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Die Tänzerin Raimonda Gudavičiūtė sucht nach einer Balance zwischen Beruf und Mutterschaft. Gerade hat ihr neues Stück in Frankfurt Premiere, da schließen sich bedingt durch den Lockdown alle Vorhänge. In größter Bedrängnis entwickelt sie gemeinsam mit ihrem achtjährigen Sohn eine Tanzperformance, die zu einem internationalen Erfolg werden wird. Wie eine Kamera, die die Tanzenden aus unterschiedlichen Blickwinkeln erfasst, betrachtet der Erzähler den berührenden Tanz der beiden. »Jetzt wirst du ein Buch schreiben . . . «, gab mir Helen den Faden zurück, als sie merkte, dass meine Gedanken ein weiteres Mal abgedriftet waren: »Über das Tanzstück.«
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Seitenzahl: 97
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Rainer Wieczorek
© Dittrich Verlag ist ein Imprint der Velbrück GmbH, Weilerswist-Metternich 2024
Umschlaggestaltung: Guido Klütsch
Gesetzt aus der Whitman und der Quay sans
Printed in Germany
ISBN 978-3-910732-27-8 eISBN 978-3-910732-34-6
Rainer Wieczorek
Dittrich
Kapitel
Das einzige, was ein Kunstwerk kann, ist Sehnsucht
wecken nach einem anderen Zustand der Welt. Und
diese Sehnsucht ist revolutionär.
Heiner Müller
Ich sei Schriftsteller, kein Werbetexter, sagte ich zu Helen, »ich lebe in der Wahrheit!«
»Zu pathetisch. Letzten Satzteil streichen«, antwortete Helen, als wäre sie meine Lektorin.
Ich musste ihr insoweit Recht geben, dass neben den Wahrheiten der Literatur weitere Wahrheiten existierten – die Wahrheit meiner diesjährigen Honorarabrechnung beispielsweise.
Helen Radenthein war Fotografin. Sie hatte einen sehr schnellen und zugleich präzisen Blick für Menschen und Situationen. Nun war sie auf eine Geschäftsidee gekommen: mit mir als Texter zukünftig Booklets zu entwerfen. Booklets für bildende Künstler, Booklets für Musiker, für Ausstellungsorte oder den Tourneebetrieb. Etwas allgemeiner formuliert: Booklets für den Kunstbereich. Gegen Bezahlung.
»Fifty-fifty?«, fragte ich nach längerer Überlegung.
»Fifty-fifty.«*
Das erste Projekt, das Helen an Land zog, war eine Werbebroschüre für einen süddeutschen Puppenspieler, der im Ein-Mann-Betrieb während der kühleren Monate ein Publikum im Kindergartenalter beglückte. Seine Hauptfigur war der Kartoffelkopp und das Thema seines aktuellen Stücks das Warten auf die Weihnachtsbescherung, das manche Kinder an die äußerste Ich-Grenze treiben konnte.
Schön zu sehen, wie Kinder hier auf das Glück der Warengesellschaft vorbereitet werden, dachte ich und schrieb jene Zeilen, mit denen der Kunde zufrieden von dannen zog. Zwölf farbige Seiten in Heftform hielt er in der Hand, denen die Aufgabe zukam, allen Eltern, denen das Puppenspiel gefallen hatte, das Weiterempfehlen zu erleichtern. 500 Stück. Lieferung an Bestelladresse.
»Aus dem Kindergartenalter bin ich raus, Helen.«
Kinder, Kinderliteratur sei ein riesiger Markt – ich solle mir mal eine heutige Buchhandlung ansehen: Reisebücher, Ratgeber und – Kinderliteratur. »Dazu legt man zwanzig Bücher der aktuellen Belletristik-Bestsellerliste, stellt Hilfskräfte ein, die die Kasse bedienen und Bestellungen entgegennehmen können: Schon läuft der Laden.«
Unsere nächste Kundin war eine Schauspielerin, der nur noch selten ansprechende Bühnenrollen angeboten wurden, sodass sie sich weitere Betätigungsfelder, etwa als Moderatorin oder Synchronsprecherin erschließen wollte.
»Ein bekanntes Phänomen«, meinte Helen. Die Theaterliteratur halte viele Rollen für jugendliche Liebhaberinnen bereit; bei Material für Charakterdarstellerinnen lichte sich das Feld jedoch. Ohnehin sei das Schauspiel ein hart umkämpftes Terrain. In Berlin beispielsweise gebe es eine fünfstellige Zahl arbeitsloser oder unterbeschäftigter Schauspieler beiderlei Geschlechts.
Diese Schauspielerin war mit unserem Booklet so zufrieden, dass sie uns einem Kollegen empfahl, der als Trauerredner oder Laudator seine Einkünfte aufzubessern versuchte.
Allmählich bildete sich ein festes Muster aus, nach dem wir arbeiteten: Wir besuchten unseren neuen Kunden und versuchten, dessen Wünsche mit den finanziellen Gegebenheiten in Einklang zu bringen. Sobald das geklärt war, holte Helen ihr Fotoequipment aus dem Auto: eine auffaltbare Wand für den Hintergrund, zwei großflächige Lampen. Bei einer Tasse Kaffee ließen wir uns vom Kunden Bildmaterial seiner größten Erfolge zeigen, und während er oder sie davon erzählte, ließ ich das Aufnahmegerät laufen, was die Grundlage meiner späteren Textgestaltung bildete. Vielleicht gab es auch Zeitungsausschnitte, Lob aus prominentem Mund, derartiges. Das nahm Helen alles mit, digitalisierte das ausgewählte Material und baute mit ihrem Layout-Programm das Booklet zusammen, bei dem ich dann die ausgewiesenen, später unsichtbaren Rahmen mit Überschriften und Text füllte. Irgendwelche Änderungswünsche? Bitteschön.
Ich will nicht sagen, dass diese Tätigkeit, der ich maximal zwei Werktage pro Woche zubilligte, mein Leben auf eine neue materielle Ebene hob. Etwas Sicherheit und die damit verbundene Schaffensruhe aber gab sie mir schon, auch wenn mir nun Zeit für die literarische Arbeit verloren ging.
*Kontaktdaten auf rainer-wieczorek.com . Bei Bedarf erstellen wir ein maßgeschneidertes Angebot.
Anfang April hatte Helen einen ersten »Großauftrag«, wie sie es formulierte, »an Land gezogen.« 24 Seiten. Dreisprachig: Deutsch, Englisch, Litauisch. Auftraggeber war die Tanzplattform Rhein-Main, die mehrere Sponsoren hinter sich versammelte.
Meine Zurückhaltung ließ Helen energisch werden: Da gelte es, sich mit unseren Booklets zu etablieren, da laufe eine Produktion nach der anderen!
Das Stück, um das es hier gehen sollte, hatte seine Premiere im Frankfurter Mousonturm bereits hinter sich. Nun sollte es auf Tournee gehen in Litauen, Estland, Finnland, den Niederlanden, der Slowakei, zunächst aber in verschiedenen deutschen Städten.
»Am 13. und 14.4. treten sie in den Kammerspielen des Darmstädter Staatstheaters auf. Am 12.4. um 16 Uhr gibt es eine Orientierungsprobe, bei der die Mehrzahl der Performance-Szenen angespielt werden und bei denen ich fotografieren kann. Da brauche ich deine Unterstützung, weil alles sehr schnell gehen muss. Das Tanzstück heißt M(other), wobei das other eingeklammert ist. Eine professionelle Tänzerin tanzt mit ihrem neunjährigen Sohn.«
»Den ganzen Abend?«
»Das Stück dauert eine knappe Stunde. Damit es für den Jungen körperlich nicht zu anstrengend wird, ist am Dienstag kein vollständiger Durchlauf geplant, sondern nur ein kurzes Anspielen der Szenen vorgesehen, sodass sich die Akteure an den neuen Raum gewöhnen, die Beleuchtung und übrige Technik eingerichtet werden kann und was sonst noch so anfällt.«
»Und wie machen wir das mit dem Künstlergespräch?«
»Das muss alles noch geklärt werden. Wichtig ist erst einmal, dass du dir den Dienstagnachmittag freihältst und den 13. April, an dem um 18 Uhr die Tanzperformance über die Bühne gehen wird.«
Helen hat drei Kameras aufgebaut, als Raimonda Gudavičiūtė und ihr Sohn Elias die Bühne der Kammerspiele betreten. Beide im Bühnendress – für die Fotos im Booklet. Sebastian Schackert tritt aus dem Technikraum, sie zu begrüßen und dem Jungen zu verraten, wo der Ball ist, mit dem die Probe beginnen soll.
In L-Form hat man die Publikumsränge um die Bühne herum platziert – anders als im Mousonturm. Hinter der oberen Stuhlreihe, frontal zur Bühne, haben zwei junge Filmkünstler Videokameras aufgebaut, um die Mittwochs-Aufführung aufzeichnen zu können. De-Da-Productions heißt ihre Firma, spezialisiert auf künstlerische Events. Helen geht auf die Tänzerin zu und stellt uns beide vor, während das Kind schon mit dem Ball am Fuß die Bühne ausmisst. Alle duzen sich. Raimonda ruft ihren Sohn, stellt uns vor und erklärt ihm und uns die nächsten Schritte:
»Wir beginnen mit den Wellenbewegungen«, ruft sie zur Technik hinüber.
»Erst müssen wir uns etwas einspielen«, meint Elias.
Die Saalbeleuchtung erlischt. Ein Lichtmast auf der linken Bühnenseite taucht die Tanzfläche in sanftes Gelb. Elias spielt seiner Mutter den schwarzen Ball zu, mit dem er sich bis eben allein die Zeit vertrieben hat. Sie spielt zurück, die beiden setzen sich in Bewegung. Schwebende Akkorde erklingen. Ein gleißend weißer Streifen im vorderen Bühnenbereich, auf den die Lichtregie einen stilisierten kreisenden Ball projiziert, markiert die Spielfläche. Forderte Raimonda eben noch im Stil einer Fußballerin das Zuspiel in die Laufrichtung, verwendet sie nun tänzerische Bewegungen, um den Steilpass ihres Sohnes zu initiieren. Der begreift schnell und antwortet nach dem Abspiel mit zwei um die eigene Achse gedrehten Spreizschritten aus der Schule des Breakdance’. Das Geschehen wird jetzt nicht mehr vom schwarzen Ball bestimmt; die Tanzenden entscheiden, was mit diesem geschieht! Man schlittert über ihn, lässt ihn sanft über das Gesicht gleiten, quetscht ihn in die Kniekehle, um ihn sodann mit einem Freeze der Erde zu entheben. Blickkontakt der beiden: Bewegungen im Tempo des Traumes. Elias lässt den schwarzen Ball langsam über Nacken und Arm seiner Mutter gleiten und dirigiert so ihre Bewegung. Sie drückt den Ball mit dem Mund an seine Brust, hält ihn mit ihren Händen an sein Genick, lässt ihn sanft die Wirbelsäule, das Rückgrat hinunterrollen. Dann kullert der schwarze Ball – war es Absicht? – weg ins Dunkel und das Spiel ohne Ball beginnt, die Intimität nimmt zu: Zwei Menschen, die mit schlichter Körperdrehung eine Frage stellen, auf die der andere antworten muss, um keine Disbalance entstehen zu lassen, die allem Folgenden etwas Wackeliges, Unstetes verliehe … Sie nimmt ihren Sohn auf die Schulter, schwenkt ihn in Wellenbewegungen hin und her, geht mit ihm spazieren, bringt ihn sanft an Land. Er stellt sich auf ihre Füße. Sie bewegen sich halb umarmt, halb mit ausgestrecktem Arm im Stil von Standardtänzern. Alles trägt ihn. Nichts lässt ihn fallen.
Raimonda bricht die Szene ab, wobei sie Elias übers Haar streicht und Helen einen fragenden Blick zuwirft. Helen nickt. Die Bilder sind im Kasten.
»Jetzt kommt der Breakdance!«, ruft Elias. – Wo sind die Matten?«
»Mist. Die sind noch im Auto. Ich hole sie schnell«, sagt Sebastian.
»Elias? Kannst du Sebastian helfen, die Matten zu holen?«
Raimonda wendet sich wieder uns beiden zu und erläutert Grundgedanken des Bühnenbildes:
»Es ist alles in Schwarz-gelb gehalten. Medilė Šiaulytytė hat das Bühnenbild so gestaltet, dass wir damit auf Reisen gehen können. Der Veranstalter sorgt für den Lichtmast, wir bringen die Kunststoffmatten mit, die wie Puzzleteile verzahnbar sind. – Die nächste Szene bestreitet Elias allein. Er ist Breakdancer.
Wir spielen jetzt nur den Anfang. Er liebt es, dass die Musik gerade dann losgeht, wenn er vom Stapel hüpfend den Boden berührt, dass Sebastian also auf ihn wartet.«
Die beiden kommen mit den Matten und platzieren sie links auf der Bühne. Elias zieht seine Kapuzenjacke an und steigt auf den Stapel. Mit sichtbarem Vergnügen springt er hinunter und im Moment des Bodenkontakts startet die Musik für seinen Breakdance. Er nimmt zwei Matten vom Stapel und präsentiert zur Einstimmung einen Turtle Freeze. Es folgen weitere Tanzfiguren, die an ihrer heikelsten Stelle eingefroren werden. Die nächsten Matten zieht er vom Stapel, aber die Mutter winkt ab:
»Das reicht schon. Morgen zeigst du alles. Kannst du vielleicht schon den Boden für die Yoga-Szene aufbauen? – Nach seiner Breakdance-Performance bringt er mir seine Tanzfiguren bei. Ich erweise mich als gelehrige Schülerin, ohne jemals seine Coolness erreichen zu können.
Die Szene, die wir jetzt anspielen, zeigt mich vor dem Bildschirm bei meinen Yoga-Übungen, für die ich vor allem Ruhe und Konzentration brauche. Mein Sohn hat aber offensichtlich nicht vor, mir dieses Vergnügen zu gönnen und versucht mit allen Mitteln, meine Aufmerksamkeit zu erheischen. Wir zeigen euch jetzt den Schluss der Szene: Ich habe meine Stellung vor dem Bildschirm geräumt und helfe Elias in den Handstand.«
»Handstand – sehr gut«, sagte Helen. »Bei 24 Seiten brauche ich auch mal ein sehr vertikales Bildformat und dann wieder ein betont horizontales, sonst wird es optisch zu langweilig.«
Nach geglücktem Handstand fügen die beiden alle Matten zu einem Rechteck zusammen. Dann kommen sie von der Bühne und erklären uns die folgende Szene.
»Das nennt sich Small Space. So haben wir angefangen zur Corona-Zeit. Meine Mama sagte, sie ist Tänzerin. Ich wollte mit ihr tanzen, aber wir hatten nicht genug Platz.«
»Es geht um Situationen des Alltags, in all seiner Enge. Wo berühren wir uns? Wo haben wir die Möglichkeit uns zu trennen? Was wir in dieser Szene machen, ist strukturierte Improvisation. Wir müssen beim Tanzen lesen, was der andere macht. Den Anderen lesen lernen – darum geht es. Fragen stellen mit unserem Körper. Zufälle spielen hier eine große Rolle; im gelingenden Fall entstehen wunderbare Momente.
Wir spielen die Szene jetzt bis zum Klingeln des Weckers. Da hast du auch etwas für die Horizontale, Helen. Anschließend an diese Szene haben wir ein Fotoshooting im Programm.«
»Das passt ja.«
»Aber nur, wenn ich das Peace-Zeichen machen darf!«
»Eine Pose darfst du aussuchen, eine ich – Boss 1 und Boss 2.«
»Was ist eine Pose?«
»Die Art, wie man in eine Kamera guckt.«
Alle Matten werden weggeräumt.
»Ich tanze jetzt eine Kurzfassung meines Solos. Direkt im Anschluss daran beginnt das Finale«, sagt Raimonda so laut, dass es Elias und auch Sebastian im Technikraum hören können. »Am Ende meines Solos lande ich am Bühnenrand auf den Knien. Vielleicht ist das eine gute Position für deine Kamera, Helen.«