Black Wings - Die Legende des Rabenkönigs - Chrissy Em Rose - E-Book

Black Wings - Die Legende des Rabenkönigs E-Book

Chrissy Em Rose

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Beschreibung

»Kleines Mädchen, nimm dich in Acht. Der schwarze Rabe über dich wacht. Ist immer zur Stelle, wenn du ihn rufst, aber wütend wird er, wenn du ihn suchst. Kleiner Junge, gib brav Acht. Der schwarze Rabe fliegt in der Nacht. Hat immer einen wachsamen Blick zu dir, doch such nicht nach ihm, sonst straft er es dir.« Sie sagten, unser Dorf sei zu klein, um der Tocerasplage zum Opfer zu fallen. Sie haben sich geirrt. Die heuschreckenähnlichen Wesen haben sich in unseren Mauern eingenistet. Wenn der Winter vorüber ist, werden unsere Vorräte verschwunden und unsere Häuser nur noch Ruinen sein. Wenn überhaupt jemand von uns überlebt, wäre das ein Wunder. Unsere einzige Hoffnung ist der Rabenkönig – eine Legende, ein Flüstern im Dunkeln. Noch hat ihn niemand gefunden. Doch ausgerechnet ich, die nicht an ihn glaubt, soll ihn suchen. Aber was, wenn es ihn nicht gibt? »Selbst wenn ich einer der Raben bin, kann ich dich nicht zu ihm bringen.« Er klang verzweifelt, beinah hilflos. »Es geht nicht!« Sein warmer Atem streifte meine kalte Haut und trieb mir eine Gänsehaut über den Körper. 

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Seitenzahl: 469

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Black WIngs

DIE LEGENDE DES RABENKÖNIGS

CHRISSY EM ROSE

Copyright © 2025 by

Drachenmond Verlag GmbH

Auf der Weide 6

50354 Hürth

www.drachenmond.de

E-Mail: [email protected]

Lektorat: Maya Shepherd

Korrektorat: Lillith Korn

Layout Ebook: Stephan Bellem

Umschlag- und Farbschnittdesign: Giessel Design

Bildmaterial: Shutterstock

Druck: Booksfactory

ISBN 978-3-95991-580-9

Wir behalten uns die Nutzung unserer Inhalte für Text und Data Mining

im Sinne von §44b UrhG ausdrücklich vor.

Inhalt

Prolog

1. Drei Jahre später …

2. Toceras

3. Der Brand

4. Residenz von Klee

5. Springer

6. Geschichten von früher

7. Bauernhof Pomerst

8. Nur ein Traum

9. Doradensee

10. Die Flucht

11. Das Versteck

12. Die Mühle

13. Das Gedicht

14. Nebelwald

15. Die goldenen Bäume

16. Das verschwundene Reich

17. Die Ankunft

18. Schloss Schwarzfeder

19. Miriam

20. Taverne zur Elster

21. König Amon

22. Mitternachtspicknick

23. Vergangenheit

24. Nachricht aus Rabenstein

25. Das Frühstück

26. Der Kuss

27. Nebelwand

28. Alte Liebe

29. Kräuterdieb

30. Erinnerungen

31. Die Hexe

32. Der Zauber

33. Der Kampf

34. Der König ist tot

Epilog

Danksagung

Dieses Buch widme ich Ramon,

dem Namensgeber von Amon (ohne R)

Prolog

König Amon, was verschafft mir die Ehre?« Katharina lächelte, ihre Lippen bewegten sich kaum, und doch lag etwas Scharfes in der Art, wie ihre Worte den Raum erfüllten. Ihre Augen – dunkel, unergründlich – ruhten viel zu ruhig auf ihm, als könnten sie ihn bereits durchschauen. Makellose Haut, zarte Hände – und doch die Anmut einer Raubkatze, die darauf wartet, die Krallen auszufahren. Hexe … Amon straffte die Schultern und räusperte sich. Sein Blick blieb standhaft, während er die aufsteigende Unruhe mit einer disziplinierten Ruhe erstickte. Sie sollte genau den gewissenhaften Herrscher in ihm sehen, der er war.

Er hatte sich mit seinen sechs treuen Gefährten durch diesen verfluchten Wald gekämpft, auf moosbewachsenen Baumstämmen in strömendem Regen das Moor überquert, während ein ständiger Begleiter in seinem Kopf widerhallte: die Warnungen seines Vaters – jene letzten, zitternden Worte auf dem Sterbebett. »Ruf die Hexe nur, wenn dir kein anderer Ausweg bleibt. Ihr Preis ist hoch.«

Und nun war er hier, die kalte Feuchtigkeit drang ihm bis auf die Knochen. Die Worte wogen schwer:

»Ich ersuche dich, weil ich deine Hilfe brauche.«

Der äußerste Notfall war eingetreten. Allein konnte er die Gefahr, die sein Reich bedrohte, nicht abwenden.

Katharina hatte sich ein imposantes Heim gebaut, genau dort, wo der Sumpf am tiefsten war und das Geäst am dichtesten wuchs, so hatte es ihm sein Vater erzählt.

Wunderschön ausgearbeitete Schnitzereien von Flügelwesen und anderen Kreaturen zierten das dreistöckige Haus, das zwischen dichtem Geäst aus dem Sumpf ragte und auf den ersten Blick mit der Umgebung verschmolz. Die schmale Brücke, die sie nehmen mussten, um zu dem Haus zu kommen, lag zwischen hohen Felsen gut versteckt.

An ihrem gelangweilten Gesichtsausdruck erkannte er, dass sie genau diesen Satz aus seinem Mund erwartet hatte.

»Davon bin ich ausgegangen. Die wenigsten kommen nur auf eine Tasse Tee vorbei.« Unbeeindruckt musterte sie jeden seiner sechs Gefährten, die rechts und links von ihm Position bezogen hatten. Ihre Finger tanzten in einem verstörenden Rhythmus über ihre Handflächen.

Die Hände dieser Frau waren gefährlich, ihre Waffen, darüber gab sie ihre Magie ab. Angespannt beobachtete Amon jede ihrer Bewegungen. »Ich –«

»Du bist wegen der Toceras hier, habe ich recht?«, fragte sie ungeduldig.

Im Augenblick gab es kein anderes Thema, natürlich war er wegen dieser unheilbringenden Kreaturen hier. Der Sommer neigte sich dem Ende zu und bald würden sich diese widerlichen Plagen eine Ortschaft aussuchen, die sie besetzen konnten. Vor vier Jahren waren sie das erste Mal gesichtet worden. Sie hatten eine Siedlung hinter dem östlichen Wald zum Überwintern eingenommen, die Vorräte der Bewohner gefressen, sie im Frühling in Schutt und Asche liegend hinterlassen. Kaum einer der Einwohner hatte überlebt. Das Dorf befand sich noch immer im Wiederaufbau.

Zuerst hatte man angenommen, dass es sich um einen unglücklichen Zufall gehandelt hatte, dass die Wesen sich in diesen Teil der Welt verirrt hatten, nur dem war nicht so, denn seither kamen sie jeden Herbst wieder und suchten sich einen Ort aus, den sie bis zum Frühling besetzen konnten. Und sie näherten sich immer weiter seinem Reich.

»Sie kommen bald und es ist nur eine Frage der Zeit, bis sie Schwarzfeder einnehmen«, gab Amon zu bedenken.

Es verlief immer nach dem gleichen Muster. Als Schwarm fielen die menschengroßen, heuschreckenähnlichen Wesen in ein Dorf oder eine Siedlung ein und rissen alles, was nicht niet- und nagelfest war, an sich. Wer sich gegen sie stellte, wurde ermordet. Alle Vorräte und Ernten waren in Beschlag genommen worden und die stärksten und tüchtigsten Menschen gezwungen, weitere herzustellen oder zu beschaffen. Alte und kränkliche Bürger waren weggesperrt worden und weder mit Nahrung noch mit Wasser versorgt. Sie krepierten meist jämmerlich in ihren Fäkalien.

Dieses Schicksal musste Amon seinem Volk ersparen. Er hatte seinen Untertanen bei seiner Krönung versprochen, sie vor der Toceras-Plage zu beschützen, und das würde er mit allem, was in seiner Macht stand, tun, auch wenn er dafür eine Hexe um Hilfe bitten musste.

»Du verfügst über starke Männer. Warum stellst du dich den Toceras nicht?«

Amon starrte sie ungläubig an. »Es sind zu viele. Mein Vater hat Sonnenstedt im letzten Herbst einhundert starke Männer zur Seite gestellt, um sie im Kampf zu unterstützen. Keiner ist zurückgekehrt.«

Der alte König hatte im Winter Späher ausgeschickt, um nachschauen zu lassen, was geschehen war. Sie hatten von sechzig Wesen berichtet, die dreihundertdreißig Männer niedergestreckt hatten – ohne einen einzigen Verlust. Dazu kam, dass sie jedes Jahr mehr wurden. Eines von ihnen konnte es mit fünf ausgewachsenen Männern gleichzeitig aufnehmen.

Seine Armee hatte vielleicht eine Chance, doch sie war sehr geschwächt. Es war schwer abzuschätzen, aber selbst, wenn sie den Kampf gewinnen würden, wären viele Tote zu beklagen. Wenn es eine Möglichkeit gab, einen anderen Weg zu gehen, würde er diese bevorzugen.

»Ich kann, will und werde meine Männer nicht dieser Gefahr aussetzen. Es gibt keine Garantie, dass wir sie besiegen.«

»Es gibt nie eine Garantie, einen Krieg zu gewinnen«, erinnerte Katharina ihn mit strenger Stimme. »Deine Männer sind kräftig, jung und kampferprobt.«

»Wir sind zu wenig! Ich habe es mehr als einmal in Erw–«

»Dann schließ dich mit den freien Dörfern zusammen«, unterbrach die Hexe ihn. Ihre linke Augenbraue wanderte in die Höhe.

Die freien Dörfer. In einem von ihnen lebte sie! Die Frau, deren Namen er aus seinem Kopf verbannen musste und an die er gerade jetzt nicht denken wollte.

»Sinnlos«, gab er knapp zurück.

Sein Vater hatte in der Vergangenheit versucht, die Dörfer zu überzeugen, sich dem Kampf anzuschließen. Amon selbst hatte das Gespräch gesucht, jüngst vor vierzehn Tagen. Aber die beiden, die ihnen am nächsten lagen, Rabenstein und Krähenfels, behaupteten, zu klein zu sein, um von den Toceras eingenommen zu werden. Sie glaubten wirklich, dass ihre überschaubare Größe sie davor schützen würde, auserwählt zu werden. Amons Vater wie auch er selbst hatten immer ein gutes Verhältnis zu den Dörfern gepflegt, aber ab jetzt musste er für sich und sein Reich Entscheidungen treffen. Sie wollten sich ihm und seinem Reich nicht anschließen und er war für ihren Entschluss nicht verantwortlich. Einzig der Gedanke, sie zurücklassen zu müssen, brachte ihn beinahe um den Verstand. Sie hatte nicht bei ihm bleiben wollen, das hatte sie deutlich gesagt. Und jetzt lief ihm die Zeit davon, er musste handeln. Amon suchte den direkten Blickkontakt.

»Ich bin für mein Volk verantwortlich. Die freien Dörfer interessieren mich nicht. Nenne mir deinen Preis für einen Zauber.«

»Soso. Sie interessieren dich nicht. Trifft das denn auf alle Bürger zu, die dort leben?« Katharina musterte ihn argwöhnisch.

Sie wusste Bescheid!

Raik, der links von ihm stand, sog fest die Luft ein. Alle Männer, die hier an seiner Seite waren, kannten die Frau, um die es ging. Alle wussten, dass er für sie die Gesetze hätte ändern lassen, um sie heiraten zu können, und doch spielte das alles keine Rolle mehr. Sie hatte ihm klar zu verstehen gegeben, dass sie ihr altes Leben nicht für ihn aufgeben würde. Und da war es wieder. Das verräterische Ziehen in seiner Brust. Er konnte es nicht abstellen. Ein Biss auf die Innenseite seiner Unterlippe brachte die Konzentration zurück.

»Vergangenes ist vergangen. Ich muss mein Reich schützen. Hunderte Männer und Frauen verlassen sich auf mich und meine Entscheidungen.«

Katharina ließ die Worte auf sich wirken und antwortete verzögert. »Was für eine Hilfe erwartest du von mir?«, fragte sie süßlich, stand von ihrem Thron auf und trat mit schwingender Hüfte langsam auf Amon zu. Ihr brauner Rock glitt bei jedem Schritt um ihre Beine. Ihre funkelnden Augen waren starr auf Amon gerichtet. Sie forderte ihn heraus.

»Lass diese Plage verschwinden.«

Katharina legte den Kopf schief. »Ich kann nichts und niemanden einfach verschwinden lassen.«

Dass diese Antwort kommen würde, war ihm bewusst gewesen, und dennoch wollte er es versucht haben. Lange hatte er sich Gedanken darüber gemacht, was für eine Hilfe er von ihr einfordern wollte. Drei standen zur Auswahl.

»Dann töte sie.« Seine Stimme nahm eine tiefere Oktave an. Davon hätte wirklich jeder etwas. Aber an ihrem künstlichen Lachen hörte er schon raus, dass sie auch hier verneinen würde.

»Auch das kann ich mit Magie nicht.« Beinahe arrogant streckte sie ihr Kinn in die Höhe und blinzelte mehrfach.

Eine dritte und letzte Forderung hatte er noch. »Ich möchte, dass du mein Reich unsichtbar werden lässt. Niemand, ob Toceras oder die Bevölkerung der freien Ortschaften, soll es finden können«, sagte er mit fester Stimme. Seine Fingernägel gruben sich in die Handinnenfläche, so fest ballte er die Fäuste. Sofort musste er an sie denken. Er würde sie vielleicht nicht wiedersehen.

Er bemerkte die irritierten Blicke seiner Gefährten. Sie kannten nur die beiden ersten Forderungen, diese hatte er ihnen nicht verraten. Keinen der sechs schaute er an. Sein Blick ruhte starr auf der Hexe.

Katharina studierte den König aufmerksam. Ihrer Miene konnte man nichts entnehmen. Da sie nicht direkt verneinte, war es wohl möglich.

»Ich soll dein Reich schützen und alle anderen ihrem Schicksal überlassen?«

Ihm war es gleich, was aus den Ortschaften wurde, die nicht seinem Reich angehörten. Sie hatten sich gegen einen Kampf entschieden, dann mussten sie alleine zurechtkommen.

»Wenn du die Toceras ausrotten kannst, wäre uns allen geholfen«, schlug er erneut vor.

Katharina lief nach rechts und direkt auf seinen ältesten Freund Sam zu.

Der großgewachsene Mann mit der breiten Narbe am Hals rührte sich nicht. Aufmerksam, unter seinen dichten Augenbrauen heraus, beobachtete er jeden einzelnen Schritt, den sie tat.

»Noch einmal, ich kann kein Leben nehmen.« Ihr langer dürrer Zeigefinger wanderte über den Brustharnisch von Sam.

»Dann mach mein Reich unsichtbar. Es ist mir vollkommen gleich, was mit den anderen Ortschaften geschieht. Ich bin hier, weil ich mein Reich schützen will!« So langsam verlor Amon die Geduld und den Glauben daran, sein Schauspiel weiterhin aufrechterhalten zu können. Natürlich war es ihm nicht gleichgültig, was aus ihr, der Frau, die er liebte, wurde, daher hoffte er, so schnell wie möglich, eine Antwort zu bekommen, bevor er doch einen Rückzieher machte.

Katharina lief langsam weiter. Eine Frau mit einer Macht, die er nicht einschätzen konnte. Beinahe streifte sie ihn beim Vorbeigehen. Der Geruch von modrigem Laub wehte ihm entgegen. Fast hätte er die Nase krausgezogen, konnte es sich im letzten Augenblick gerade noch verkneifen. Hexen lebten nicht ohne Grund fernab von Dörfern. Sie waren gefährlich und nicht vertrauenswürdig. Wer sich auf einen Deal mit einer von ihnen einließ, zahlte meist einen hohen Preis. Und er wollte diesen jetzt hören.

Katharina schwebte mehr, als dass sie lief. Adrian, der direkt neben Sam stand, trat einen Schritt zurück, als die Hexe ihn berühren wollte.

Aus verengten Augen musterte sie ihn abschätzig.

Amon wusste, dass Adrian Berührungen nur schwer ertrug. Er musste die Aufmerksamkeit wieder auf sich und sein Anliegen bringen. »Was ist? Kann ich mit deiner Hilfe rechnen?«

»Magie hat seinen Preis. Zauber fordern immer ein Opfer.« Das letzte Wort zischte sie. Langsam glitt sie auf den Nächsten in der Reihe zu. Gregor war der kleinste und schlaksigste seiner Vertrauten. Die Leute unterschätzten ihn leicht, weil er am wenigsten einem Krieger ähnelte, und doch war er einer.

»Was verlangst du?« Gespannt auf das, was nun folgen würde, presste Amon die Kiefer aufeinander. Sie sollte endlich etwas sagen. Eine Kiste Gold, Nahrung, die sie über den Winter brachte, oder Stoffe, aus denen sie sich warme Kleidung machen konnte. Egal was, Hauptsache eine Antwort!

»Deine erstgeborene Tochter!«

Der König öffnete den Mund und schloss ihn zugleich wieder. Was hatte sie gerade gesagt? »Ich habe keine Kinder. Zumindest nicht, dass ich es wüsste.«

Die Hexe blähte die Nasenflügel auf. »Ich rede von der Tochter, die du einmal haben wirst.«

Amons Augenbrauen schnellten zeitgleich mit seinen Lidern in die Höhe. Mehrfach blinzelnd versuchte er, eine Antwort zu finden. Er hatte keine Frau und war gerade erst von seiner ersten Liebe zurückgelassen worden. Woher sollte er denn wissen, ob er überhaupt jemals Kinder haben würde?

»Mach das nicht«, zischte Raik ihm zu.

Diesen Hinweis hätte er nicht gebraucht, niemals würde er sein eigen Fleisch und Blut in die Hände einer Hexe legen. Diese absurde Forderung hatte ihn einfach überrumpelt.

»Ich werde dir keines meiner zukünftigen Kinder versprechen.«

»Dann habe ich keinen Zauber für dich.« Sie schwang die rechte Hand in die Luft, als wollte sie eine Fliege verscheuchen. Arrogantes Miststück!

»Denk dir doch bitte etwas anderes aus. Dir wird sicher etwas einfallen. Gold, Kleider, ein größeres Haus«, zählte er auf, was ihm spontan in den Kopf kam.

»Ihr alle seid kräftige Männer«, stellte sie fest und schwebte zu den letzten drei, die links von Amon standen. Bei den Brüdern, Raik und Killian streifte sie mit ihren spitzen Fingern über die Oberarme, als wollte sie ihr Gesagtes untermalen. Als sie vor Louis trat, legte sie den Kopf schief, als müsste sie ihn aus einem anderen Winkel betrachten.

Wollte sie einen seiner Vertrauten? Was war denn nur los mit dieser Frau?

»Ich lasse keinen von ihnen bei dir«, erklärte Amon bestimmt. Er beobachtete jede ihrer Bewegungen genau. Vieles würde er ihr geben, aber keinen seiner besten Freunde und schon gar nicht ein ungeborenes Kind.

»Das wäre ja noch schöner. Die Mäuler kannst du selbst stopfen.« Sie stieß Louis mit drei Fingern in die Schulter, bevor sie sich schwungvoll umdrehte und zu ihrem Thron zurückschwebte.

»Was verlangst du für deinen Zauber, Katharina?« Seine Worte hallten von den Wänden wider. Amon wollte keine weitere Zeit verlieren, spätestens in zwei Wochen würden sich die Toceras in einem der Dörfer niederlassen. Bis dahin musste er sein Reich geschützt wissen.

»Sei doch nicht so ungeduldig, mein Lieber.« Schwungvoll schlug sie die Beine übereinander, nachdem sie sich gesetzt hatte. Ihre Augen blitzten gefährlich auf, während sie noch einmal jeden Einzelnen der Anwesenden studierte. Die Spannung lud sich auf. Wenn sie nicht gleich mit einer Antwort herausrückte …

Das Blut rauschte in Amons Ohren. Wenn er eins am wenigsten hatte, dann Geduld. Er brauchte eine Lösung für sein Problem, und zwar jetzt.

»Kannst du so einen Zauber überhaupt wirken?« Das Gefühl, wertvolle Zeit zu verschwenden, stellte sich ein. Seine Finger spielten nervös an den Schnallen seiner Rüstung.

Sie rutschte bis an die Kante des hölzernen Throns und faltete die Hände. »Ich kann dein Reich verstecken. Aber der Preis dafür ist hoch.«

Seine Anspannung gab ein wenig nach. Sie konnte ihm helfen! Jetzt galt es, geschickt zu verhandeln. »Sag, was du willst, außer meinen Ungeborenen und meinen Männern«, forderte Amon erneut.

»Die Menschen außerhalb eures Reiches dürfen sich nicht mehr an euch erinnern, sonst werden sie nach euch suchen oder die Toceras zu euch schicken. Ihnen gänzlich die Erinnerung zu nehmen, geht nicht, aber ich kann euch als Mythos und Legende weiterleben lassen. Man wird in Märchen und Reimen über euch erzählen, doch existieren tut ihr für sie nicht.«

Amon hörte aufmerksam zu. Sie, die Frau seines Herzens würde sich nicht an ihn erinnern? Sie würde all ihre gemeinsamen Erlebnisse vergessen. Vielleicht war es besser so. Seine verkrampften Finger lockerten sich erst, als er spürte, wie die Feuchtigkeit in den Augenwinkeln zunahm. Er unterdrückte das tiefe Durchatmen. Emotionskontrolle war in seiner Position das Wichtigste!

»Wir können das Reich niemals wieder verlassen?« Die Frage kam von Raik. Amon wusste, warum. Er hatte ein Auge auf die Bäckerstochter von Rabenstein geworfen. Wenn sie an das Reich gebunden waren, würde er sie nie wiedersehen.

»Der Zauber verschleiert den Weg, um euch zu finden. Ihr sieben könnt das Reich jederzeit verlassen und jemanden mitnehmen, aber die Bewohner von Schwarzfeder brauchen euch, um die Pforte zu durchschreiten.«

Erleichtert schnaubte Raik aus.

»Sie wird dich nicht mehr kennen«, flüsterte Kilian seinem Bruder zu.

Amons Brust zog sich zusammen, er verlangte sehr viel von seinen Männern und sicherlich würde der eine oder andere Bürger mit der Entscheidung ebenfalls unglücklich sein, aber sie hatten keine Wahl. Die Toceras in Schwarzfeder zu haben, undenkbar.

»Ist das alles? Wir werden vergessen und können nur begrenzt aus dem Reich?«

»Nicht ganz. Ihr könnt niemandem von eurem Reich erzählen oder jemanden mit reinnehmen, der nicht dort wohnt«, ergänzte sie und Amon nahm die fallenden Schultern von Raik aus dem Augenwinkel wahr. Sie würde für immer ausgeschlossen bleiben.

»Zudem werdet ihr das Dorf, welches von den Toceras eingenommen wird, unterstützen. Wenn sie etwas zerstört haben, dann werdet ihr es wieder aufbauen oder reparieren.«

Der König räusperte sich. »Woher sollen wir denn wissen, wann sie unsere Hilfe brauchen? Und je nach Ortschaft sind wir einen Tag mit den Pferden unterwegs.«

»Ihr verwandelt euch in Raben und werdet spätestens jeden dritten Tag bei dem überfallenen Dorf vorbeischauen.«

Amon blinzelte mehrfach. Sie meinte das sicher nicht ernst! »Raben? Diese dreckigen schwarzen Vögel?«

Ein Räuspern drang zu seinen Ohren. Es kam von Sam.

»Raben! Diese schlauen und sehr lernwilligen Tiere. Genau die«, verbesserte Katharina ihn mit einer klangvollen Warnung in der Stimme.

»Das soll wohl ein Scherz sein. Für Reparaturarbeiten beauftrage ich Schreiner, Schmiede, was eben gebraucht wird, und keinen von ihnen würde ich in ein Dorf schicken, wo Toceras ihr Unwesen treiben.«

Jetzt war es Katharina, die ungeduldig wurde. Fast schon aggressiv trommelte sie mit ihren Fingerkuppen auf die Armlehne ihres Thrones. »Hör zu, Bursche!«

Amon hob die Augenbrauen. Wie hatte sie ihn gerade genannt? Seine Männer verlagerten ihre Position. Schultern strafften sich, Hände wanderten zu ihren Waffen.

»Pass auf, wie du mit mir sprichst, Hexe!«

Unbeeindruckt hob Katharina eine Hand in die Höhe, als wollte sie gleich einen Zauber wirken.

Scheppernd fiel Metall zu Boden. Ehe Amon begriff, was geschah, gingen seine Männer auf die Knie und keuchten vor Schmerz. Ihre Waffen lagen quer über den Boden verteilt im Raum.

Amon hielt die Luft an. Irgendwo in seiner Brust hämmerte ein panischer Schlag – zu schnell, zu laut! »Hör auf!«

Das Stöhnen ging in Klagelaute über. Sie hatte seine Männer nicht nur binnen Sekunden entwaffnet, sondern verursachte ihnen heftige Schmerzen.

»Hör auf damit!«, befahl er erneut. Mit zusammengepresstem Kiefer und geballten Fäusten starrte er von der Hexe zu seinen Männern. Ein kalter Schweißfilm trat ihm auf die Stirn.

Raik wand sich wie ein Fisch an Land. Seine Lippen liefen blau an. Gregor krümmte sich zusammen und Louis starrte mit flatternden Augenlidern zur Decke.

»Glaub mir, Jüngelchen, mit mir willst du es dir nicht verscherzen.«

Bittere Galle kroch dem König die Kehle hinauf. So hatte er sich die Verhandlungen nicht vorgestellt. »Hör auf! Ich habe deine Forderung verstanden.« Der Widerwille in seiner Stimme schwang deutlich mit. Die Fingerknöchel traten schon weiß hervor, während er noch mit der Beherrschung rang, ihr mit seinem Schwert nicht den Kopf von den Schultern zu schlagen.

»Hast du?« Sie ließ die Hände sinken. Die Männer japsten nach Luft und kamen einer nach dem anderen wieder auf die Beine. Niemand von ihnen schien ernsthaft verletzt zu sein.

»Lasst uns abhauen, wir nehmen es mit den Toceras selbst auf«, zischte Raik und Killian ergänzte: »Die hat sie nicht mehr alle.«

Bevor Amon etwas sagen konnte, hob Katharina die Hand.

»Ein letztes Mal biete ich dir meinen Zauber an. Ich werde dein Reich verstecken, doch dafür werdet ihr den überfallenen Dörfern helfen, um über den Winter zu kommen.«

»Warum als Raben?«, wollte der König genervt wissen. Sein Herzschlag beruhigte sich nur langsam, aber er musste sachlich verhandeln. Er verstand, dass sie durch die Luft schneller von einem Ort zum nächsten kamen, aber brauchte das zwingend eine Verwandlung in ein Tier?

»Raben sind schlaue Tiere. Sie haben ein sehr gutes Gedächtnis, ihr werdet den Heimweg jedes Mal finden. Zudem seid ihr durch die Luft schneller und könnt getarnt zwischen all den anderen Raben die Situation beobachten. Es hat viele Vorteile, ein Rabe zu sein.«

Im Stillen stimmte er ihrer Aufzählung zu. Raben gab es mehr als genug in Schwarzfeder und Umgebung. Daher hatten die Ortschaften ihre Namen. Auffallen würden sie zwischen diesen nicht.

»Amon, auf ein Wort«, mischte sich nun Louis ein. Schon an seiner Stimmlage erkannte der König, dass er mit diesem Deal nicht einverstanden war.

Die Hexe schnalzte dreimal mit der Zunge. »Du entscheidest dich jetzt, König! Du bist gekommen, um einen Zauber von mir zu fordern. Wer einen Zauber will, muss bezahlen. Nimm ihn an oder verlass mein Heim. Eine zweite Chance bekommst du nicht.«

»Ich soll über den Kopf meiner Männer hinweg entscheiden, ob sie sich in Raben verwandeln und in Dörfer fliegen, um dort den Bewohnern zu helfen?« Er presste fest die Kiefer aufeinander. Seine Vertrauten waren nicht nur gute Freunde. Sie waren zudem wichtige Berater. Bei wichtigen Entscheidungen fragte er sie um Rat.

»Nur in der Zeit, in der die Toceras ein Dorf in Beschlag nehmen, um den Menschen dort zu helfen, und vergiss bitte nicht, dass auch du dich verwandeln wirst. Zudem bist du ein Herrscher, korrigiere mich, wenn ich falschliege, aber sind das nicht die, die schlussendlich Entscheidungen treffen?«

Amons Kiefer knackte. Sie musste ihm seine Stellung nicht erklären. Natürlich konnte er Entscheidungen allein treffen.

»Amon, ich denk–« Sam brach mitten im Satz ab. Er fasste sich an den Hals, als würde er nach seiner Stimme tasten.

»Schluss damit! Ich bin gekommen, um deine Hilfe einzufordern. Ich nehme deinen Zauber an. Meine Männer und ich werden den überfallenen Dörfern helfen.«

Katharinas Augen blitzen verschwörerisch auf. »Gut, dann komm zu mir, um den Zauber entgegenzunehmen, Rabenkönig!«

Kapitel1

Drei Jahre später …

Kleines Mädchen, nimm dich in Acht. Der schwarze Rabe über dich wacht. Ist immer zur Stelle, wenn du ihn rufst, aber wütend wird er, wenn du ihn suchst. Kleiner Junge, gib brav Acht. Der schwarze Rabe fliegt in der Nacht. Hat immer einen wachsamen Blick zu dir, doch such nicht nach ihm, sonst straft er es dir. Hmm. Hmm. Hmm. Hmhm.« Vorsichtig streichelte ich über den schwarzen Haarschopf meiner kleinen Schwester, während ich die Melodie des Liedes leise weitersummte. Ihre wundervollen wilden Locken ließen sich kaum bändigen und passten zu ihrer feurigen Art. Sie war das genaue Abbild unserer Mutter.

»Leo?«, fragte Lissi, ohne den Kopf von meinem Schoß zu heben.

»Hm?« Ich drehte eine Haarsträhne um meinen Finger. Sie sollte schon schlafen und ich sollte schon längst auf dem Weg zur Arbeit sein. Meine Großmutter würde gleich kommen, weil meine Mutter zu dieser Zeit auf dem Feld arbeitete.

»Hast du den Rabenkönig schon mal gesehen?« Ihre Finger zogen weite Kreise über die Stoffe meiner Röcke.

Ich stieß fest die Luft aus meiner Lunge und verkniff mir ein Augenrollen. Tatsächlich gab es viele Raben in Rabenstein. Sie meinte aber einen ganz bestimmten Raben.

Mit ihren zehn Jahren glaubte Lissi fest an die Sagengestalt, die sie aus Märchen, Liedern und Gedichten kannte.

»Ja, ich kenne einige Raben. Erst gestern saß wieder einer im Baum gegenüber von unserem Schlafzimmerfenster.« Ich wackelte belustigt mit den Augenbrauen.

»Doch nicht der! Ich meine doch den König«, flüsterte sie verstohlen. Ich griff nach der Sternenlampe, so nannten wir sie, und gab dem Gehäuse einen Schubs. Sofort begannen die kleinen Punkte, die bis eben noch still an den Wänden zu sehen gewesen waren, wild zu tanzen. Ich wusste nicht, woher wir die Lampe hatten, aber sie war einmalig. Man steckte eine Kerze in das Innere und sobald sich der metallene Schirm mit den Löchern drehte, warf er kleine tanzende Punkte an die Wände. Ein wohliger Schauer überkam mich. Ich liebte die Sterne.

»Wie oft muss ich dir sagen, dass es den Rabenkönig nicht gibt?«

»Und wie oft muss ich dir sagen, dass du dich täuschst?«, fragte die zittrige Stimme meiner Großmutter. Knarzend öffnete sie die Schlafzimmertür.

Endlich kam meine Ablösung. Eigentlich sollte Großmutter nur einen Korb mit Äpfeln beim Bauern holen. Vermutlich hatte sie sich wieder verlaufen. Ihre Vergessens-Krankheit wurde immer schlimmer.

Langsam schlurfte Großmutter in den Raum. Die Feldarbeit, die sie bis zum letzten Jahr ausgeübt hatte, hatte Spuren hinterlassen. Körperlich wie geistig baute sie immer mehr ab. Es war mittlerweile schlecht zu unterscheiden, ob sie auf meine kleine Schwester aufpasste oder umgekehrt.

Lissi setzte sich auf und ich nutzte die Chance, um aus dem Bett zu krabbeln.

»Du bist spät dran«, sagte ich zu meiner Großmutter und schlüpfte in meine Lederstiefel. Auf ihre Anspielung zum Rabenkönig ging ich nicht ein, denn sie war mindestens genauso überzeugt von seiner Existenz wie meine Schwester. Zudem fütterte sie die Kleine täglich mit Geschichten über den Helden, der eines Tages die Welt von den Toceras befreien sollte. Ich glaubte nicht an diese Legenden.

»Und du solltest lieber auf die Suche nach dem Raben gehen, statt –«

»Es sitzt bestimmt wieder einer vor dem Fenster. Ich muss los. Achte bitte darauf, dass Lissi nicht allzu lang wach bleibt.« Mit diesen Worten schnappte ich mir meine Quertasche, meine Jacke und eilte in den Flur hinaus. Mit festem Griff drückte ich alles vor die Brust.

»Hier, mein Kind, iss einen Apfel.« Die Wände im Haus waren durchlässig, sodass ich deutlich verstanden hatte, was Großmutter Lissi anbot.

Bildlich sah ich den großen roten Apfel vor mir. Lissis Augen funkelten mit der polierten Schale um die Wette. Sicherlich hatte Großmutter eine Krone in die Schale hineingeschnitzt. Eine mit drei Zacken. Das tat sie oft und behauptete dann, der Rabenkönig würde seine Äpfel nur essen, wenn sie eine Krone hätten.

»Oh! Ein Königsapfel«, stieß Lissi hervor. Ich schmunzelte, weil ich recht behalten hatte.

»Kannst du mir die Geschichte vom Raben erzählen, wie er –«, den Rest des Satzes konnte ich nicht weiter hören, weil ich das Haus verließ.

Eine kühle Windböe wehte mir entgegen und trug den Geruch von feuchtem Laub mit sich. Der Herbst rückte mit großen Schritten näher. Mit ihm die Angst, welche Gemeinde sich die Toceras dieses Mal aussuchen würden. Es gab beinahe kein anderes Thema in den Straßen oder im Beschwipsten Hirsch. Da ich in der einzigen Wirtschaft, die dieses Dorf zu bieten hatte, arbeitete, bekam ich die neusten Neuigkeiten aus erster Quelle mit.

Bis zum letzten Jahr waren wir uns sicher gewesen, dass die Toceras unsere Siedlung für zu klein hielten und wir daher uninteressant für sie wären. Nach sieben Jahren der immer wiederkehrenden Plage blieben allerdings nicht mehr viele Dörfer, die sie einnehmen konnten, übrig.

Seit dem letzten besaßen wir eine Bürgerwehr, welche die Tore zu unserem Dorf bewachte. Dieses Jahr fanden sich in ihr doppelt so viele Männer und Frauen ein. Wir wussten alle, dass wir keine Chance hätten, wenn die Wesen zu uns kämen. Der beste Plan beinhaltete, zu versuchen, zu überleben. Mit unserer Nachbargemeinde Krähenfels hatten wir einen Verteidigungsplan aufstellen wollen, allerdings waren wir nie zu einem Ergebnis gekommen, weil sie eine andere Vorgehensweise bevorzugten als Rabenstein.

Rabenstein wollte offensiv angreifen, während Krähenfels für einen Hinterhalt plädierte. Es hatte wochenlang Diskussionen und zig unreife Pläne gegeben, von denen keiner umgesetzt worden war. Jetzt verfolgte jedes Dorf wieder seinen eigenen Plan. Keine gute Idee, wenn man mich fragte. All diese Nachrichten hatten mir schlaflose Nächte bereitet. Auch jetzt, wenn ich darüber nachdachte, zogen sich meine Eingeweide zusammen. Eine gelöste Haarsträhne wehte mir vor die Nase. Ich musste jetzt wirklich los, holte ich mich aus den Gedanken.

Beim Laufen schlüpfte ich in die Jacke und versuchte, mit der Kapuze, die ich hochzog, den Rest meiner gesteckten Frisur zu erhalten. Die Strähnen, die der Wind gelöst hatte, legte ich hinter die Ohren. Mein Haar trug die gleiche Farbe wie das meiner Mutter, aber meines war glatt, daher lösten sich einzelne Strähnen leicht.

Eilig lief ich auf die Hauptstraße zu, zog den Mantel enger um mich. Einige Straßenlaternen waren von dem Wind ausgeblasen worden, was die Seitengasse, in der wir wohnten, zu dieser späten Uhrzeit unheimlich machte. Durch die gespenstige Stille drang nur das Pfeifen des Windes, der den Staub der Straßen in kleinen Wirbeln tanzen ließ.

Ich blickte in den wolkenverhangenen Himmel. Wenn wenigstens der Mond ein bisschen Licht spenden würde, doch der schien sich wie die meisten Bewohner zu dieser Jahreszeit verstecken zu wollen.

Die Anspannung wuchs täglich. Im Sommer saßen die Menschen vor ihren Häusern, tranken Wein und spielten Karten oder Würfelspiele bis spät in die Nacht. Doch seit ungefähr einer Woche verbarrikadierten sich die Menschen in ihren Häusern. Jeden Tag konnten die Kreaturen in eines der Dörfer einfallen und da wir von den anderen Gemeinden nichts gehört hatten, lag es auf der Hand, dass die Wesen sich noch nicht entschieden hatten, wo sie ihr Winterquartier aufschlagen würden.

»Leonore?«, rief eine altbekannte Stimme.

Der hatte mir gerade noch gefehlt! Sofort presste ich die Lippen aufeinander und beschleunigte meinen Schritt. Alexander war zwar mein bester Freund, aber im Augenblick versuchte ich, ihm aus dem Weg zu gehen.

»Leonore! Warte, du kannst doch nicht zu so später Stunde hier draußen im Dunkeln herumlaufen«, rief er gehetzt.

Ein Krächzen erklang über unseren Köpfen. Zwei Raben flogen über uns hinweg. Leider lenkte das Alexander nicht ab. Zu meinem Leidwesen waren seine Beine länger und ich wurde von ihm direkt eingeholt.

»Guten Abend, Alexander. Ich habe leider überhaupt keine Zeit für dich, weil ich zur Arbeit muss.« Ich beschleunigte meine Schritte, doch er hielt mit. Wie auch immer er es geschafft hatte, in der Eile seinen Mantel auszuziehen, schaffte er es zudem, ihn über meine Schultern zu werfen. Wankend versuchte ich, mich auf den Beinen zu halten. Was hatte er in den Taschen?

»Du erkältest dich! Und noch dazu ist es viel zu gefährlich, um diese Uhrzeit allein durch die Straßen zu irren.«

Abrupt blieb ich stehen und zog mir den schweren Mantel von den Schultern. »Ich irre nicht durch die Straßen, sondern laufe zur Arbeit. Und meine Jacke ist vollkommen ausreichend.« Ich drückte dem braunhaarigen Schönling den Mantel vor die Brust.

Sein Vater gehörte den reichsten Männern des Dorfes und somit dem Gemeinderat an. Als freie Ortschaft unterlagen wir keinem Königreich und besaßen daher keinen Bürgermeister. Dennoch, wenn man es ganz genau betrachtete, hatten die Männer und Frauen, die das meiste Geld besaßen, das Sagen in Rabenstein.

»Du musst nicht arbeiten. Ich kann für dich und deine Familie sorgen«, sagte er ernst.

Ich verdrehte die Augen. Wann würde er endlich verstehen, dass ich mich nicht für ihn interessierte?

Alexander und ich waren bis zum Tod meines Vaters beste Freunde gewesen. Doch sein Antrag zwei Wochen nach der Beerdigung brachte einen gewaltigen Riss in die Freundschaft.

»Ich heirate dich nicht!«

»Himmel, Leonore, du tust gerade so, als wäre das etwas Schlimmes. Ich habe deinem Vater versprochen, mich um dich und deine Familie zu kümmern. Es war sein Wunsch.« Aus dem Augenwinkel sah ich, wie er die Arme in die Luft warf.

Kopfschüttelnd bog ich in die Hauptstraße ein. Ich wusste, dass Alexander meiner Familie und mir helfen wollte, und ich hasste die Tatsache, dass mein Vater ihn darum gebeten hatte. Alexander nahm sein Versprechen sehr ernst und daran war unsere Freundschaft beinahe zerbrochen. Wir hegten keine romantischen Gefühle füreinander. Ganz im Gegenteil. Alexander war in eine andere Frau verliebt, die er aus Pflichtgefühl mir gegenüber verlassen hatte.

»Warum bist du so stur?«, fragte er verzweifelt. Ich wusste, dass er im Grunde einfach alles richtig machen wollte.

Das Krächzen eines Raben ließ ihn zusammenzucken. Ich versuchte, nicht zu lachen, daher presste ich die Lippen fest aufeinander. Als er mir das erste Mal den Antrag gemacht hatte, war ein Rabe im Sturzflug auf ihn zugerast. Vermutlich hatte der Rabe gedacht, der Ring in Alexanders Hand sei etwas Essbares, herausgefunden hatten wir es nicht, da ein anderer ihn mitten im Flug abgefangen hatte und die beiden sich dann eine Keilerei geliefert hatten. Seither ließ Alexander Vorsicht walten, wenn ein Rabe in der Nähe war.

Wir erreichten das Wirtshaus. Wie ich Alexander kannte, würde er mir gleich hineinfolgen. Auch wenn wir diese Diskussion schon zigmal geführt hatten, versuchte ich es ein letztes Mal: »Weil wir nicht zusammengehören. Wir lieben uns nicht!« Die letzten vier Worte betonte ich besonders stark. In seinem Blick erkannte ich, wie sein Stolz brach. Es war die Wahrheit und er wusste es.

»Du bist eine der wichtigsten Personen in meinem Leben. Natürlich liebe ich dich.« Er straffte die Schultern.

Wie es der Zufall wollte, ging genau in dem Moment die Tür des Beschwipsten Hirsch auf. Meine gepfefferte Antwort musste warten.

Karen trat mit ihrem Bruder aus dem Wirtshaus. Sofort schaute Alexander auf die Seite, um ihrem Blick auszuweichen. Nervös schob er seinen Unterkiefer vor und zurück.

Sie war so schön wie eh und je. Ihr rotbraunes Haar fiel locker über ihre Schultern. Die kleinen Sommersprossen über ihren Wangen und die spitze Nase verliehen ihr etwas liebreizend Freches. Ich wusste genau, warum mein bester Freund sich in sie verliebt hatte.

»Guten Abend.« Karens Bruder nickte uns beiden zu.

Ich grüßte zurück und trat auf die Seite, damit die beiden zwischen uns durchlaufen konnten.

Alexander murmelte einen leisen Gruß, während er verstohlen die junge Frau anlinste. Er biss sich von innen auf die Unterlippe.

Ihre Wangen färbten sich leicht rosa. Sie öffnete den Mund, schloss ihn aber gleich wieder und kaute auf ihrer Unterlippe herum.

Bevor die Situation unangenehm wurde, nutzte Karens Bruder die Lücke und huschte zwischen uns durch. Karen folgte mit eiligen Schritten.

Alexander schaute den beiden so lange hinterher, bis sie in eine Seitenstraße bogen.

»Das zwischen dir und Karen ist die Liebe, die es für eine Ehe braucht«, erklärte ich und betrat die Wirtsstube, ohne eine Antwort von ihm abzuwarten. Sofort strömte mir der Duft von Tabakrauch und Bier entgegen. Der Geräuschpegel, der bereits vor der Tür laut gewesen war, steigerte sich hier drinnen gravierend.

»Elenora!«, brüllte ein volltrunkener Stammgast mir entgegen.

»Leonore«, korrigierte ich den Mann, der mir fröhlich zuprostete. Egal wie oft ich ihm meinem Namen nannte, er wollte ihn sich einfach nicht merken.

»Du bist zu spät«, sagte Thomas, der Besitzer der Wirtschaft, und warf mir eine Schürze zu. Seine Stirn lag in Falten, die Gläser sammelten sich auf der Theke.

Ich fing sie auf, sagte aber zu seiner Bemerkung nichts. Schnell stellte ich meine Tasche unter die Theke und legte die Jacke dazu. »Wo soll ich zuerst hin?«, fragte ich, während ich die Schürze zuband.

Mein Blick wanderte über die Gäste. An der Theke reihten sich die Menschen auf wie Perlen auf einer Kette. An den hinteren Tischen wurde Karten gespielt und dazwischen waren fünf Tische besetzt, an denen Gäste zu Abend aßen. Das Wirtshaus Zum Beschwipsten Hirsch zählte zahlreiche Gäste. Da es keine Konkurrenz gab, war dies jeden Abend so. Im Hauptraum fanden, wenn alle Tische besetzt waren, etwa einhundertachtzig Gäste Platz. Im Nebenraum noch mal siebzig.

»Das hier muss an Tisch Nummer fünf.« Der Wirt stellte einen weiteren Krug Bier auf ein bereits mit Zinnbechern und Krügen gefülltes Tablett. »Und falls du es noch nicht gesehen hast, die Wanderarbeiter sind wieder hier.«

Erneut blickte ich durch den Wirtsraum und entdeckte die Männer im hinteren Eck. Ich lächelte und freute mich darauf, die Männer gleich persönlich zu begrüßen. Manchmal waren sie zu fünft, manchmal zu siebt und ein anderes Mal nur zu dritt. Heute saßen sie zu viert am Tisch. Sie kamen in unregelmäßigen Abständen hierher. Einer von ihnen hatte mir einmal erklärt, dass sie so etwas wie Zimmermänner waren, die dorthin reisten und arbeiteten, wo gerade Hilfe benötigt wurde. Seit ich dies wusste, beanspruchten sie einen besonderen Platz in meinem Herzen.

»Auf was wartest du?« Thomas holte mich wieder aus meinen Gedanken. Mir stieg die Hitze ins Gesicht. Auch wenn er meine Gedanken nicht hören konnte, fühlte ich mich ertappt.

Ich atmete tief ein und schnappte mir die Bestellungen. Gekonnt jonglierte ich das Tablett durch die Tischreihen, um an besagten Tisch zu gelangen. Er befand sich zwei Tische von dem mit den Wanderarbeitern entfernt.

»Leonore, wie schön, dich zu sehen«, sagte einer der Gäste. Mit einem fröhlichen Grinsen verteilte ich die Bestellungen. Nette Bedienungen bekamen mehr Trinkgeld, daher trug ich immer ein Lächeln auf den Lippen und ertrug jeden Witz und jeden Annäherungsversuch, auch wenn ich manchmal lieber Ohrfeigen verteilen wollte.

Alexander war mir wie erwartet gefolgt und saß bei drei Männern, die unser Alter teilten. Zwei von ihnen waren bereits verheiratet, der andere würde seiner Verlobten im kommenden Frühling das Jawort geben. Mit sechsundzwanzig sicherlich kein unübliches Alter, doch für mich im Augenblick undenkbar.

Alle vier gehörten sie zu den einflussreichsten Familien dieses Ortes. Man musste sie nicht kennen, um das herauszufinden, allein wie sie sich kleideten, verriet, woher sie stammten, und hob sie von den Feldarbeitern, Bauern und Handwerkern, die hier saßen, eindeutig ab.

»Gefällt dir etwa einer dieser Papierfalter?« Einer der Gäste riss mich aus meinen Gedanken. Schnell verteilte ich die Getränke und sammelte die leeren Krüge ein.

Ich hatte gar nicht bemerkt, wie intensiv ich die fröhliche Runde angestarrt hatte.

»Papierfalter?«, fragte eine Frau, ehe ich antworten konnte. Ihre schmutzige Latzhose zeigte, dass sie zu einem Bauernhof gehörte oder für einen arbeitete.

»Schau sie dir doch mal an. Keiner von denen hat je eine Mistgabel geschwungen. Die kleben an ihren Schreibtischen fest, das sehe ich doch. Das Gefährlichste, was denen passieren kann, ist, dass sie sich beim Falten eines Dokumentes am Papier schneiden.«

Die anderen drei Männer, die mit am Tisch saßen, lachten laut auf. Meine Augenbrauen zogen sich automatisch zusammen und das Lächeln, an dem ich mich versuchte, gelang mir auch nicht wirklich.

Ich nutzte die Chance und ging zu den Wanderarbeitern, offensichtlich hatten diese ihre Bestellung noch nicht aufgegeben.

»Leonore, schön, dich hier zu sehen«, sagte Gregor. Ich kannte beinahe alle sieben mit Namen. Gregor, der Kleinste von ihnen, hatte immer einen lockeren Spruch auf den Lippen und gab gutes Trinkgeld.

»Schön, euch wiederzusehen. Wann wart ihr das letzte Mal im Beschwipsten Hirsch?«

»Vor sechs Wochen und drei Tagen«, zählte Raik auf und stieß seinen Bruder an. Kilian verdrehte die Augen und ich wusste genau, warum. Raik liebte unser Dorf, seitdem sie das erste Mal vor drei Jahren hier aufgetaucht waren. Er hatte sich sofort Hals über Kopf in die Tochter des Bäckers verliebt und versuchte seit diesem Tag, sie für sich zu gewinnen.

»Sie haben sich endlich verabredet«, murmelte der große Mann mit den breiten Schultern. Die beiden sahen sich ähnlich, nur das Raik sein langes Haar zu einem Zopf nach hinten band und das seines Bruders kurz geschnitten war.

»Hey, das ist großartig«, gratulierte ich ihm aufrichtig. Ich freute mich für ihn. Er kämpfte schon so lange um eine Verabredung.

»Wenn jetzt nur mal endlich Ruhe ist«, grummelte Amboss. Das war natürlich nicht sein richtiger Name. Er hatte ihn mir nie verraten und weil seine Gefühlsregung der eines Ambosses glich, hatte ich ihm diesen Namen verpasst. Ich konnte mich nicht entscheiden, ob ich Herrn Immer-schlecht-gelaunt mochte oder nicht. Er sah verdammt gut aus. Sein dunkles Haar lag ordentlich seitlich nach hinten gekämmt und seine scharfe Kieferpartie passte zu seinem eisigen Blick. Noch nie hatte ich so stechend graue Augen wie bei ihm gesehen. Meine Eingeweide zogen sich regelmäßig zusammen, wenn sich unsere Blicke zu lange ineinander verloren. Leider rutschte das alles ganz schnell in den Hintergrund, sobald er der Mund aufmachte. Er sagte nie etwas Nettes, wenn ich in der Nähe war. Grundlegend vermittelte er mir das Gefühl, unerwünscht zu sein. Aber ich hatte ihn schon oft in anderen Situationen beobachtet, in denen er ausgiebig gelacht hatte. In diesem Moment wirkte er zugänglich und seine Attraktivität nahm um einiges zu. Einmal hatte ich ein ernstes Gespräch mitbekommen, in dem er die Sorge einer seiner Freunde teilte und Ratschläge gab. Seine sonst so kantigen Züge wirkten viel weicher und strahlten eine warme Art aus, die man sonst vergeblich bei ihm suchte. Ich glaubte, dass diese harte Schale einen weichen Kern besaß.

»Ich hoffe doch, dass jetzt erst recht keine Ruhe ist und er euch von seiner wundervollen Verabredung berichten wird.« Die drei Männer lachten. Der andere starrte mich feindselig an. Er strich sich nachdenklich über die Unterlippe.

»Bist du zu unserer Unterhaltung abgestellt oder bekommen wir was zu trinken?«

Sofort verstummten die anderen.

Ich holte tief Luft und setzte mein schönstes Lächeln auf. Ich wusste, dass er ein Griesgram war, daher nahm ich ihm seine Sprüche nicht übel, ganz im Gegenteil, ich holte zum Gegenschlag aus.

»Selbstverständlich bekommen Euer Hochwohlgeboren seine Rohrperle«, sagte ich und verbeugte mich tief.

Die drei anderen versuchten, ein Lachen zu unterdrücken, während der Grauäugige mich weiterhin feindselig musterte. Er trank immer das Gleiche. Wasser.

»Für die anderen Herrschaften Wein?«, fragte ich, obwohl ich die Antwort schon kannte. Sie nickten und ich konnte es mir nicht verkneifen, dem anderen noch einmal ein Lächeln zu schenken, bevor ich zur Theke zurückeilte.

»Ein Wasser und drei Wein«, erklärte ich Thomas und dieser nickte. Ich schaute wieder zu den Wanderarbeitern. Gregor redete mit Raik und Kilian, doch Amboss beobachtete Alexander und seine Freunde. Warum hatten die attraktivsten Männer immer einen Sprung in der Schüssel?

Kapitel2

Toceras

Ich begleite dich nach Hause.« Alexander war wie vermutet einer der letzten Gäste gewesen und hatte, bis ich mit der Abrechnung fertig gewesen war, vor der Tür auf mich gewartet. Seine Augenringe verrieten, dass er schon längst im Bett hätte liegen sollen.

Ich war gerade vor die Tür getreten, die der Besitzer von innen abschloss. Meinen Lohn verstaute ich in der Tasche meines Rockes.

»Alexander, das kann so nicht weitergehen! Du musst nicht auf mich aufpassen. Früher habe ich dich sturzbetrunken nach Hause gebracht, da hat es dich auch nicht interessiert, wie ich in mein Bett gekommen bin«, keifte ich und kreiste meine Schultern, um sie zu lockern. Kurzerhand wanderte mein Blick zu den Fenstern im oberen Stockwerk, den die Wanderarbeiter bewohnten. Neben dem Beschwipsten Hirsch gab es drei weitere Bauern, die Fremdenzimmer vermieteten, doch sie kamen immer, wenn sie in der Gegend waren, hier unter.

Es brannte kein Licht und niemand beschwerte sich über meine viel zu laute Stimme, die ich angeschlagen hatte, daher ging ich davon aus, dass sie bereits schliefen.

»Die Zeiten haben sich geändert«, flüsterte Alexander bestimmt.

»Nein, du hast dich geändert! Ich brauche keinen Begleitschutz«, entgegnete ich und schwang mir meine Tasche über die Schulter. Ein stechender Schmerz fuhr mir durch die Brust, ich wollte ihn nicht so angehen, aber er verstand mich nicht.

Der Sturm tobte nicht mehr und wir besaßen eine Nachtwache, die patrouillierte. Zudem lag mein Zuhause nicht weit von dem Beschwipsten Hirsch. Es gab keinen Grund für ihn, mich zu begleiten.

Ein Krächzen hallte über den Nachthimmel. Etwas flog über unsere Köpfe hinweg. Das Licht der Straßenlaterne reichte nicht aus, um es richtig erkennen zu können, doch ich wusste es auch so. Raben.

»Warum stößt du mich von dir? Vor einem halben Jahr …«, begann er mit fester Stimme.

»… warst du mein Freund und hast nicht mit aller Gewalt versucht, mich zu ehelichen.« Sengende Hitze machte sich in mir breit. Warum konnte er es nicht gut sein lassen?

»… hättest du es schön gefunden, wenn ich dich nach der Arbeit heimgebracht hätte.« Seine großen bernsteinfarbenen Augen füllten sich mit Enttäuschung.

Eigentlich sollte ich dankbar für die Begleitung und seine Fürsorge sein, doch ich war es nicht. Er handelte aus den falschen Beweggründen. Mit Karen sollte er eine Hochzeit planen. Die beiden waren füreinander bestimmt. Mich wollte er nur heiraten, um das Versprechen, das er meinem Vater auf dem Totenbett gegeben hatte, einhalten zu können. Niemals würde ich so egoistisch handeln und ihm sein Leben wegnehmen.

»Mir wird auf den zehn Minuten Fußweg nichts passieren.« Entschlossen stiefelte ich los. Für sinnlose Diskussionen fehlte mir die Kraft. Ich sehnte mich nach einer Waschschüssel, um mir den salzigen Schweiß vom Körper zu schrubben, und nach meinem Bett.

Alexander hielt mich am Oberarm zurück und drehte mich zu sich. »Wann können wir wieder normal miteinander umgehen?«

»Du bist doch der, der sich verändert hat.« Ich befreite mich aus seinem Griff.

»Ich habe deinem Vater ein Versprechen geg-« Er brach mitten im Satz ab und hielt mich am Handgelenk fest.

Was war denn jetzt los? »Lass mi-«, Alexander drückte mir eine Hand auf den Mund und dann hörte ich es ebenfalls.

Es klang wie ein Riesenschwarm Heuschrecken, der über unsere Köpfe hinwegflog. Toceras! Meine Muskeln versteiften sich, die Beine stellten ihren Dienst ein. Es passierte wirklich!

Alexander zog mich in die Stallung gegenüber des Beschwipsten Hirsch.

Mir verschwamm die Sicht, ein Kribbeln fuhr mir von den Armen bis zum Haaransatz. Nein, das darf nicht passieren! Ich fühlte mich einer Ohnmacht nahe. Rabenstein war eines der kleinsten Dörfer, wir konnten diese Wesen nicht durch den Winter bringen. Immer wieder hatten unsere Ältesten uns versichert, dass wir uninteressant für sie wären.

Wie hatten sie an unserem Verteidigungstrupp vorbeikommen können? Nicht einmal der Alarm war ausgelöst worden. Noch sahen wir keines der Wesen, aber das Rascheln der Flügel war eindeutig zu hören.

»Bleib ruhig«, flüsterte mir Alexander zu. Angst stieg in mir auf, meine Finger zitterten. Ich musste zu meiner Familie. Rabenstein besaß einen Notfallplan, wo waren die Verteidigungsmächte?

Der Alarm ging zeitgleich mit meinem Gedankenkarussell los. Endlich wurden die Bürger gewarnt. Die Sirene heulte auf. Menschen rannten von Haus zu Haus, klopften, riefen etwas, was ich nicht verstehen konnte.

Alexander und ich versteckten uns so neben dem Scheunentor, dass wir sehen konnten, was auf der Straße vor sich ging. Männer von der Stadtwache rannten schwer bewaffnet zum Eingang des Dorfes. Jemand schrie, dass ein Feuer ausgebrochen wäre.

»Leo, versuch, ruhig zu bleiben!« Alexander trat hinter mich und legte mir seine Hände über die Schlüsselbeine. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie unkontrolliert meine Atmung ging. Ich konzentrierte mich auf den sanften Druck, den er ausübte. Es half kaum. Die Angst, die Panik und die Sorge um meine Familie überrannten mich.

Staub, Dreck und Blätter flogen umher. Ich hörte die schlagenden Flügel und wollte mich übergeben. Die Feinde waren da und einige von ihnen landeten gerade direkt vor dem Beschwipsten Hirsch.

Ich presste die Lippen aufeinander, um nicht loszuschreien. Fünf der menschengroßen Wesen richteten sich direkt vor der Wirtschaft auf, die ich vor wenigen Minuten erst verlassen hatte. Hier landete gerade unser Todesurteil und ich wollte verdammt noch mal nicht sterben!

Alexander zog mich weiter vom Scheuneneingang weg. Pfeile wurden abgeschossen, Menschen schrien und griffen an. Meine Sicht war beschränkt, doch das Bild der Wesen hatte sich in mein Gedächtnis gebrannt.

Die fünf wehrten jeden Angriff mühelos ab. Durch eine Laterne in der Nähe konnte ich jede ihrer Bewegungen gut sehen.

Zeichnungen von Toceras gab es viele, nur stimmten sie nicht mit dem überein, was unweit von uns stand. Ihre Flügel erinnerten stark an die von Heuschrecken. Zu jeder Seite besaßen sie zwei, die sich jetzt am Rücken übereinanderlegten, wenn sie sie nicht nutzten. Die Oberkörper ähnelten denen von Menschen, doch die Oberschenkel waren deutlich muskulöser und glichen denen eines Wolfs, der auf den Hinterläufen stand, allerdings ohne Fell. Sie trugen kurze Beinkleider und Hemden. Beinahe wirkten sie auf eine gewisse Art menschlich, doch das täuschte. Ihre Gesichter zeichnete eine Mischung aus Heuschrecke und Mensch. Eine breite, lange Wölbung mit Löchern bildete die Nase. Die Augen- und Mundpartie war deutlich ausgeprägter, einem Menschen aber ähnlich. Aus der Stirn ragten kleine breite Fühler. Man erzählte sich, dass sie über weite Distanzen so miteinander kommunizieren konnten.

Ein Toceras ging zu Boden. Gespannt beobachtete ich die Situation. Ich hoffte so sehr, dass unsere Verteidigung sie in die Flucht schlagen konnte. Doch der Kampf wirkte ungleich. Mit zitternden Fingern griff ich nach hinten und krallte mich an Alexander fest, um nicht umzufallen.

Er zog mich so nah an sich, dass ich deutlich seinen schnellen Herzschlag spüren konnte. Keiner von uns beiden wagte es, ein weiteres Wort zu sagen, selbst meine Atmung hatte ich nur auf das Nötigste beschränkt.

Sicherheit bot unser Versteck nicht, das wusste ich. Nur wie konnten wir entkommen, ohne dass uns eines der Wesen angriff? Die Lage spitzte sich zu. Direkt vor der Scheune fiel ein Mann zu Boden. Was genau passiert war, konnte ich nur erahnen. Blut kroch langsam auf meine Schuhe zu. Meine Sicht wankte.

»Wir müssen weg!«, keuchte ich. Panisch suchte ich nach der Hand meines Freundes.

Alexander griff zu. »Wir werden uns nicht trennen. Auf mein Kommando rennen wir los.« Er übernahm die Führung, das war gut.

Ich nickte. Mein Vertrauen lag ganz bei ihm.

In dem Augenwinkel nahm ich eine Bewegung wahr. Zwei Raben saßen auf einem der Balken in der Stallung. Fokussiert verfolgten sie den Kampf. Seltsam, wo sie sich sonst schnell aus dem Staub machten, wenn es laut wurde.

»Jetzt!« Alexander rannte los. Stolpernd versuchte ich, das Gleichgewicht zu finden. Ich hätte mich nicht ablenken lassen dürfen!

Türen knallten, verbarrikadierte Fenster wurden aufgerissen. Die Toceras wüteten ohne Unterlass, während wir uns durch eine Traube dieser Wesen zwängten.

Ich nahm alles nur noch schemenhaft wahr. Wir rannten, so schnell wir konnten, zwischen den Kämpfenden hindurch. Schreie, Stöhnen, die kratzigen Stimmen der Wesen, alles dröhnte in meinem Kopf.

Weitere Toceras trafen ein, ob aus der Luft oder zu Fuß, es wurden immer mehr. Panik vernebelte mir die Sinne. Ich stolperte und fiel zu Boden. Dumpfer Schmerz zog durch meine Knie.

»Leonore!« Alexander stürzte auf mich zu und zog mich auf die Füße.

»Was ist das?« Ich hob meine Hand in die Höhe. Sie klebte voller Blut. Ich schaute an mir hinunter und folgte dann der Spur, die zu einer Frau gehörte. Aus weit aufgerissenen Augen starrte sie mich an. Sofort trat ich zurück.

»Ist sie tot?« Meine Stimmlage war vollkommen überspitzt. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen.

»Wir müssen weiter!«, befahl Alexander und zerrte an meinem Oberarm. Das war der reinste Albtraum. Wenn wir doch nur endlich aufwachen würden!

Staub wirbelte umher, Schreie durchschlugen die Nacht, diesen Krieg konnten wir nicht gewinnen. Sie waren zu viele.

Kapitel3

Der Brand

Komm jetzt, wir sind gleich bei dir«, schrie Alexander. Ein verzweifelter Befehl mitten im Kampfgebiet. Sein Gesicht von Schmutz bedeckt, seine Lippe aufgeplatzt. Vielleicht hatte er sich da draufgebissen. Ich war zu überfordert, um klare Gedanken zu fassen.

Wo befanden wir uns überhaupt? Ich schaute mich um. Eine Straße von meinem Elternhaus entfernt. Eine dicke Rauchsäule kam aus der Richtung. Nein!

Ich handelte, ohne nachzudenken, raffte meine Röcke und rannte an Alexander vorbei. »Bitte nicht!«, flehte ich, als ich in die Straße einbog. Mir rann die Angst durch die Adern, die Enge in meiner Brust wurde unerträglich.

Unser Elternhaus stand in Flammen. Dicke Rauchschwaden wirbelten neben den hochzüngelnden Flammen gen Himmel. Meine Schwester, Großmutter und Mutter, wo waren sie? Toceras standen um das Gebäude. Einige Nachbarn versuchten, das Feuer mit Eimern voller Wasser zu löschen. Es war ein hoffnungsloser Versuch.

»Lissi!«, schrie ich und sammelte meine letzten Kräfte.

Etwas wickelte sich um meine Beine und ich stürzte. Seitlich schlitterte ich über die Straße. Schmerz zog sich von meinem Knie bis zum Ellenbogen. Verdammt!

»Lass sie gehen!« Alexanders Stimme drang nur dumpf zu mir durch. Mein Herz raste, das Blut rauschte mir in den Ohren. Staub drang in meinen Mund und meine Nase. Ich musste husten und würgen. Das Brennen meiner Gliedmaßen wurde noch deutlicher. Ich ignorierte es und starrte zu dem brennenden Haus.

Jemand redete in einer mir fremden Sprache. Ich hörte nicht zu. Meine ganze Welt brach gerade in zwei Teile und mit ihr mein Herz. Grobe Hände zerrten mich auf die Beine. Ich japste nach Luft.

»Dreckiges Stück!« Ein Toceras packte mich an meiner Jacke und zog mich zu sich ran. »Was hattest du vor? Fliehen ist zwecklos.« Seine Stimme klang kratzig und rau.

»Lass sie los!«, brüllte Alexander erneut. Erst jetzt sah ich, dass er von zwei anderen festgehalten wurde. Er trat und wand sich in ihren Fängen, hatte aber nicht die geringste Chance.

»Wenn es nicht so wenig brauchbare Männer und Frauen in eurem Dorf gäbe, würden wir euch beide zuerst beseitigen. Ich rieche den Ärger mit euch bereits.« Eine der anderen Kreaturen hatte zu Alexander gesprochen.

Meine Aufmerksamkeit lag bei dem Haus, aus dem durch jede Öffnung Flammen züngelten. Fassungslos und am Ende meiner Kräfte, verlor ich die Hoffnung.

Heiße Tränen liefen über meine Wangen. Ich konnte meine Familie nicht sehen. Wenn sie sich noch im Haus befanden, verbrannten sie gerade vor meinen Augen und ich konnte nichts anderes machen, als zuzusehen. Mir schnürte sich die Kehle zu. Ich durfte nicht so denken.

Mit letzter Kraft riss ich mich los. Ich trat meinem Peiniger gegen das Bein und er lockerte tatsächlich seinen Griff.

Sofort rannte ich davon. Die Rauchsäulen stiegen hoch in den Himmel. Das Knacken der Holzbalken verhieß nichts Gutes.

»Lissi!«

Ich bremste vor der Eingangstür ab. Hitze schoss mir entgegen und versengte die Härchen auf meinen Armen. Das Haus stand lichterloh in Flammen. Jemand zog mich nach hinten. Alles passierte so schnell, ich wusste nicht, wo mir der Kopf stand. »Mama, Großmutter!« Ich schrie, bis meine Kehle brannte. Es kam keine Antwort.

Eine große Hand packte mich am Oberarm und zog mich von dem Haus weg.

Mein Magen verkrampfte sich, während meine laufenden Tränen jetzt von lautem Schluchzen unterstützt wurden.

Krachend stürzte das Dach ein. Die Funken flogen mit kleinen brennenden Stücken durch die Luft.

»Dummer Mensch«, knurrte ein Toceras und zog mich ruppig auf die Beine. Ich wehrte mich nicht, als er mir die Hände auf dem Rücken zusammenband. Meine Augen waren starr auf das brennende Haus gerichtet.

Erneut eilten Menschen und Toceras mit Wassereimern herbei. Sie versuchten nicht mehr, den Brand zu löschen, sondern nässten alles, was sie für sinnvoll erachteten, um die Gefahr einzudämmen. Wenn das ganze Dorf abbrannte, besaßen sie keine Überwinterungsmöglichkeit.

»Wo ist meine Familie?«, fragte ich einen Nachbarn, der mit einem Wassereimer in der Hand an mir vorbeieilte. Er schüttelte den Kopf und eilte auf das Haus zu. Was wollte er damit sagen? Er wusste es nicht? Oder es gab keine Rettung und sie waren noch dort drin? Sofort geriet meine Atmung außer Kontrolle, mein Hals verengte sich.

»Wo sind sie?«, rief ich ihm erstickt hinterher. Er blieb mir die Antwort schuldig.

»Hör zu, du dummes Stück. Wenn du mir noch einmal versuchst zu entkommen, werfe ich dich in die Flammen, hast du mich verstanden?« Der Toceras schubste mich vor sich her. Mir fehlte die Kraft, um mich gegen ihn zu stellen, daher folgte ich seinen Anweisungen.

Die Bewohner hatten nicht den Hauch einer Chance, diesen ungleichen Kampf zu gewinnen. Das Dorf gehörte den Toceras.

Stunden waren vergangen. Alle Bewohner wurden auf dem Marktplatz versammelt und nach Alter und Gesundheitszustand sortiert. Ein Toceras jonglierte einen Stapel Papiere in der Hand, auf denen er jeden Neuankömmling abhakte. Ich vermutete, dass es sich um eine Einwohnerliste handelte, die sie aus dem Gemeindehaus geholt haben mussten.

Der Morgen brach bereits an und von meiner Familie gab es noch immer keine Spur. Bei jedem Neuankömmling hoffte ich, dass einer von ihnen dabei war, doch bisher ohne Erfolg.

Ich zitterte am ganzen Leib, ob vor Erschöpfung oder Kälte konnte ich nicht unterscheiden. Vier Reihen vor mir saßen Kinder im Alter meiner Schwester. Keines von ihnen gab auch nur einen Ton von sich. Wenn sie weinten, dann lautlos.

Alte und Kranke wurden an den Rand der Versammelten gesetzt. Ich wusste, warum. Man würde sie wegsperren und überließ sie dem sicheren Hungertod. Toceras brauchten Menschen, die tüchtig Arbeiten verrichteten und viel leisten konnten. Sie sortierten schon jetzt fleißig aus, um keine unnötigen Mäuler bei der knappen Ernte stopfen zu müssen. Aus Erzählungen wusste ich, dass sie früher auch kleinere Kinder zu den Alten und Kranken gesteckt hatten, mittlerweile aber nicht mehr. Frauen hatten ihren Dienst verweigert und waren freiwillig in den Hungertod gegangen, als man ihnen die Kinder weggenommen hatte. Seither ließen sie die Kinder bei den Frauen, rechneten aber kein zusätzliches Essen für sie mit ein. Die Mütter mussten ihre Ration mit den Kindern teilen.

»Sie haben die Verteidigungstruppe innerhalb von zehn Minuten ausgeschaltet.«

»Der Alarm kam zu spät …«