Bleibt Oma jetzt für immer? - Friedbert Stohner - E-Book

Bleibt Oma jetzt für immer? E-Book

Friedbert Stohner

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Beschreibung

Omas Geschichte oder Wenn man sich im eigenen Leben verirrt Eigentlich sollte Oma nur so lange zu Klaras Familie ziehen, bis ihr gebrochener Fuß wieder heil ist. Doch etwas stimmt nicht: Ist Oma nur schusselig, oder verbirgt sich hinter ihrem manchmal seltsamen Verhalten mehr? Bald wird zur Gewissheit: Oma ist an Demenz erkrankt. Alle müssen sich auf den veränderten Alltag einstellen und erleben dabei verwirrende, aber auch traurig-komische und sogar schöne Momente. Denn obwohl Omas Krankheit fortschreitet, bleibt immer etwas von ihrer alten, ganz eigenen Persönlichkeit, ihrem Witz und ihrem Charme erhalten. Das Jahr mit ihr geht allen unter die Haut und ist doch tröstlich, weil es zeigt: Ein würdevoller Umgang mit einem dementen Menschen ist möglich.

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EPUB
MOBI

Seitenzahl: 208

Veröffentlichungsjahr: 2022

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Über das Buch

Eigentlich sollte Oma nur so lange zu Klaras und Antons Familie ziehen, bis ihr fieser Knöchelbruch verheilt ist. Doch Oma tut plötzlich seltsame Dinge, und bald weiß man, dass sie nicht nur ein bisschen schusselig ist, wenn sie auf Socken in den regennassen Garten läuft. Oma ist krank, und die Krankheit, die sie hat, nennt man Demenz.

Omas Enkelin Klara erzählt in diesem Buch von einem Jahr, in dem nichts bleibt, wie es ist. Es ist ein Jahr der Sorgen, weil die Krankheit fortschreitet, aber da sind auch Omas Missgeschicke, bei denen man gar nicht anders kann, als die alte Dame lachend in den Arm zu nehmen. Es gibt traurige Momente mit Oma, und es gibt die schönen, wenn man spürt, wie viel sie sich von ihrem Witz und Eigensinn bewahrt hat.

»Eine heitere, aber tief berührende Geschichte über den Zusammenhalt einer Familie angesichts von Demenz und Tod. Und über die Selbstverständlichkeit menschlicher Würde auch derer, die nicht mehr so klar denken können.«Dr. med. Marianne Koch

1

Auf die Idee, dass Oma länger bei uns wohnen könnte, bin ich selbst gar nicht gekommen. Das war Anton, mein kleiner Bruder. So vier, fünf Wochen würde es wohl dauern, hatten uns Mama und Papa erklärt, eben bis Omas verzwickt gebrochener Fuß wieder heil ist. Als es dann ein paar Wochen mehr waren, fand ich auch noch nichts dabei. Oma war schließlich schon über achtzig, und ich hatte die Röntgenbilder von dem Fuß vor und nach der Operation gesehen: Vorher sah er aus, als hätte ihn jemand von der Ferse her in lauter einzelne Stücke zerhauen, und hinterher, als hätte jemand alles wieder zusammengepuzzelt und gut verschraubt.

Dabei war Oma nur von der letzten Stufe ihrer Kellertreppe geradeaus weitergegangen, als wäre sie schon ganz unten. Sie ist nicht mal hingefallen, sondern nur gegen das Regal mit dem Eingemachten gerumst, aus dem ihr dann ein Glas Kirschmarmelade auf den Fuß gefallen ist. Das hat ihr überhaupt erst richtig wehgetan, hat sie später erzählt, und erst als sie die Treppe hochwollte, hat sie gemerkt, dass es nicht geht, weil sie mit dem anderen Fuß, also dem, der das Glas Kirschmarmelade gar nicht abbekommen hatte, nicht auftreten konnte.

Oma ist dann die Treppe hochgekrochen und oben durch den Flur bis ins Wohnzimmer zum Telefon, von da hat sie Papa angerufen, sie habe einen kleinen Unfall gehabt, und er ist gleich zu ihr hingeradelt. Er arbeitet ja zu Hause, und Oma hat nur zwei Straßen weiter gewohnt. Weiß wie die Wand habe sie ausgesehen, hat Papa beim Abendessen erzählt, und als er den dick geschwollenen Fuß nicht mal abtasten durfte, hat er den Notarzt gerufen.

»Und warum hat Oma das nicht gleich selbst gemacht?«, wollte mein kleiner Bruder Anton wissen.

»Das hab ich sie auch gefragt«, hat Papa geantwortet.

»Und?«, hat Mama gefragt.

»Sie dachte wohl, es wäre nicht so schlimm«, hat Papa gesagt.

»Nachdem sie auf allen vieren die Kellertreppe hochgekrochen war?«

Mama hob die Augenbrauen genau wie manchmal, wenn Anton oder ich was erzählen, was sie nicht glaubt, und Papa zuckte mit den Schultern. Das machen Anton und ich auch immer, wenn Mama die Augenbrauen hebt, nur dass es überhaupt nichts nützt, weil sie dann erst recht nachbohrt. Auch Papa hat es nichts genützt.

»Robert, bitte! Sie ist gelernte Krankenschwester, da weiß man doch, was los ist, wenn der Fuß so wehtut, dass man nicht mehr auftreten kann. – Wieso hat sie dich eigentlich vom Telefon aus angerufen? Sie wollte doch auch im Haus immer das Handy bei sich haben, falls mal was passiert.«

»Hatte sie ja auch«, sagte Papa leise.

Dann sagte er nichts mehr, und auch wir anderen drehten eine ganze Weile nur unsere Spaghetti mit Tomatensoße auf die Gabeln und aßen still vor uns hin. Es war ja klar, dass Papa noch nicht alles erzählt hatte, was er wusste, und Mama aber alles hören wollte. Natürlich hätte sie jetzt wieder die Augenbrauen heben können, aber das brauchte sie gar nicht. Stattdessen machte sie es wie bei Anton und mir, wenn sie was aus uns rauskriegen will: Sie wartete einfach ab.

»Das Handy steckte in ihrer Strickjacke, und als ich sie danach gefragt habe, war’s ihr so peinlich, dass sie’s erst gar nicht zugeben wollte«, erzählte Papa, nachdem er sich mit der Serviette den Mund abgetupft und an seinem Wasser genippt hatte. »Es hat nur leider ein Stück aus der Tasche rausgeschaut, und als sie’s tiefer reinschieben wollte, muss ich wohl den falschen Blick aufgesetzt haben – jedenfalls war sie von da an so beleidigt, dass sie, bis der Notarzt kam, überhaupt nicht mehr mit mir geredet hat. Der meinte dann übrigens, das mit dem nicht benutzten Handy könnte auch der Schock gewesen sein. Das hätten sie öfter bei alten Leutchen, dass sie ausgerechnet im Notfall so neben der Spur sind, dass sie vergessen, dass sie eins bei sich haben.«

»Alte Leutchen neben der Spur – und das hat sie gehört?«, fragte Mama.

»Ja«, sagte Papa und musste auf einmal lachen. »Aber so was rutscht dem jungen Herrn Doktor so schnell auch nicht wieder raus.«

»Lass mich raten!«, sagte Mama und lachte auch. »Sie hat ihm erzählt, wie deinem Vater in vierzig Jahren als praktischer Arzt nie ein falsches Wort gegenüber seinen Patienten über die Lippen gekommen ist, weil ein falsches Wort eine ganze Therapie kaputt machen kann.«

»Damit hat sie angefangen, und als der arme Mann die Tür vom Krankenwagen zugezogen hat, war sie gerade bei der schweren ersten Zeit von Papas Praxis, als lange keine Patienten kamen, weil er den Leuten nicht gleich irgendwelche Pillen verschreiben wollte. Keine Ahnung, wie weit sie bis zum Krankenhaus gekommen ist, ich musste ihr ja erst eine Tasche packen und hierher zurück, das Auto holen. Aber ich ahne, warum sie ihr für die Operation eine Vollnarkose verpasst haben.«

Das hatten sie nämlich, und als Papa hinterher zu ihr durfte, war sie immer noch nicht aufgewacht. So hat er’s uns erzählt, aber erst mal haben wir uns über den Witz mit der Vollnarkose schlappgelacht.

Besser gesagt, Mama, Papa und ich haben uns schlappgelacht. Anton hat nur ernst von einem zum anderen geschaut, und als wir uns wieder eingekriegt hatten, meinte er:

»Ihr seid fies.«

Ich weiß nicht, wie ich’s erklären soll, aber manchmal kommt es mir so vor, als könnte Anton bei bestimmten Sachen nur kerzengeradeaus denken. Wenn es darum geht, was man tut und was nicht zum Beispiel: Etwas ist schlimm, also zum Beispiel ein gebrochener Fuß oder wenn jemand ins Krankenhaus muss, und wenn was schlimm ist, gibt’s darüber nichts zu lachen. Oder wenn man darüber lacht, ist es fies. So ungefähr tickt mein kleiner Bruder, und klar, besonders nett war der Witz über Omas Vollnarkose wirklich nicht.

»Wo du recht hast, hast du recht, mein Schatz«, sagte Mama und nahm Anton um die Tischecke herum in den Arm. »Manchmal hilft es nur, ernste Dinge auch von ihrer komischen Seite zu sehen, weißt du.«

»Was wir hier verzapfen, tut Oma ja nicht weh«, sagte Papa, der trotzdem aussah, als hätte er ein bisschen ein schlechtes Gewissen.

»Und außerdem macht sie selber gern solche Witze«, sprang ich Mama und Papa bei.

Das stimmte nämlich, und wir hatten sogar ein Wort dafür erfunden: »Omawitze«. Zum Beispiel hatte Papa mal vergessen, dass er nach einem Ausflug noch unsere Fahrräder auf dem Dachgepäckträger hatte, und war ganz normal in die Garage gefahren. Natürlich nur ein Stück, aber die zwei Erwachsenenräder waren trotzdem kaputt, und als wir’s Oma erzählten, sagte sie, da habe er ja noch mal Glück gehabt. »Wieso Glück?«, hat Papa gefragt, und sie: »Na, stell dir vor, es wäre dir umgekehrt passiert, mit den Fahrrädern unten – dann wäre jetzt das Auto hin.«

So einen Humor hatte Oma, und eigentlich musste man das Anton nicht erklären. Trotzdem schaute er noch genauso ernst wie schon die ganze Zeit und fragte nur:

»Und wie lange muss sie jetzt im Krankenhaus bleiben?«

»Nicht so lange«, sagte Papa. »Ein paar Tage, bis sie sicher sind, dass sie die Operation gut überstanden hat. Danach …«

Papa machte eine kleine Pause, als müsste er sich erst überlegen, was danach war, aber Mama redete für ihn weiter.

»Danach zieht sie erst mal zu uns«, sagte sie. »Mit dem frisch operierten Fuß kommt sie ja unmöglich allein in ihrem großen Haus zurecht.«

So war das. So hat alles angefangen, und als Oma schon eine ganze Weile länger als vier, fünf Wochen bei uns wohnte, gab’s abends auch Spaghetti mit Tomatensoße, das weiß ich noch, weil Oma uns dann immer erzählt hat, dass Opa seine Spaghetti unbedingt echt italienisch ohne Löffel auf die Gabel drehen wollte, auch mittags, wenn er nach dem Essen wieder Sprechstunde hatte. Und jedes, aber auch wirklich jedes Mal habe er sich dabei den weißen Arztkittel bekleckert, den er dann natürlich wechseln musste, damit die Patienten nicht dachten, es wäre frisches Blut von irgendwem vorher. Auch an dem Abend hat sie’s wieder erzählt, und da hat Anton plötzlich gefragt:

»Bleibt Oma jetzt für immer?«

2

Mama und Papa schauten für einen Moment, als hätte Anton seine Frage irgendwie nörgelig gemeint, aber dann sagte er auch schon so unschuldig: »Was ist denn?«, dass sie wussten, dass sie ihm unrecht taten. Er hatte nur wieder mal so kerzengeradeaus gefragt, wie er auch denkt, und sie, also Mama und Papa, wollten anscheinend nicht genauso kerzengeradeaus antworten. Oder zumindest nicht jetzt. Sie mussten es aber auch gar nicht, das übernahm Oma nämlich selbst.

»Natürlich nicht«, sagte sie. »Ich hab schon gepackt und für nach dem Essen ein Taxi bestellt.«

Da dachten Mama und Papa wohl, das solle einer von ihren Witzen sein, und lachten. Es war aber kein Witz, wie sich herausstellte.

Aber vielleicht sollte ich erst erzählen, wie es in den Wochen, die Oma da schon bei uns wohnte, gewesen war.

Eingezogen war sie, genau wie Papa vorhergesagt hatte, ein paar Tage nach der Operation, da steckte der Fuß mit den zusammengepuzzelten Knochen in so einem vorne offenen Plastikstiefel, und mit den Krücken, die sie aus dem Krankenhaus mitbrachte, musste sie erst mal gehen lernen. Das große Glück war, dass wir ein Gästezimmer mit eigenem Bad und Toilette im Erdgeschoss haben und dass Papas Arbeitszimmer gleich daneben liegt. Ich hab ja schon erzählt, dass er zu Hause arbeitet, genauer gesagt, schreibt er Kinderbücher, und man soll ihn zwar nicht dauernd stören, aber wenn man trotzdem was von ihm will, ist es nicht schlimm. Wahrscheinlich hat Oma ihn ein bisschen zu oft gestört, aber er hat sich nie darüber beklagt, und Oma musste auch nie lange nach ihm rufen. Das weiß ich deshalb, weil man sie bis nach oben in den ersten Stock hören konnte, wo Anton und ich unsere Zimmer haben. Bis sie Opa begegnet war, hatte Oma neben ihrer Arbeit als Krankenschwester Gesangsunterricht genommen, weil sie vielleicht mal Opernsängerin werden wollte, und die schöne, aber auch ganz schön laute Opernsängerinnenstimme war ihr geblieben. Wenn sie unten »Robert, kannst du bitte mal kommen?!« rief, bin ich oben jedes Mal zusammengezuckt.

Zu ihrem Sessel am Fenster zum Garten oder ins Badezimmer hat Oma es bald allein geschafft, aber für längere Strecken, wie zum Beispiel zum Esstisch im Wohnzimmer, war es noch eine ganze Weile besser, wenn wir ihr zu zweit geholfen und sie ohne Krücken in die Mitte genommen haben. Ich weiß nicht, wie viel Wochen es gedauert hat, bis sie mit den Krücken und in winzig kleinen Schiebeschrittchen ins Wohnzimmer gehen konnte, aber fünf waren es bestimmt. Sie kam einem immer noch so wackelig vor, dass man gar nicht hinsehen mochte, aber sie wollte sich auf keinen Fall mehr helfen lassen, und Papa hat nur vorsichtshalber den Schirmständer neben der Haustür weggeräumt und Anton und mich vergattert, dass wir unsere Schuhe schön unter die Garderobenbank stellen, vor allem Anton, meine standen ja schon vorher meistens dort (oder okay: manchmal).

Es ist auch lange nichts passiert, bis Papa mal unsere Biogemüsekiste angenommen und schnell auf der Garderobenbank abgestellt hat, weil er gerade telefonierte und das Gespräch im Arbeitszimmer zu Ende führen wollte, bevor er die Kiste in die Küche trug. Das Gespräch dauerte dann nur viel länger, als er dachte, und dass Oma ausgerechnet da zum Fernsehen ins Wohnzimmer wollte, war einfach Pech. Die Gemüsekiste war nämlich ein Stück breiter als die Garderobenbank, oder vielleicht stand sie auch nur schief, jedenfalls ist Oma mit einer Krücke daran hängen geblieben. Wie genau es danach weiterging, weiß ich nicht. Ich hab oben in meinem Zimmer nur ein Poltern und gleich darauf Omas laute Stimme gehört.

»Rooobert!«, hat sie gerufen und keine fünf Sekunden später: »Herrschaftszeiten, hörst du nicht?!«

»Bin ja schon unterwegs!«, kam es von Papa zurück, dann muss er aus dem Zimmer gewesen sein und Oma gesehen haben. »Um Himmels willen, Mutter!« war das Nächste, was ich von ihm hörte.

Da bin ich schnell zur Treppe gelaufen und hab Oma von oben auf der Garderobenbank sitzen sehen. Oder eigentlich in der Gemüsekiste auf der Garderobenbank. Vor ihr auf dem Fußboden lagen ihre Krücken, und von hinten im Flur kam Papa angerannt.

»Was ist denn passiert?«, hat er gefragt und Oma bei den Schultern genommen.

»Nichts«, hat sie geantwortet. »Ich wollte nur wissen, wie man auf Tomaten sitzt.«

Davon waren nämlich besonders viele in der Kiste, das konnte ich sehen, als Papa Oma auf die Füße geholfen hatte. Das heißt, da war es schon mehr Tomatenpamp, und ein Teil davon hing hinten am Po an Omas apricot-farbenem Hausanzug.

»Vorsicht, dein Fuß!«, sagte Papa, als Oma sich, ohne ihre Krücken auch nur anzuschauen, an ihm vorbeidrängte und sich mit beiden Händen an der gegenüberliegenden Wand abstützte.

»An meinen Fuß hättest du denken sollen, als du mir die dämliche Kiste in den Weg gestellt hast!«, hat sie geschimpft und angefangen, sich an der Wand entlang zu ihrem Zimmer zu tasten.

Ich war inzwischen die Treppe runtergelaufen, und keine Ahnung, ob Oma gleich mit den Händen in den Tomatenpamp gefasst hatte oder ihn erst nach dem Aufstehen von der Hose wischen wollte, jedenfalls war da, wo sie sich schon an der Wand entlanggetastet hatte, ein Muster aus roten Handabdrücken, die zur Tür ihres Zimmers hin immer blasser wurden. Die Wände in unserem Haus sind alle weiß gestrichen, und ich weiß noch, dass ich dachte, mit dem bunten Händemuster sieht der Flur eigentlich schöner aus.

Was Papa gerade dachte, weiß ich nicht. Er hatte Omas Krücken aufgehoben und stand da, als müsste ihn jemand zwicken, damit er wieder lebendig wird. Erst als Oma in ihr Zimmer abgebogen war, drehte er sich zu mir um, und ich sah, dass seine Augen glitzerten. Ganz ehrlich kann ich bis heute nicht sagen, was das für ein Augenglitzern war. Ich hab ihn sogar gefragt: »Lachst du jetzt oder weinst du?«, aber er hat nur abgewinkt und ist Oma hinterhergegangen.

Ich hab dann die Kiste in die Küche getragen und im Flur den Boden aufgewischt, die Tapse an der Wand hab ich lieber gelassen und nur die Tomatenkerne und ein paar Fitzelchen Tomatenhaut weggezupft. Als kurz darauf Mama von der Arbeit und Anton von der Schule nach Hause kamen, haben wir zu dritt versucht zu retten, was von den Tomaten noch zu retten war. Es reichte für genau fünf Teller nicht besonders dicke Suppe zum Abendessen, aber mit Oma und ihrem Fuß war alles in Ordnung, das war natürlich das Wichtigste.

»Und die Hose hast du gleich eingeweicht?«, fragte Mama, während sie die Suppe in die Teller schöpfte.

»Sie liegt noch im Waschbecken«, sagte Oma, die schon im Bademantel überm Nachthemd am Tisch saß. »Und ich hab extra kein Waschmittel dazugegeben.«

»Nein?«, fragte Mama.

»Nein«, sagte Oma. »Ich dachte, vielleicht mögt ihr morgen noch mal Tomatensuppe.«

Diesmal waren es ganz klar Lachtränen, von denen Papas Augen glitzerten, und wir anderen lachten mit. Sogar Anton! Wir haben uns echt weggeschmissen, und als wir endlich weiteressen konnten, sagte ausgerechnet er, also Anton:

»Viel dünner als die heute wird die auch nicht!«

Ich dachte, ich hör nicht recht, und Mama und Papa genauso. Wir müssen ihn angeschaut haben wie einen Alien.

»Was ist denn? Ich darf doch wohl auch mal einen Omawitz machen«, hat er sich verteidigt.

Da ging das Gelächter noch mal von vorne los, und bis wir wieder unsere Löffel gerade halten und zu Ende essen konnten, war die Suppe kalt.

Das war die Geschichte mit den Tomaten, und sie passierte im Juli, so zwei, drei Wochen vor den Sommerferien. Bei uns eingezogen war Oma im Mai, gleich nach ihrem Geburtstag, den man sich gut merken konnte, weil er am 1. Mai war. Machte zusammen über zwei Monate, die sie bei uns war, und bis dahin kam sie jedenfalls mir ganz normal wie die Oma vor, die ich schon immer kannte.

Das Abendessen, als Anton fragte, ob sie jetzt für immer bleibt, war dann am ersten Ferienwochenende samstagabends, und eigentlich hatte sich in der Zeit nichts verändert. Also hielt ich das mit dem Packen und dem bestellten Taxi erst auch für einen Witz, genau wie Mama und Papa. Bei mir war’s nur so, dass ich mehr lächeln als lachen musste, denn ein richtiger Brüller war’s ja nun auch wieder nicht. Der Einzige, der keine Miene verzog, war Anton.

Dann hat es an der Haustür geklingelt, und Oma ist aufgestanden.

»Das muss das Taxi sein«, hat sie gesagt. »Vielen Dank, war schön bei euch!«

3

Ich glaube, wenn jetzt eine Spaghetti runtergefallen wäre, hätte man sie auf den Boden klatschen hören. Dann klingelte es zum zweiten Mal, und Oma wollte aufstehen, aber Papa legte ihr die Hand auf den Arm und sagte ganz ruhig, dass sie langsam machen soll, er geht dem Taxifahrer sagen, dass es ein bisschen dauern kann.

»Ein alte Frau ist schließlich kein D-Zug!«, hat er, schon halb im Flur, über die Schulter gerufen, und Oma hat geseufzt und genickt.

Außer »Omawitze« gibt es noch ein anderes Wort, das wir selbst erfunden haben, nämlich »Omasprüche«, und das mit der alten Frau und dem D-Zug war einer davon.

Es klingelte noch ein drittes Mal, aber da war Papa schon an der Tür und machte auf. Dann muss er rausgegangen sein, denn wir hörten zwar Stimmen, aber nicht, was gesprochen wurde, oder nur das eine Mal, als es kurz still war und Papa wieder in den Flur kam. Da sagte eine fremde Stimme: »Wenn Sie’s vielleicht passend hätten?«, und Papa antwortete: »Kein Problem!«

Das konnte nur heißen, dass er den Taxifahrer bezahlte, und ich dachte: Hallo? Taxis bezahlt man ja wohl nur, wenn die Fahrt zu Ende ist!

Genau das muss auch Anton gedacht haben, aber im Unterschied zu mir platzte er damit heraus. Als Papa die Haustür zumachte, verkündete mein kleiner Bruder lauthals: »Er hat das Taxi weggeschickt!«

Manchmal ahnt Mama, wenn Anton gleich mit was rausplatzen will, was er besser für sich behalten würde, dann legt sie unauffällig den Finger auf den Mund. Aber jetzt gerade ging es ihr wahrscheinlich wie mir, und sie überlegte, was Papa wohl zu Oma sagen würde, jedenfalls verpasste sie den richtigen Moment, und als ihr Finger oben bei den Lippen war, fragte Anton schon: »Was ist denn? Stimmt doch!«

»Ja, mein Schatz!«, seufzte Mama, und das Komische war nur, dass sie dabei nicht ihn ansah, sondern Oma. Und Mama sieht einen sonst immer an, wenn sie mit einem spricht.

Aber noch viel komischer war, dass Oma überhaupt nichts sagte. Wo sie doch eigentlich hätte protestieren müssen. »Was fällt dir ein, das Taxi wegzuschicken!« oder so ähnlich. Stattdessen schaute sie nur wie jemand, der mit seinen Gedanken ganz woanders ist und gar nicht versteht, was die Leute um ihn herum von ihm wollen. In der Schule schauen manche so, wenn sie was gefragt werden und erst gar nicht kapieren, dass sie gemeint sind. Wenn mir das passiert, ist es mir oberpeinlich, und hinterher denk ich jedes Mal, hoffentlich hab ich jetzt nicht auch so dämlich ausgesehen wie die anderen immer. Frau Hütlein, unsere Klassenlehrerin in der Grundschule, hat den Blick, mit dem man dann in die Gegend schaut, den verschreckten Eichhörnchenblick genannt. Es war natürlich lustig gemeint, aber besser kann man’s, finde ich, auch im Ernst nicht sagen. Und genau den verschreckten Eichhörnchenblick hatte jetzt Oma.

Papa hat dann mit ihr geredet, ganz ruhig, wie vorher schon, als es geklingelt hatte.

»Der Taxifahrer entschuldigt sich«, sagte er und legte ihr, als er sich hingesetzt hatte, wieder die Hand auf den Arm. »Er hat noch eine andere bestellte Fahrt und konnte nicht lange warten. Im Übrigen war er auch nicht auf großes Gepäck eingerichtet.«

»Nicht?«, fragte Oma immer noch mit dem Eichhörnchenblick.

»Nein«, sagte Papa. »Und wenn du einverstanden bist, bleibst du erst mal noch hier, und wir überlegen morgen, wie wir dich und deine Sachen so bald wie möglich nach Hause bekommen. Wir müssen ja nichts überstürzen, oder?«

»Nein«, sagte Oma und schüttelte den Kopf. »Nein«, sagte sie noch mal, und plötzlich war es wieder ein bisschen wie in der Schule, wenn nämlich so ein Eichhörnchen zu sich kommt und der verschreckte Blick mit einem Mal wie weggewischt ist. Oma lächelte sogar, und als wollte sie beweisen, dass sie wieder bei sich war, sagte sie: »Eine alte Frau ist schließlich kein D-Zug.«

Ich weiß nicht, wie oft ich den Spruch schon von ihr gehört hatte, jedenfalls oft genug, um ihn nicht mehr wirklich witzig zu finden, und wenn Papa ihn vorhin auch gebracht hatte, dann bestimmt nur, um sich bei ihr einzuschmeicheln, damit sie erst mal sitzen blieb und keinen Stress machte. Wenn ich ehrlich sein soll: Oma konnte mit ihren Sprüchen ganz schön nerven.

Aber jetzt gerade nervte sie kein bisschen! Im Gegenteil: Ich war so froh, dass sie wieder wie immer war, dass ich aufstehen und sie knuddeln musste, ganz vorsichtig natürlich, damit ich ihr nicht aus Versehen auf die Füße trat. Alles war wieder gut, und nur weit hinten in meinem Kopf gab’s ein Gedankenfitzelchen, das sich leider nicht so leicht wegzupfen ließ wie vor den Ferien die Tomatenfitzelchen von der Wand im Flur.

Oder eigentlich war es noch mehr so eine Ahnung als ein Gedanke, nämlich dass irgendwas an dem, was gerade bei uns passierte, ein bisschen unheimlich war.

4

Nach dem Abendessen war es an dem Tag so, dass Anton und ich mit Tischabräumen dran waren, aber Papa uns geholfen hat. Mama setzte sich mit Oma aufs Sofa, und während ich Anton die ersten vorgespülten Sachen für die Spülmaschine reichte, hörte ich, wie der Fernseher eingeschaltet und ein bisschen lauter gestellt wurde.

»Gut so?«, fragte Mama.

»Ich bin ja nicht taub«, sagte Oma, und weil Papa genau da die schmutzigen Gläser auf der Arbeitsplatte neben der Spüle abstellte, sah ich, dass er ein ganz anderes Gesicht machte als noch kurz zuvor am Tisch. Da hatte er, nachdem die Sache mit Oma und dem Taxi erledigt war, erst nur erleichtert ausgesehen, aber dann immer fröhlicher von seiner Arbeit erzählt und uns zum Beispiel gefragt, wie wir es fänden, wenn der Kunsträuber in der Detektivgeschichte, die er gerade schrieb, ein fieser Schuldirektor wäre, der den Kindern und Lehrern an seiner Schule sowieso schon lange auf die Nerven fällt. Anton und ich fanden die Idee witzig, aber als Mama fragte, ob er, also Papa, sich etwa vor den Elternabenden drücken wolle, versprach er, sich das mit dem Schuldirektor noch mal zu überlegen und vielleicht einen Museumsdirektor zu nehmen, der sie nicht mehr alle auf der Latte hat und sich zu Hause im Keller noch mal ein eigenes Geheimmuseum einrichtet. Die Idee fanden wir alle genauso witzig, und in jedem Fall hörte es sich an, als hätte Papa einen guten Arbeitstag gehabt.

Umso komischer war es, dass er jetzt, in der Küche, ein Gesicht machte, als hätte er den ganzen Tag nur für den Papierkorb geschrieben. So sagt Papa selbst manchmal, wenn er abends nicht mit sich zufrieden ist, aber mit dem, was er am Tisch erzählt hatte, passte das ja nicht zusammen. Oder hatte er dort …

Der Gedanke, der mir gerade kam, war, ob Papa vielleicht Theater gespielt hatte, aber Anton funkte mir dazwischen.

»Jetzt schlaf doch nicht ein!«, sagte er und nahm mir den Teller aus der Hand, den ich schon länger unter den Wasserhahn gehalten haben musste, jedenfalls war er so sauber, dass man ihn auch gleich hätte abtrocknen und in den Schrank stellen können.

»Reg dich ab, Zwerg!«, sagte ich, schaute dabei aber immer noch Papa an, der sich inzwischen mit beiden Händen auf die Arbeitsplatte stützte, als wäre er entsetzlich müde.

»Sag nicht Zwerg zu mir, Klappergestell!«, wehrte sich Anton.

»Zwerg« und »Klappergestell« sind so ziemlich die harmlosesten Schimpfwörter, die wir füreinander haben, aber es war ja auch kein richtiger Streit.

»Zwerg!«, sagte ich noch mal.

»Klappergestell!«, wiederholte Anton.

Es kommt schon vor, dass wir beide uns richtig fetzen, aber wie gesagt, das gerade war mehr ein harmloses Geplänkel als ein Streit, und normalerweise überhören unsere Eltern so was oder verdrehen höchstens kurz die Augen. Dass Papa sich diesmal einmischte und sogar ein bisschen energisch wurde, kam deshalb auch vollkommen überraschend.

»Klara, Anton, bitte