Im Gegenlicht: Heinz Sauer - Rainer Wieczorek - E-Book

Im Gegenlicht: Heinz Sauer E-Book

Rainer Wieczorek

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Beschreibung

Heinz Sauer bleibt seit vielen Jahrzehnten mit seinem expressiven Ton, mit seiner Schärfe und schroffen Phrasierungskunst auf dem Tenorsaxofon unverwechselbar. Tourneen mit Albert Mangelsdorff führten ihn um die ganze Welt. Im letzten Jahrzehnt waren es vor allem Duo-Konzerte mit Michael Wollny, die den beiden zahlreiche Preise einbrachten und demonstrierten, dass Sauer ein gewichtiger Teil unserer musikalischen Gegenwart ist. Dieses Buch, an dessen Entstehung Heinz Sauer selbst mitwirkte, ist auch das Ergebnis langsam gewachsenen gegenseitigen Vertrauens. Es erzählt vom Jazz Sauers und von den Lebensbedingungen, unter denen sich dieser entwickelte. Es lässt sich auch als ein Stück Kulturgeschichte lesen.

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© Dittrich Verlag ist ein Imprint der Velbrück GmbH,

Weilerswist-Metternich 2021

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch

Umschlagfoto: Wilfried Martin

Lektorat: Horst Wagner

Gesetzt aus der Whitman und der Quay sans

ISBN 978-3-947373-59-8

eISBN 978-3-947373-61-1

Rainer Wieczorek

Im Gegenlicht: Heinz Sauer

Ein literarisches Portrait

Die Kunst des Weglassens:Das ist die Kunst

Heinz Sauer

Inhalt

TEIL I

Abgelegtes Werkzeug

Vom Formen und Geformtwerden

Ror-Wolf-Abend

Achtung: Aufnahme!

Vom Abseilen

TEIL II

Deutsches Benzin

Amerikanische Schokolade

Die Übersiedlung

Gift anmischen

Keiner von »uns«

Zeitvergleich

Nach Frankfurt!

Cave 54

Näherungslösungen

Albert Mangelsdorff

Heinz Sauer

»Mach bloß dem Albert keine Schande!«

Tension!

Now Jazz Ramwong

Neues Deutschland

The Times They Are A Changin’

Never Let It End

Fritz Rau revisited

Plattenspieler

TEIL III

Eine Eröffnung

Auf Risiko

In der Schwebebahn

Cherry Bat

Kunst und Konflikt

Am Pflug

Nicht jetzt, nicht hier

TEIL IV

Never Let It End – Part II

Ror-Wolf-Abend – Part II

Coda

Quellennachweise

Bildnachweise

I

Abgelegtes Werkzeug

»Ist es ein Spiel?«

Danski, den ich seit unserem denkwürdigen Abschied in Pirmasens nicht mehr gesehen hatte, sah mich entgeistert an.

»Man sagt doch immer: Da ›spielt‹ einer – Klavier oder Saxofon –, aber … «

Danski legte den Finger auf den Mund. Das Licht erlosch, und Martin Schneider, der aus einer leeren Stadtkirche einen gut besuchten Kulturtempel gemacht hatte, schritt an das Mikrofon, um die letzte von vielen Hundert Veranstaltungen anzusagen, nach der er sich in den Ruhestand begeben würde: Zwei Musiker kündigte er an, die mit ihren Auftritten in der Stadtkirche den traditionellen Schlusspunkt eines jeden Jazzjahres setzten: »Am Piano: Michael Wollny. Am Tenorsax: Heinz Sauer.«

Die Musiker traten aus der Sakristei heraus, in einen Applaus hinein, der dieses Mal in gleichem Maße ihrem Gastgeber galt.

Sauer und Wollny spielten im Gegensatz zu den anderen Ensembles direkt vor den Kirchenbänken. Sie bevorzugten den langen Hall des Kirchenschiffs, der der Tonbildung des Saxofons entgegenkam, wie beide meinten, sodass nun auch das Publikum auf der Balustrade und in den beiden Seitenschiffen sehen konnte, wenn Wollny sich über die offenen Saiten seines Flügels beugte, während er eine ostinate Bassfigur durchhielt, oder dass Sauer auch noch blies, wenn kein Ton mehr zu hören war.

»Ich war bei allen Konzerten, die sie hier gegeben haben, und kein erster Set glich dem anderen«, sagte ich in der Pause zu Danski. »Es hängt sehr von Sauers Stimmung ab, wie ein solches Konzert läuft. Mal ist er sehr kommunikativ, geht auf im Dialog mit Wollny, gibt, nimmt; aber es gibt auch Abende, an denen Wollny Schwerstarbeit verrichten muss: Ein erstes musikalisches Zuspiel zu Sauer – Sauer nimmt nicht an. Ein zweites folgt nach kurzem Zwischenspiel – Sauer nimmt nicht an. Rhythmuswechsel, Blick zu Sauer, der holt Luft, spielt aber nicht, es scheint nicht zu passen! Wollny übernimmt, spielt eben allein; dann unvermittelt ein Schmerzenslaut auf dem Saxofon, ein Ton, den in dieser Intensität eben nur Heinz Sauer formen kann, und der jetzt ausgespielt, auseinandergenommen, ausbalanciert werden will, um am Ende, in eine gewisse Schwebe gebracht, dem Pianisten sanft überreicht werden zu können.«

»Du schreibst über Sauer?«, fragte Danski in der Pause.

»Ich habe es vor. Und ich wollte dich fragen, ob du mir mit deinen Kenntnissen assistieren würdest?«

Danski sah mir forschend in die Augen. Schließlich hob er sein Rotweinglas: »Das Leben ist voller unergründlicher Wendungen … – Auf gute Zusammenarbeit!«

»Auf gute Zusammenarbeit, lieber Danski!«

»Ist das überhaupt noch Jazz?«, fragte mich Danski, als wir wieder unsere Plätze auf der harten Kirchenbank einnahmen: »Niemand hält konsequent die Time, es swingt nicht, von Groove gar nicht zu reden; Free Jazz aber ist es auch nicht. Wollnys musikalischer Vorrat entstammt zu gewichtigen Teilen der Europäischen Konzertmusik des 19. und 20. Jahrhunderts, nur dass er deren Klang nicht über das Abspielen vorgefertigter Kompositionen erzeugt, sondern ihre Wendungen frei improvisierend aus dem Ärmel schütteln und in atemberaubender Geschwindigkeit miteinander kombinieren, durchbrechen, spiegeln kann. – Dafür, dass es noch Jazz ist, spricht erstens das Merkmal der Improvisation, zweitens Sauers expressive Tongebung, und drittens die Art ihres Zusammenspiels. Auch wenn Sauer sein Spiel zunehmend von allem Ornamentalen befreit, seine Tonfolgen sich karg und schmucklos dem Publikum darbieten, so hört man doch immer wieder musikalische Schatten eines Deep River, eines Chelsea Bridge, eines Come Sunday: die musikalische Sozialisation eines Jazzmusikers eben.«

Die beiden betraten wieder die Bühne: Ein Donnerakkord Wollnys. Ein zarter Wehlaut Sauers. Ich sah Danski triumphierend an, als wäre es meine Musik, die da erklang. War es ja auch. Danski sah das.

Im Grunde war es gleichgültig, welche »Titel« Sauer und Wollny hier spielten; in dieser Phase des Konzerts war es schlichtweg improvisierte Musik. Erst wenn es auf den Schlussapplaus zuging, boten sie dem Publikum wieder »Liedchen«, wie Sauer es mittlerweile nannte. Sie probten auch nicht mehr vor dem Konzert: Alles hatte im Moment stattzufinden, als musikalisches Gespräch zweier Künstler, auf das jetzt, am 2. Dezember 2018 um 21.12 Uhr alles Einfluss nahm und nehmen durfte: die Atemfrequenz der Zuschauer, die Decke des Kirchenschiffes, das Scheppern eines Weinglases.

»Dieses musikalische Jetzt«, sagte Danski später einmal, »ist eine unter Jazzmusikern weitverbreitete Ideologie.« Dieses phänomenale Jetzt beinhalte doch stets die Summe aller musikalischen Fertigkeiten und Erfahrungen, die ein Musiker im Lauf seines Lebens sammeln durfte. Darüber hinaus sei zu beachten, dass ein Musiker in jedem Moment seines Spiels auch ein Wohin kennen müsse und dabei von zuvor gebildeten ästhetischen Vorstellungen, wie im Falle Sauers der kargen Schmucklosigkeit, der Konzentration auf ein Wesentliches, geleitet würde.

Danski konnte lange auf diese Art reden. Mochte er auch oft mit seinen Betrachtungen recht haben, konnte man ihm doch nicht lange zuhören, wenn er auf diese Weise ins Dozieren geriet.

Sauer und Wollny spielten nun There Again, ein Thema des Pianisten.

»Allmählich bereiten sie sich auf den Ausklang vor, bei dem sie ihrem Publikum einige Wiedererkennungseffekte gönnen werden: Von Prince spielen sie Nothing Compares 2 U und abschließend Believe Beleft Below des Jazztrios e.s.t. .«

»Wie begeistert die Leute reagieren, wenn man ihnen nach so viel Abstraktheit ein wohlbekanntes Motiv präsentiert! – Keine Zugabe bei solchem Applaus?«

»Sauer wird in wenigen Wochen sechsundachtzig. Die Leute respektieren das.«

»Sechsundachtzig?« Danski schaute ungläubig.

Wir blieben noch eine ganze Weile auf unserer Kirchenbank sitzen und ließen das Konzert auf uns wirken.

»Wie viel Zuschauer waren heute hier?«

»Vierhundert werden es gewesen sein. Mindestens. Es waren auch schon sechshundert, siebenhundert da. Dann aber lässt der Klang nach. Die vielen Wintermäntel absorbieren einiges von dem Hall, den Sauer an diesem Ort so schätzt. – Künstler brauchen das Gefühl, dass ihnen etwas entgegenkommt: aus dem Ungefähren heraus. Wo das nicht geschieht, wird es schwieriger für sie.«

Bei seinem Abgang von der Bühne hatte Sauer sein Saxofon auf den Altar im Chorraum gelegt, an dessen Seite sich die zur Künstlergarderobe umfunktionierte Sakristei befand. Dies konnte vom Publikum unzweifelhaft als Zeichen verstanden werden: Wir spielen noch etwas, applaudiert nur ordentlich – und dann kamen sie auch und verbeugten sich wieder und wieder, aber für Sauer war es wohl genug an diesem Abend. Er hatte gespielt, was es zu spielen galt. Den Ritualen eines Konzertabends unterwarf er sich nur noch in Grenzen. Zugabe oder nicht: Das entschied er allein, niemand sonst.

»Niemand sonst«, sagte Danski: »Wäre das nicht ein Titel für dein Heinz-Sauer-Buch?«

Danskis Titelidee war unzweifelhaft von Sauers Ton inspiriert worden. Die Zuhörer nahmen diesen Ton mit hinaus in die Darmstädter Winternacht. Wenn im Radio Jazz gespielt wurde, konnten sie nun genau sagen: Hier spielt Heinz Sauer! Wie man etwa sagen konnte: Das ist Miles. Nichts an diesem Ton war einschmeichelnd: Miles nannte es Aura. Sauer hielt Distanz.

Das Saxofon lag noch immer auf dem Altar. Einige Zuschauer waren in den Chorraum getreten, um sich das Instrument zu betrachten, auf dem diese eigenartigen Töne erzeugt worden waren. Niemand wagte, das Saxofon zu berühren, etwa, indem man probeweise ein paar der Perlmuttknöpfe drückte, um zu sehen, welche Klappen dies jeweils in Bewegung setzte … Berühren durfte man es sicher nicht.

»Ein frühes Selmer Mark VI, wie ich vermute«, sagte Danski und auf meinen überraschten Blick fuhr er fort: »Coltrane, Archie Shepp – sie alle wählten dieses Modell, das in den späten Fünfzigern, den Sechzigern in Frankreich hergestellt wurde.«

Sauer hatte es einem anderen Musiker abgekauft, vor vielen Jahrzehnten schon. Der Lack war nur noch an wenigen unzugänglichen Stellen sichtbar. Ansonsten waren dem Instrument die vielen hundert Abende anzusehen, an denen es in den Tabakrauch alter Gewölbekeller hinein etwa Monks Round About Midnight gespielt hatte.

Das einzige, was ich positiv über das Saxofon sagen kann, ist, dass es dem Spieler ein beachtliches Spektrum anbietet. Die oberen Regionen klingen zum Beispiel ganz anders als die unteren. Ein Instrument, dessen Ton sehr formbar ist: Wie du dich fühlst, so klingt das dann. Für meine jetzigen Zwecke ist es ideal.

»Wer redet da?«

»Sauer. Es ist der 14. Februar 2019.«

»Du hast mit ihm gesprochen?«

»Viele Tage. Viele Stunden.«

Vom Formen und Geformtwerden

Als wir uns Fotografien Heinz Sauers betrachten, legt Danski ein Bild zur Seite. Es gefällt ihm, dass die Kamera das Konzert aus der Perspektive der Musiker zeigt, »sie schaut mit ihnen gemeinsam ins Gegenlicht, nimmt das Publikum, das hier wohl mehr als tausend Leute umfasst, als dunkle Wand wahr. – Sind das Scheinwerfer? Oder sind es Lampions?«

»Ceylon, 1964«, antworte ich.

»Die Band jedenfalls ist scharf ausgeleuchtet; der hünenhafte Heinz Sauer ist auch von hinten fotografiert leicht zu erkennen. Ein aufrechter Mann«, sagt Danski.

Was Danski nicht weiß, ist, dass dieser Mann auch noch als Sechsundachtzigjähriger seinen Tag wie ehedem mit einer Reihe von Liegestützen beginnt – zweiundreißig nach dem Aufstehen, zweiunddreißig vor dem Ins-Bett-Gehen: »Sauer schüttelt den Kopf über Leute, die sich verfallen lassen; von denen schon in frühen Jahren nicht die mindeste erotische Ausstrahlung mehr ausgeht. ›Je älter man wird, desto mehr muss man machen auf diesem Gebiet‹, unterstützt ihn Siggi Loch, der Boss des ACT-Labels, der auch nicht mehr der Jüngste ist. – Aber auch der Aufrechteste muss eines Tages zugeben, dass er nicht nur formt, sondern auch geformt wurde – von seinem Instrument zum Beispiel. Schau dir mal die Kopf-Schulter-Partie Sauers an!«

»Es ist, als ginge sein Kopf etwas nach vorn: zum Mundstück hin. Ob er Saxofon spielt oder nicht.«

»Oder die Augen!«, sagte ich und wies auf ein anderes Foto.

»Wie Ben Webster. Wie Archie Shepp.«

»Saxofonistenaugen.«

»Tenorsaxofonistenaugen.«

»Hast du dir mal die Lippen von Satchmo oder Miles betrachtet. Sie sind von den Trompetenmundstücken nahezu verwüstet worden.

So einer küsst sich anders«, fuhr ich nach einer Zeit fort.

Danski zog die Augenbrauen hoch.

»Das ist aber nur der sichtbare Teil des Geformtwerdens. – Sich mehr als sechzig Jahre viele Stunden täglich aus nächster Nähe den Tönen des eigenen Saxofons auszusetzen!«

Dass ich es hasse, ist übertrieben, aber ich find’s nicht gut. In meinem nächsten Leben würde ich kein Saxofon mehr spielen. Cello vielleicht. Oder Piano. – Ich hab’ ja Klavier gespielt. Im Krieg. Ein, zwei Jahre.

»Kannst du dir Sauer am Klavier vorstellen?«

»Nein.«