre Gedanken, aber so wurde draußen über ihn gesprochen, im Café im Einkaufszentrum oben beim Bowling. Ich-bezogen, überlegen, eingebildet, wofür hält der sich eigentlich?

Aber Fabian hatte sich als alles andere als ich-bezogen und überlegen entpuppt. Er war einfach lieb, wirklich. Hörte zu. Mit freundlichen Augen. Und er war ja alt, sicher über vierzig, aber etwas an ihm gab ihr trotzdem das Gefühl, dass sie auf irgendeine Weise zusammengehörten.

Es war ihr beim ersten Mal einfach so herausgerutscht, aus Versehen, sozusagen. Sie war in der Bibliothek gewesen und hatte sich dort ein Buch von Haruki Murakami ausgeliehen, Norwegian Wood. Sie hatte wach unter der Decke gelegen, bis sie fertig war, total erschlagen davon, wie schön dieses Buch war.

»Manchmal komme ich mir einfach so vor wie das Mädchen in Norwegian Wood«, das war ihr einfach so herausgerutscht.

Er hatte ein wenig überrascht gelächelt.

»Ach, du hast Murakami gelesen?« Neugierig beugte er sich in seinem Sessel vor. »Wie meinst du das? Auf welche Weise bist du ihr ähnlich, was meinst du?«

Sie hatte sich auf die Lippe gebissen, denn es war so ungewohnt gewesen, jemandem erzählen zu sollen, woran sie dachte.

»Na ja, sie ist so traurig. Und dann weiß sie eigentlich nicht so richtig, warum eigentlich.«

Bei ihrem nächsten Besuch hatte ein Buch auf der Armlehne gelegen.

»Für dich«, hatte er lächelnd gesagt.

»J. D. Salinger?«

»The Catcher in the Rye. Das handelt zwar von einem Jungen, aber auch davon, anders zu sein. Sich in der Welt, die uns zugeteilt worden ist, nicht zu Hause zu fühlen. Lies das, wenn du möchtest. Ich bin gespannt auf deine Meinung.«

Wie gut, dass jemand sie ernst nahm. Ein Erwachsener, dem sie etwas erzählen konnte.

Mit dem sie ihre geheimsten Gedanken teilen konnte.

»Wie gesagt«, fuhr Fabian fort, »wir können über diesen Tag als etwas ganz Besonderes reden, oder wir können ihn als normalen Tag behandeln. Willst du das, sollen wir über etwas anderes reden?«

Hannah nickte und fühlte sich bereits besser. Der Kloß war jetzt kleiner, fast schon verschwunden.

»Jetzt hast du das erste Jahr in der Oberstufe hinter dir, oder? Möchtest du darüber reden? Weißt du schon, wie es für dich weitergehen soll? Willst du denn die Schule hier fertig machen, oder denkst du noch immer an Trondheim?«

Eine eigene Bude. In der Stadt. Weit weg von allem hier.

Sie hatte in letzter Zeit oft wach gelegen, sich den Kopf zerbrochen, war aber zu dem Schluss gekommen, dass das nicht gehen würde.

Sie konnte sie nicht verlassen.

Mama.

Konnte es nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren, sie allein in dem toten Haus sitzen zu lassen.

»Ich weiß nicht so genau.«

»Okay. Was ist mit deinen Freundinnen? Bleiben die hier, oder denken sie vielleicht auch an andere akademische Möglichkeiten?«

Hannah musste jetzt ein wenig lächeln.

Jessica und Sylvia. Doch, sie waren enge Freundinnen, aber sie konnte sich nicht vorstellen, dass eine von denen akademisch genannt werden könnte. Sie wussten vermutlich nicht einmal, was dieses Wort bedeutete, was natürlich nicht schlimm war, aber über solche Dinge konnte sie mit ihnen nicht sprechen.

Mathematik.

Dazu hatte sie die meiste Lust.

Nicht wie Jessica.

»Amerika!«

Am vorigen Freitag hatten sie auf der Rückbank von Andres Wolds Wagen gesessen, mit einer Flasche Schwarzgebranntem und den Tabletten, und sie waren ziemlich zugedröhnt gewesen, und wenn sie so war, high also, fing Jessica immer davon an.

»Los Angeles! Wäre das nicht perfekt? Ich meine, die Kardashians wohnen da, können wir nicht einfach abhauen und allesamt hinfahren?«

Die arme Jessica. Manchmal tat sie ihr so leid. Alle wussten, dass Jessicas Mutter bei ihren Festen finstere Gestalten zu Besuch hatte. Und Jessica hatte nicht einmal ein eigenes Zimmer. Sie hatte ein altes Boot leihen können, und da schlief sie ab und zu.

»Und Disneyland! Ich hab im Netz darüber gelesen, da kannst du einfach einen Job kriegen. Wir könnten in diesen Figuren stecken, wäre das nicht total cool?«

Die Wochenenden im Wagen von Andres Wold. Ihr schauderte fast ein bisschen. Nie im Leben hätte Mama ihr erlaubt, mit dieser Bande abzuhängen.

Früher jedenfalls.

Aber jetzt …

»Du hast etwas von einem Fest gesagt, als du zuletzt hier warst? War das nicht heute? Dieser Maskenball?« Fabian schob sich die Brille höher auf die Nase und schaute aus zusammengekniffenen Augen den Kalender an, der auf dem runden Tischchen neben dem Sessel stand.

Hannah nickte.

»Doch, das ist heute Abend. Aber ich weiß nicht so recht …«

»Was meinst du?«

»Na ja, ich weiß nicht so recht, ob ich hingehen will.«

»Warum nicht?«

Sie zögerte ein wenig mit der Antwort.

»Na ja. Alle sind doch so …«

Fabian runzelte die Stirn.

»Denkst du jetzt an Drogen?«

»Das nicht, oder ich weiß nicht …«

»Das ist doch nur natürlich, oder nicht? Dass man in deinem Alter ein bisschen experimentiert? Solange man es nicht übertreibt?«

Nicht übertreibt? Am vorigen Freitag hatte sie geglaubt, sie müssten einen Krankenwagen holen. Jessica hatte wie üblich alles in sich hineingekippt, Hannah hatte sie fast nicht wieder zum Leben erwecken können.

»Verkleide dich, das macht doch Spaß, oder findest du es blöd?«

»Nicht doch, es macht Spaß, das schon.«

»Habt ihr euch schon überlegt, als was ihr gehen wollt? Als Prinzessinnen, Elfen und Nixen?«

Hannah lachte ein bisschen.

»Nein, das ist was für kleine Mädchen.«

»Und das seid ihr nicht mehr, das sehe ich. Heißt sie nicht Jessica? Und …«

»Sylvia.« Hannah nickte.

»Ihr drei seid noch immer zusammen?«

»Ja.«

Fabian beugte sich wieder in seinem Sessel vor.

»Ich finde, du solltest hingehen, Hannah. Ich glaube, es wird dir guttun. Und gerade heute. Ein bisschen aus dem Haus kommen?«

»Sicher.«

»Ich habe einen Anzug und eine Reservebrille, wenn du die leihen willst, dann kannst du als Psychologe gehen.«

Wieder lachte Hannah.

»Nein, nein, wir haben Kostüme.«

»Ach ja? Lass hören!«

»Na ja, Sie wissen doch, Jessica liebt Disney. Sie hat online Masken bestellt.«

»Witzig«, sagte Fabian lächelnd. »Und wen habt ihr euch ausgesucht?«

»Jessica geht als Micky Maus, ich als Donald Duck und Sylvia als Goofy. Blöd, ich weiß.«

Fabian warf einen diskreten Blick auf die Uhr auf dem Tisch.

»Wie gut, wie gut. Das klingt witzig. Aber du, Hannah?«

»Ja?«

Er fuhr sich übers Kinn und legte sich Block und Bleistift auf die Knie.

»Du bist sicher?«

»Wobei denn?«

»Der 16. Juli? Vor drei Jahren? Du bist sicher, dass wir nicht darüber reden sollen?«

»Ja.«

»Kein Problem. Ich musste das nur fragen. Gibt es etwas anderes, wozu du diese Stunde nutzen möchtest?«

Hannah überlegte kurz, ehe sie antwortete.

»Ich wollte wissen, ob es in Ordnung ist, wenn ich nur hier sitze, ohne etwas zu sagen?«

»Ob das in Ordnung ist? Ja, natürlich. Gibt es einen besonderen Grund, warum du …«

»Nicht doch. Ich bin eben nur gern hier.«

»Dann machen wir das so«, sagte Fabian lächelnd. »Soll ich rausgehen?«

»Nein, ist schon in Ordnung so.«

Einfach Stille.

Hier drinnen.

Für einige Minuten.

Hannah Holmen schloss die Augen und ließ den Kopf gegen die Nackenstütze des beigen Sessels sinken.

• 7 •

Als Luca Eriksen im Streifenwagen vor dem Eingang zum Europris-Supermarkt am Ende der Hauptstraße saß und wünschte, dass vielleicht jemand anderes angerufen hätte, konnte er sich nicht daran erinnern, wann er zuletzt zwei Anrufe an einem Tag bekommen hatte. Nicht, dass er etwas gegen Caroline aus dem Frisiersalon hatte; was ihm zu schaffen machte, war das Schild an der Tür daneben.

Fabian Stengel.

Er hatte versucht, ihnen nach dem Unfall so weit wie möglich aus dem Weg zu gehen. Den drei anderen Paaren, mit denen sie sich so oft getroffen hatten. Mittwochs zum Kartenspielen. Samstags, meistens zum Essen, gern draußen, wenn das Wetter es zuließ. Immer wieder Anrufe und Mitteilungen auf seinem Anrufbeantworter. Konnten sie es denn nicht begreifen? Dass er kein Interesse mehr hatte? Dass er nur in Ruhe gelassen werden wollte?

Hallo, Luca, hier ist Karin, wollte nur sagen, dass wir am Samstag grillen. Schaust du mal vorbei?

Hallo, Kumpel, John hier, wir wollen am Sonntag mit dem Boot nach Ulvøya fahren, kommst du mit?

Hallo, Luca, bist du da? Hier ist noch mal Fabian, ich wollte bloß sagen, dass ich für dich da bin, wenn du reden willst. Wir können das gern bei mir in der Praxis machen, wenn das besser ist? Soll ich nicht einen Termin für dich machen? Sag einfach Bescheid. Ich schaufele gern Platz im Kalender frei.

Der Psychologe.

Er hatte es versucht, das immerhin. Bei Krabben, Weißbrot und selbst gebrautem Bier, während alle versucht hatten, sich nichts anmerken zu lassen, als ob das hier das Natürlichste von der Welt wäre. Acht Personen um den großen Tisch, aber das waren sie ja schließlich nicht mehr, oder? Sie waren nur noch sieben, oder nicht?

Nein, danke.

Er antwortete inzwischen nicht mehr. Und die Anfragen kamen zum Glück immer seltener.

Nur Fabian war noch übrig und wollte sich nicht geschlagen geben.

Luca hatte sich beim letzten Mal versteckt, als er gesehen hatte, wie der silbergraue Lexus vor dem Haus vorfuhr. Er hatte im Badezimmer gesessen und sich die Ohren zugehalten, um so tun zu können, als habe er die Haustürklingel nicht gehört.

Als der Wagen wieder verschwunden war, lag auf der Treppe eine Broschüre.

Fabian Stengel, Psychologe und Traumatherapeut.

Nein.

Er wollte nicht.

Er war nicht dumm.

Er wusste doch, was das bedeutete.

Worauf es hinauslief.

Vergessen.

Das wollten sie erreichen.

Dass er Amanda vergaß.

Luca Eriksen merkte, dass er wütend wurde, als er aus dem Auto stieg und auf den Marktplatz zuging.

Er würde Amanda niemals vergessen.

»Hallo, Luca, wie geht’s dir?« Ein munteres Gesicht unter einem Fahrradhelm lächelte ihn strahlend an.

»Ach, hallo, Pelle, ja, gut geht’s. Und dir?«

»Gut, total gut. Ich fliege bald los. Wirklich wahr, das habe ich vor einigen Tagen erfahren.«

Der muntere Mann klappte den Ständer seines Fahrrads aus und trat nun auf der Straße vor Luca von einem Fuß auf den anderen.

»Wie spannend. Und wohin sollte es noch mal gehen?«

»Zum Jupiter. Ich bin auserwählt worden.«

Luca nickte und wusste nicht so recht, was er antworten sollte. Pelle Lundgren war eine bekannte Gestalt auf der Insel. Er war Mitte vierzig, aber er benahm sich wie ein Kind. Eigentlich war es eine Tragödie. Pelle hatte bei einem der Bootsbauer gearbeitet, war wirklich tüchtig gewesen, hieß es. Dann war ein Unfall passiert. Irgendein Mechanismus in einem Kran hatte versagt. Pelle Lundgren war unter einen Bootsrumpf geraten, hatte schwere Kopfverletzungen davongetragen und war seitdem nicht mehr derselbe. Traurige Geschichte. Ufo-Pelle. Jetzt wurde er von allen ausgelacht, wenn er um die Insel radelte, mit einem fertiggepackten Rucksack, stets aufbruchbereit. Immer mit einem Lächeln um den Mund, wie ein glückliches kleines Kind.

Bald breche ich auf. Dann kommen sie mich abholen.

»Ich fliege bald los, hab ich das schon gesagt?«, fragte Pelle und lächelte noch strahlender.

»Das hast du gesagt, Pelle, wie schön. Es kommt ein … Raumschiff, nicht wahr?«, fragte Luca.

»Ja!« Pelle hüpfte auf und ab und klatschte dabei in die Hände. »Ich freu mich so. Nulldreinullnull.«

»Dann holen sie dich?«

»Ja. Beim Vogelturm draußen bei Havmyran.«

»Dann viel Glück, Pelle.«

»Danke. Kann ich dich begleiten?«

»Wie meinst du das?«

Pelle stellte eifrig den Ständer am Fahrrad hoch und packte den Lenker.

»Ich kann dich gern begleiten, wenn du willst?«

»Äh, wohin denn?«

»Dahin, wohin du willst?«

Luca lächelte freundlich und legte seinem Gegenüber die Hand auf den Arm.

»Danke, Pelle, aber ich glaube nicht, ich …«

»Willst du zum Psychologen?« Pelle Lundgren schaute zum Praxiseingang am Platz hinüber.

»Nein, da will ich nicht hin.«

»Ich war gestern da«, sagte Pelle und fuhr sich mit einer kindlichen Hand unter der Nase entlang. »Geh da nicht hin. Der hat doch keine Ahnung.« Um diese Aussage zu unterstreichen, drehte er einen Finger an seinem Fahrradhelm.

»Das werde ich mir merken«, sagte Luca lächelnd.

»Wir sehen uns, wenn ich zurückkomme, also, falls ich zurückkomme.«

»Das tun wir, Pelle. Gute Reise.«

»Danke!« Pelle Lundgren lächelte und fuhr weiter.

Luca ging die letzten Meter die Straße hinauf, holte für einen Moment Luft, setzte sein professionelles Gesicht auf, ignorierte das Schild des Psychologen und trat durch die andere Tür.

Chaplin Friseur.

Ein Glöckchen bimmelte.

»Ach, hallo, Luca, da bist du ja.« Caroline kam auf ihn zu und umarmte ihn. »Geht’s dir gut?«

Luca verkniff sich eine scharfe Antwort.

Dauernd dieses Mitleid. Konnten sie ihn nicht einfach in Ruhe lassen?

»Danke, mir geht’s gut«, sagte Luca und rang sich ein Lächeln ab. »Ein Einbruch, hast du gesagt?«

»Ja, mein Gott, ich weiß auch nicht, es fehlt ja nichts, aber es war schon scheußlich.« Sie ging vor ihm her durch den Salon und ins Hinterzimmer. »Hier. Siehst du?«

Eine gelbbraune Tür, mit deutlichen Einbruchspuren um das Schloss.

»Hier hat sich jemand zu schaffen gemacht, ja«, sagte Luca, nickte und schaute sich um. »Aber es fehlt nichts, hast du gesagt?«

Die Friseurin faltete die Hände vor der Brust und schüttelte den Kopf.

»Nein, das ist ja das Seltsame. Ich meine, ich habe nicht so wahnsinnig viel, aber mein Rechner steht doch hier, und die Kasse kann man ja einfach mitnehmen, ich weiß also nicht, worauf sie es abgesehen hatten.«

»Seltsam, es fehlt wirklich nichts?«

»Nicht einmal eine Schere. Vielleicht hat jemand sie auf frischer Tat ertappt. Oder sie haben sich eines Besseren besonnen.« Die Friseurin seufzte.

»Du meinst, dass sie erst die Tür aufgebrochen und sich dann anders entschieden haben?«

Luca zuckte mit den Schultern.

»Ist ja eine Möglichkeit. Falls das, na ja, Jugendliche waren.«

Caroline schüttelte leicht gereizt den Kopf.

»Ja, ja. Gut, dass nichts fehlt, jedenfalls. Im Übrigen ist nichts daraus geworden.«

»Woraus?«, fragte Luca.

»Aus der Hochzeit.« Sie ging wieder hinaus in den Salon und nahm die Tasse vom Tresen.

»Die Hochzeit ist abgeblasen worden?«, fragte er überrascht.

Es war die große Neuigkeit hier draußen, von der alle sprachen. Alexander Prytz wollte heiraten. Der Erbe des gesamten Imperiums. Der älteste Sohn von Henry Prytz. Das wäre das große Ereignis des Sommers auf Hitra. Schon schwirrten die Gerüchte. Offenbar sollten bekannte Musiker spielen. Und dort draußen sollte eine ganze Barackenstadt errichtet worden sein, nur für das Hilfspersonal. Was die Wahrheit war, wusste er nicht, aber jedenfalls redeten alle darüber. Und übrigens nicht nur hier draußen, die landesweite Klatschpresse brachte schon seit Wochen große Reportagen.

Traumprinz findet Aschenputtel.

Milliardärssohn heiratet einfaches Mädchen.

»Ist die wirklich abgeblasen worden?«, fragte Luca noch einmal.

»Was denn?«

»Die Hochzeit?«

Caroline lachte und schob sich eine Zigarette zwischen die Lippen.

»Nein, nein, sorry. Aus meiner Idee ist nichts geworden.« Sie gab sich Feuer und ging vor ihm hinaus auf die Straße. »Cynthia hat sich doch in all den Jahren hier die Haare schneiden lassen, oder, ja, bis sie zu fein dafür wurde, jedenfalls. Und da dachte ich, was, wenn die sich hier für die Hochzeit zurechtmachen? Aber nein, ich hab gelesen, dass sie zu einem Promistylisten nach London fliegen.« Das Folgende flüsterte sie. »Zweihunderttausend.«

»Was?«

»Das kostet es angeblich.«

»Wirklich unangenehm, dass jemand die Tür aufgebrochen hat«, sagte Luca. »Aber schön, dass nichts fehlt. Ich werde mich mal umhören, okay?«

»Danke, Luca. Pass auf dich auf, ja?«

Bei seinem Auto blieb er für einen Moment stehen und schaute verstohlen zu dem Messingschild an der Tür hinüber.

Vielleicht sollte er ja doch …?

Nein.

So weit war er nicht.

Noch nicht.

Eine neue Nachricht tickerte auf seinem Handy ein.

Chorprobe heute Abend. Kommst du?

Er seufzte resigniert und ließ das Handy neben sich auf den Sitz fallen.

Nein, danke. Konnten die ihn nicht einfach in Ruhe lassen?

Eine Wolke glitt vor die Sonne, als er den Motor anließ und zurück auf die Hauptstraße fuhr.

Er hatte gerade den Wagen vor dem Lensmannsbüro abgestellt und ging die Treppe hoch, als ein schwarzes Motorrad auf den Platz fuhr. Die Fahrerin nahm den Helm ab, und er erkannte sie sofort. Die langen schwarzen Haare, die schlanke Gestalt, die jetzt über den warmen Asphalt auf ihn zukam.

»Hallo, bist du Luca Eriksen?«

»Ja, der bin ich.«

»Mia Krüger«, sagte die schöne Ermittlerin und gab ihm die Hand. »Könnte ich kurz mit dir sprechen?«

• 8 •

Sofia stellte ihr Rad bei Eriks Haus ab, ging den Pfad zum Meer hinunter und setzte sich auf die Felsen. Draußen auf den Wellen herrschte ein unbeschreibliches Spektakel. Die Möwen hatten Krieg und Fest zugleich. Irgendwer hatte auf einem der Kutter Fische gereinigt und den Abfall über Bord geworfen.

Sofia kniff die Lippen zusammen und kämpfte gegen das fiese Gefühl in ihrem Bauch. Es war nicht leicht, aber sie hatte beschlossen: Sie würde nicht traurig sein. Jeden Samstag um fünf sollte sie mit Mama skypen. Eigentlich. Sie hatte sich schön gemacht und das gelbe Kleid angezogen, das Mama so gut gefiel. Sie hatte sich einen Pferdeschwanz gebunden und mit einem Lächeln pünktlich vor dem Rechner gesessen, aber dann war es zehn nach geworden und dann halb sechs, und am Ende hatte sie eingesehen, dass Mama auch heute nicht auf dem Bildschirm auftauchen würde.

Sofia seufzte, hob einen Stein an und warf ihn in die Wellen.