Bleiernes Schweigen - Patrick Fogli - E-Book
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Bleiernes Schweigen E-Book

Patrick Fogli

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Beschreibung

Wo Angst herrscht, kann nur ein Roman die Wahrheit zeigen ...

Als er die junge Anwältin trifft, die ihn angerufen hat, ist es bereits zu spät: ein Mann stürmt in den Gerichtssaal, tötet sie, ihren Mandanten und sich selbst. Nur einen Satz kann sie ihm noch zuflüstern: „Wer ist Solara?“ Ein Name, der ihn weit in die Vergangenheit zurückversetzt, an jenen Nachmittag, als seine Frau bei einem Autounfall ums Leben kommt und ihn allein mit der gemeinsamen Tochter zurücklässt. Und noch zuvor an einen Sommertag in Palermo, an dem 100 Kilogramm TNT das Leben eines Richters und die Hoffnungen eines ganzen Landes auslöschen. Nur eine Bombe von vielen, die folgen und Italien einmal mehr in den Bann der Angst schlagen, kurz nachdem das gesamte politische System im Tangentopoli-Skandal zusammengebrochen ist ...

Die Wahrheit dieser Tage liegt unter einem Berg von Trümmern begraben, und zu viele haben ein Interesse daran, diese Trümmer nicht zu bewegen. Denn in einem Staat, der auf Lügen und Schweigen basiert, wird die Wahrheit zur tödlichen Bedrohung. Zwanzig Jahre nach den Attentaten auf die Richter Falcone und Borsellino befassen sich die italienischen Gerichte noch immer mit den unglaublichsten „Zufällen“, die die Ermittlungen nach und nach zutage fördern. Doch wenn die Realität unfassbar ist, kann nur ein Roman ihr nahe kommen.

„Die, die mich töten, werden wahrscheinlich Mafiosi sein, aber die, die meinen Tod gewollt haben, werden andere sein.“ Paolo Borsellino.

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Seitenzahl: 826

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Ähnliche


Ferruccio Pinotti • Patrick Fogli

Bleiernes Schweigen

Roman

Aus dem Italienischen von Verena von Koskull

Mit einem Nachwort von Jürgen Roth

Impressum

Die Originalausgabe mit dem Titel

„Non voglio il silenzio“

erschien 2011 bei Edizioni Piemme, Mailand.

ISBN E-Pub 978-3-8412-0398-4

ISBN PDF 978-3-8412-2398-2

ISBN Printausgabe 978-3-351-03387-3

Aufbau Digital,

veröffentlicht im Aufbau Verlag, Berlin, März 2012

© Aufbau Verlag GmbH & Co. KG, Berlin

Die deutsche Erstausgabe erschien 2012 bei Aufbau, einer Marke

der Aufbau Verlag GmbH & Co. KG

Non voglio il silenzio © 2011 by Patrick Fogli & Ferruccio Pinotti

Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jegliche Vervielfältigung und Verwertung ist nur mit Zustimmung des Verlages zulässig. Das gilt insbesondere für Übersetzungen, die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen sowie für das öffentliche Zugänglichmachen z.B. über das Internet.

Umschlaggestaltung hißmann, heilmann, hamburg /

Imke Schuppenhauer

unter Verwendung eines Motivs von Plainpicture / Hoenig, T.

Konvertierung Koch, Neff & Volckmar GmbH,

KN digital – die digitale Verlagsauslieferung, Stuttgart

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Inhaltsübersicht

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Impressum

Inhaltsübersicht

»DIE VERHANDLUNG«

Alles begann mit einem...

Der Mann hat keine...

Diese Geschichte betrifft zwei...

Es hat aufgehört zu...

Dies ist die Geschichte...

Der Junge ist um...

»Ich bin im Zug...

»Die Grundlagen für eine...

Wir müssen es tun...

Nach dem Treffen mit...

ANMERKUNGEN

QUELLENANGABEN

NACHWORT

Fußnoten

»DIE VERHANDLUNG«

Der vorliegende Roman basiert auf Tatsachen, die sich seit 1992 in Italien zugetragen haben. Tatsachen, denen Untersuchungen und Prozesse folgten. Tatsachen, die bis heute Gegenstand von Ermittlungen sind, welche wiederum zur Wiederaufnahme weiterer Untersuchungen und zur Revision wichtiger Urteile führten. Tatsachen, die die Beziehungen zwischen Staat, Mafia, Finanz und Politik betreffen und die die jüngste italienische Geschichte entscheidend geprägt haben.

Im Februar 1986 werden die führenden Köpfe der sizilianischen Cosa Nostra vor Gericht gestellt. Ein historischer Prozess sowohl hinsichtlich seiner Ausmaße (über 400 Angeklagte in einem eigens errichteten, anschlagsicheren Bunker) als auch hinsichtlich des Zeichens, das der Staat damit setzen will: ein Frontalangriff gegen die Cosa Nostra, aus dem die Entschlossenheit spricht, den Kampf gegen das nicht nur in Sizilien, sondern in ganz Italien verwurzelte organisierte Verbrechen aufzunehmen und dessen finanzielle Macht und den Einfluss auf die legale Wirtschaft des Landes zu brechen.

Es ist ein fataler Irrtum, anzunehmen, die Cosa Nostra beträfe nur Sizilien. Da es der Mafia um Geld und Macht geht, agiert sie dort, wo Geld und Macht zu haben sind. Wie jedes erfolgreiche wirtschaftliche Unternehmen hat sie einen Hauptsitz, ein gewisses Herkunftsbewusstsein und ein Gespür für lukrative Investitionen.

Entscheidender Auslöser für den sogenannten Maxi-Prozess waren die Enthüllungen des Kronzeugen Tommaso Buscetta gegenüber dem Richter Giovanni Falcone. Seine Aussage legte erstmalig die interne Organisation, Kommandostruktur, Machtverteilung und Ökonomie der Mafia offen. Zwar gibt Buscetta deren politische Kontakte nicht preis, doch das von ihm entworfene Bild reicht aus, um Dutzende lebenslängliche Freiheitsstrafen und mehrere tausend Jahre Haft zu verhängen. Zum ersten Mal wird mit diesem gerichtlich gefällten Urteil, welches fortan in sämtlichen Mafiaverfahren Gültigkeit hat, das Bestehen der Cosa Nostra und damit der Mafia als kriminelle Organisation anerkannt. Ein Meilenstein für die italienische Rechtsprechung: Die Mafia existiert, so steht es schwarz auf weiß geschrieben, und ihr anzugehören ist ein Vergehen.

Das endgültige Urteil nach drei Instanzen erfolgt am 30. Januar 1992. Die Protektion, die zahlreiche Cosa-Nostra-Leute bis dato genossen haben, scheint ihre Wirksamkeit verloren zu haben.

Und die Cosa Nostra reagiert.

Das Kommando hat der Clan der Corleonesi unter Totò Riina, der Ende der siebziger, Anfang der achtziger Jahre einen blutigen Mafiakrieg gegen die alten palermischen Mafiafamilien gewonnen hatte. Die Botschaft an die Politik ist unmissverständlich. Im März 1992 wird Salvo Lima in Palermo ermordet. In Sizilien ist Lima gleichbedeutend mit Giulio Andreotti. Er ist dessen Mann, die Speerspitze der Democrazia Cristiana, die seit Kriegsende ununterbrochen an der Regierung ist. Der Mord an Lima spricht deutliche Worte: Ihr habt uns nicht geschützt, und dafür werdet ihr büßen. Es ist der erste in einer langen Reihe von Morden, die von den führenden Köpfen der Mafia am grünen Tisch beschlossen werden. Im Visier stehen christdemokratische Politiker ersten Ranges, der Justizminister, Polizisten, Journalisten und Richter, insbesondere zwei, die Inbilder für den Kampf gegen die Mafia: Giovanni Falcone und Paolo Borsellino. Vorbereitungen werden getroffen, Beschattungen veranlasst, geeignete Orte ermittelt und Einsatzkommandos zusammengestellt.

Während die Cosa Nostra ihren Racheakt plant, kommt es in der italienischen Politik zum Eklat. Die Korruption, seit Jahren in aller Munde, ohne dass etwas Nennenswertes unternommen worden wäre, dringt mit einemmal an die Oberfläche. Im Februar 1992, einen Monat vor Limas Tod, wird Mario Chiesa, der Präsident eines großen Mailänder Altersheims, auf frischer Tat ertappt, als er Schmiergelder für eine Auftragsvergabe einstreicht. Zuerst streitet er alles ab, doch dann packt er aus und löst einen unaufhaltsamen Dominoeffekt aus. Die Sekretäre und Verwaltungsspitzen sämtlicher Regierungsparteien sowie deren Sekretäre geraten ins Fadenkreuz der »Tangentopoli«-Ermittlungen. Es geht um Schmiergelder in gigantischen Höhen, mit denen sich die Politik finanziert, gezahlt von Unternehmern und Geschäftsleuten als Gegenleistung für abgekartete Auftragsvergaben, Gefälligkeiten und Freundschaftsdienste. Ein riesiger Sumpf aus Korruption und Kriminalität, in den bedeutende Vertreter der italienischen Politik, Wirtschaft und Finanz verwickelt sind. Vornan, um nur ein Beispiel zu nennen, die Ferruzzi-Gruppe aus Ravenna und Raul Gardini1, der Reeder des Seglers Moro di Venezia, der in jenen Tagen im America’s Cup antritt. Sie stehen im Zentrum dessen, was später als »Mutter aller Schmiergeldaffären« bezeichnet werden wird. Im Juli 1993 begeht Gardini durch einen Schuss in die Schläfe Selbstmord. Allerdings wird die Pistole, aus der zwei Kugeln abgefeuert wurden, zwei Meter von ihm entfernt gefunden, und seine Hände weisen keinerlei Spuren vom Gebrauch der Waffe auf. Obwohl Tangentopoli am 23. Mai 1992 noch ganz am Anfang steht, ist klar, dass die Flut bald über die Ufer treten wird. An jenem Tag ermordet die Cosa Nostra Giovanni Falcone. Der Richter hatte einen bedeutenden Posten im Justizministerium in Rom angenommen. Um ihn in Capaci unweit von Palermo zu töten, sprengt die Cosa Nostra ein Stück Autobahn in die Luft. Eine für die Mafia ungewöhnliche Methode, ein Strategiewechsel und eine kaum zu ignorierende Allmachtsbekundung.

Am 19. Juli 1992 ist Paolo Borsellino an der Reihe, der nach Falcones Tod zur Symbolfigur im Kampf gegen die Mafia geworden ist. Die Methode ist ähnlich, eine Autobombe vor dem Haus seiner Mutter in der Via d’Amelio in Palermo. Die Explosion zieht die gesamte Straße in Mitleidenschaft und verwandelt Palermo in einen Vorort von Beirut. Die Schuldigen sind bald gefasst.

Jahre später besteht allerdings kein Zweifel mehr, dass die vermeintlichen Täter nur das Bauernopfer eines geschickten Manövers sind, das allzu deutlich nach Staat riecht.

1993 kommt es zum Zusammenbruch. Die Verhaftungen von Tangentopoli bringen das politische System zum Einsturz. Die Democrazia Cristiana und die Sozialisten gehen unter, und die aus der ehemaligen Kommunistischen Partei hervorgegangenen Linksdemokraten (PDS) betreten die Bühne. Die Politik weicht einer fast ausschließlich technischen Regierung unter der Führung des italienischen Zentralbank-Chefs Ciampi. Giulio Andreotti wird der Mafia-Begünstigung beschuldigt, die Justiz ersucht das Parlament um Erlaubnis, gegen den Generalsekretär der Sozialisten Craxi vorgehen zu dürfen. Als sich das Parlament verweigert, geht die Öffentlichkeit auf die Barrikaden. Eine ganze politische Klasse bricht unter der Last der Skandale, Kriminalität und Korruption zusammen.

Die Cosa Nostra verliert ihre Gewährsleute und sucht sich neue. Schon seit der Landung der Alliierten im Zweiten Weltkrieg wurde sie als Bollwerk gegen den italienischen Kommunismus benutzt.

Und die Bomben kehren zurück. Diesmal treffen sie Baudenkmäler: die Uffizien, zwei Kirchen in Rom, den Padiglione d’Arte Moderna in Mailand. Jahre später stellt sich heraus, dass eine weitere Bombe unmittelbar nach einem Fußballspiel im Olympiastadion hochgehen sollte. Einem Defekt oder einem Sinneswandel ist es zu verdanken, dass es zu keinem weiteren Blutbad kam.

Zu den Bomben bekennt sich eine Gruppe, die sich Falange Armata nennt. Der Name erweist sich als leere Hülle, von der man nicht weiß, wer sich dahinter verbirgt. Es kommt recht schnell ans Licht, dass die Cosa Nostra die Bomben gelegt hat. Doch hat sich die Cosa Nostra noch nie zu etwas bekannt, sie hat stets klare Ziele getroffen, erklärte Feinde, Politiker, Richter, Polizisten. Die Cosa Nostra sprengt keine Denkmäler und Kirchen in die Luft, sie zerstört keine Kunstwerke, sie zerstört nicht blind.

Die Bomben von 1993 haben nur ein Ziel: die Bevölkerung in Angst und Schrecken zu versetzen.

Anfang des Jahres geht der Boss der Corleonesi Totò Riina den Carabinieri während einer Razzia ins Netz. Doch der Unterschlupf, in dem er gefasst wird, wird nie durchsucht. Sein Nachfolger wird Bernardo Provenzano. Er ist seit Jahrzehnten flüchtig und nur wenige kennen sein Gesicht.

In diesem vom allgemeinen Chaos verängstigten und zutiefst verunsicherten Italien betritt Silvio Berlusconi die politische Bühne. In einer an sämtliche Fernsehsender übermittelten Videobotschaft verkündet er seine Kandidatur bei den Parlamentswahlen. Es ist der 26. Januar 1994, doch sein Vorhaben ist seit mindestens einem halben Jahr bekannt. Seine neu gegründete Partei Forza Italia gewinnt die Wahlen, und Insider behaupten, der Plan dazu sei bereits 1992, zu Beginn von Tangentopoli, gefasst worden.

Silvio Berlusconi wird zum Mittelpunkt der italienischen Politik. Im Schatten des alten politischen Systems hat er es zum größten Medienunternehmer Italiens gebracht. Den Ursprung seines Erfolges umgibt ein seltsamer Nebel aus Off-Shore-Finanzgesellschaften und anonymen Holdings. Über seine rechte Hand, Marcello Dell’Utri hält sich hartnäckig das Gerücht, er sei mit der Mafia verbandelt. Doch den Italienern ist das egal. Er ist ihr neuer Mann. Sie wählen ihn, und er gewinnt. Bei seinem Eintritt in die Politik unterstehen seine Unternehmen dem Insolvenzverwalter, doch wundersamerweise kommen die Geschäfte wieder ins Rollen.

Berlusconi ist Regierungschef, die Bomben enden. Die Mafia verschwindet.

Es wird keine Bomben, keine Attentate, kein Aufsehen mehr geben. Bernardo Provenzanos Mafia schweigt. Die Menschen sollen vergessen, dass es sie gibt.

Es ist bewiesen, dass der italienische Staat zwischen 1992 und 1993 Kontakt zur Cosa Nostra aufgenommen hat. Prozesse werden geführt, Anklagen gegen Carabinieri-Offiziere erhoben. Diese behaupten, sie hätten versucht, die großen Flüchtigen Riina und Provenzano aufzuspüren und an Informationen zu gelangen.

Diese bis heute nicht aufgeklärten Kontakte zwischen Staat und Mafia nennt man in Italien »Die Verhandlung«.

Von der Verhandlung und dem, was davor und danach geschah, erzählt dieses Buch. Es erzählt von der Ermordung Paolo Borsellinos und von den Gründen, die zu seiner Isolierung und zu seinem Tod geführt haben. Es erzählt vom Italien jener Jahre und vom Italien unserer Tage. Von den allzu engen Banden zwischen Politik, Mafia, Finanzmarkt und Macht.

Es erzählt eine Geschichte, die derart romanhaft klingt, dass sie wahr sein könnte.

Für F.

Meine Zuflucht und mein Leben

Und für Beatrice

Dass sie stets lächeln möge

PF

Für P.

Der mir neue Wege gewiesen hat

Für Oliviero

Damit er weiß, wo er geboren wurde

FP

Da heißt es immer: Dieser oder jener Politiker hatte etwas mit einem Mafioso zu tun, dieser oder jener Politiker wurde beschuldigt, mit mafiösen Organisationen gemeinsame Sache zu machen, doch da er nicht rechtskräftig verurteilt ist, ist er ein ehrlicher Mann. Diese Argumentation gilt nicht, kann doch die Justiz lediglich ein richterliches Urteil fällen und sagen, es gibt zwar einen Verdacht, sogar einen schweren Verdacht, aber uns fehlt die rechtliche, die richterliche Sicherheit, die es erlaubt, diesen Mann als Mafioso zu bezeichnen (…) Allein der Verdacht sollte die Parteien dazu bewegen, in ihren Reihen zumindest gründlich aufzuräumen und sich nicht nur ehrlich zu geben, sondern ehrlich zu sein, indem sie sich von all jenen trennen, die in irgendeiner Weise mit verdächtigen Machenschaften in Zusammenhang gebracht werden, selbst wenn sie keine Straftaten darstellen.

Paolo Borsellino, Bassano del Grappa, 26. Januar 1989

Es braucht Lügen. Der Staat muss lügen. Es gibt keine Lüge im Krieg oder in der Kriegsvorbereitung, die sich nicht verteidigen ließe.

Don DeLillo, Der Omega-Punkt

Alles begann mit einem Anruf.

Bis heute weiß ich nicht, wer mich angerufen hat. Es war nur eine Stimme am anderen Ende der Leitung. Sie hatte kein Gesicht, keinen Blick, keinen Körper.

Bei den wenigen Worten, die ich mit ihr gewechselt habe – Worte, die mein ganzes Leben verändern sollten –, sah ich schmale, nervöse Hände und flattrige Gesten vor mir, die das Gesagte begleiten, unterstreichen, ihm Nachdruck verleihen. Ich habe nie erfahren, ob meine Vermutung stimmte.

Über manches lässt einen das Leben im Dunkeln.

Nur eines habe ich herausbekommen. Ihr Blick ging nach vorn, und das ohne Furcht.

Es ärgert mich, das zuzugeben, aber diese Definition stammt nicht von mir, sondern von meiner Tochter, die eher impulsiv und gefühlsbetont ist und über besagte Stimme noch weniger weiß als ich. Sie hat weder diese nervösen Hände noch die von ihr so treffend beschriebenen Augen vor sich gesehen.

Ich bin in einem Haus voller Frauen aufgewachsen, und der Weg, der mich bis hierher und zu diesen Worten geführt hat, ist ebenfalls drei Frauen geschuldet. Meiner Frau, meiner Tochter. Und der Stimme dieses Anrufes.

Ihretwegen habe ich meine Entscheidung getroffen, und als mir klargeworden ist, dass es für mich kein Zurück mehr gibt, als ich begriffen habe, was zu tun ist, war ich stolz auf mich wie nie zuvor in meinem Leben.

Ich werde eine Geschichte erzählen. Teils habe ich sie erlebt, teils rekonstruiert. Ich werde sie erzählen, weil manche Leute meinen, sie dürfe nicht erzählt werden. Ich werde sie erzählen, weil ich keine andere Wahl mehr habe. Ich werde sie erzählen, um vielleicht meine Haut zu retten.

Ich werde sie erzählen, weil das Land der vergessenen Geschichten meiner Geschichte die Staatsbürgerschaft verweigert.

»Die Zukunft lag hinter ihnen. Vor ihnen lag nur noch die Erinnerung.«

Jean Claude Izzo, Total Cheops

Der Mann hat keine Eile.

Er hat die Hände in den Taschen und blickt sich um. Ein junges Mädchen auf zu hohen Absätzen wartet auf den Bus. Ein Typ quatscht in sein Handy und redet mit einem gewissen Guga. Ein Auto fährt über Rot.

Der Mann schenkt jedem von ihnen einen Funken seiner Aufmerksamkeit. Dann bleibt er vor dem Schaufenster eines Kleiderladens stehen und kontrolliert, ob alles sitzt. Er hat seine Garderobe mit Bedacht gewählt. Ein frisch gewaschenes weißes Hemd. Helle Jeans, dunkler Pulli, schwarze Jacke. Er hat kurz überlegt, ob er die Augen hinter einer Sonnenbrille verstecken soll. Mit den riesigen dunklen Gläsern sieht er aus wie eine Fliege, perfekt, um aufzufallen. Keine gute Idee.

Er hat sie aufs Bett geworfen. Eine nachlässige Geste, die letzte. Dann ist er gegangen, ohne die Tür ins Schloss zu ziehen. Wenn sie kommen, müssen sie sie nicht eintreten.

Er sieht auf die Uhr. Er ist sogar zu früh. Er geht um die Ecke und trinkt einen Kaffee, vertieft sich in einen Artikel über das Spiel vom Vorabend. Als er fertig ist, fragt er sich, weshalb ihn das so sehr interessiert, und findet keine schlüssige Antwort. Angewohnheiten wird man nicht los.

Auch wenn sie überflüssig geworden sind. Auch wenn die letzten Lebensminuten gezählt sind.

Erst, als er den Justizpalast betritt, wird ihm klar, was gerade geschieht. Als er in der Eingangshalle steht, um Mut für den nächsten Schritt zu fassen, begreift er, dass die Zeit der Entscheidungen abgelaufen ist. Es bleibt zu tun, was zu tun ist, ohne Wenn und Aber. Er macht einen Schritt nach rechts, sein Körper bekommt die Last der Wirklichkeit zu spüren, er lehnt sich an die Wand, sucht eine Bank, setzt sich.

Ich breche zusammen, denkt er. Das packe ich nie.

Er schließt die Augen und legt das Gesicht in die Hände.

»Alles in Ordnung?«

Er hört die Frage nicht. Nicht einmal, als sie wiederholt wird. Jemand berührt ihn an der Schulter, er sieht auf. Ein Carabiniere.

»Alles in Ordnung?«

Antworte. Atme. Denk nach. Antworte. Atme.

Ich sterbe. Klar ist alles in Ordnung.

Er lächelt.

»Ich bin nur ein bisschen nervös. Ich lasse mich gleich scheiden.«

Der Carabiniere lächelt zurück, nickt grüßend und geht davon.

Der Mann sieht ihn am Ende der Halle verschwinden, steht auf, geht zum Klo, spritzt sich, ohne in den Spiegel zu sehen, Wasser ins Gesicht, geht wieder hinaus. Die Welt hat ihre Schärfe zurück. Wieder vergräbt er die Hände in den Taschen und setzt sich in Bewegung.

Noch ein paar Minuten, und alles ist vorbei.

Noch ein paar Minuten, und er wird das Richtige getan haben.

Noch ein paar Minuten, und nichts braucht ihn mehr zu kümmern.

Auch nicht, dass die Angst ihm fast die Luft abschnürt.

»Ich muss mit Ihnen sprechen.«

Das Telefon hatte am Dienstag, den 30. September 2003 geklingelt und mich aus einem unruhigen Schlaf gerissen, in den ich, ohne es zu merken, gefallen war. Mit geschlossenen Augen hatte ich nach dem Hörer getastet, um das Klingeln zu beenden.

»Wer ist da?«

»Bitte hören Sie mir zu. Ich heiße Michela Santini. Sie kennen mich nicht. Aber ich muss Sie treffen.«

Ich hatte mich aufgesetzt. Eine Frauenstimme. Jung. Ein Name, der mir nichts sagte.

»Hören Sie, wenn das ein Scherz sein soll …«

Ihre Stimme war gedämpft.

»Ich kann mir keine Scherze erlauben.«

Es klang wie herausgerutscht. Ein paar Sekunden herrschte Schweigen. Vielleicht bereute sie ihren Entschluss.

»Ich habe ein Problem, und Sie können mir dabei helfen. Ich bitte Sie nur, sich mit mir zu treffen. An einem öffentlichen, belebten Ort.« Pause. »Bitte.«

»Wo?«

Die Frage hatte mich selbst überrascht. Instinktive Reaktionen hatte es bei mir schon seit Ewigkeiten nicht mehr gegeben.

»Im Justizpalast, dritter Stock. Dort gibt es einen Flur mit einer großen Fensterfront. Ich bin Anwältin. Um zwölf habe ich eine Verhandlung. Doch vorher würde ich gerne mit Ihnen reden. Es wird nur wenige Minuten dauern. Sie können dann entscheiden, ob Sie bis zum Ende der Verhandlung warten möchten, um auch noch den Rest zu hören. Morgen früh um Viertel vor zwölf.«

Sie hatte noch nicht einmal die Antwort abgewartet. Ich hockte da, den Hörer in der Hand, auf dem Display ein Telefonat von sechsundfünfzig Sekunden mit einem unbekannten Teilnehmer.

Normalerweise hätte ich sie gleich zum Teufel geschickt und einfach aufgelegt. Eine Unbekannte, die mich mit anonymer Nummer anruft und ungeheuer dringend mit mir reden muss, aber nicht rausrückt, worüber. Zum Hinlegen und Weiterpennen.

Stattdessen hatte ich mir einen Kaffee gemacht. Und beim Befüllen der Kaffeemaschine hatte ich beschlossen, zu dem Treffen zu gehen. Beim zweiten Kaffeelöffel grübelte ich bereits darüber nach, wie mein Leben mit dem der jungen Frau in Berührung gekommen sein mochte. Und vor allem, was ihr so große Angst machte.

Man hatte es gespürt. Im Tonfall, im Zögern, das jedem Satz voranging. In den Sätzen selbst.

Ich kann mir keine Scherze erlauben.

Diese Worte hatten mich davon abgehalten, das Gespräch zu beenden. Sie hat sie gewispert, zwingend wie ein Atemzug. Seit dem Moment habe ich sie im Kopf, selbst jetzt, wo es fast soweit ist und ich anfange, mich umzublicken und zu raten, welche der Unbekannten um mich herum die Person sein könnte, auf die ich warte.

Ich bin nervös. Ich gehe auf und ab, werfe einen Blick aus dem Fenster. Der Verkehr, die Menschen, die ein bestimmtes Ziel zu haben scheinen. Von hier aus betrachtet könnte man fast glauben, die Welt hätte noch einen Sinn.

Ich weiß nur zu gut, dass das nicht stimmt. Ich weiß es seit langer Zeit.

Es ist fünf vor zwölf. Ich gehe bis zum Ende des Flurs, und mich beschleicht der Gedanke, dass ich die Möglichkeit, es könne sich um einen Scherz handeln, vielleicht doch etwas leichtfertig verworfen habe. Ich habe auch nicht daran gedacht, jemanden anzurufen, um festzustellen, ob es wirklich eine Anwältin namens Michela Santini gibt.

Als ich abermals auf die Uhr sehe, rempelt mich ein Typ an. Er hat die Hände in den Taschen vergraben und murmelt im Vorbeigehen eine Entschuldigung.

Und dann, rund zehn Meter von mir entfernt, sehe ich sie. Sie blickt mich an, nur ganz kurz. Es reicht, um zu verstehen, dass sie auf mich wartet.

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