Langsam, bis du stirbst - Patrick Fogli - E-Book

Langsam, bis du stirbst E-Book

Patrick Fogli

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Beschreibung

Nichts für schwache Nerven...

Ein entlaufener Mafiakiller, der auf Rache sinnt.

Ein verzweifelter Cop, dessen Freundin im Koma liegt.

Ein eiskalter Mörder, der mit beiden sein grausames Spiel treibt.

Alles zusammen: ein einzigartiger, atemberaubend spannender Cocktail aus italienischen Zutaten nach amerikanischem Rezept.

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Über Patrick Fogli

Patrick Fogli, geb. 1971 in Bologna, Informatiker und Schriftsteller, hat sich mit seinen ebenso akribisch recherchierten wie spannend verpackten Romanen zur neueren italienischen Geschichte bereits einen Namen gemacht. Bisher auf Deutsch erschienen: »Langsam, bis du stirbst«, »Schweig, bis sie dich kriegen«.

Esther Hansen, diplomierte Übersetzerin, übertrug unter anderen Daria Bignardi, Nino Filastò, Marcello Fois, Diana Lama, Goliarda Sapienza, Susanna Tamaro und Carmine Abate ins Deutsche. 2008 wurde sie mit dem Förderpreis des Deutsch-Italienischen Übersetzerpreises ausgezeichnet.

Informationen zum Buch

Nichts für schwache Nerven.

Ein entlaufener Mafiakiller, der auf Rache sinnt. Ein verzweifelter Cop, dessen Freundin im Koma liegt. Ein eiskalter Mörder, der mit beiden sein grausames Spiel treibt. – Alles zusammen: ein einzigartiger, atemberaubend spannender Cocktail aus italienischen Zutaten nach amerikanischem Rezept.

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Patrick Fogli

Langsam, bis du stirbst

Thriller

Aus dem Italienischen von Esther Hansen

Inhaltsübersicht

Über Patrick Fogli

Informationen zum Buch

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Eins

Zwei

Drei

Vier

Fünf

Sechs

Sieben

Acht

Neun

Zehn

Elf

Zwölf

Dreizehn

Vierzehn

Fünfzehn

Danksagung

Quellenangaben

Impressum

für C. von der Farbe des Meeres

»Ich bin eine Maske, die die Wirklichkeit verbirgt. Hinter meinem Rücken geht die Wirklichkeit weiter, vor neugierigen Blicken geschützt.«

Philip K. Dick, Das Orakel vom Berge

»Er denkt, Liebe ist das Gegenteil von Nehmen, denn sie gibt dir immer etwas, dann denkt er, so ist es nicht, auch die Liebe nimmt dir etwas, er denkt, die Liebe ist nicht dafür da, dass man über sie nachdenkt, sie will gelebt werden. Er drückt seine Zigarette aus, geht wieder hinein, die Liebe endet, wenn man sich Gedanken um sie macht, wenn sie zum Problem wird.«

Luigi Bernardi, Tutta quell’acqua

»Feiger Tod, ich habe gesehen, wie du um ihn herumgeschlichen bist, auf Beutezug. Eine leichte Beute, die sich nicht wehren kann, deren Willen schläft und keinen Widerstand leistet. Doch so leicht ist es nicht. Heute Nacht werde ich wachen.«

Patrizia Bisi, Daimon

Eins

»Segnet mich, Pater, denn ich habe gesündigt.«

Diese Worte hat er seit einer halben Ewigkeit nicht mehr ausgesprochen. Zum letzten Mal vielleicht nach der Firmung. Oder kurz davor. Er weiß es nicht mehr genau, nur dass es lange her ist und er nicht gern daran zurückdenkt.

Es ist neun Uhr morgens an einem Wochentag, und die Kirche San Giacomo ist fast menschenleer.

Er ist sehr früh aufgestanden, um pünktlich zu sein. Die Reise war entspannt, doch nun kann er es kaum erwarten, seinen Auftrag zu Ende zu bringen. Die Vorstellung, sich mit einem Priester zu treffen, behagt ihm gar nicht, aus Erfahrung weiß er, dass sich unter dem Talar oft grausamere Menschen verstecken als jene, die mit einer Pistole herumlaufen.

Wie er.

Das Dörfchen Soncino war leicht zu finden, auf halbem Weg zwischen Crema und Manerbio. Immer wieder hat er sich gefragt, warum gerade dort. Warum in einer Kirche.

Aber das ist nicht wichtig.

Der Priester soll ihm etwas geben von jemandem, der schwer zu finden ist. Etwas sehr Kostbares, das sofort an einen anderen Ort fern von hier gebracht werden muss. Es geht um Geschäfte, und am meisten missfällt ihm die Tatsache, dass er nicht genau weiß, mit wem er es zu tun hat.

Ganz gewiss mit einem Pedanten, nach den Anweisungen zu schließen, die er erhalten hat und die ihn hierhergeführt haben, auf diese Kniebank, mit den ungewohnten Worten.

»Segnet mich, Pater, denn ich habe gesündigt.«

»Ich mag Leute, die pünktlich sind.«

Die Stimme des Priesters ist ein tonloses Flüstern, ein Windhauch.

Er versucht, durch das Gitter zu lugen, erkennt aber nichts als den Talar und einen undefinierbaren Umriss.

Er muss schon gewartet haben. Jedenfalls hat er niemanden hereinkommen hören, seit er sich den Anweisungen getreu niedergekniet und den Vorhang zugezogen hat.

»Hast du die Tüte?«

Dieses Flüstern macht ihm Angst, weil die dazugehörige Silhouette sich nicht rührt. Es ist die Stimme eines Schattens. Da ist ihm die Pistole vor der Nase doch entschieden lieber, wenigstens kennt man da die Gefahr. Und auch das Gewicht der Waffe in seiner Manteltasche kann ihn nicht beruhigen. Sein einziger Trost ist, dass es bald vorbei ist.

»Ja, ich habe die Tüte.«

»Sieh unter dem Kniebänkchen nach.«

Er greift mit der Hand hinab und findet ein Päckchen.

»Ja, ich habe es.«

»Es enthält alles, was du brauchst. Sag ihm, er soll es gut waschen. Nur mit Wasser. Dann muss er das Salz verwenden.«

»In Ordnung.«

»Mach es nicht auf. Wenn du es abgibst, werden sie zur Kontrolle hineinschauen, aber sie werden nichts bemerken. Es sieht aus wie Schmutz.«

»Verstanden.«

»Leg nun die Tüte unter die Kniebank. Nimm deine Sachen und geh hinaus, ohne dich noch einmal umzudrehen. Wenn du es tust, stirbst du. Vielleicht nicht heute oder morgen. Vielleicht, wenn du dich gerade in Sicherheit wiegst. Aber du kannst gewiss sein, dass du stirbst.«

»Du bist …«, stottert er, und als der andere ihn unterbricht, wird ihm klar, dass er hier keinen Mittelsmann vor sich hat, keinen Priester.

Es ist ein Geschäft zwischen ihm und dem Schatten auf der anderen Seite des Gitters.

»Dein Beichtvater«, ertönt das Flüstern. »Der um deine Sünden weiß.« Er schweigt. »Und die rechte Strafe kennt.«

Bologna, April 2003. Acht Uhr morgens

Plötzlich ist es zu hell, und Alice erwacht.

Mit geschlossenen Augen, reglos halb auf den Bauch gedreht, spürt sie, wie die Pfoten der Katze über die Bettdecke tappen.

Eine Gesellschaft, die ihr guttut. Vielleicht die einzige Gesellschaft in ihrem Leben, von der sie das sagen kann, warum auch immer. Dieses Tier, das aus reinem Zufall bei ihr ist, gibt ihr das Gefühl, auf eine Art geliebt zu werden, die ihr entspricht. Die einzige Liebe, die sie im Moment brauchen kann.

»Wo bist du, kleiner Faucher?«, fragt sie, ohne die Augen aufzuschlagen. Wie immer, wenn sie mit der Katze redet, nähert sich der Klang ihrer Stimme unwillkürlich dem einer Zeichentrickfigur an.

Sie dreht den Kopf und öffnet das rechte Auge, das nicht im Kopfkissen vergraben ist. Aus dem Augenwinkel glaubt sie einen Schatten zu erkennen, kaum einen Meter von ihr entfernt.

»Hallo, Miez«, lächelt sie. Die Katze fährt ihr mit eingezogenen Krallen über die Wange. Die Pfote fühlt sich an wie ein dickes Wattestäbchen. Ein schönes Gefühl auf der nachtweichen Haut.

Alice bleibt liegen, in die Stille des weißen Zimmers getaucht, als sei die Welt dort draußen endgültig stehengeblieben. Sie beobachtet den langen, schlanken Körper der Katze, die dunklen Linien in ihrem grauen Fell, die an den Pfoten plötzlich abbrechen, die leuchtenden, wachsamen Augen, die großen Ohren, die aufgestellt sind, um einen fernen Laut zu erhaschen.

»Na, sollen wir aufstehen?«, fragt Alice dann. »Ich geh kurz unter die Dusche, dann bekommst du dein Fressen.«

Sie erhebt sich. Mit schnellen und fließenden Bewegungen. Mit einem kurzen Handgriff zieht sie sich den Pyjama über der Schulter zurecht. Sie tritt ans Fenster, öffnet es einen Spaltbreit und sieht hinaus.

Sie riecht den Regen, noch bevor sie jenseits des kleinen Hofes die Menschen sieht, die aus dem Bus steigen und sofort schutzsuchend unter ihren Schirmen verschwinden.

Es regnet seit fast einer Woche in Bologna, und sie hat dieses Einheitsgrau so satt, das alles mit einem trüben Schleier überzieht. Sie hat es satt, morgens ohne erkennbaren Grund die Augen aufzuschlagen und dieses Gewicht auf sich zu spüren. Zur Arbeit zu gehen und zugleich mit allen Fasern des Körpers zu wünschen, es nicht mehr tun zu müssen, auszubrechen, anders zu sein. Sich selbst wieder in der Frau zu entdecken, die aus ihr geworden ist.

Mindestens tausendmal hat sie an Kündigung gedacht, doch es fehlt ihr einfach der Mut, bei der erstbesten Gelegenheit diese Plage von Chef zum Teufel zu jagen.

Oft denkt sie darüber nach, wie es wäre. Abends, wenn sich der nächste Morgen in ihrer Vorstellung zu einer unerträglichen Last auftürmt. Und nachmittags, wenn sie das Büro verlässt, geistig und körperlich ausgepumpt, und die Hoffnung, aus irgendeinem Grund nie mehr dorthin zurückkehren zu müssen, sich angesichts einer ganz anderen Realität in Traurigkeit verwandelt.

Jeden Tag dasselbe, und am Ende bleibt alles beim Alten.

Vielleicht will sie es im Grunde ihres Herzens so. Weil sie genau weiß, dass das eigentliche Problem woanders liegt. Nicht bei der Arbeit, nicht beim Regen.

Das Problem liegt vielleicht einfach in ihren Gedanken.

Mit einem federnden Sprung landet die Katze auf dem Sessel neben dem Fenster, lässt sich nieder und guckt hinaus. Alice lächelt sie an. Sie streicht ihr mit der Hand über den Rücken. Sie spürt das leise Schnurren, wie ein kleiner Elektromotor, der den Akku ihres Lebensmuts aufladen kann. Mit der Hand auf dem Fell der Katze, lässt sie ihren Blick in die Ferne schweifen. Ein Regentropfen rinnt über die Scheibe, eine Frau steigt in den Bus, der Verkehr zieht geräuschlos an ihr vorbei.

Kurz entschlossen geht sie ins Bad, zieht sich aus und steigt unter die Dusche.

Warm strömt das Wasser über ihren Körper. Mit sanften Bewegungen seift sie sich ein, den Kopf leicht zurückgebeugt, damit die Haare nicht nass werden. Sie verteilt die Seife auf ihren großen, einladenden Brüsten und auf den Hüften. Sie hebt ihre langen Beine, wäscht sich die Schenkel, Waden und die Füße, die sie noch nie mochte. Dann wandert sie wieder höher, massiert sich sanft den Bauch, verreibt mit langsamen, beruhigenden Bewegungen den blassblauen Schaum. Trotz der entschiedenen Gesten schwingt in ihrer Art eine weiche Sinnlichkeit mit. Das ist nicht nur eine Frau, die sich wäscht. Das ist eine Frau, die ihren Körper kennt.

Als sie aus der Dusche steigt, duftet das ganze Badezimmer. Die blauen Kacheln sind beschlagen. Sie tauchen das Bad und ihren Körper in einen matten, sanften Schein.

Sie steht nackt vor dem Spiegel.

Sie betrachtet sich gerne im Spiegel, sei es in großen Kaufhausspiegeln oder in ihrem kleinen Badezimmerspiegel zu Hause. Sie sieht sich an und versucht zu begreifen, wie sie von außen wirkt, mit dem großen, festen Busen, den sie nie zur Schau stellt und gegen den sie sich viele Jahre heftig gewehrt hat, mit ihrem weichen Körper, der sich auch im schnellen Lauf langsam bewegt, mit ihren schmalen, lang geschnittenen Augen, die niemals weit offen stehen und deren Blick immer die Luft zu zerschneiden scheint, bevor er dich erreicht.

Sie weiß, dass sie schön ist. Sie wüsste es selbst dann, wenn sie nicht ihr ganzes Leben lang von allen Seiten darauf aufmerksam gemacht worden wäre. Als stecke nichts hinter der Fassade. Als bliebe sämtlicher Inhalt verborgen, alles, was da ist und was offenbar noch niemand gesehen, gefunden, berührt hat. Niemand, bis auf einen.

Sie greift sich mit ihrer kleinen, fast männlichen Hand in das nasse Haar. Sie dreht sich eine Strähne hinters Ohr und fährt dann mit allen Fingern durch den kurzen, dunklen Schopf, der widerspenstig wie ihre Gedanken im ewigen Clinch mit einer Frisur liegt, an die er sich nicht gewöhnen will.

Schließlich gibt sie auf und dreht sich wie durch Telepathie genau in dem Moment um, als das Köpfchen der Katze durch den Türspalt lugt.

»Brekkies?«

Die Katze stimmt mit einem leisen Miauen zu. Alice wickelt sich in ein Handtuch und geht durch die halbdunkle Wohnung in die Küche.

»Runter da!«, befiehlt sie dem Tier, das auf den Tisch gesprungen ist, um einen besseren Überblick zu haben. Die Katze sieht sie an, legt den Kopf auf die Seite, lässt sich auf einen Stuhl gleiten und ist mit einem Satz auf der Spüle. Ihr Blick wandert von Alices Augen zu der Packung mit dem Trockenfutter. Dann stößt sie erneut einen sanften Laut aus. Wie ein Zeichen.

»Schon gut, du bekommst sie ja.«

Alice lächelt und füllt den Fressnapf. Dann geht sie ins Zimmer zurück.

Nachdem sie sich im Grau dieses Morgens angezogen hat, bleibt sie kurz vor einer gerahmten Fotografie stehen, um sich in die Augen zu schauen. Nichts, was diese Augen sehen, gefällt ihr. Nichts, was in ihrem Leben geschieht. Dabei könnte so wenig genügen.

Ein Blick auf die Uhr markiert die endlose Fortsetzung ihres täglichen Kampfes gegen die Zeit. Sie überlegt, wie viele Minuten sie wieder vor der roten Ampel an der Kreuzung von Via Bovi Campeggi und Via Zanardi verlieren wird. Der Verkehr in Bologna ähnelt zu Stoßzeiten einem Gang zur Post am Tag der Pensionszahlungen. Man muss sich ein Buch oder eine Zeitung mitnehmen, irgendeine Art von Trost, und sich demütig in Geduld üben. Aber zugleich muss man seine Augen überall haben, damit niemand sich vordrängt, einem den Platz wegschnappt, um ein paar Meter voranzukommen.

Eine Art Krieg.

Sie ergreift ihre Tasche und wirft einen prüfenden Blick hinein. Dann nimmt sie das Handy von der Kommode. Sie schaltet es an, und sofort, pünktlich wie immer, erscheint die SMS.

»Du bist echt eine Nummer, Gabriele. So etwas …«, murmelt sie halb geschmeichelt, halb genervt, und liest die Nachricht. Den kurzen Morgengruß, den er ihr jeden Tag sendet.

»Ich bin weg, Miezchen. Sei brav. Wetz dir ruhig die Krallen am Ledersofa, wirf noch eine Vase um, und wenn du dich zu arg langweilst, häng dich an die Wäsche und reiß den Trockenständer mit.«

Sie beugt sich herab, drückt einen Kuss auf die Schnauze der Katze, die sie mit geschlossenen Augen gewähren lässt, und geht hinaus.

Sie steigt in ihren Wagen, und während der erste Regentropfen des Tages glitzernd über die Windschutzscheibe perlt, fragt sie sich zum tausendsten Mal, was eigentlich ihr Problem ist.

Letztendlich ist es ein Tag wie jeder andere.

Zumindest glaubt sie das, als sie sich in den Verkehr einfädelt und ihren ganz persönlichen Kampf gegen die Blechlawine beginnt.

Als sie an der ersten roten Ampel stehen bleibt, ahnt sie nicht, dass sich alles ändern wird, wie nach einem Hagelschlag im September, der den Herbst bringt und erbarmungslos die letzten Sommererinnerungen hinwegfegt.

Hochsicherheitsgefängnis von Marino del Tronto, vier Uhr nachmittags

In der Stille der Zelle lässt er die kleinen Körnchen von einer Hand in die andere rieseln. Auf der Haut fühlen sie sich an, als seien sie aus demselben Material wie dieses merkwürdige gummiartige Zeug, mit dem man Postpakete auffüllt. Nur unendlich viel kleiner, winzige weiße Kügelchen.

Er hat sie ihm geschickt. Das weiß er genau. Nur er kann ihm so etwas geschickt haben. Er fragt sich, wie der Stumme an ihn herangekommen ist. Vielleicht ist ihm eingefallen, dass er vor langer Zeit einmal etwas über ihn erzählt hat. Nicht, dass das wichtig wäre. Wichtig ist nur, dass er etwas unternommen hat, um ihm zu helfen.

In dem Paket waren ein Hemd und eine Hose. Sein Vetter Luca hat es ihm gebracht. Der einzige erlaubte Besuch. Der Artikel 41b der Strafvollzugsordnung ist da sehr deutlich: ein Paket von der Familie und ein Gespräch mit einem Verwandten pro Monat, abgeschirmt durch eine Scheibe, mit Kameras und Mikrophonen, die alles aufzeichnen.

Und so musste sein Cousin ihm dieses Geschenk als anonymes Päckchen überbringen, in braunem Papier mit einem bunten Bändchen drum herum. Wer weiß, ob er den Inhalt kannte.

»Man hat mir gesagt, dass vielleicht ein paar Flecken drauf sind, die aber mit ein bisschen Wasser wieder abgehen«, hatte Luca ihm erklärt, und er hatte nicht gleich begriffen, was das bedeutete. Doch dann war er in die Zelle zurückgekehrt und hatte Hemd und Hose gewaschen. Und kaum war das Hemd trocken, sah er das Pulver. Wie Salzränder, die sich nach einem Tag am Meer auf den zum Trocknen aufgehängten Badesachen absetzen.

Vielleicht ist es wirklich Salz. Ein sehr eigenartiges Salz. Ein Salz, das es nirgendwo sonst gibt.

Er fragt sich, wer die Person in Wirklichkeit ist, die eine solche Substanz herstellt, und warum sie es tut. Denn wenn er eines im Leben begriffen hat, dann dass es für alles ein Motiv gibt. Auch für das, was einer wie er selbst getan hat und jetzt tun wird.

Und während er an dieses Motiv denkt, um seiner Angst Herr zu werden, leckt er das weiße Pulver von seiner Hand und legt sich auf die Pritsche.

Er faltet die Hände über der Brust und wartet.

Auch wenn er keine Ahnung hat, worauf.

Bologna, bei Einbruch der Nacht

»Keine Bewegung!«

Seine Stimme klingt entschieden. Eine bedrückende Stille legt sich auf die Szenerie.

»Und was, wenn ich mich doch bewege, Bulle?«

Der Mann, der ihn Bulle genannt hat, ist groß und kahlköpfig und sieht aus wie einer, den du nach Feierabend in einer Bar im Stadtzentrum triffst, um zwei Worte mit ihm zu wechseln und ein paar Cracker zu essen. Ein stiernackiger, muskulöser Typ mit einem Bart, der verzweifelt nach einer Rasur schreit, und mit der ruhigen Hand dessen, der solche Situationen kennt. Er hält eine .38er in der Hand und zielt direkt auf sein Gesicht.

»Keine Bewegung«, wiederholt Gabriele Riccardi im gleichen Tonfall. Auch er ist bewaffnet, die Beretta deutet auf die Nase seines Gegenübers.

»Ich mache jetzt zwei Schritte und entferne mich in aller Ruhe«, sagt der Glatzkopf, und am Klang der Vokale glaubt Gabriele den Brescianer oder Bergamasken zu erkennen. Sie waren von Anfang an überzeugt, dass die Villen-Bande nicht aus Bologna stammt.

Langsam schüttelt er den Kopf, den Blick fest nach vorn gerichtet.

»Keine Bewegung«, sagt er zum dritten Mal und prüft gleichzeitig aus den Augenwinkeln die Lage.

Der Eingang der Villa ist in ein mattes, rötliches Licht getaucht, vielleicht von einer Laterne.

Wichtiger sind jedoch andere Einzelheiten: Die drei Beamten neben ihm, die mit ihm zusammen den Zugang zum Garten versperren. Und die zwei, die mit den Pistolen im Anschlag in der Nähe der Haustür stehen und ihre Nervosität kaum verbergen können.

Wichtig sind auch die Füße des Mannes, der ihm gegenübersteht. Zu sehen, ob sie sich verschieben. Irgendjemand hat ihm mal gesagt, dass man an den Füßen eines Menschen erkennen kann, in welche Richtung er sich wenden wird. Und die Füße dieses Kerls zeigen genau auf ihn.

Das ist kein unwichtiges Detail.

Und wichtig ist auch, dass der Mann, der ihn Bulle genannt hat, einen Arm um den Hals eines kleinen Mädchens gelegt hat und sie vor sich festhält. Ein kleines Häuflein Mensch in geblümtem Schlafanzug, zu verängstigt, um sich auch nur einen Millimeter zu bewegen. Etwas zu sagen oder etwas anderes zu tun, als sich zu fürchten.

Das genügt. Mehr braucht er nicht.

»Hör zu, Bulle, ich und die Kleine gehen jetzt raus und verduften. Und du und deine Freunde da, ihr schaut uns einfach nach und tut einen Scheißdreck, klar?«

Er hasst diesen Akzent. Er weiß nicht, warum, aber er hasst ihn.

»Nein. Du gehst nirgendwohin. Ich hab dir gesagt, du sollst dich nicht bewegen.« Zum vierten Mal. Ein fünftes Mal wird es nicht geben, so viel ist klar.

Aus den Augenwinkeln sieht er, wie der rechte Fuß des Mannes sich fast unmerklich bewegt. Wahrscheinlich weiß er es selbst kaum. Dann verändert sich die Neigung des Pistolenlaufs minimal, als ziele er erneut, um den Abzug zu drücken.

Doch bevor es dazu kommt, schießt Gabriele.

Das Projektil bohrt sich dem Glatzkopf in Höhe des Schlüsselbeins in die Schulter. Wäre da nicht der Lärm des Schusses, würde man den Knochen splittern hören.

So hingegen geht alles in der Detonation und den Schreien unter, den Schmerzensschreien des Mannes, der ihn Bulle genannt hat, und den Angstschreien des Mädchens im Schlafanzug.

Die anderen Beamten kommen heran, um den kahlköpfigen Schrank in Empfang zu nehmen und ihn mit seinen Komplizen, die bereits in den Streifenwagen sitzen, abzutransportieren.

Gabriele Riccardi, Kommissar der Kriminalpolizei von Bologna, geht zu dem Mädchen. Er wischt ihr mit dem Taschentuch einen Spritzer fremdes Blut aus dem Gesicht und lächelt ihr zu. Von nahem sieht sie noch jünger aus. Als er ihr sanft über die Wange streichelt, fühlt er das Zittern auf ihrer eiskalten Haut.

»Es ist vorbei. Es ist alles vorbei«, sagt er leise, dann geht er.

Die Nacht draußen ist grau und regnerisch.

Er hat noch viel zu tun, doch im Moment sind es nur seine Gedanken, die auf ihn warten.

Hochsicherheitsgefängnis von Marino del Tronto, irgendwann in derselben Nacht

Gegen elf kam ihm zum ersten Mal der Gedanke, dass der Mistkerl ihn gelinkt haben könnte. Wenn er schon in Freiheit niemandem trauen konnte, dann erst recht, solange er hier drinnen festsaß.

Da war doch etwas faul.

Das konnte einfach nicht sein, dass sein Rücken in zwei Teile zerbrach, als hätte ihm jemand von oben etwas zwischen die Nieren gestoßen, so tief, dass es bei den Eiern wieder herauskam.

Der Schmerz erinnerte ihn daran, wie er vor ein paar Jahren ein Mitglied des Corleone-Clans kaltgemacht hatte, indem er ihn nachts von einem Baugerüst stürzte. Der Mann war fünf oder sechs Meter tief auf eine Reihe von Aluminiumröhren gefallen, die aus dem Boden ragten. Als er von dem Gerüst heruntergestiegen war, hatte er gesehen, dass eine der Röhren sich durch seinen Bauch gebohrt hatte, unterhalb des Nabels. Aber er lebte noch. Wahrscheinlich hatte er weniger Schmerzen gehabt als er in diesem Moment.

Zuvor, in Erwartung dessen, was passieren würde, hatte er sich geschworen, so heftige Schmerzen vorzutäuschen wie möglich, zu schreien wie am Spieß oder wie die Typen im Kino, die sich mit aufgeschlitzter Kehle sterbend die Seele aus dem Leib brüllten. Scheiße, er hatte schon so einigen die Kehle durchgeschnitten, aber niemand hatte geschrien. Allen war das Blut herausgesprudelt, gemischt mit Speichel und Angst. Aber keine Wörter. Die hätte man nicht einmal aus einem Zentimeter Entfernung gehört.

Dann ging es los. Eine Art Jucken knapp oberhalb des Hinterns, dann ein eigenartiger Schweißausbruch und schließlich dieser Stoß, der ihm den Rücken aufgerissen hatte wie einen morschen Holzbalken. Da hatte er zum ersten Mal geschrien. Hatte geschrien wie ein Schwein, das an den Haken gehängt wird, und die Schreie waren echt, kamen aus seinem tiefsten Innern, da war nichts gespielt. Und an diesem Punkt, als er entdeckte, dass er nichts vortäuschen musste, hatte er gedacht, dass der Mistkerl ihn gelinkt hatte.

Vielleicht gemeinsam mit dem Stummen, um an sein Geld heranzukommen, aber an das gesamte, nicht nur an die hunderttausend Euro, die ihm sowieso schon gehörten. Auch an das versteckte Geld, das er sein Leben lang würde suchen müssen, dieser verfluchte Hurensohn.

Als seine Stimme vom Schreien schon rau wie Schleifpapier war, kam der Arzt.

Für die Untersuchung mussten ihn drei Mann festhalten. Mit jedem neuen Krampf schoss sein massiger Körper von der Liege hoch, ohne dass er es verhindern konnte. Als würde ihm eine Glasscherbe vom Magen bis zu den Eiern geschoben.

»Wahrscheinlich eine Nierenkolik«, konstatierte der Arzt, und seine drei Helfer fesselten ihn mit Handschellen an eine Trage, nahmen ihn hoch und brachten ihn auf die Krankenstation, die in Marino del Tronto für die nach Artikel 41b Inhaftierten ebenerdig lag wie die Zellen.

Dort schob man ihm eine Plastikkanüle in den Arm mit einer Infusion, die gelb war wie Pisse. Einen weiteren Schlauch steckten sie ihm in den Schwanz und krönten das Ganze mit zwei Spritzen, auf die er augenblicklich pissen musste, als hätte er ein Fass Bier leer gesoffen.

Aber der Schmerz blieb. Bis mindestens drei Uhr morgens. Der Wachposten, der in einer Ecke des Zimmers auf einem Plastikstuhl saß, beobachtete, wie er schwitzte und die Finger in das Laken krallte, bis die Knöchel weiß hervortraten. Über zwei Stunden dauerte das an.

Dann kam es wieder ganz unvermittelt, wie der Stoß eines Erdbebens.

Der Schmerz war verschwunden. Einfach so, ohne jeden Anlass.

Scheiße, wer auch immer ihm dieses Paket geschickt hatte, beherrschte sein Handwerk. Und nun, da die Schmerzen vorbei waren, musste er sie vortäuschen, musste er sich erinnern, wie es gewesen war, als der Rücken zu zerbrechen schien, musste er alles genauso fortsetzen. Verrenkungen, Grimassen, Flüche.

»Wir können ihn nicht hierbehalten«, hatte der Arzt um halb vier gesagt. Kaum fünf Minuten später ketteten sie ihn wieder ans Bett und schafften ihn mit Tropf und allem in den Krankenwagen, zusammen mit dem Arzt und der Wache, mit je einem Polizeiwagen davor und dahinter. Nun hieß es nur noch schnell sein, und die Partie war gewonnen.

Bologna, mitten in der Nacht

Die leere Wohnung riecht nach der Stille und Tristesse eines x-beliebigen Tages. Im übelsten Sinne des Wortes.

Dieses Gefühl überkommt mich ganz plötzlich, angesichts der merkwürdig tiefblauen Aprilnacht vor meinem Fenster und einem Himmel, der wie eine eilig und sorglos umgeschlagene Zudecke aussieht.

Immer noch spüre ich den Regen auf meiner Haut, der, zuerst fein und dann stärker, Straßen, Autos, Bäume und Gedanken überzieht. Wie satt ich ihn habe.

Ich mache mir Notizen für meinen Bericht, das Radio ist so leise gestellt, dass der Gesang von Coldplay mehr ein Gedanke ist.

Dabei habe ich kaum Gedanken mehr.

Ich müsste zu meinen Ideen zurückfinden, um zu wissen, was ich tun soll und wie ich es tun soll. Ich müsste mir über einiges in meinem Leben klarwerden, über Dinge, die mir entgleiten, die ich verloren habe, von denen ich nicht weiß, wo sie gelandet sind und welche Farbe sie haben.

Das Telefongespräch mit dem Polizeipräsidenten hat mir nicht weitergeholfen. Zuerst gratuliert er mir. Sagt, was für ein gelungener Coup es war, die Villen-Bande festzusetzen, nun können die Menschen endlich wieder ruhig schlafen und morgen sei mein Foto in allen Zeitungen und er werde eine Pressekonferenz einberufen, damit die Polizei von Bologna endlich wieder im rechten Licht stehe und sich präsentiere, wie sie wirklich sei: gesund, sauber und ehrlich. Und dann, als ich schon nicht mehr zuhöre und hoffe, der Akku vom Handy möge bald leer sein, damit ich wenigstens auf dem Nachhauseweg meine Ruhe habe, rückt er mit dem wahren Grund für seinen Anruf heraus.

Der Bericht. Er braucht ihn morgen früh, noch vor der Pressekonferenz. Er kann nicht vor die versammelten Journalisten treten, ohne zu wissen, wie alles abgelaufen ist.

Und ich bringe es nicht über mich, ihm zu sagen, dass mir scheißegal ist, was er den Reportern morgen sagt, ebenso wie sein Bericht und seine geheime Idee, diese Geschichte für seine Kandidatur auf das Amt des Bürgermeisters im nächsten Jahr zu benutzen. Dass es mir überhaupt egal ist, ob er kandidiert, denn wählen würde ich ihn sowieso nicht. Ich schaffe es nicht einmal, ihm zu sagen, dass ich im Moment an nichts anderes denken kann als an die Stille, die in meiner Wohnung auf mich wartet. Und an meine Gedanken, die mir keine Ruhe lassen und mir unaufhörlich meine Erinnerungen und meine Erwartungen vorhalten.

Ich sehe auf die Uhr.

Es ist halb vier, und die Nacht ist noch lange nicht zu Ende. Ich lese, was ich geschrieben habe, und zerreiße es.

»Los, weiter …«, flüstere ich kaum hörbar, um nicht in lautes Fluchen auszubrechen.

Da liegt das Handy, neben der Computer-Maus. Es beobachtet mich wie ein stummes Tier, lauernd. Also versende ich eine SMS, drücke eilig die Tasten, ehe ich es mir anders überlegen kann.

Dann versuche ich, noch einmal von vorne anzufangen, den Satz, den Gedanken, den Moment.

Aber es geht nicht, und ich weiß, dass mir nichts anderes übrigbleibt, als zu versuchen zu begreifen, was ich nicht begreifen kann, und dann der Übelkeit zu folgen, die langsam in mir hochsteigt, bis ich mich irgendwann endlich über das Klo beuge und meine seit Tagen angestaute Traurigkeit herausbreche.

Das ist alles.

Außer natürlich, jeden einzelnen Augenblick an Alice zu denken.

Staatsstraße zwischen Marino del Tronto und Ascoli Piceno, im selben Moment

Der Krankenwagen kommt zügig voran, und er fühlt sich schon viel besser. Was immer in diesem verfluchten Salz war, jetzt ist es weg, vielleicht durch den Katheter hinausgeflossen, im Tiefschlaf, den ihm die geballte Ladung Medikamente beschert hat.

Jetzt aber ist es Zeit zu handeln. Solange sie noch auf der Straße sind. In der Klinik wird es zu spät sein. Wenn er schnell genug ist, kann er das Überraschungsmoment ausnutzen und alles läuft nach Plan. Ansonsten landet er wieder in der Zelle, und sein Geld löst sich in Rauch auf, und all die Schmerzen waren umsonst.

Er denkt an das Motiv für seine Flucht. Nur eine Sekunde, bevor er losschlägt. Mehr braucht er nicht.

Er brummelt etwas durch die Zähne, mit geschlossenen Augen.

Der Wachposten bewegt sich ein wenig, gerade genug, um ihm das Gesicht zuzudrehen. Wahrscheinlich sieht er den hochschnellenden Arm gar nicht. Spürt nur den Ellbogen, der ihn mit voller Wucht und dem gesamten Gewicht des massigen Gefangenen am Kinn trifft.

Dann geschieht alles auf einmal. Mit einem schnellen Griff entreißt er dem Polizisten die Pistole und versetzt ihm mit ihrem Knauf einen Schlag gegen die Schläfe. Er will keine Kugeln verschwenden und darf keinen Lärm machen.

Der Krankenwagen ist gerade schwungvoll abgebogen und die Notaufnahme nicht mehr fern. Er dreht sich zu dem Arzt und zielt ihm mit der Pistole direkt ins Gesicht.

»Du hältst die Schnauze und machst mir das Zeug ab, Dottore«, sagt er schnell. »Und fang mit diesem beschissenen Schlauch an, den ihr mir in den Schwanz geschoben habt.«

Mit angehaltenem Atem befolgt der Arzt seine Befehle.

Zwei Minuten später sieht der Fahrer des Streifenwagens hinter dem Krankenwagen, wie ein Mann aus der Hecktüre fällt, etwa auf Höhe der Kreuzung von Via di Folignano und Via Salaria.

Die Suche nach ihm dauert die ganze Nacht und verläuft ergebnislos.

Gaspare Nunia scheint sich in Luft aufgelöst zu haben.

Zwei

Bologna, 19. April. Irgendwo hinter dem Bahnhof

Vielleicht kommt sogar noch die Sonne heraus.

Ungewöhnlich für diesen Frühling mit seinem Dauerregen. Könnte ein gutes Omen sein, denkt er. Ein Sonnentag, exakt eine Woche vor Ostern, ausgerechnet heute.

Eine ganze Woche lang hat es nur geregnet. Der Himmel so dunkel, dass man es nicht glauben kann, und dann die Sonne. Gerade, als er die Hoffnung schon aufgegeben hatte.

Das ähnelt seiner eigenen Geschichte. Auch ihm ist etwas passiert, auf das er nicht mehr gehofft hatte. Diese Sonne muss ein Zeichen sein. Und er ist bereit. Nur eins muss er noch erledigen. Eine kleine, winzig kleine Sache. So unbedeutend, dass es keiner bemerken wird.

Deswegen ist er dort.

Durch die Windschutzscheibe sieht er sie herankommen. Sie trägt eine schwarze Hose und eine schwarze Lederjacke. Aus den Augenwinkeln verfolgt er, wie sie die Straße überquert und das Gittertor erreicht. Wie jeden Morgen.

Er blickt auf die Uhr. Kurz nach neun. Jeden Morgen erscheint sie zur selben Zeit bei der Arbeit. Höchstens zehn Minuten verspätet, mehr nicht. Zum Glück gibt es noch Menschen mit festen Gewohnheiten. Man braucht sie nur still zu verfolgen, geduldig ihre Termine, Orte, Zeiten, Daten zu notieren, und alles läuft wie geschmiert.

Dann muss man nur noch tun, was zu tun ist.

Als die Frau mit der Lederjacke durch das Tor verschwunden ist, betritt er eine Kaffeebar und bestellt sich einen Cappuccino.

Er trinkt ihn, an den Kühlschrank mit dem Eis gelehnt und wirft einen Blick in die Zeitungen, ob er etwas über die Nachricht findet, die er gerade im Radio gehört hat. Aber es steht nichts drin. Wahrscheinlich hatten die Druckereien schon dichtgemacht. Oder es ist zu spät passiert. Wie man es nimmt.

Aber das ist nicht wichtig, nur eine Kuriosität am Rande. Sonst nichts.

Etwas, das man sofort vergessen kann, sobald man sich den weichen Cappuccinoschaum von den Lippen gewischt hat.

Etwas, das seinen Mund zu einem Grinsen verzieht angesichts dessen, was er gleich tun wird.

»Hast du den Bericht noch geschrieben?«, fragt mich Ippoliti. Ich würdige ihn keines Blickes. Ich denke nach, sonst nichts. Dabei weiß ich nicht einmal, worüber. Ich nehme es nur wie ein Hintergrundgeräusch wahr, das mich mit der Realität verbindet, mit dem, was ich tun muss. Wie das nächtliche Summen von Stromkästen oder das eigenartige Brummen von Kühlschränken.

Und ich weiß, dass ich Angst habe.

Für einen Polizisten vielleicht der Normalzustand. Die Angst, irgendein Geisteskranker könnte dir eine Kugel durch den Kopf jagen, aus einem, hundert oder keinem Grund. Die Angst, Fehler zu machen und einen Unschuldigen zu treffen. Doch das ist nicht die Angst, die ich habe. Die mir unter die Haut kriecht. Mein Virus ist ein anderer.

Er ist mehr wie etwas, das fehlt, innen drin, und bei dem du eines Tages realisierst, dass du all deine Sicherheiten darauf gebaut hast, aber erst, als du feststellst, dass es nicht mehr da ist.

»Hast du den Bericht noch geschrieben?«, fragt mich Ippoliti noch einmal, und ich sehe ihn erstaunt an. Dann begreife ich.

»Nein, habe ich nicht.«

»Dieses Mal wird der Polizeipräsident dich in der Luft zerreißen. Den ganzen Morgen nervt er schon. Er hat angefangen, da war es nicht einmal acht. Die Pressekonferenz ist um zwölf. Diesmal reißt er dir den Arsch auf.«

»Soll er doch. Ist mir wurst«, antworte ich mechanisch. Und meine es so. »Zwei Monate lang habe ich mich abgerackert, um diese Mistkerle zu kriegen. Die ganze Zeit lag er mir in den Ohren aus Angst, die vier könnten irgendeinen steinreichen Pinkel oben in San Mamolo ausrauben. Jeden Tag! Riccardi hier, Riccardi dort. Und dann schnappe ich sie: Ich habe getan, was ich tun sollte. Wie er zum Bürgermeister gewählt wird, darum soll er sich bitteschön selbst kümmern.«

Ippoliti setzt sich vor mich. Er hat das typische Gesicht eines müden Bolognesers, leicht geschwollen, von den so wenig frühlingshaften Temperaturen gerötet. Ich sehe dieses Gesicht seit ungefähr zehn Jahren jeden Morgen. Die dichten Augenbrauen und die lange, spitze Nase eines Sechsundvierzigjährigen, der zu mager ist, um älter auszusehen, als er ist. Einer, den die Leute auf Anhieb unsympathisch finden. Aber nur, weil sie Schweigen mit Arroganz verwechseln, und einen entschlossenen Gang mit Hochmut. Ich sehe ihm in die Augen, die für das Gesicht zu blau sind, und versuche mich zu erinnern, wie es war, als ich ihn kennengelernt habe. Aber ich weiß es nicht mehr.

»Wie lange hast du nicht mehr mit ihr gesprochen?«

Ein gepresstes Flüstern. Als steckte ihm ein Bratenrost quer in der Kehle und ließe die Stimme nicht durch. Ich lächele, weil er mich durchschaut. Bis ins Innerste.

»Eine Weile.«

»Wie lange?«

»Eine Weile«, wiederhole ich nur, aber lauter. Ich möchte ihm sagen, dass ihn das nichts angeht, auch wenn ich nicht genau weiß, ob ich seine Frage richtig verstanden habe. Ich kratze mir langsam den Kinnbart. Ich drehe mich um und sehe hinaus. In der Scheibe spiegelt sich mein Gesicht, und es sieht nicht traurig aus. Nur wütend. Als Kind hatte ich oft diesen Gesichtsausdruck, wenn die Dinge nicht liefen, wie ich wollte. Und ich habe ihn heute noch, als Erwachsener, wenn ich merke, dass mein Leben mir zu entgleiten droht, und nicht weiß, wie ich es aufhalten kann, wie ich es am Schwanz packen und stoppen kann. Wenn ich auf jemanden wütend bin und zugleich auch nicht. Und ich bin wütend, auf Alice, während der Regen fällt und sein Anblick zu viele Erinnerungen in mir weckt. An einen Traum, zum Beispiel, den sie mir einmal im Auto erzählt hat, um uns herum nichts als die dunkle Straße. Einen Traum, der von einem Gefängnis handelte und einem Meer voller Matratzen, in dem sie schwimmt, schwimmt und kein Ufer findet. Träume.

Aus einem Gefängnis zu fliehen, das in dir steckt, ist schwierig. Vor allem, wenn du dir das Gefängnis deines Herzens selbst gemauert hast. Und es vielleicht nicht einmal weißt.

Dann denke ich wieder, dass seit heute die Kerle mit ihren Villen nur noch eine Akte im Archiv sind, die mit den Jahren vergilben wird. Da werde ich noch wütender. Denn ich weiß nicht, wie ich mir die Zeit vertreiben soll, womit ich mich ablenken soll.

Ich wandere um meinen Schreibtisch herum und setze mich.

»Der Bericht kann mich mal. Und der Polizeipräsident auch.«

»Mach dir keine Gedanken über den Bericht.«

Ippoliti reicht mir ein Blatt Papier. Er hat ihn geschrieben. Schließlich war er dabei und hat alles gesehen. Und was er nicht gesehen hat, weiß er trotzdem. Ich sehe ihn an, und mir fällt nichts ein. Ich kann nur den Bogen ergreifen und eine Sekunde festhalten, bevor ich ihn auf den Tisch lege. Ich nehme einen Stift und unterschreibe.

»Nunia ist ausgebrochen«, sagt Ippoliti, und meine Finger erstarren kurz, während ich die beiden »c« meines Nachnamens schreibe. Normalerweise sind sie größer. Diesmal sehen sie wie eine kleine Welle aus.

»Wann?«

»Heute Nacht.«

»Aus Marino del Tronto?«, frage ich ungläubig.

Das Hochsicherheitsgefängnis von Marino del Tronto, wenige Kilometer von Ascoli entfernt, ist das neue Zuhause Totò Riinas, eine wahre Festung, wo die Gefangenen im Strafvollzug nach dem Härtefallartikel 41b untergebracht sind. Ein Gefängnis, das nach den Morden an den Richtern Falcone und Borsellino extra für die Mafia gebaut und dann auch für Terroristen und Schwerstverbrecher geöffnet wurde. Aus so einem Gefängnis bricht man nicht aus. Da stirbt man eher.

»Aus Marino del Tronto. Es ging ihm schlecht. Sehr schlecht. Sie waren mit ihm im Krankenwagen unterwegs, und er hat die Wache k.o. geschlagen, sich vom Arzt die Handschellen abnehmen lassen und sich dann aus der hinteren Tür auf die Salaria gestürzt.«

»Krank …«, kommentiere ich mit einem ungläubigen Lächeln.

»Krank«, erwidert Ippoliti und zuckt kurz mit den Schultern. Das Äußerste an Ironie, das man von ihm erwarten kann.

»So ein Unsinn …«

»So ein Unsinn«, nickt Ippoliti und kratzt sich nachdenklich am Kinn. »Du erinnerst dich an Nunia«, sagt er dann.

Gaspare Nunia. Ein wahres Tier von über einem Meter neunzig. Privatbesitz der Familie Giulio. Ein ganz sensibles Kerlchen, das einmal die Schwester eines Bosses umbrachte, indem er sie an einem Fleischerhaken aufhing. Er war uns unverhofft in die Falle gegangen, nachdem wir einen Wink bekommen hatten. Wahrscheinlich von den Giulios selbst, die ihn nicht mehr brauchten. An einem Regentag wie heute. Vielleicht noch schlimmer.

Einen Tag, den ich nie vergessen werde.

Zuletzt habe ich ihn beim Prozess gesehen. Als ich ihn reden hörte, begriff ich, warum alle Angst vor ihm hatten. Selbst dort, angesichts einer haushohen Strafe, schien er kein bisschen erschüttert, und seine Stimme war fest wie immer.

»Keine Sorge, Dottore. Wenn eine Tür zugeht, bedeutet das nur, dass eine andere aufgeht«, hatte er zu mir gesagt, und damals hatte ich mich gefragt, ob es eine Drohung oder eine einfache Feststellung war.

Die Tür, die sich hinter ihm schloss, wog dreimal lebenslänglich.

Offensichtlich hatte er recht behalten.

»Natürlich erinnere ich mich an Nunia«, sage ich, und meine Stimme klingt leer, steril wie ein Operationskittel. Ich könne mir nicht vorstellen, dass er so dumm sei, mir einen Besuch abzustatten, sage ich zu Ippoliti, der nicht ganz meiner Meinung zu sein scheint.

»Pass auf dich auf«, sagt er.

Worauf soll ich aufpassen, möchte ich ihn fragen. Darauf, was ich tue, wie ich mich bewege, auf Schatten vor meiner Haustür oder auf das Auto, das zweimal hintereinander nicht anspringt? Soll ich auf die schaufelgroßen Hände von diesem Tier aufpassen, das wer weiß welche Krankheit vorgetäuscht hat, um aus einem Notarztwagen auf die Straße zu fallen wie ein Kind, das von seiner Mutter hinausgeworfen wird?

Einen winzigen Moment lang hoffe ich fast, dass er tatsächlich zu Hause auf mich wartet. Hinter der Tür. Um mich gebührend zu begrüßen.

Komm schon, Gaspare, ich habe bald Geburtstag. Mach mir ein Geschenk.

Schenk mir einen schönen Haken, den du mir in die Stirn treibst, in meine Gedanken, die leise ihr Leben aushauchen, sich auflösen, verflüchtigen.

Doch ich weiß, dass es nicht so sein wird. Denn ich habe keine Angst. Nicht vor Gaspare.

Ich weiß, dass mich heute Abend hinter meiner Wohnungstür kein ehemaliger Mafiakiller erwartet, sondern meine Erinnerung. Um in einem unbeobachteten Moment über mich herzufallen wie jetzt, als ich aufspringe und Ippoliti anstarre.

»Ich gehe zum Polizeipräsidenten.«

Die Andeutung eines Lächelns erscheint auf seinem Gesicht.

»Viel Glück.«

Ich lege ihm eine Hand auf die Schulter und schüttele sie leicht. Ohne den Blick von ihm zu wenden, gehe ich aus dem Zimmer. Ich fahre mit der Hand über das Mobiltelefon in meiner Jackentasche, als könnte ich es dadurch zum Vibrieren bringen.

Was natürlich nicht passiert.

»Alice, geht es dir gut?«, hört sie die Frage.

»Ja, ja. Mir geht’s gut. Nur ein bisschen Kopfweh, glaube ich«, lautet die Antwort.

Doch sie denkt an die Schokokugel.

Als der Mann sie ihr angeboten hat, konnte sie einfach nicht widerstehen, naschhaft wie sie ist.

»Da kann ich nicht nein sagen«, meinte sie und ließ sich die Füllung auf der Zunge zergehen.

»Ich weiß«, antwortete er.

Wenn sie es recht bedenkt, kommt es ihr vor, als hätte der Mann dabei eigenartig gelächelt.

Doch das ist nur ein kurzer Gedanke.

Nur ein kurzer Gedanke, bevor sich alles ändert. Bevor sie zu Boden gezogen wird, auf die Knie. Bevor sie einen dumpfen Aufprall hört und einen seltsamen Schmerz in der Schulter spürt.

Bevor ihr bewusst wird, dass dies der Beginn von etwas Neuem ist.

»Du bist fett wie ein Schwein und isst trotzdem immer weiter, bis es dir aus den Poren herausquillt! Schau dir nur mal deinen Bauch an!«

Ich kenne Max nun bald dreißig Jahre und er ist immer der alte Stänkerer. Einer, der mich überall und immer zum Lachen bringt. Selbst in so einem Moment.

»Tja, mein Lieber, von einem Körper wie meinem kannst du nur träumen. So weit wirst du es nie bringen!«, antworte ich und beiße genießerisch in das belegte Brötchen in meiner Hand.

Der Ort, an dem er mich nach bewährter Manier beleidigt, ist eine Bar zwischen den Luxusboutiquen der Galleria Cavour und den kleinen feuchten Sträßchen des Marktes. Früher war es eine Gastwirtschaft, und aus jener Zeit stammen das enge, dunkle Ambiente sowie der Saal im oberen Stockwerk, wo man auch zu den ärgsten Stoßzeiten fast immer noch einen Platz findet und Bologna aus einem anderen Blickwinkel betrachten kann.

Von hier oben sieht die Stadt noch lebenswert aus. Ist sie letztlich ja auch. Nur dass sie beschlossen hat, Stück für Stück ans Tageslicht zu zerren, was schon immer unter ihrem Kopfsteinpflaster und den Schatten der Arkaden verborgen lag. Dinge, die es immer gab und die nun hervorkommen, eins nach dem anderen. Der Mord an der Kunstkritikerin Alinovi. Die Raubüberfälle der Polizisten-Bande mit dem weißen Uno, Dinge, von denen du dachtest, dass sie hier nicht passieren könnten. Weil du dachtest, dass sie in einer Stadt wie dieser nicht passieren. Aber so betrachtet heißt das nur, dass du die Stadt nicht kennst.

»Also?«, fragt mich Max.

»Was also?«

»Wie geht es dir?«

»Dieser Kretin von Polizeipräsident will allem Anschein nach für das Bürgermeisteramt kandidieren.«

»Mist, das hätte ich fast vergessen! Ich hab dich heute in der Repubblica gesehen. Hättest wenigstens mal lächeln können. Natürlich hätte dein Unfehlbarer-Bulle-Image einen Kratzer bekommen, aber ein Job als TV-Flittchen wäre sicher drin gewesen.«

»Du weißt schon, dass du ein Vollidiot bist, oder?«, frage ich lächelnd und denke an das Foto. Ich weiß nicht einmal, wer es geschossen hat, genau in dem Moment, als ich aus der Villa kam. Ich blicke gerade schräg in den Himmel, um zu prüfen, ob es regnen wird oder nicht. Es sieht aus, als grübelte ich über einem komplizierten kosmischen Gesetz. Dabei denke ich nur an das Wetter.

»Vergiss den Polizeipräsidenten und hör auf, mir auszuweichen. Ich hab gefragt, wie es dir geht …«

Ich nehme einen Schluck. »Was glaubst du denn?«

»Ich glaube, dass du einem ganzen Gebirge von Gedanken nachhängst.«

»Möglich. Dabei sind es erst drei Wochen, dass ich nichts von ihr höre. Dass sie nicht auf meine Anrufe und SMS reagiert. Was soll schon groß sein?«

»Hör mal«, erwidert er in mein Schweigen hinein. »Du musst durchhalten. Ich weiß, wie es dir dabei geht, aber sie braucht Zeit für sich. Nicht mehr und nicht weniger. Gib ihr Zeit, darüber nachzudenken, was sie wirklich will im Leben. Dann wirst du sehen, was passiert.«

»Klar. Vielleicht nervt mich an der ganzen Sache am meisten diese Warterei.«

»Weil du immer, wenn du darüber nachdenkst, das Gefühl hast, nicht mehr durchzublicken.«

»Also, das scheint mir jetzt doch etwas übertrie…«

»Nein, mein Lieber, das ist die bittere Realität! Du kapierst nichts von dem, was in deinem Leben und in deinem Kopf passiert. Ich kann mir vorstellen, dass es nicht leicht ist, die Vorgänge in diesem kleinen Dickschädel hier zu begreifen, aber so ist es nun mal. Vertrau mir.«

Mit einem letzten Schluck leere ich die kleine Wasserflasche.

»So weit ist es also mit mir gekommen. Ich soll einem wie dir vertrauen«, sage ich und stehe auf.

Max nimmt den Bon und folgt mir.

»Ich bin ein Genie, du Lümmel, was glaubst du denn?!«, erwidert er lachend.

Ich mag, wie er lacht, weil er auch mit den Augen lacht.

Draußen biege ich links in die Via Clavature ein. Eine Frau auf Stöckelschuhen geht mit schwingenden Hüften an uns vorbei. Max folgt ihr mit dem Blick, und ich frage mich, wie oft wir diese Szene schon erlebt haben.

Zehn Meter weiter am Neptunbrunnen verabschiede ich mich von ihm. Ein Regentropfen fällt genau auf meine Nase.

»Es geht schon wieder los«, sage ich und berühre die nasse Stelle.

»Ganz ruhig«, erwidert er. Dann führt er die Hand ans Ohr, um ein Telefon nachzuahmen.

»Einverstanden. Wenn es Neuigkeiten gibt, rufe ich dich an.«

»Nein, ruf mich in jedem Fall an.«

Er nimmt meine Wange leicht zwischen Daumen und Zeigefinger. Ich sehe ihn an und merke, dass ich traurig aussehe, aber ich kann mich nicht verstellen.

»Ja. Heute Abend, wenn ich früh genug zu Hause bin. Ich muss jetzt.« Ich verabschiede mich und gehe Richtung Piazza Galileo.

Der Polizeipräsident erwartet mich.

Ich verstehe nicht, was passiert. Und das nervt mich.

Heute bin ich im Büro gestürzt, unter den Blicken der versammelten Belegschaft, wie peinlich. Und diese Bohnenstange Ilaria hat mich dämlich angestarrt.

»Alice, geht es dir nicht gut?«, hat sie gefragt. Ich bin der Länge nach hingeknallt – wie geht es mir da wohl?

Sogar jetzt tut mir die Schulter noch weh. Vielleicht sollte ich sie mit Salbe einreiben. Irgendwo muss ich noch etwas haben. Auch wenn sie letztlich nicht hilft. Nur dass alles schmierig wird.

Hier liege ich auf dem Bett, und meine Beine kribbeln, die Waden. Manchmal auch die Finger. Bei dem Glück, das ich habe, verbringe ich wahrscheinlich Ostern mit Grippe im Bett. So ein Dusel! Als wär nicht so schon alles schlimm genug. Mein Kopf wiegt schwer wie ein Sack Kartoffeln, und ich glaube, ich muss mich gleich übergeben. Da hab ich mir ja was Schönes eingefangen. Hätte mich wärmer anziehen sollen. Tue ich sonst ja auch, der Jahreszeit entsprechend eben, und einmal nicht, schon ist es passiert.

Nein, ich will keine Grippe. Vor einer Woche, ja. Da wäre ich dankbar gewesen für ein paar Tage Fieber. Ich hätte schön im Bett gelegen, ohne nachzudenken, ohne Probleme zu wälzen. Faulenzen, lesen, ganz für mich allein. Ja, ich hätte gern mal meine Ruhe. Weißt du das, Katze, ich hätte einfach gern mal meine Ruhe, so wie du.

Ich will in Frieden gelassen werden. Sofort.

Hier liege ich und blättere in meiner Melancholie wie in einem Buch. Ich muss mit meinen Gedanken allein sein. Schau, wenn ich keine Lust habe, stell ich nicht mal die Waschmaschine an. Nur dein Futter, das bekommst du natürlich trotzdem.

Und ich bleibe schön zu Hause.

Ich mag meine Wohnung. Je länger ich sie anschaue, umso mehr gehört sie mir. Weiß gestrichen, wie es mir gefällt. Voll schöner Dinge, nützlichen und überflüssigen. Wie das Bild mit der fliehenden Maus, das niemand kaufen wollte. Ich habe es sofort genommen, und die Frau, die es gemalt hat, konnte es fast nicht glauben. Und überall hängen Fotos. Ich sehe sie gerne an, schwelge in Erinnerungen, berühre sie mit Fingern und Blicken.

Und ich liebe meine Küche. Du auch, stimmt’s? Man braucht sie nur zu erwähnen, und schon fallen dir die Brekkies ein. Ja, später komme ich und gebe dir welche. Später, jetzt lass mich noch ein wenig ausruhen. Ich bleibe einfach ein paar Tage zu Hause, dann geht es bestimmt schon wieder. Alles wird wieder normal. Schön. Schließlich haben wir Frühling.

Wir haben Frühling, und ich bin einsam. Sehr einsam, manchmal. Einsam, weil meine Gedanken einfach nur mir gehören und sowieso niemand sie verstehen kann. Niemand.

Ich drehe mich auf die Seite und lege das Buch weg. Dann nehme ich das Foto meiner Mutter vom Nachttisch. Ich betrachte sie und lächele sie an. Nicht das Foto, sie selbst. Wer weiß, was sie mir sagen würde und wie sie mich heute fände. Ob sie stolz darauf wäre, was ich tue, wie ich lebe. Als ich sie zurückstelle, erstarre ich plötzlich. Die Katze läuft über meine Wade, und eigentlich müsste ich ihre Pfoten spüren.

Tue ich aber nicht.

Was zum Teufel ist hier los? Vielleicht ist sie zu leicht, um sie zu spüren. Oder ich war mit den Gedanken woanders und habe nicht darauf geachtet. Ich sehe, wie sie auf den Nachttisch springt, mit einer Bewegung, die mir langsam vorkommt. Als hielte sie in der Luft inne.

Ich drehe mich wieder zurück, und das Handy vibriert. Mit der Hand fahre ich über die Tagesdecke und sehe es an.

Nachdem ich die Nachricht gelesen habe, weiß ich nicht, was ich denken soll. Wirklich. Ich weiß nicht, ob ich antworten soll oder nicht. Ich wüsste nicht einmal, was ich schreiben soll. Also lege ich es einfach wieder weg.

Zu viele Gedanken für einen einzelnen Kopf. Man bräuchte mindestens drei oder vier. Ja, drei oder vier Köpfe wären nicht schlecht.

Meine Augenlider sind schwer. Vielleicht sollte ich ein wenig schlafen. Danach sehen wir weiter. Wenn ich aufwache. Mist, ich muss Fieber haben. Bei der heißen Stirn.

Komm, Miezi, komm zu mir. Nein, nicht auf das Kissen, hier neben mich. Brav. Du bist ja so klein, weißt du das? Bleib hier bei mir, jetzt. Ich mache das Telefon aus und wir bleiben hier. Brav so. Wer weiß, woran du denkst, wenn du die Pfoten reckst und buckelst, wenn du deinen Schwanz einrollst wie eine Schlange, wenn du herumstreunst. Hm, was sagst du? Los, sag es mir … Vielleicht kannst du Dinge sehen, die ich nicht sehe. Wer weiß. Wer weiß, was du denkst.

Auch ich müsste nachdenken, Miezi.

Aber ich kann nicht. Ich schaffe es einfach nicht.

Ich habe keine Kraft dazu.

Ich bin erschöpft.

Lasst mich alle in Ruhe.

Jetzt.

»Ich kann mir denken, dass Sie bereits informiert sind, Commissario.«

Der Polizeipräsident von Bologna, Doktor Mario Piras, untersetzt wie ein Ringkämpfer, doch mit ebenmäßigen Zügen und ohne ein Gramm Fett, verfügt über eine Entschlossenheit, die in bedeutenden Momenten auf seine Stimme überspringt. Das können alle bezeugen, die bei der Arbeit oder sonst mit ihm zu tun haben: Er hat einen Tonfall für offizielle Anlässe und einen völlig anderen, in dem seine sardische Herkunft durchschimmert und der der realen Welt vorbehalten ist.

Auf Pressekonferenzen lächelt er wenig und niemals offen. In der Öffentlichkeit präsentiert er das Bild eines gestandenen Mannes, Hüter des Gesetzes, der keine Schwächen hat und nie einen Fleck auf seinen blütenweißen Hemden, die er zu diesen Anlässen trägt.

Ich hasse solche Menschen, und er weiß das.

»Ja, ich habe davon gehört«, antworte ich und denke, wenn er mich aus meiner Mittagspause geholt hat, nur um mir zu sagen, dass ein Mann ausgebrochen ist, den ich festgenommen habe, hätte er mich auch in Ruhe zu Ende essen lassen können.

»Ich denke darüber nach, Sie unter Polizeischutz zu stellen.«

Fast muss ich lachen. Ich hätte Lust, ihm frei ins Gesicht zu grinsen, doch dann halte ich mich wohlweislich zurück.

»Ich kann mich abends selbst ins Bett bringen, schon seit meine Oma tot ist, Dottore.«

»Hören Sie, Riccardi, bei mir können Sie Ihr Machogehabe ablegen. Das beeindruckt mich nicht. Ich glaube, dass es unvorsichtig wäre, sich zu sicher zu fühlen.«

»Vielleicht bin ich ja kein vorsichtiger Mensch, Dottore.«

»Das sind Sie wohl. Ich kenne Sie. Seit langem. Und ich mache mir Sorgen. Nicht um Sie, Commissario. Sondern um mich. Denn falls dieser Nunia tatsächlich beschließen sollte, in Ihrer Wohnung vorbeizuschauen, kostet Sie das vielleicht Ihr Leben, mich aber meinen Ruf. Und um ehrlich zu sein, ist mir mein Ruf wichtiger als Ihr Leben.«

»Aus Sicht eines Anwärters auf das Bürgermeisteramt nur zu verständlich. Einen Bürgermeister ohne Ruf hat diese Stadt ja schon. Da braucht sie sicher keinen zweiten.«

»Riccardi, bitte …«

Er will noch einmal ansetzen. Aber ich kann das Geschwätz nicht mehr hören. Er braucht mich mindestens ebenso sehr wie ich ihn. Ich brauche einen neuen Ansporn, und er einen neuen Erfolg, den er der Masse präsentieren kann. Und seine Auftritte gehen mir genauso auf die Nerven wie die Leute, die politisch auf seiner Seite stehen. »Hören Sie, Dottore, machen wir es so. Ich werde mich mal umhören, wo Gaspare Nunia sich herumtreibt, ob er hier in der Gegend ist, ob er offene Rechnungen hat und so weiter. Wenn er hier ist, werde ich ihn kriegen. Und Sie halten mir bitte irgendwelche Beamten vom Hals, die mir auf Schritt und Tritt im Weg herumstehen, kaum dass ich das Haus verlasse.«

»Die Ermittlungen liegen nicht bei uns, Commissario. Nunia ist aus keinem Bologneser Gefängnis ausgebrochen.«

»Offiziell ist es rein privat. Nach allem, was passiert ist, werde ich mich doch wohl dafür interessieren dürfen, was dieses Tier anstellt? Ich glaube nicht, dass man mir Auskünfte verweigern wird. Außerdem habe ich meine eigenen Quellen, Herr Polizeipräsident.«

»Und wenn ich es Ihnen verbiete?«

»Das wäre nicht in Ihrem Sinne, glaube ich. Wenn Nunia sich wieder in der Gegend aufhält und jemand anderes ihn uns vor der Nase wegschnappt, stehen Sie schön blöd da. Auch wenn wir nicht zuständig sind. Und wenn er mich umbringen will, ist es besser, es trifft nur mich. Kein Polizeischutz. Sie wissen sehr gut, wenn ich ihn suchen will, tue ich das auch gegen Ihren Willen. Mehr noch, wenn etwas schiefläuft, wussten Sie von nichts und kommen mit sauberem Hemd aus der Angelegenheit heraus.«

Piras lehnt sich in seinem Stuhl zurück und lässt die Finger knacken. Ein trockenes Geräusch wie von einem brechenden Zweig.

»Tun Sie, was Sie für richtig halten, Commissario. Ich habe natürlich nichts gesagt.«

»Und diese Unterhaltung hat es nie gegeben. Wie im Film.«

»Aber das ist kein Film, Commissario. Halten Sie die Augen offen.«

»Ob Sie es glauben oder nicht, ich hänge an meinem Leben, Dottore.«

Ich wende mich zum Gehen. Kaum stehe ich im Flur, höre ich ihn meinen Namen rufen.

Ich biege rechts ab in Richtung Kaffeeautomat und gehe ohne eine Antwort die Treppe hinunter.

Als hätte ich nichts Wichtigeres zu tun.

Irgendwo zwischen Salerno und Reggio Calabria, kurz vor eins

Die Autobahn zieht sich schnurgerade durch den hellen, fast sommerlichen Sonnenschein.

So ähnlich schien die Sonne auch damals, wenn er als Kind im April mit seinem Vater in der Bucht zum Baden ging. An einem jener Nachmittage sah er die Katze. Er hatte Steine ins Wasser geworfen und ein Geräusch hinter sich gehört. Als er sich umdrehte, erblickte er eine Katze, die über die Felsen sprang und ihn misstrauisch beäugte. Sie hatte ein rotschwarz geschecktes Fell und hinkte mit einem Bein. Sie musterten sich auf zehn Meter Entfernung wie bei einem Westernduell. Er erinnert sich noch genau daran, nach so vielen Jahren. Das Meeresrauschen, sein Vater, der ein paar Meter weiter leise schnarchte, das Aufklatschen der Steine auf dem Wasser, das Geräusch des Kieses unter den Pfoten der Katze.

Und dieses Gefühl, zum ersten Mal.

Das Gefühl, es tun zu wollen.

Wie ein Kitzeln im Nacken, unter der Haut, das dir langsam den Rücken hinabrieselt. Vergleichbar mit dem, was er Jahre später empfand, als eine Frau ihn zum ersten Mal in den Mund nahm.

Er weiß auch noch, dass er sich irgendwann entschloss, das Gefühl zu ignorieren. Es wegzuwerfen, wie die Schuppen eines gehäuteten Fisches. So drehte er sich wieder um und ließ Steine über das Wasser flitschen. Beim ersten gelangen ihm zwei, vielleicht drei Sprünge, bevor er unterging wie ein Stück Blei. Er hatte weitere geworfen, und der letzte war fünfmal gesprungen, sein absoluter Rekord. Etwas, wofür er vielleicht sogar seinen Vater aufwecken konnte, um es unter seinen Blicken noch einmal zu versuchen.

Dann aber hatte die Katze miaut.

Er sah sich um. Sie war gerade mal fünf Meter entfernt. Die Augen starr auf ihn gerichtet, reglos. Als er sich ganz zu ihr umdrehte, miaute sie wieder.

Da hatte er den Stein geworfen.

Ein gerader, zielsicherer Wurf, der auf dem Wasser vielleicht sogar sechs Sprünge geschafft hätte. Oder sieben. So traf er die Katze am Kopf. Er begriff nicht, warum sie nicht ausgewichen war, sondern seelenruhig zugesehen hatte, wie der Stein auf sie zukam. Das Kätzchen setzte sich nur kurz in den Kies und sprang gleich wieder auf. Ohne zu fliehen. Mit einer Pfote fuhr es sich über eine Stelle oberhalb der Augen, eine ruckartige, mechanische Bewegung, die ihn reizte.

Vielleicht hatte gerade diese Bewegung, mehr noch als der Umstand, dass sie nicht floh, den Ausschlag gegeben. Ohne die Katze aus den Augen zu lassen, hatte er sich gebückt und einen neuen Stein aufgehoben. Einen größeren.

Diesmal hatte die Katze aufgejault und war auf eine Flanke gesunken, wie ein Boot mit Schlagseite. Sie bewegte rhythmisch den Kopf, dem Schlag des Herzens folgend. Sie senkte und hob ihn wieder, wie ein Pendel.

Dann war er näher herangegangen.

Die Katze hatte gefaucht und versucht, sich aufzusetzen. Sie war zwei Schritte zurückgewichen wie ein Betrunkener auf einem Schiff im Sturm, dann war sie wieder zusammengebrochen. Vielleicht hätte sie ihm leid tun müssen. Aber sie tat ihm nicht leid. Er spürte nur Abscheu und wusste nicht einmal, warum.

Er bückte sich wieder und ergriff einen schönen großen Kiesel. Kalt und glatt lag er ihm in der Hand. Bei seiner Bewegung hatte die Katze einen eigenartigen Laut ausgestoßen, hatte sich mühsam erhoben und versucht wegzutorkeln mit so lustigen Bewegungen, als gehörten die vier Pfoten vier verschiedenen Tieren, die sich nicht auf eine Richtung einigen konnten.

Schließlich war sie wieder hingefallen. Und er hatte begriffen, dass dies der Moment war. Er hatte sich über sie gebeugt und begonnen, auf sie einzuschlagen. Der Stein hatte sie genau auf die Stirn getroffen, und er hatte deutlich das Geräusch des splitternden Schädels gehört. Beim Zuschlagen traf ihn die Kralle der Katze, scharf wie eine Rasierklinge, oberhalb des Handgelenkes. Es hatte sich angefühlt, wie wenn man sich an einer Buchseite schneidet. Aber er hatte weitergemacht, und auf ihrer Brust hatte sich Blut gebildet, als er das Tier an der Schnauze traf. Es jaulte leise, und er schlug weiter zu, zwei-, drei-, zehnmal. Bis nichts mehr zu hören war. Nur der Stein, der fest auf die weiche, undefinierbare Masse niederging.

Dann hatte er nach unten geschaut und keine Katze mehr gesehen.

An ihrer Stelle lag ein eigenartiges Wesen, das ihr zwar ähnelte, aber anstelle des Kopfes etwas Breiiges hatte, wie das Gesicht der Stoffpuppe, die seine Mutter seiner Schwester geschenkt hatte. Etwas, das nach Katze aussah, aber keine mehr war.

Als er aufstand, brach das Tosen des Meeres über ihn herein, er fühlte den Wind auf dem Gesicht und seine Atemzüge. Vielleicht war das alles auch vorher da gewesen. Aber er hatte es nicht bemerkt. Er blickte auf den Kiesel in seiner Hand. Er war rot vom Blut der Katze und glänzte in der Sonne. An seiner Seite klebten kleine Knochensplitter, weiß und fein, wie jene, die am Messer zurückbleiben, mit dem man ein Kaninchen schlachtet.

Die Katze sah so klein aus.

Dann hatte er etwas Salziges und Warmes auf den Lippen geschmeckt und gemerkt, dass er Blut im Gesicht und auf der mageren, glatten Brust hatte. Und noch mehr Blut an der rechten Hand und am linken Unterarm und am rechten Handgelenk, wo die Katze ihn gekratzt hatte. Blut, das zwischen den Steinen ineinanderfloss.

Ein Pakt zwischen ihm und dem Tod, geschlossen mit dem Blut der Katze. Ein Pakt zwischen Männern, wie der, von dem sein Vater ihm einmal erzählt hatte.

Da dachte er, dass er nun ein Mann sei, und sah auf den Kadaver der Katze, über dem schon die Fliegen kreisten. Und ein Lächeln breitete sich über sein Gesicht, rein und echt, und das Gefühl der Macht ließ ihn den Stein noch fester packen.

Er fühlte sich gut, richtig gut.