Dunkelschnee - Samuel Bjørk - E-Book
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Dunkelschnee E-Book

Samuel Bjørk

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Beschreibung

Auf einem Feld in Schweden entdeckt ein Bauer die Leichen von zwei elfjährigen Jungen, zwischen ihnen ein erlegter weißer Hase. Im Tagebuch eines der Kinder findet sich ein rätselhafter Eintrag: »Morgen kommt der Mond. Ich habe Angst vor dem Wolf.« Acht Jahre später werden auf einem Feld bei Oslo erneut zwei tote Jungen gefunden. Kommissar Holger Munch, frisch befördert zum Leiter einer neuen Ermittlungseinheit, holt die junge Polizeischülerin Mia Krüger ins Team, die an der Akademie durch ihren Spürsinn hervorsticht. Auf den Tatortfotos entdeckt sie ein Detail, das unfassbar Böses verheißt. Und dann verschwinden zwei weitere Jungen …

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Buch

Ein grausames Verbrechen erschüttert Schweden. Auf einem Feld bei Fagerhult liegen die Leichen von zwei elfjährigen Jungen, zwischen ihnen ein erlegter weißer Hase. Kurz vor seinem Tod schrieb eines der Kinder einen letzten Eintrag in sein Tagebuch: »Morgen kommt der Mond. Ich habe Angst vor dem Wolf.« Der Fall bleibt den Behörden ein Rätsel. Acht Jahre später werden auf einem Feld in Norwegen zwei ermordete Jungen gefunden. Zwischen ihnen liegt ein toter Rotfuchs. Kommissar Holger Munch, frisch befördert zum Leiter einer neuen Osloer Ermittlungseinheit, wird mit der Aufklärung betraut. Durch einen befreundeten Kollegen wird Munch auf die junge Polizeischülerin Mia Krüger aufmerksam. An der Akademie sticht sie durch ihren Spürsinn hervor, die Nächte verbringt sie damit, nach ihrer verschwundenen Zwillingsschwester zu suchen. Munch gefällt die kluge, ernsthafte Mia, und er bezieht sie in die Ermittlungen ein. Auf den Fotos der beiden Tatorte entdeckt Mia ein bisher ungesehenes Detail, das unfassbar Böses verheißt. Und dann verschwinden zwei weitere Jungen …

Weitere Informationen zu Samuel Bjørk

sowie zu lieferbaren Titeln des Autors

finden Sie am Ende des Buches.

Samuel Bjørk

Dunkelschnee

Der erste Fall für Holger Munch und Mia Krüger

Thriller

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs

Die norwegische Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel »Ulven« bei Cappelen Damm AS, Oslo. Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Deutsche Erstveröffentlichung Juli 2022 Copyright © der Originalausgabe 2021 by Samuel Bjørk Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2022 by Wilhelm Goldmann Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München Published by arrangement with Ahlander Agency Umschlaggestaltung: UNO Werbeagentur, München Umschlagmotive: FinePic®, München; David Paire/Arcangel Redaktion: Julie Hübner KS · Herstellung: ik Satz- und E-Book-Konvertierung: GGP Media GmbH, Pößneck ISBN: 978-3-641-28855-6V003www.goldmann-verlag.de

Prolog

Am 28. Mai 1993 wurden zwei elf Jahre alte Jungen auf einem Feld bei Fagerhult in Schweden ermordet aufgefunden, etwa zehn Kilometer entfernt von Uddevalla. Der Bauer, der die Toten entdeckt hatte, beschrieb seinen Fund später so: Als ob jemand die Tür der Hölle geöffnet hätte. Der eine Junge, Oliver Hellberg, war vollständig nackt und lag auf dem Rücken. Der andere, Sven-Olof Jönsson, trug eine Unterhose und wurde einige Meter weiter gefunden. Zwischen den Jungen lag ein Tier. Ein weißer Hase. Aufgrund der Brutalität dieses Falls wurde ein Team aus Ermittlern der Zentralen Kriminalpolizei in Stockholm zusammengestellt, das mit der örtlichen Polizei kooperieren sollte. Es stellte sich jedoch bald heraus, dass diese Zusammenarbeit nicht wie geplant funktionierte. In den folgenden Jahren wurde die Leitung dieser Gruppe nicht weniger als dreimal ausgetauscht, und am Ende musste die schwedische Justizministerin Eva Nordberg zurücktreten. Dem Ermittlungsteam wurde außerdem vorgeworfen, das Tagebuch des einen Jungen nicht vertraulich behandelt zu haben. Die Eltern, Patrick und Emilie Hellberg, zogen vor Gericht, um zu verhindern, dass die Boulevardpresse die persönlichen Gedanken des ermordeten Elfjährigen an die Öffentlichkeit zerrte. Sie gewannen die erste Runde vor dem Bezirksgericht Uddevalla, unterlagen aber bei der Berufungsverhandlung vor dem Bezirksgericht für Westschweden. Die Mutter, Emilie Hellberg, wurde einige Wochen später im Haus der Familie im Ekeskärsväg tot aufgefunden. Sie hatte sich das Leben genommen. An diesem oft als »Tag der Schande« bezeichneten 14. Oktober wurde das Tagebuch des Jungen in Expressen und Aftonbladet vollständig abgedruckt. Beide Zeitungen hatten zum ersten Mal die gleiche Schlagzeile, die letzte Seite im Tagebuch des Jungen. Auf dieser Seite standen nur wenige Wörter, geschrieben in Schreibschrift:

Morgen kommt der Mond. Ich habe Angst vor dem Wolf.

Der Fall ist bis heute nicht aufgeklärt.

Teil 1

• Teil 1 •

April 2001

1

• 1 •

Thomas Borchgrevink stand auf dem Parkplatz vor der ehemaligen Fredheim-Schule in Lørenskog und hoffte, dass bald ein wenig Wind aufkäme. Warum sie ausgerechnet diesen Treffpunkt gewählt hatte, wusste er nicht, aber er hatte eine Ahnung. Vielleicht wollte sie es so schwierig wie möglich für ihn machen? War das der Grund? Oder nicht? Der Sechsunddreißigjährige warf gerade einen Blick auf die Uhr, als ein Krähenschwarm von einem Baum in der Nähe aufflog. Über der öden Gegend war nur lautes Krächzen zu hören, denn hier draußen gab es nichts, nur Felder, eine Kiesgrube und dann diese alte weiße Schule, die er als Kind besucht hatte. In einem anderen Leben. Vor dem, was geschehen war. Er war lange nicht mehr in diesem Teil der Welt gewesen. Nicht, dass er überhaupt irgendwo gewesen wäre. Zwölf Jahre hinter Gittern. Er war einige Monate zuvor freigekommen und hatte sich noch immer nicht an dieses Gefühl gewöhnt. Tun zu können, was er wollte. Thomas Borchgrevink zog die Jacke fester um sich, setzte sich auf die Treppe des alten Schulhauses und hob das Gesicht in die bleiche Sonne, die hinter dem Wäldchen hervorlugte.

Viertel vor neun. Sie waren für zehn verabredet, aber er hatte nichts riskieren wollen. Ihr war alles zuzutrauen. Da sieht man’s mal wieder, wir hatten neun gesagt, aber er hat sich nicht blicken lassen. Meint ihr wirklich, dass er ein Recht darauf hat, seinen Sohn zu treffen? Bei ihrer letzten Begegnung war der Junge zwei Jahre alt, seid ihr euch darüber im Klaren?

Plötzlich erklang ein leises Rascheln in den Baumwipfeln am Ende der Straße, und sofort wurde er etwas optimistischer. Vielleicht würde er doch noch kommen, der Wind? Idiotische Idee natürlich, Drachen steigen lassen zu wollen! Er hatte sich den Kopf zerbrochen, was sie hier draußen tun könnten. Hatte so lange im Spielwarenladen gestanden, dass die Verkäuferin am Ende gefragt hatte, ob alles in Ordnung sei. In Ordnung? Natürlich war nicht alles in Ordnung. Was bildete sie sich eigentlich ein? Nicht ihre Schuld, natürlich, und deshalb hatte er einfach das Erstbeste gekauft. Einen Drachen. Draußen. Bei der alten Schule. Zusammen Drachen steigen lassen. Wäre das nicht schön? Jetzt bereute er es natürlich, da sich der Wind in den Baumwipfeln wieder legte. Ein Schachbrett, daran hatte er eigentlich gedacht. Dem Jungen die Regeln beizubringen, vielleicht ein bisschen mit ihm zu spielen, aber diesen Plan hatte er aufgegeben, als gesagt worden war, dass das Treffen unter freiem Himmel stattfinden würde. In Begleitung. Dass sie ihn unter keinen Umständen mit dem Jungen allein lassen würde.

Damals, bei ihrem Besuch, hatte alles ganz anders geklungen. Siv Johnsen. Er hatte sich nicht einmal erinnern können, wer sie war. Borchgrevink, Besuch für dich. Der Erste seit drei Jahren. Ein Mädel. Sie sitzt in Nummer zwei.

Besuch?

Ein Mädel?

Mama?

Nein.

Natürlich nicht.

Wie zu einem großen Anlass fein gemacht, mit Blumen im Haar, roten Wangen über einem kurzen Sommerkleid. Siv Johnsen. Sie war auf der weiterführenden Schule in seiner Klasse gewesen. In den wenigen Monaten, die er dort gewesen war, bis er den Stimmen in seinem Kopf nachgegeben hatte.

Und das musste man ihr lassen, fast drei Jahre lang war sie zu ihm gekommen, alle vierzehn Tage. Am Ende hatte er sie fast gerngehabt. Sie schickte Bilder aus der Geburtsklinik. Vom ersten Geburtstag des Jungen. Martin sehnt sich nach seinem Papa.

Aber dann, nein.

Nichts mehr.

Ein anderer Mann, das hatte er irgendwann begriffen.

Es konnte ihm ja auch egal sein.

Was sie betraf.

Aber das Kind?

Der feinste Junge auf der Welt.

Sein Sohn.

Martin.

Nein, verdammte Pest!

Thomas Borchgrevink sprang von der Treppe und lief auf dem Platz hin und her, um dieses Gefühl abzuschütteln.

Ruhig.

Nicht wütend werden.

Obwohl sie eines Tages plötzlich nicht mehr gekommen war, stattdessen mehrere Briefe, mit der Maschine geschriebene Blätter von gesichtslosen Sachbearbeitern, die ihm erzählen wollten, dass er den Kleinen nicht mehr sehen dürfe.

Er kickte einen Stein über den Platz und schaute wieder auf die Uhr.

Viertel nach neun.

Kein Mensch zu sehen.

Und warum auch? Hier draußen gab es doch nichts. So weit draußen wie hier, von Finstad den Losbyvei hoch, wohnte doch so gut wie kein Mensch. Das Schießgelände lag gleich hinter der Kurve, die Kiesgrube hinter dem Waldrand dort oben. Er kannte jeden Stein hier draußen, hatte diese Schule geliebt, war jeden Morgen früh gekommen, seinem Zuhause entronnen, dem düsteren Haus, den kalten Menschen, die sich eigentlich um ihn kümmern sollten, dem Ticken des Weckers auf dem Nachttisch, den Armen von Micky Maus, die zeigten, dass er jetzt aufstehen musste, wenn er rechtzeitig losgehen wollte, leise auf Socken durch das Haus, um niemanden zu wecken, die Butterbrotdose, die er mit dem füllte, was er gerade finden konnte.

Er war nicht gerade eine Leuchte in der Schule, aber es reichte, er war auch keiner von den Schlechtesten.

Aber diese Wärme.

Von jemandem, der sich kümmerte.

Viertel vor zehn, und nun kam ein Auto, ein kleiner rostiger Toyota Corolla, am Steuer eine rothaarige Frau mit runden Brillengläsern. Sie reichte ihm nervös die Hand.

»Astrid Lom, Jugendamt.«

»Thomas.«

Leichtes Räuspern über einem Ordner, der sicher dieselben Informationen enthielt, die ihm zugesandt worden waren.

Verurteilt wegen Mordes.

18 Jahre.

Gute Führung.

Vorzeitige Entlassung.

Mutter einverstanden mit diesem Treffen.

Unter Aufsicht.

Fünf vor, und nun kam endlich das richtige Auto.

Weiß.

Teuer.

Natürlich.

Sie hatte etwas Besseres gefunden, aber das spielte keine Rolle, jetzt nicht.

Thomas Borchgrevink merkte, dass ihm am ganzen Leib heiß wurde, als er mit feuchten Händen über den Schulhof auf den Wagen zuging.

»Nein, nein, warten Sie.«

Eine Hand hielt ihn zurück.

»Ja, natürlich, sorry.«

So, wie es für den Jungen am besten ist.

Martin.

Da war er.

Thomas lächelte strahlend, als er sah, wie sich die Autotüren öffneten.

Dunkle Haare.

Brauner Pullover.

Leicht verwirrter Blick, als der Junge vor dem Auto stehen blieb, ohne Hinweise darauf, dass die auf der Vorderbank helfen würden.

Verdammte Idioten.

Seht ihr nicht, dass er …?

Die Sachbearbeiterin kannte sich zum Glück mit Kindern etwas besser aus, sie machte rasche Schritte über den Platz, legte einen Arm um dünne Schultern, und dann stand er plötzlich da. Thomas Borchgrevink musste sich gewaltig zusammenreißen, um nicht in Tränen auszubrechen.

»Hallo, Martin.«

»Hallo …«

Schöne blaue Augen, die eigentlich nicht ihn ansehen wollten. Sondern die Schule.

»Wie geht es dir?«

»Was?«

Ein Blick jetzt, ein wenig neugierig.

»Coolen Pullover hast du da.«

»Äh … danke.«

Der Junge schaute zu der Sachbearbeiterin auf, wie um zu fragen, wer sie war und was sie hier wollte.

»Ist das ein Roboter?«

»Was? Nein. Das ist ein Bionicle.«

Thomas trat vorsichtig einen Schritt näher.

»Bionicle also. Der ist cool.«

Der Junge lächelte zaghaft.

»Er heißt nicht Bionicle, er ist ein Bionicle.«

»Ach so, sorry. Wie heißt er denn?«

»Der hier?«

»Ja?«

Die Rothaarige war ein Stück zurückgetreten.

»Der heißt Makuta.«

»Cool. Ist das dein Liebling?«

Der Junge sah ihn abermals vorsichtig an.

»Äh … nein. Mir gefällt Ehlek am besten, aber mit dem gab es keinen Pullover.«

»Wie blöd.«

»Ja. Aber ich hab die Figur.«

Er warf einen kurzen Blick hinüber zu dem weißen Wagen.

»Wirklich blöd, dass ich nicht gewusst habe, dass du Bionicles magst, dann hätte ich welche mitgebracht.«

»Macht doch nichts.«

Der Junge blies sich den Pony aus der Stirn und schaute neugierig zu der Tüte auf der Treppe hinüber.

»Was ist denn in der Tüte?«

»Nichts Spannendes, leider. Ich hatte auf Wind gehofft.«

»Wind? Wieso denn?«

»Dann hätten wir den steigen lassen können. Einen Drachen. Aber ich weiß nicht, vielleicht findest du das langweilig?«

»Gar nicht«, sagte der Junge und lächelte ein wenig. »Wir können gern Drachen steigen lassen.«

Wieder raschelte es in den Bäumen, also hatte doch jemand von dort oben ein Auge auf ihn gehabt.

»Ja?«, fragte Thomas lächelnd. »Wollen wir mal sehen, ob wir ihn in die Luft kriegen?«

»Okay«, sagte der Junge.

»Vielleicht sollten wir auf das Feld gehen? Ich glaube, da ist mehr Wind.«

Er zog den Drachen aus der Tüte und schaute die Sachbearbeiterin an.

»Ist es in Ordnung, wenn wir …?«

Sie nickte.

»Warum hast du die Frau gefragt?«, wollte der Junge wissen, als sie das alte Schulgebäude hinter sich gelassen hatten und der Drachen zwischen ihnen auf dem Boden lag.

April in Norwegen.

Der Geruch von frisch umgegrabener Erde.

Bald würde das Getreide ausgesät werden, würde den Sommer nutzen, um gelb zu werden.

Er hatte inzwischen ein Problem.

Damit, seine Gefühle zurückzuhalten.

»Die ist zum Aufpassen hier.«

»Auf wen denn?«

»Auf dich. Machst du den ersten Versuch? Du läufst, und ich halte?«

»Okay.«

Wieder lächelte der Junge und hob den Drachen vom Boden hoch.

Und jetzt spielte es keine Rolle mehr.

Die beiden Gesichter im Auto.

Die Sachbearbeiterin hinter ihren vielen Papieren.

Diese vielen Jahre.

Verschwunden.

Nur der Junge, der über das Feld lief und strahlte, als der Drachen endlich den Boden verließ und schließlich oben zwischen den Wolken prangte.

»Sieh mal! Wow!«

Zwanzig kurze, schöne Sekunden, ehe die Schnur nachgab und der Drachen am Ende des Feldes auf den Boden knallte.

Und dann:

Das, was Thomas Borchgrevink niemals vergessen würde.

Der Junge, der zurückkam, jetzt mit einem ganz anderen Blick.

»Was ist los, Martin?«

»Da liegen Leute.«

»Wie meinst du das?«

Die kleine Hand, die beschämt versuchte, die feuchte Stelle vorn auf der Hose zu verstecken.

»Die bewegen sich nicht.«

2

• 2 •

Holger Munch saß in seinem schwarzen Audi und hörte Bachs Cellosuite Nr. 1 in G-Dur, und er spürte sein schlechtes Gewissen, weil er seine Familie schon wieder während des Sonntagsfrühstücks sitzen gelassen hatte. Nicht, dass sie sich beklagt hätten. Das taten sie nie. Egal, wann diese Anrufe kamen. Spätnachts. Mitten in den Sommerferien. An Heiligabend, wenn gerade die Schweinerippchen aufgetischt worden waren. Sie hatten volles Verständnis, egal, wie. Der zweiundvierzig Jahre alte Holger Munch war kräftig gebaut und arbeitete seit fast zwanzig Jahren als Mordermittler. Und sie war immer da gewesen. Marianne. Seine Liebste aus der Oberstufe. Liebe auf den ersten Blick, geheiratet, sowie sie beide ihr Examen hatten. Endlich, neun Jahre später, war ihre Tochter geboren worden, Miriam, die jetzt vierzehn war und gar nicht so schrecklich, wie es oft von Mädchen in diesem Alter behauptet wurde. Er hatte die Familie immer auf seiner Seite, egal, wie viel er versäumte. Sie hatten im vergangenen Herbst sogar seine Beförderung gefeiert, obwohl alle gewusst hatten, dass er von nun an nur noch mehr zu tun haben würde. Eine neue Ermittlungseinheit. In eigenen Räumlichkeiten. Weit entfernt vom Polizeigebäude in Grønland. Holger Munch war nicht nur zum Leiter dieser historischen Innovation ernannt worden, sie hatten ihm noch dazu vollkommen freie Hand gelassen. Er konnte sich seine Leute selbst aussuchen. Zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, hatte er einen fantastischen Winter gehabt. Normalerweise verschwand er zu der Zeit hinter seinem rötlichen und gefrorenen Bart in einer tiefen Finsternis und verfluchte alles und alle, vor allem diese Idioten, die Ski liefen und Schnee liebten, aber in diesem Jahr hatte er anderes im Kopf gehabt. Wie ein Senkrechtstarter, fast wie ein Gründer, hatte er sich gefühlt. Aber es hatte etwas in ihren Augen gelegen, oder vielleicht auch nicht?

Holger Munch schüttelte diese Gedanken ab, und als er dem Beamten, der ihn beim Absperrband angehalten hatte, seinen Dienstausweis zeigte, konnte er es dem jungen Uniformierten schon ansehen.

Das hier war etwas ganz anderes.

Und dann nahm er noch so einen nervösen Blick wahr, versteckt hinter einer feschen uniformierten Fassade, eine Minute später, als er seinen Wagen hinter dem weißen Schulhaus abgestellt hatte.

»Nilsen, Einsatzleiter.«

Munch nickte zur Begrüßung und zog eine Zigarettenpackung aus der Tasche seines beigen Dufflecoats.

»Schon jemand von meinem Team da?«

»Äh, ja … die Blonde. Die Juristin?«

»Goli.«

»Und der mit dem Anzug … Fredrik?«

»Riis«, sagte Munch und gab sich Feuer.

»Die Technik war zuerst vor Ort und ist schon eine Weile am Werk«, sagte der muskulöse Polizist und zeigte zum Feld hinüber.

»Und die Rechtsmedizin?«

»Auch gekommen. Vor kurzer Zeit.«

Der Polizist zog einen Handschuh aus und tippte mit dem Finger auf eine Landkarte.

»Wir haben hier und hier die Straße gesperrt. Den Losbyvei. Es leben nicht viele Leute hier draußen, es gibt nur ein paar Höfe. Wir müssen den Zugang offen halten, also haben wir das Band hier an diesem Weg entlanggezogen. Vålervei. Ist das für Sie in Ordnung?«

»Was ist mit den Feldrändern?«, fragte Munch.

»Da haben wir Leute«, sagte Nilsen und nickte. »Die Stellen müssten jetzt abgedeckt sein.«

»Was haben wir hier sonst noch?«

Munch sah neugierig auf die Karte und drehte sich dann zum Wald um.

»Einen kleinen Albtraum«, murmelte Nilsen. »Die Jungen liegen da draußen, also auf der Karte genau hier. Wie Sie sehen, sind hier überall Felder, und dahinter der Wald. Wir nehmen an, dass der Täter vielleicht von hier gekommen ist und sich auf demselben Weg wieder entfernt hat. Freie Bahn, wenn Sie mich fragen. Ich glaube, wir können von Glück sagen, wenn irgendwer etwas gesehen hat.«

»Was ist das hier?«, fragte Munch und zeigte auf die Karte.

»Ein Schießgelände.«

»Haben wir das abgesperrt?«

»Äh, nein, noch nicht … das liegt doch …«

»Machen Sie es dicht«, sagte Munch resigniert. »Und schicken Sie ein paar Leute hin. Und was ist das hier?«

»Eine riesige Kiesgrube«, sagte Nilsen und zeigte hinter der Schule nach Osten. »Sollen wir …?«

»Wenn das noch nicht geschehen ist, ja. Und …?« Er sah den Kollegen an, der ihm die Antwort schuldig blieb.

»Also auch dahin ein Team?«, fragte er endlich.

»Ja«, Munch nickte und ging über den Platz zu Anette Goli, die soeben das weiße Schulhaus verlassen hatte.

Angestellte Nummer eins.

Er hatte nicht eine Sekunde gezögert.

»Warst du schon da draußen?«, fragte die erfahrene Polizeijuristin und fuhr sich mit der Hand durch die blonden Haare.

»Noch nicht. Wie sieht es aus?«

»Schlimm. Ich habe eben mit Wik da oben telefoniert, er fragt, ob er sie zudecken soll oder ob du sie so sehen willst, wie sie da liegen.«

»Lasst sie so liegen«, sagte Munch und zündete sich mit der ersten eine neue Zigarette an.

»Was für ein verdammter Zirkus von Leuten«, seufzte Goli und nickte zum weißen Gebäude hinüber. »Ich versuche gerade, die Beziehungen zu entwirren.«

»Was meinst du?«

»Es geht um Besuchsrecht, wenn ich das richtig verstanden habe. Ein Mann war hier draußen, um seinen Sohn zu treffen. Die Mutter ist anwesend, mit neuem Partner, und wir haben einen Anstandswauwau von, ja, kann das vom Jugendamt sein? Ich bin nicht sicher. Ich musste sie jedenfalls trennen. Der Vater ist dort drinnen, die anderen sind in verschiedenen Zimmern. Willst du mit ihnen reden?«

»Jetzt nicht, aber sorg dafür, dass wir alle Details haben.«

»Okay. Das macht Katja.«

»Ist sie da?«, fragte Munch überrascht und lächelte ein wenig hinter seinem Bart. »Hat sie gedacht …«

»Bei der Kripo war es wohl doch nicht so toll«, sagte Goli und zwinkerte. »Hab sie auf dem Weg hierher aufgelesen. Okay für dich, oder?«

»Natürlich«, sagte Munch und lächelte wieder.

Angestellte Nummer 2.

Katja van den Burg.

Die Entscheidung war ebenso leicht und offenkundig gewesen wie die erste.

»Also, willst du hin?«

»Ja, wo liegen sie?«

»Da lang«, sagte Goli und wies ihm die Richtung. »Aber ich würde eine andere Fußbekleidung empfehlen, es ist ziemlich nass.«

»Alles klar.«

Munch ließ die Zigarette in den Kies fallen und ging zum Auto, um seine Gummistiefel zu holen.

3

• 3 •

Die einundzwanzig Jahre alte Mia Krüger saß ganz hinten in dem kleinen Hörsaal im Keller der Polizeihochschule und konnte die Augen kaum offen halten. Sie war die ganze Nacht unterwegs gewesen. Schon wieder. Hatte den Kopf erst aufs Kissen gelegt, als die Uhr … war das sechs?, gezeigt hatte. Sie unterdrückte ein Gähnen, als der Dozent mit dem Bürstenhaarschnitt und den blank geputzten Stiefeln ein neues Dia in den Projektor schob. Verdammt, warum hatte sie nicht früher aufgehört? Sie hatte sich doch auf das hier gefreut? Die Informationsveranstaltung über das schnelle Eingreifteam Delta. Deshalb hatte sie doch mit all dem hier angefangen. Trotz aller Warnungen zu Hause, der Traurigkeit im Blick der Mutter, als sie erzählt hatte, dass dieses Literaturstudium an der Universität nicht das Richtige für sie sei und dass sie schon damit aufgehört habe. Dass sie ein bisschen verreisen wolle und dann zum Herbst hin anfangen.

Bei der Polizei, Mia? Nein, aber …

Das konnte ihr ja egal sein.

Die erste Frau beim schnellen Eingreifteam. Sie hatte in einer Zeitschrift einen Artikel darüber gelesen, wie knallhart die Anforderungen waren, dass bisher keine Frau die Aufnahmeprüfung geschafft hatte, und schon hatte sie sich entschieden. Genau. So und nicht anders. Delta. Dahin wollte sie.

Also, fuck you allesamt.

Mia Krüger unterdrückte ein weiteres Gähnen, als da unten auf der Leinwand die Liste auftauchte. Die vorläufige, natürlich. Sie enthielt nur die Minimalanforderungen. Danach warteten höllische Wochen mit physischen und psychischen Tests, und dabei hatten die wenigen Frauen versagt, die es bisher versucht hatten. Aber sie nicht. Natürlich nicht. Nummer eins würde sie sein. Und das würde es ihnen ein für alle Mal zeigen, diesen saublöden Chauvis. Die ihr jetzt höhnische Blicke zuwarfen und sich fragten, was zum Teufel sie hier eigentlich wollte. Die einzige Frau im Saal.

Ein Grinsen da unten in der ersten Reihe, ein blonder Trottel, der sich für die Gabe Gottes an die Menschheit hielt. Er hatte es nach nur wenigen Wochen im ersten Jahr im Trainingsraum bei ihr versucht, und ihr wurde schlecht bei der Erinnerung. Er hatte Aufreißersprüche aus irgendeinem Handbuch für Verlierer von sich gegeben, während er vor dem Spiegel seine Muskeln spielen ließ, mit einem neandertalischen Glauben daran, dass das helfen würde.

Was hast du für schöne Augen …

Blau wie das wunderbarste Meer …

Ach was!?

Sind wir ein Dichter?

Deine Augen sitzen zu dicht beieinander. Und du weißt doch, dass da oben eigentlich eine Stirn sein müsste, zwischen Augen und Haaransatz?

Und deine Haare, so exotisch und dunkel … sie wogen so schön über deine Schultern … Was bist du denn für eine? Hast du nicht gern ein bisschen Spaß?

Wow.

Echt jetzt?

Fucking Loser.

Sie hatte sie in ihrem Zimmer in Torshov abgeschnitten, am selben Abend. Die Haare. Hatte wütend mit einem Messer vor dem Spiegel gestanden, hatte die Locken ins Waschbecken fallen sehen und diese Aktion seither immer wiederholt, wenn die Haare zu lang wurden.

Sie konzentrierte sich auf die Liste da vorne, mit all den Anforderungen, die sie aus dem Ärmel schütteln konnte, und sie bereute, sich keinen Kaffee mitgebracht zu haben. Selbst, wenn der aus einem Automaten kam und wie Plörre schmeckte. Egal was eigentlich, wenn es sie nur von der Angst befreite, jeden Moment in Ohnmacht zu fallen.

Sie riss sich zusammen, als die Blicke sich endlich auf die Leinwand dort unten richteten.

3000 Meter in weniger als 12.30.

Check.

Zu Hause in Åsgårdstrand war sie schon mit fünfzehn 11.15 gelaufen, und der Widerling von Trainer, der gern kommentierte, wie die Mädchen in den engen Trainingshosen aussahen, hatte sich am Kopf gekratzt, auf die Stoppuhr geschaut, sie noch einmal laufen lassen, denn »hier darf es keinen Fehler geben«.

Ach was?

Fuck you.

50 Sit-ups.

Echt?

Check.

50 Liegestütze.

Dafür hatte sie etwas gebraucht, aber nicht wirklich lange. Sie hatte an der Decke ihrer kleinen Mietswohnung, die sie mit zwei anderen Frauen aus ihrem Jahrgang teilte, eine Stange angebracht. Die beiden anderen interessierten sich vor allem für ihr Aussehen und dafür, wer nach dem Bierabend, den die Studentenvereinigung jeden Freitag arrangierte, was mit wem gemacht hatte. Jeden Morgen, ehe die anderen aufwachten, zog sie sich zu den Wolken hinauf, bis die Arme sie nicht mehr tragen wollten.

10 Klimmzüge.

Zwei Fliegen mit einer Klappe.

Check.

400 Meter Schwimmen.

Echt?

Check.

Bis vier Meter tief tauchen.

Darüber hatte Mia herzlich gelächelt.

Sie dachte an die Küste von Mexiko, einige Jahre zuvor, es war der Sommer nach dem Schulabschluss, und sie hatte alles so sattgehabt. Das weiße Boot dümpelte unter den leichten Wolken. Da waren diese wunderbaren Menschen, die Taucher, und ja, natürlich, ein Franzose mit blauen Augen und braunen, sehnigen Muskeln.

You will feel so free down there, Mia.

Tauchen.

Ob mit oder ohne Sauerstoffflasche.

Die Dunkelheit dort unten, so still, so unvorstellbar schön.

Die erschrockenen Gesichter oben im Boot, als sie endlich wieder an die Oberfläche gekommen war.

Oh, my god.

You are crazy!

Der Franzose war bald darauf verschwunden, aber das spielte keine Rolle, sie hatte ihre große Liebe bereits gefunden.

Die Dunkelheit.

Allein.

Dort unten in der Tiefe.

Vier Meter tief?

Null Problem.

Geradezu lächerlich.

Check.

Er hatte sie jetzt entdeckt. Der Deltamann mit den blanken Stiefeln, sie konnte es ihm ansehen.

Was machst du eigentlich hier?

Mia war immer schon so gewesen. Sie konnte fast spüren, was andere Menschen empfanden.

Du siehst Dinge, die andere nicht sehen, oder? Stimmt das nicht, Herzchen?

Die Großmutter, die nicht ihre richtige Großmutter war und ihr doch so ähnlich. Anders als alle anderen. Ab und zu fast verrückt. Mit achtzig saß sie noch immer bis tief in die Nacht hinein im Garten, rauchte Pfeife, trank Whisky, heulte den Mond an und interessierte sich kein bisschen dafür, was andere über sie dachten.

Ein Handy plingte, sie reagierte sofort, zog mit raschem Griff ihres aus der Tasche.

Sigrid?

Nein.

Sie hatte seit vielen Monaten nichts von ihrer Zwillingsschwester gehört.

Deshalb war sie nachts unterwegs, wanderte durch die dunklen Straßen, mit Zetteln in der Tasche, die sie ausgedruckt hatte.

Haben Sie diese Frau gesehen?

Sigrid Krüger?

Bitte, rufen Sie mich an, wenn Sie etwas wissen.

Sigrid und Mia.

Schneewittchen und Dornröschen.

Die Zwillinge.

Die eine blond, die andere dunkel.

Geboren von einer Sechzehnjährigen, die sie nicht behalten konnte, nicht behalten wollte. Adoptiert von Eva und Kyrre Krüger aus Åsgårdstrand, sie Lehrerin, er Geschäftsführer eines Farbhandels in Horten. Mia legte instinktiv die Finger auf das Armband, das sie um das linke Handgelenk trug. Ein Konfirmationsgeschenk. Ein Anker, ein Herz und ein Buchstabe. S auf Sigrids, M auf ihrem. Und dann: eine Nacht unter der Bettdecke oben auf dem Dachboden.

Willst du meins, und ich krieg deins?

Sie hatte das Armband seither nie wieder abgelegt.

Verdammt, Sigrid!

Wo steckst du?

Mia schob die kalte Kralle von ihrer Brust, unterdrückte abermals ein Gähnen und ließ gerade das Handy zurück in ihre Tasche fallen, als plötzlich die Tür geöffnet wurde und die Frau aus dem Sekretariat in den Hörsaal schaute.

»Entschuldigt die Störung, aber ist Mia Krüger hier?«

Leises Gemurmel regte sich jetzt im Hörsaal.

Aller Augen waren plötzlich auf sie gerichtet.

»Äh, ja, hier?«

»Der Rektor möchte mit dir sprechen.«

»Okay …«

Die Frau aus dem Sekretariat blieb stehen.

»Jetzt?«

»Ja, jetzt.«

Wieder war ein leicht höhnisches Gelächter aus der ersten Reihe zu hören, als Mia ihre Sachen zusammenpackte und so schnell sie konnte die Treppe hinunterging.

»Was ist los?«, fragte sie, als die Tür geschlossen war und die beiden Frauen allein draußen auf dem Gang standen.

»Ich weiß es nicht«, sagte die Grauhaarige. »Aber es scheint wichtig zu sein. Du kennst den Weg?«

»Sicher«, Mia nickte und hängte sich die Tasche über die Schulter.

Mit dem Fahrstuhl nach oben, dann über den asphaltierten Innenhof zum Hauptgebäude gegenüber.

Was war denn jetzt schon wieder los?

Sie ging nicht zum ersten Mal dorthin, hatte schon einmal vor dem großen Schreibtisch stehen müssen wie ein kleines Schulmädchen, vor diesem erwachsenen Blick, den sie nicht ganz ernst nehmen konnte.

Disziplin, Mia. Mehrere Lehrer haben sich beklagt …

Ja, von mir aus.

Es ist nicht meine Schuld, dass die Leute hier glauben, wir lebten in den Fünfzigerjahren.

Schläfst du in der Schule, Mia? Herr Wendelbaum hat gesagt, dass er dich schon wieder zusammengekrümmt auf dem Boden im Klassenzimmer gefunden hat?

Whatever.

Sie war oben im Frognerpark gewesen, hatte Sigrid gesucht. Hinter dem Monolith, wo sich die Junkies trafen, nur wenige Hundert Meter von der Schule entfernt. Sie hatte den langen Heimweg nicht auf sich nehmen wollen.

Doch dieses Mal sah sie ein ganz anderes Gesicht, nachdem sie an die Tür geklopft und die dunkle Stimme gehört hatte.

»Hallo, Mia. Komm rein, komm rein.«

Sie blieb in der Tür stehen, wusste nicht so recht, was das hier bedeutete. Der Rektor, Magnar Yttre, war aufgestanden und lächelte sie mit offenen Armen an.

»Möchtest du etwas trinken? Eine Tasse Kaffee vielleicht?«

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• 4 •

Munch saß am Fenster des kleinen Cafés an der Ecke Bernt Ankers gate und Mariboes gate, nur einige Hundert Meter von dem neuen Büro entfernt, und hatte beide Handys lautlos gestellt. Als Ermittler war er von der alten Schule und hatte sich noch immer nicht an das pausenlose Piepsen in der Jackentasche gewöhnt. Er hatte am liebsten seine Ruhe, um nachdenken zu können, aber das war jetzt natürlich nicht möglich. In den letzten vierundzwanzig Stunden hatte ständig eines der Geräte geklingelt. Den Anruf des alten Kollegen, der jetzt Rektor der Polizeihochschule war, hatte er eigentlich nur angenommen, um zu sagen, dass er keine Zeit zum Reden habe, aber Yttre war richtig euphorisch gewesen, hatte ihn fast nicht zu Wort kommen lassen. Ich glaube, ich habe eine für dich gefunden, Munch. Es war ein extrem unpassender Zeitpunkt, aber er hatte sich überreden lassen.

Er hatte Yttre schon häufiger von diesem Test erzählen hören. Entwickelt von Forschern am UCLA. Dort wurden alle Studierenden im zweiten Jahr getestet, ihnen wurde gesagt, es sei eine Art Spiel, damit sie sich nicht unter Druck gesetzt fühlten. Fotografien von einem Tatort. Was siehst du? Und diese junge Frau hatte offenbar einen Rekord aufgestellt.

Sie ist ein bisschen eigen, Munch. Aber gib ihr eine Chance, okay?

Er war gerade mit einem Kaffee und einem Brötchen zum Tisch zurückgekehrt, als die Tür geöffnet wurde, und da stand sie.

Einundzwanzig Jahre.

Sie war jung, aber Munch wusste aus Erfahrung, dass das nicht unbedingt etwas bedeuten musste. Mehrere Kollegen in seinem Team, sogar einige der Fähigsten, waren unter dreißig. Nicht, dass er vorgehabt hätte, noch weitere anzuheuern, er hatte die Leute, die er brauchte. Aber der sonst so bedächtige Yttre, so aufgekratzt? So etwas haben wir noch nie gesehen, Munch. Nicht einmal annäherungsweise. Diese Frau ist einfach eine Klasse für sich.

Natürlich hatte das seine Neugier geweckt.

»Sind Sie Munch?«

Sie trug einen schwarzen Rollkragenpullover, schwarze enge Jeans, schwarze Converse-Schuhe, und sie hatte eine schwarze Umhängetasche, aber das Erste, was er registrierte, waren ihre Augen.

Funkelndes Blau, ganz seltsam klar.

Hellbraune Haut, fast wie eine Indianerin, halblange kohlschwarze Haare, nicht überall gleich lang. Es sah fast so aus, als sei da jemand mit einer stumpfen Schere am Werk gewesen, aber das schien sie nicht weiter zu stören. Die junge Polizeischülerin stand mit hocherhobenem Kopf vor ihm, als sei diese Begegnung das Natürlichste auf der Welt, und streckte ihm die Hand hin.

»Mia Krüger.«

»Hallo, Mia. Willkommen.«

»Danke«, sagte die blauäugige Indianerin und setzte sich, ohne die Tasche von ihrer Schulter zu nehmen.

»Möchten Sie etwas essen? Trinken?«

Sie warf einen raschen Blick auf die Speisekarte hinter dem Tresen.

»Nein, danke.«

»Trinken Sie keinen Kaffee?«

»Doch, aber nicht hier.«

»Ach was«, sagte Munch. »Sind Sie eine Connaisseurin, eine Kaffeespezialistin vielleicht?«

Er hatte das ironisch gemeint. In Oslo waren in letzter Zeit solche Kaffeebars wie die Pilze aus dem Boden geschossen, die eine moderner als die andere, junge überspannte Hipster, die ihr Handwerk wie eine Art Religion betrieben. Aber seine Frage schien ihr nichts auszumachen.

»Wollten Sie mir das hier zeigen?«, fragte die junge Frau und schaute auf die beiden hellbraunen Ordner, die unter seinen Handys lagen.

»Ja. Hat Yttre etwas dazu gesagt?«

Sie schüttelte den Kopf.

»Schön«, sagte Munch. »Ich würde Ihnen nur gern ein paar Fotos vorlegen, und dann sagen Sie mir, woran Sie dabei denken, okay?«

»Okay.«

»In diesem«, sagte Munch und zog den einen Ordner hervor, »liegen Bilder von einem Tatort, an dem wir gestern Morgen waren. Und in diesem …«, er legte den anderen Ordner neben den ersten, »… sind Fotografien von einem schwedischen Tatort. Vor acht Jahren. Schauen Sie bitte beide an und sagen Sie mir, was Sie sehen.«

»Ob es derselbe Täter ist?«

»Das habe ich nicht gesagt.«

»Aber das haben Sie gemeint?«

Sie runzelte ein wenig die Stirn und sah ihn mit ihren leuchtendblauen Augen fragend an. Munch konnte sich ein Lächeln nicht verkneifen. Yttre hatte recht gehabt, diese Frau war wirklich etwas Besonderes. Immerhin war er Holger Munch höchstpersönlich, Leiter des Dezernats für Gewaltverbrechen in der Mariboes gate 13. Er war daran gewöhnt, dass andere ihm einen fast übertriebenen Respekt entgegenbrachten, aber dieser jungen Polizeischülerin vor ihm schien das alles sonst wo vorbeizugehen.

»Ja, das habe ich gemeint.«

»Warum haben Sie das dann nicht gesagt?«

»Weil es dann vielleicht eine Sperre in Ihrem Kopf aufbaut. Und Sie sollen so offen sein wie möglich. Vielleicht sehen Sie etwas anderes, etwas, das mir nicht aufgefallen ist.«

»Okay, verstehe«, sagte Mia Krüger und drehte die Ordner zu sich.

Sie öffnete sie nicht, blieb nur abwartend sitzen.

»Kann ich dabei meine Ruhe haben?«, fragte sie und schaute nach einer Weile zu ihm auf, weil er noch immer nicht begriffen hatte.

»Natürlich. Wie lange brauchen Sie?«

»Ich weiß nicht. Zwanzig Minuten?«

»Kein Problem. Ich bin gleich draußen, wenn etwas sein sollte.«

Munch erhob sich, nahm sein Brötchen mit und suchte sich eine Bank auf der anderen Straßenseite.

Neun entgangene Anrufe, die meisten von Anette Goli.

»Hallo, hier Holger. Was ist los?«

Die Polizeijuristin seufzte leise am anderen Ende der Leitung.

»Ja, was glaubst du denn. Dreyer will ein Briefing, das Ministerium setzt ihr wohl zu, sie meint, wir sollten eine Pressekonferenz abhalten …«

»Wir warten, habe ich gesagt.«

»Das habe ich auch gesagt, aber das scheint ihr nicht zu reichen.«

»Zu reichen?«, wiederholte Munch gereizt.

»Motz mich nicht an, du weißt, wie das ist.«

Hanne-Louise Dreyer. Frisch beförderte Polizeichefin unten in Grønland. Der Widerstand im Haus war groß gewesen, als bekannt gegeben worden war, dass das Ministerium eine eigene Einheit für Gewaltverbrechen für die Hauptstadt durchgedrückt hatte. Die Polizeiführung hatte mit dem Säbel gerasselt, hatte es als Misstrauensvotum ihrer eigenen Arbeit gegenüber aufgefasst, und Munch hatte gehofft, dass sich unter der neuen Polizeichefin vielleicht etwas ändern würde, aber so war es nicht gekommen. Das schien sein Schicksal zu sein. Er hielt jetzt alle Karten in der Hand, sie konnten nichts dagegen tun, und natürlich ärgerten sie sich deshalb.

»Sag ihr, sie soll warten«, sagte Munch. »Wir geben die Namen erst bekannt, wenn wir mit beiden Familien gesprochen haben, was findet sie daran so schwer zu verstehen?«

»Wie gesagt, motz mich nicht an. Die Mutter landet gleich um eins, ich habe Katja gebeten, sie vom Flughafen abzuholen. Wer in aller Welt fährt nach Spanien und lässt ein elf Jahre altes Kind allein zu Hause?«

»Sie hat vielleicht einen Grund, das können wir jetzt nicht beurteilen.«

»Die Nachbarn aufpassen lassen? Die nicht einmal wussten, dass sie jetzt die Verantwortung für den Jungen hatten?«

»Darüber können wir später noch reden. Was ist mit dem Lieferwagen?«

Ihre einzige Spur bisher. Die Sichtung eines weißen Lieferwagens im Wald beim Losbyvei.

»Oxen ist oben in der Verkehrszentrale. Die Straße endet beim Golfclub, der Wagen kann also nicht in diese Richtung weggefahren sein. Wir konzentrieren uns auf die Nationalstraße 159 nach Osten und Westen und auf die Mautstation an der E6. Die Bilder von dort werden gerade gesichert. Ich glaube, wir haben sieben Kameras gefunden. Ich habe ihn auf der anderen Leitung, er sagt sofort Bescheid, wenn etwas passiert. Aber, ja …«

»Was?«

»Ein weißer Lieferwagen? Wie viele davon gibt es in Oslo?«

»Sonntagmorgen«, sagte Munch beruhigend. »Lass uns glauben, dass wir Glück haben. Was ist mit Familie Lundberg?«

»Die sind sehr hilfsbereit«, sagte Goli. »Irgendwie seltsam ruhig. Ich glaube nicht, dass sie wirklich begreifen, was passiert ist. Fredrik ist jetzt da draußen. Er ruft mich bald an. Steht der Termin für die Besprechung um vier noch?«

»Ja, sagst du allen Bescheid?«

»Klar. Du, ich muss aufhören. Dreyer ruft schon wieder an.«

»Keine Pressekonferenz vor …«, begann Munch, aber Goli hatte bereits aufgelegt.

Verdammte Idioten.

Man musste doch wohl einen Moment Ruhe haben können?

Als ob sie nicht genug zu bedenken hätten?

Drei Zigaretten später war die Polizeischülerin offenbar fertig. Er hatte sie immer wieder durch das Fenster angesehen, sie hatte sich fast nicht bewegt, aber jetzt lagen die Ordner geschlossen vor ihr.

»Wie war’s?«, fragte Munch, als er wieder am Tisch saß.

Sie schien gar nicht bemerkt zu haben, dass er wieder hereingekommen war. Die blauen Augen waren weit offen, aber ihr Kopf war ganz woanders.

»Sorry«, sagte sie endlich und fuhr sich mit der Hand durch die schwarzen Haare.

»Kein Problem«, sagte Munch und schaute auf die Uhr.

Fast vierzig Minuten, seit er sein Büro verlassen hatte. Sie mussten das hier hinter sich bringen. Durchaus niedlich, so ein Test, er hatte das gemacht, um Yttre einen Gefallen zu tun, ein wenig natürlich auch aus Neugier, aber dennoch. Er hatte Wichtigeres zu erledigen. Und ja, klar, er hatte dasselbe gedacht.

Wer fährt nach Spanien?

Und lässt einen kleinen Jungen allein zu Hause?

Einen Elfjährigen?

»Hier fehlen einige Fotos«, sagte die Polizeischülerin vorsichtig.

»Entschuldigung?«

Sie tippte mit dem Finger auf einen Ordner.

»Hier drin.«

»Wie meinen Sie das?«

»Wie ich gesagt habe. Da fehlen einige Bilder.«

Munch runzelte die Stirn.

»Jetzt verstehe ich nicht ganz …«

»Er muss doch etwas erhöht gewesen sein, oder?«

»Wer denn?«

»Der Täter.«

Die blauäugige junge Frau sah ihn auf seltsame Weise an.

»Er muss doch auf etwas gestanden haben?«

5

• 5 •

Fredrik Riis hielt vor dem Einfamilienhaus im Timoteivei 18 und schaute zu den niedrigen Blocks auf der anderen Seite des Feldes hinüber. Finstad. Mitten zwischen Oslo und Lillestrøm. In der Nähe von Lørenskog. Nicht ganz neu. Nicht ganz Land. Selbst wohnte der Siebenundzwanzigjährige in Briskeby, mitten im Herzen von Frogner, mit Blick auf die denkmalgeschützte alte Feuerwache, in dem Haus, in dem er immer schon gewohnt hatte. Seine Eltern waren zehn Jahre zuvor nach Bærum rausgezogen, nachdem sein Vater mit seiner Arztpraxis einen durchschlagenden Erfolg gehabt hatte. Inzwischen war er einer der bekanntesten plastischen Chirurgen Nordeuropas. Die Eltern hatten ihm die Wohnung überlassen, als er siebzehn Jahre alt gewesen war, und seither hatten sie nur sporadischen Kontakt. Nicht, dass ihm das etwas ausgemacht hätte. Er verspürte keine große Sehnsucht nach ihnen. Seine Kindheit – er wusste nie so recht, wie er das erklären sollte, falls ihn mal jemand danach fragen sollte. War seine Kindheit unsichtbar gewesen? So hatte er sich jedenfalls gefühlt. Als ob er seinen Eltern eigentlich egal wäre. Als ob es eine Erleichterung für die beiden gewesen wäre, dass er alt genug war, um dieses Geschenk anzunehmen. Schau her, hier hast du eine Wohnung. Von jetzt an musst du allein zurechtkommen. Aber das spielte im Grunde keine Rolle. Der junge Ermittler hatte durch diese Kindheit allerlei gelernt und war viel härter im Nehmen, als die meisten ihm zutrauten.

Plötzlich hatte er einen Flashback. Er dachte an etwas, das damals sehr schön gewesen war, an die Ausflüge hierher, nach Finstadjordet. Er hatte hier draußen einen Cousin gehabt, und ehe sein Vater sich aus irgendeinem Grund mit seinem Bruder zerstritten hatte, waren sie oft hergekommen. Als Kind hatte das Leben hier draußen ihn gewaltig fasziniert. So anders als die Stille in der Wohnung zu Hause. Farbenfrohe große Einzelhäuser in Reih und Glied, mit großen grünen Gärten und idyllischen Straßennamen, die alle etwas mit schönen Blumen und Pflanzen zu tun hatten. Timoteiveien, Kløverveien, Tulipanveien. Mit zehn Jahren war er ein wenig neidisch gewesen, weil diese Gegend einem Kind so viel zu bieten hatte; Sportanlagen, Spielplätze, blühende Wiesen, und nicht zuletzt diese vielen fast magischen Wälder, in denen man auf Entdeckungsreise gehen konnte. Er hatte jedes Mal gespannt auf der Rückbank gesessen, wenn sie wieder nach Hause zurückfuhren, denn er wusste, dass sie jetzt kommen würde, die Diskussion zwischen den Eltern, ob sie vielleicht aus der Stadt hinausziehen sollten. Seine Mutter, extrem positiv, war selbst in einer solchen Umgebung aufgewachsen. Aber der Vater war natürlich dagegen gewesen. Wir wohnen nicht auf dem Dorf. Und das war es gewesen. Er erinnerte sich noch immer an die kleine Enttäuschung, wenn sich die Diskussion zugunsten seines Vaters entwickelte. Und die Erinnerung verblasste. An von perlendem Lachen erfüllte Stunden mit dem Rasensprenger, unter der Sonne in dem gepflegten Garten, an die Momente mit bemaltem Seeräubergesicht im Wald, mit Schwertern und Pistolen, die sie im reichhaltigen Hobbyraum des Onkels selbst hergestellt hatten. Das war eine Familie, die zusammenhielt, wo offenbar alle einander gernhatten und wo sie gern etwas miteinander unternahmen.

Die Aussicht, die er jetzt hatte, erinnerte ihn an etwas anderes, an etwas weniger Angenehmes. An die Armen. So hatte der Cousin sie genannt. Die Leute, die kein eigenes Haus hatten, sondern in den Blocks auf der anderen Seite des Zaunes wohnten, nur hundert Meter entfernt. Ein seltsames Gefühl irgendwie, als Munch ihn gebeten hatte, während der Ermittlung für den Kontakt zur Familie des Jungen zuständig zu sein. Timoteivei 18.

Da war ich doch schon mal, oder?

Er erinnerte sich an einen rothaarigen Jungen, mit dem sie gespielt hatten, einen Freund des Cousins, Fredrik wusste den Namen nicht mehr, es war ja lange her. Eine neue Familie wohnte jetzt in dem grauen Haus. Vier andere Namen auf dem mit Blumen verzierten Schild neben der Tür. Hier wohnen Sanna, Ruben, Vibeke und Jan-Otto Lundgren. Da waren die Autos, die ein Stück die Straße hoch standen. Fotografen mit Weitwinkelobjektiv. Diskret, und doch nicht. Die Namen der beiden Jungen waren von der Polizei noch nicht bekannt gegeben worden, aber natürlich wusste die Presse schon Bescheid. Hier draußen hast du nie deine Ruhe, neugierige Nachbarn, Idioten, die ihre Nase in alles stecken, eines der leicht misanthropischen Hauptargumente seines Vaters bei den Diskussionen im Auto.

Ruben Lundgren.

Elf Jahre.

Nackt auf einem Feld gefunden, weniger als einen Kilometer von zu Hause entfernt.

Neben einem anderen Jungen.

Tommy Sivertsen.

Aus einem der Blocks auf der anderen Seite des Zaunes.

Fredrik drückte auf den Klingelknopf und trat auf dem Kiesweg einige Schritte zurück.

»Ja?«

Ein Gesicht im Spalt einer Tür, die nicht ganz geöffnet wurde.

»Hallo, Jan-Otto Lundgren?«

»Ja?«

Der Mann in der Türöffnung sah ihn seltsam an, als könne er nicht ganz fassen, dass da überhaupt jemand vor ihm stand.

»Fredrik Riis. Ich habe vorhin angerufen?«

»Äh, ja. Hallo. Kommen Sie rein.«

Ein ganz normales Haus. Eine ganz normale Stahltreppe, die ein wenig zitterte, als er hinter dem Mann hineinging. Ein ganz normaler Gang. Stiefel und Schuhe, untergebracht in einem IKEA-Regal. Jacken in unterschiedlichen Größen und Farben, an bunten Haken, unter einem Regal mit Kartons, die irgendwer mit Mützen, Schals und Handschuhe beschriftet hatte, in zierlicher Schrift mit kleinen Aufklebern. Die Mutter, Vibeke Lundgren. Achtunddreißig Jahre alt. Verkaufschefin bei einer Softwarefirma mit Hauptsitz gleich beim Gewerbezentrum Strømmen. Der Vater, Jan-Otto Lundgren, zweiundvierzig, Systemingenieur bei Telenor. Sanna, fünf Jahre alt, die den Kindergarten von Løken besuchte, nur wenige Hundert Meter entfernt.

Eine ganz normale Familie.

Ein ganz normales Leben.

Bis das Telefon geklingelt hatte.

Vor vierundzwanzig Stunden.

Der Mann versuchte etwas, das vielleicht ein Lächeln sein sollte, als Fredrik die Schuhe auszog und dem abwesenden Blick ins Wohnzimmer folgte. Vor dem Fenster, das auf den Hof hinausging, war ein Tisch gedeckt worden. Eine Thermoskanne. Kleine weiße, identische Kaffeetassen. Eine Schale mit Keksen. Die Mutter, Vibeke Lundgren, saß auf einem Holzstuhl, sie hatte den gleichen toten Blick wie ihr Mann, und sie erhob sich langsam, als er hereinkam.

»Vibeke Lundgren?«

Eine fast leblose Hand in seiner.

»Fredrik Riis. Mordkommission.«

Die schlanke Frau zuckte zusammen, als sie das hörte, und er bereute sofort, dass er nicht etwas Neutraleres gesagt hatte, vielleicht einfach Polizei, aber es war ihm automatisch herausgerutscht. Es war das erste Mal, dass er derjenige war, der die betroffene Familie betreuen sollte, und auf der Fahrt hierher hatte er versucht, sich darauf vorzubereiten.

Natürlich hätte nichts ihn auf das hier vorbereiten können. Es war so still in dem großen Haus, dass er das Ticken der ovalen Uhr neben der Küchentür hören konnte. Das Kratzen des Stuhls auf dem Parkett, als er ihn hervorzog und sich setzte. Das Klirren des Löffels auf dem Boden der Kaffeetasse, als er die Zuckerstücke verrührte, die die leicht zitternden Hände ihm angeboten hatten.

Das Geräusch von jemandem, der irgendwo hinten im Gang ein Kind zur Stille mahnte.

Wer ist das, Oma? Ist das Ruben? Ist Ruben nach Hause gekommen?

»Es tut mir leid, Sie belästigen zu müssen«, sagte Fredrik, als beide Eltern sich gesetzt hatten. »Ich weiß, dass die Kollegen gestern schon bei Ihnen waren, aber wir müssen eben alle Einzelheiten überprüfen. Von nun an bin ich Ihr Kontaktmann, und wenn etwas sein sollte, dann bin ich für Sie da, jederzeit, okay?«

Er griff in die Brusttasche seines Sakkos und schob vorsichtig seine Visitenkarte über die weiße Tischdecke.

»Gibt es etwas Neues?«

Die Stimme der Frau war dünn und klang irgendwie rostig, Luft aus einer schwachen Lunge traf auf Sandpapier im Hals. Sie hatte versucht, sich die Haare im Nacken zu einem Knoten hochzustecken, aber an der einen Seite fielen Strähnen hinunter. Die cremegelbe Bluse war falsch geknöpft und hing schief über den gebeugten Schultern.

»Bisher nicht, nein. Leider.«

Der Mann war unrasiert, hatte dunkelbraune Augen und sprach mit sehr leiser Stimme. Wie ein batterieschwacher Roboter, der nicht so recht wusste, wie oder warum man seinen Satz beenden sollte.

»Für das Team ist es jetzt wichtig, uns ein vollständiges Bild von Rubens Bewegungen zu machen«, sagte Fredrik und schlug seinen Notizblock auf. »Ich weiß, Sie haben gestern mit einem Kollegen gesprochen, aber ich möchte noch einiges klären, damit wir sicher sein können, dass alles stimmt, in Ordnung?«

Jan-Otto Lundgren nickte langsam.

»Sie haben Ruben also zuletzt am Samstagabend gesehen, gegen zehn, stimmt das?«

»Ich weiß, dass wir zehn gesagt haben«, sagte Vibeke Lundgren und strich sich über die Stirn. »Aber war es nicht eher halb elf? Ich glaube …«

»Nein, es war zehn«, sagte ihr Mann und legte die Hand auf ihre. »Nach dem Klassenfest, oder?«

»Dem Klassenfest?«, fragte Riis.

»Ja, Sie wissen doch, diese Talkshow im Fernsehen. Das Große Klassenfest.«

Fredrik sah nicht oft fern, aber er wusste natürlich, wovon die Rede war. Samstagsunterhaltung im norwegischen Fernsehsender NRK. Das ganze Land war üblicherweise vor dem Bildschirm versammelt. Zwei Promis trafen auf ihre früheren Klassenkameraden und sollten versuchen, sich an alle zu erinnern.

»Er war sauer«, sagte Vibeke Lundgren und verschwand wieder in ihren Gedanken, diesmal hinter einem kleinen Lächeln. »Wollte Hackfleisch auf die Pizza. Aber Sanna mag das nicht, sie will nur Schinken. Also hab ich Cola aus dem Keller geholt, obwohl wir die eigentlich nicht mehr trinken wollen, ist ja schließlich schlecht für die Zähne, stimmt’s? So viel Zucker.«

Ihr Mann streichelte wieder ihre Hand.

»Ruben ist nach dem Essen in sein Zimmer gegangen. Er wollte noch am Computer spielen. Nicht länger als bis elf, das ist die Abmachung.«

»Haben Sie bei ihm reingeschaut?«, fragte Fredrik. »Später am Abend? Nachgesehen, ob er schlief?«

Es wurde für einen Moment still.

»Ich weiß eigentlich nicht mehr so genau …«, begann Vibeke Lundgren. »Ich muss es getan haben …? Das tu ich doch immer …?«

»Sanna hatte Bauchweh«, sagte Jan-Otto Lundgren und nickte entschuldigend. »Und da konnte sie nicht schlafen. Ich habe ihr vorgelesen, dabei bin ich wohl selbst eingenickt. Als ich wach wurde, war es … ja, halb eins?«

»Sie waren also bis zehn Uhr mit Ruben zusammen? Haben ferngesehen? Und danach ist er in sein Zimmer gegangen? Er hatte keine Pläne, von denen Sie wissen?«

»Pläne?«, fragte Vibeke Lundgren. »Was für Pläne?«

»Ich frag ja nur. Er hatte keine Verabredung? Mit Freunden? Oder vielleicht einer Freundin?«

»Einer Freundin?«, die schlanke Frau schnaubte. »Er ist erst elf. Er war zu Hause bei seiner Familie. Dann ist er schlafen gegangen. Wie immer. Pläne? Was sollten das denn wohl für Pläne sein?«

Sie schaute verwirrt zu ihrem Mann hoch, der ihre dünne Hand fester umschlossen hielt.

»Das Fenster war zur Hälfte geöffnet«, sagte Jan-Otto Lundgren und erwiderte jetzt Fredriks Blick. »Als ich ihn am Sonntag zum Frühstück wecken wollte. Er muss rausgeklettert sein.«

»Und Sie wissen nicht, wann …?«

»Irgendwann in der Nacht. So muss es gewesen sein.«

»Hat er so was häufiger gemacht? Ist er schon mal von zu Hause weggelaufen?«

»Nein, nein, nein …«

Die Frau murmelte jetzt leise, zog ihre Hand zurück.

»Er ist nirgendwohin gegangen. Ruben ist immer zu Hause. Ruben ist der liebste Junge auf der Welt. Ruben klettert nicht aus dem Fenster. Ruben liegt immer in seinem Bett. Saubere Bettwäsche. Pokémon. Die gefällt ihm am besten. Ich habe zwei Garnituren gekauft, damit er immer Pokémon hat. Die andere habe ich gerade gewaschen.«

Das Handy in seiner Tasche klingelte. Fredrik nahm es heraus und warf einen raschen Blick auf das Display.

Anette Goli.

Er schaltete auf lautlos und legte das Telefon vor sich auf den Tisch.

»Und dieser Tommy Sivertsen? War der ein Freund von Ruben? Ich meine, haben sie oft …?«

Vibeke Lundgren hatte sich jetzt erhoben, stand plötzlich unschlüssig mitten im Raum, zitterte am ganzen Leib und blickte verwirrt vor sich hin.

»Ruben?«

»Ich glaube, wir müssen …«, sagte der Mann vorsichtig und legte den Arm um sie.

»Natürlich«, erwiderte Fredrik, räusperte sich und steckte den Block wieder in die Jackentasche.

Dann ging er zurück über den knirschenden Kies, und er gab sich alle Mühe, das andere Geräusch nicht zu hören. Dieses verzweifelte Weinen aus dem Haus.

Und das Handy, das wieder klingelte.

Irgendwo in der Ferne.

»Ja, hier ist Fredrik?«

»Anette hier. Wo bist du?«

»Bei Lundgrens.«

»Kannst du da weg? Ich brauche dich.«

»Okay, was …?«

»Wir haben oben beim Schießgelände etwas gefunden. Ein Brunnenhaus. Sieht so aus, als wären die Jungen dort gewesen. Kannst du da hinkommen? Jetzt?«

»Natürlich«, sagte Fredrik, steckte das Telefon wieder in die Tasche und lief über den Kiesweg zurück zu seinem Wagen.

6

• 6 •

Der alte Mann mit den weißen Haaren wusste, dass einige von denen, die an der Wand hingen, sich vermutlich ziemlich ärgern würden, weil sie nicht zu dem großen Fest eingeladen worden waren, aber an diesem Tag sollte richtig gefeiert werden, und das ging wirklich nur den absolut inneren Kreis an. Er hatte mehrere Tage mit Planen verbracht und sogar eine Tischdecke gebügelt. Die mit der feinen Stickerei. Die er von seiner Großmutter zu Weihnachten bekommen hatte. Oder von seiner Mutter zur Konfirmation? Der alte Mann konnte sich nicht mehr so genau erinnern, und es war ja auch egal. An diesem Tag sollten diese seltsamen Gedanken ihn nicht quälen. Ein doppeltes Fest sollte es werden. Siebzig Jahre, was für eine Vorstellung. Und dann diese neue Aufgabe, die war natürlich das Wichtigste. Ja, und da hieß es, er sei fertig als Schauspieler! Aber nichts da! Der alte Mann mit den weißen Haaren lächelte vor sich hin, dann ließ er das Handtuch auf den Boden fallen und stieg in das kalte Wasser.

Er hatte schon mit achtzehn seinen ersten Auftritt gehabt, beim alljährlichen Krippenspiel des Gymnasiums von Uddevalla. Und ja, natürlich hatte er sich die Rolle des Josef gewünscht, aber ein Wachmann war eigentlich auch nicht so schlecht, wie behauptet wurde. Denn mal ehrlich, wer war denn wichtiger hier? Der arme Wicht, der vor der Herberge stand und flehte? Der es nicht einmal geschafft hatte, seine Frau selbst zu schwängern? Oder eher der, der entscheiden konnte, wer eintreten und einen Schlafplatz erhalten sollte? Genau. Das lag doch eigentlich auf der Hand. Der alte Mann mit den weißen Haaren lächelte wieder, während er die Bürste über die Seife gleiten ließ, sie ins Wasser tauchte und anfing, sich den Rücken zu schrubben. Ach, wie schön der Lilla Köperödssjö in diesem Licht aussah. Er hatte vierundsechzig seiner bald siebzig Lebensjahre hier gewohnt, erst mit seiner Mutter und seiner Großmutter zusammen. Dann nur noch mit seiner Mutter. Dann allein.

Obwohl …

Nein, daran mochte er jetzt nicht denken. Wo bald das Fest beginnen würde. Der Lilla Köperödssjö. Mit eins Komma sechs Kilometern Strandlinie. Die tiefste Stelle betrug neun Meter, nicht fünf Komma eins, wie bei Ray’s Autoservice im Ort behauptet worden war, als er dort nachgefragt hatte, was sie haben wollten, um den alten Volvo in seiner Garage instand zu setzen. Fünf Komma ein Meter war die mittlere Tiefe, also, wenn man alle Tiefen nahm, sie zusammenzählte und durcheinander teilte. Wütend waren sie auch geworden, als sie den ganzen langen Weg hierher in den Wald gekommen waren und der Volvo doch nicht dort stand. Eine Menge Schimpfwörter und Beleidigungen waren gefallen. Wie bitte? War es vielleicht seine Schuld? Nichts da. Dieser Idiot hatte den Kopf geschüttelt und vor ihm auf den Boden gespuckt. Schade eigentlich. Er könnte ein Auto gebrauchen. Damit wäre doch alles viel leichter gewesen. Er hatte stattdessen das Fahrrad durch den Wald getragen, war bis zum Spirituosenladen in Uddevalla geradelt, nur zu diesem Anlass. Hallands Fläder, der beliebte Aquavit. Aber sicher. Hier sollte an nichts gespart werden. 38 % mit dem Aroma von Holunderbeeren und Zimt. Der alte Mann mit den weißen Haaren hatte sich fertig geschrubbt und tauchte nun den Kopf unter Wasser, um den Seifenschaum abzuspülen.

Stockholm, was war das schon?

Nein, daran wollte er lieber nicht denken.

Allan Edwall. Der Schauspieler.

An den wollte er denken.

Der war natürlich die Nummer eins. Denn er musste sich jetzt für die Liste entscheiden, wer am Tisch sitzen und wer weiterhin an der Wand hängen sollte.

Nein, Stockholm mit seinem Salzwasser und den Nutten, die sich dafür bezahlen ließen, dass sie in kleinen Räumen, die wie der Tod stanken, mit wilden Körperbewegungen tanzten, nachdem alle zu viel Schnaps getrunken hatten.

Nein, dann lieber der Wald bei Uddevalla.

Hier ließ es sich leben.

Seine andere große Rolle, und vielleicht die, auf die er am stolzesten war, war die im Gefängnis gewesen. Als Insasse. Nummer 112-452311. Verurteilt wegen Exhibitionismus im Vasapark und wegen Hehlerei. Fürwahr, das war ein Stück, das eine ganze Weile auf dem Spielplan gestanden hatte. Vierzehn Monate. So beliebt war er in dieser Rolle gewesen.

Ingmar Bergman?

Der berühmte Regisseur sollte mit an den Tisch?

Der alte Mann schüttelte den Kopf und lachte kurz, als er sich anzog und dann den kleinen Weg zum Hof hochging.

Kam nicht infrage.

Natürlich nicht.

Der Idiot hing nicht einmal mehr an der Wand. In der Küche.

Über all diesen Gedanken hatte er ganz vergessen, zu überlegen, was er hier eigentlich wollte, und da konnte er nur noch wieder nach unten gehen. Zum Ufer. Lilla Köperödssjö. Mit seinen eins Komma sechs Kilometern Strandlinie. An der tiefsten Stelle neun Meter tief, keine fünf Komma eins, wie im Ort bei Ray’s Autoservice behauptet worden war.

War das ein Schatten, was er dort draußen bei der Odde sah?

Ja?

War es wieder hier?

Das Seeungeheuer?

Sollte er noch einmal diesen Journalisten von Bohusläningen anrufen?

Nein, der brachte doch nichts zustande.

Okay.

Konzentrieren.

Wer soll am Tisch sitzen?

An der Wand hingen sechsunddreißig Bilder. Von allen echten schwedischen Helden, denen er selbst begegnet war. Einige Male nur im Traum, aber das machte doch keinen Unterschied.

Nein, zum Teufel, jetzt stand er wieder oben bei der Tür und hatte total vergessen zu überlegen, was er sich überlegen wollte, und da konnte er nur wieder nach unten zum See gehen.

Die Sonne spiegelte sich jetzt so schön, orange und aprilgelb in der wunderschönen feuchten Oberfläche. Der Lilla Köperödssjö. Mit eins Komma sechs Kilometern Strandlinie. Neun Meter tief an der tiefsten Stelle, nicht fünf Komma eins, wie sie behauptet hatten.

Okay.

Sechsunddreißig an der Wand.

Und am Tisch nur Platz für sechs.

Sechs Stück.

Jeder auf seinem Stuhl, denn sechs Stühle hatte er.

Na gut, der Holzkasten zählte vielleicht nicht ganz als Stuhl und vielleicht auch nicht der kleine Hocker, auf dem er saß, wenn er sich die Zehennägel schneiden wollte.

Habe ich Stühle gesagt?

Was?

Nein, Sitzplätze, habe ich gesagt.

Er hob drohend die Faust.

Was sagst du dazu, Allan?

Willst du vielleicht deinen Sitz verlieren?

Was?

An der Wand hängen bleiben, zum allgemeinen Gespött, während wir anderen uns mit Hallands Fläder zuschütten?

Ach, sicher.

Hier wird ja an den guten Sachen nicht gespart.

Er bereute, was er gesagt hatte, und fügte eilig hinzu, dass das doch nur ein Witz sein sollte, nur ein kleiner Scherz. Klar kannst du mit am Tisch sitzen.

Du kriegst den gelben Stuhl.

Diesmal schaffte er es bis durch die Tür und blieb in Gedanken versunken vor den Bildern an der Wand stehen. Sänger und Schauspieler und Künstler, alle wie sie da waren.

Cornelis Vreeswijk.

Ja?

Okay.

Ja.

Er nahm vorsichtig das Foto vom Haken und trug es feierlich zum Tisch.

Der rote Stuhl.

Tomas von Brömssen.

Hmmmm …

Okay.

Vielleicht.

Nein, was dachte er sich denn dabei?

Ja.

Hebbe Lille.

Natürlich, ja.

Tomas von Brömssen.

Der blaue Stuhl.

Noch drei, noch drei.

Kann man trinken?

Allan Edwall hatte die Flasche Hallands Fläder schon geöffnet und wollte sich einschenken, ja, verdammt, jetzt wird gefeiert, aber das konnte er im letzten Augenblick verhindern.

Wir trinken noch nicht, verstanden?

Kein Schnaps vor dem Auftritt, klar?

Wie würde das denn aussehen?

Der alte Mann schüttelte resigniert den Kopf und stellte die Flasche so hoch, wie er nur konnte, in den Schrank über dem Herd.

Er war gerade zurück zur Wand gegangen und wollte Nummer vier aussuchen, als es plötzlich überall im Raum klingelte.

Was?

Er fuhr zusammen und begriff nicht, was das für ein Geräusch war, dann aber ging es ihm auf.

Das neue Telefon.

Das Mobiltelefon.

Der Auftrag.

Er lief mit leichten Schritten über den Holzboden und öffnete die Schublade.

Blau.

So klein.

Und so praktisch.

Eine Mitteilung im Display.

Blatt 1, Szene 1. Okay?

Er gab die Antwort ein.

Okay.

Der alte Mann mit den weißen Haaren ging zum Regal unter dem Fenster, nahm den schwarzen Ordner heraus, schlug die erste Seite auf und holte tief Luft.

Dann setzte er sich vor sein anderes Telefon.

7

• 7 •

Sie sah ein kleines Portal mit Säulen, dann zwei Schiebetüren aus Glas und grauem Metall, dahinter ein offenes Foyer, das ziemlich frisch renoviert aussah, und sie konnte erkennen, dass er sich große Mühe gab, daraus kein großes Gewese zu machen, aber es gelang ihm nicht so ganz, dem rotblonden bärtigen Ermittler mit dem warmen Lächeln. Es lag eine Mischung aus Neugier und Freude in dem ansonsten so ruhigen, intelligenten Blick, als ob er fast nicht glauben könnte, was er soeben erlebt hatte, während er zugleich zu überlegen schien, wie er sich nun verhalten sollte.

Es ist nicht immer gut, Mia. Mehr sehen zu können als die anderen.

Die Großmutter an einem ihrer schlechteren Tage. Da war sie lange krank gewesen, weigerte sich aber, zum Arzt zu gehen. Dünn und mit fast schwarzen Augen, zusammengekrümmt auf der Matratze auf dem Boden, ein Bett wollte sie natürlich nicht, diese wunderbare starrköpfige Frau, die Mia so unendlich liebte.

Es kann dich ängstlich machen. Und einsam. Die anderen verstehen nicht, was du verstehst. Über das Leben. Und die Menschen. Darüber, wie alles zusammenhängt. Denk an mich, wenn ich nicht mehr da bin, versprichst du mir das, Mia? Wenn du einsam bist?

Typisch ihre Großmutter. Sie war krank, wollte aber immer noch helfen. Einige Wochen später war sie gesund, zum Glück. Und jetzt wurde sie achtzig. Am Wochenende. Mia Krüger freute sich. Und grauste sich. Denn sie wusste, wie es werden würde. Was Mama betraf. Wenn Sigrid nicht da war.

Was sie natürlich nicht sein würde.

Wo bist du, Sigrid?

Mia Krüger warf einen verstohlenen Blick auf ihr Handy, während der freundliche Ermittler lächelte und auf den Fahrstuhlknopf drückte.

»Wir sind oben im Zweiten. Die Einheit ist im vorigen Herbst offiziell hierher verlegt worden, aber die Renovierungsarbeiten laufen noch. Handwerker, so was eben.«

Er hatte ihr vom ersten Moment an gefallen.

Holger Munch.

Man weiß sofort, ob man jemanden leiden kann.

So war es jedenfalls bei ihr.

Das ist ein Mensch, auf den du dich verlassen kannst, der ehrlich ist, in dessen Nähe du dich sicher fühlen darfst, der dir helfen wird, egal, worum es geht, wenn du das eines Tages brauchst.

Es war nicht immer so konkret, ab und zu nur eine Ahnung, ein gutes, warmes Gefühl, im Gegensatz zu einem widerlichen, schlechten. Kein Hokuspokus. Jedenfalls nicht bei ihr. Mia Krüger war es ihr Leben lang so gegangen, und es war schwer vorstellbar gewesen, dass sie ihre Eigenartigkeit irgendwann nutzen könnte. Als Kind hatte sie geglaubt, alle seien wie sie. Nicht von außen, das war ihr natürlich klar, nicht alle sahen aus wie eine kleine Indianerin mit knallblauen Augen. Aber innen drin. Erst als Teenager hatte sie begriffen, dass sie anders war.