Spiel an der Außenlinie - Rainer Wieczorek - E-Book

Spiel an der Außenlinie E-Book

Rainer Wieczorek

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Beschreibung

»Es gelte, sich der Schönheit des Spiels zu widmen, die Bilder sehen zu lernen, die es produziere, nicht die Ergebnisse, an die sich schon Monate später kein Mensch mehr erinnere.« Der Schriftsteller Rainer Wieczorek bringt zwei Erzähler ins Spiel: Redlitz, der das Skizzieren eines hochabstrahierten Fußballspiels plant, und einen Ich-Erzähler, dem die Aufgabe zukommt, zuzuhören und zu ordnen. Beide tre en sich regelmäßig auf der Gegengerade eines alten Fußballstadions – wenn das Stadion leer ist, also nicht gespielt wird. Sie erinnern sich minutiös an vergangene Spiele und imaginieren kunstvoll neue, indem sie eine Pendelbewegung vollziehen zwischen Fußball und Malerei. Spielfiguren des Unbewussten werden sichtbar und grätschen rücksichtslos in das Geschehen. Ein groteskes Spiel an der Außenlinie beginnt.

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© Dittrich Verlag ist ein Imprint der Velbrück GmbH,

Weilerswist-Metternich 2023

Umschlaggestaltung: Guido Klütsch unter Verwendung des Bildes Broom Drawing #3 von Eric Snell.

Die Rechte für das Bild liegen beim Künstler.

Gesetzt aus der Whitman und der Quay sans

Printed in Germany

ISBN 978-3-947373-94-9

eISBN 978-3-910732-06-3

Rainer Wieczorek

Spiel an der Außenlinie

Eine Abstraktion

Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen,sondern was wir sind.

Fernando Pessoa

Inhalt

Teil I

Das beleuchtete Stadion

Das Spiel an der Außenlinie

Jubelnde Väter

Die Sportschau

Ein Linksfuß

Der Lederball

Das Spiel ohne Ball

Teil II

Ein Halbzeitergebnis

Das innere Flutlicht

Pressing

Aus der Drehung

Die Viererkette

Der Moment der Ballabgabe

Teil III

Ein Überraschungsgast

Der Unbegabte

Hans Hartung

Das ungespiegelte Kind

Doppelter Rittberger

Drehung nach unten

Teil IV

Innerer Rittberger

Zerfallende Königreiche

Farbe, Raum, Licht und Bewegung

Die Wuppertaler Schwebebahn

Spiel ohne Worte

Teil V

Bleiben

Schweben

Keimen

Spannung, Lebendigkeit, Spielfreude

Fritz Winter

Erste Zuschauer

Ein Lustspiel

Dunkle Sonnen

Bildnachweis

Rainer Wieczorek bei Dittrich

Die Wieczorek-Werkausgabe bei Dittrich

I

Das beleuchtete Stadion

Auf einem jener abendlichen Herbstspaziergänge, die ich in der Entstehungsphase meiner Abhandlung Das ungespiegelte Kind zu unternehmen pflegte, lernte ich Redlitz kennen, einen »Erzähler«. Obwohl er unweit unserer Siedlung am Stadtrand wohnte und, wie er sagte, gern um diese Zeit spazieren ging, war er Mal für Mal meiner Aufmerksamkeit entgangen, bis wir heute miteinander ins Gespräch kamen. Das Flutlicht des nahe gelegenen Stadions hatte unsere gemeinsame Neugierde geweckt, denn es war angeschaltet worden, obwohl an einem Donnerstag wie diesem kein Spiel zu erwarten war und das Training der Heimmannschaft grundsätzlich auf Nebenplätzen stattfand. »Wartungsarbeiten«, vermutete Redlitz, womit er recht behalten sollte.

Dem stummen Impuls folgend, mit dem die Lichtmasten uns zu einer Stadionbesichtigung aufforderten, gingen wir den Waldweg an den Hockeyplätzen vorbei, der seit vielen Jahren den auswärtigen Fußballfans vorbehalten, in den Sechziger- und Siebzigerjahren aber gern von jenen benutzt worden war, die das Schlangestehen an den Haupteingängen vermeiden wollten. Das Kassenhäuschen, das wir bald mit einem alten Trick passierten, war unverändert das der Sechzigerjahre, während das Innere des Stadions zwar seine grundlegende Modernisierung noch vor sich hatte, aber uns, die wir seit über drei Jahrzehnten keinen Fußballplatz mehr betreten hatten, doch die eine oder andere Überraschung bot.

Mit einem im Nachhinein verwunderlichen Einverständnis waren wir in das beleuchtete Stadion eingezogen und hatten auf der unüberdachten Gegengerade, etwa auf Höhe der Mittellinie, unseren Stehplatz eingenommen, als erwarteten wir etwas, als sei ein Spiel noch nicht zu Ende, als sei etwas Entscheidendes noch nicht gesehen.

Das Flutlicht, brach Redlitz nach kurzer Zeit unser Schweigen, habe stets das besondere Spiel angekündigt. Er erinnere sich noch gut an die Aufregung, als 1981 auch dieses Stadion mit Flutlichtmasten ausgestattet wurde.

Noch heute, fuhr Redlitz fort, hätten diese Masten etwas Imposantes; schon von Weitem seien sie auszumachen. Von der Stadtkrone herabblickend, deute kein Kind auf das Schloss, sondern stets auf den Fußballplatz, von dem es weder Ball noch Rasen sehe; allein die Flutlichtmasten lenkten den jungen Blick.

Er erinnere sich noch genau an den Nachmittag, als er selbst – neun Jahre alt – auf das Phänomen Flutlicht aufmerksam geworden sei; es habe sich ihm eingeprägt wie eine Verheißung: Das Flutlicht des Hamburger Volksparkstadions. Es wird November gewesen sein, vielleicht Dezember – das habe er vergessen – auf jeden Fall so neblig, dass das Flutlicht gegen die Nebelschwaden anzukämpfen hatte. Immerhin war es stark genug, um die schreckgeweiteten Augen der Abwehrspieler auszuleuchten, als Uwe Seeler zum Abschluss kam. Im Zeitungskiosk gegenüber der Haltestelle Schloss, im aufgeklappten Deutschen Fußballkalender 1965 »schoss uns Uwe« den entscheidenden Treffer: Nebel, Licht und Pulverdampf. Redlitz schaute mir prüfend in die Augen, ob ich die Steilvorlage zu der malerischen Thematik William Turners bemerkt hatte.

»Wenn Sie wollen, – wenn Du willst«, könnten wir uns in den nächsten Wochen werktags um diese Stunde hier, auf der Gegengerade, treffen. Er plane nichts weniger als das Skizzieren eines hochabstrahierten Fußballspiels, was immer das sein werde. Den Hinweis auf William Turner habe ich ja offensichtlich verstanden.

Er habe sich bereits beim Passieren der Hockeyplätze als Erzähler zu erkennen gegeben, fuhr Redlitz nach einer Pause fort. Hier sei zu ergänzen, dass er in der oralen Erzähltradition stehe, er schreibe also nicht, er erzähle im eigentlichen Sinn. Dieses literarische Genre sei mit der allgemeinen Fixierung auf das geschriebene Wort oft gedemütigt worden und nun fast in Vergessenheit geraten. Kaum einmal sehe jemand, dass beispielsweise die Märchen der Brüder Grimm ganz und gar auf dem Boden dieser Erzählweise fußen. Lediglich der kürzlich verstorbene Peter Kurzeck habe diese Kunst noch beherrscht – allein auf weitem Feld.

Weil er also, sagte Redlitz mit Blick auf die Außenlinie, als oraler – mündlicher – Erzähler agiere, der ähnlich wie ein Jazzmusiker das einmal Geäußerte nicht nachträglich filtern, verkleiden, umgruppieren könne, brauche er einen, der die notwendigen Hierarchisierungen im Verlauf des Weitererzählens vornehme, das Essenzielle vom Beiwerk trenne, das Wesentliche zu erkennen vermöge, um das, was nur Weg dahin war, entschlossen beiseite zu fegen, wenn die Zeit dafür gekommen.

Das Spiel an der Außenlinie

Als wir uns am nächsten Tag am Hockeyplatz trafen, um gemeinsam unseren Weg auf die Gegengerade anzutreten, war das Flutlicht ausgeschaltet. In die warmen Farben eines schönen Herbst-Abends eingebettet, lag das Spielfeld vor uns, während die alten Pappeln hinter der Südtribüne sanft raschelnd dem Stadion den Namen zuflüsterten.

Redlitz, ungerührt, begann wieder vom Flutlicht zu erzählen, nur war es nicht mehr das des heimischen Stadions, sondern jenes, welches am 5. Mai 1966 den Glasgower Hampdenpark beleuchtete. Während das Spielfeld in der Mitte bis hin zu den Straf- und Torräumen an damaligen Verhältnissen gemessen gut ausgeleuchtet war, lagen die Eckfahnen nahezu im Dunkel. Dortmund stand im Endspiel gegen den FC Liverpool und würde bald den Europapokal der Pokalsieger in den Händen halten. Noch aber war es nicht so weit, sagte Redlitz und lächelte. Noch versuchten Sigi Held und Lothar Emmerich immer wieder über die linke Außenbahn zu kommen.

Eine Szene habe sich ihm besonders eingeprägt; er wisse gar nicht, wie oft sie sich vor seinem inneren Auge abgespielt habe. Er brauche nur einer Bordsteinkante etwas Aufmerksamkeit zu schenken und schon sehe er wieder Held vor sich, Held auf der linken Außenlinie. Eigentlich sei es Emmerichs Aufgabe als Linksaußen gewesen, über diese Bahn bis zur Grundlinie vorzudringen, aber Emmerich bewegte sich zumeist auf halb links, dort, wo in der vergangenen Saison noch Timo Konietzka mit der Nummer 10 gespielt hatte. Sigi Held, an diesem Abend überragend, arbeitet sich also über die linke Seite vor, immer weiter nach außen gedrängt von einem Liverpooler Abwehrspieler, der sich völlig sicher ist, dass Held in wenigen Schritten mit einem Haken den Ball stoppen und nach innen ziehen werde. Er rechnet schon seit zehn Metern mit diesem Haken; man sieht, dass er nicht durchstartet wie Held, sondern wie jemand läuft, der auf diese Finte des Gegenspielers zu antworten wisse. Held hat nicht mehr viel Platz: Rechts läuft der englische Verteidiger, links droht die Außenlinie und in den nächsten Momenten, das weiß auch er, müsse eigentlich ein Trick kommen, ein Stop oder ein Übersteiger, denn, sagte Redlitz und drehte sich zu mir um: Mag man möglicherweise auf der Außenbahn leichter vorankommen – das Tor, der Erfolg ist nur von der Mitte des Spielfelds aus zu erzielen. Held aber – und deswegen habe er diesen Fußballer nie vergessen, – wählt die Antipointe: Gerade weil sowohl ihm als auch dem Verteidiger der weitere Verlauf des Spielzugs klar vor Augen steht, spielt er den Ball auf der Außenlinie entlang – mehr Raum hat er nicht mehr – und er, Redlitz, glaube noch den weißen Kreidestaub der Linienmarkierung hochwirbeln sehen zu können, denke er an diese Szene. Wahrscheinlicher sei jedoch, dass das aufgewirbelte Weiß ein Werk seiner malerischen Fantasie sei, wie es in seinem Leben oft geschähe. Was die Szene aber kröne, sei, dass Held diesen Spielzug, der auch dem Linienrichter alles abverlangte, wenige Meter weiter wiederholte, bevor er den Ball zu Lothar Emmerich spitzelte, der ihm, von der linken Strafraumkante kommend, entgegeneilte.

»Licht, Staub und Geschwindigkeit« variierte ich den Titel des Bildes Rain, Steam and Speed. Mit Turner lag man bei Redlitz in der Regel richtig.

Jubelnde Väter

Auch ich hatte die Übertragung des Spiels, von dem Redlitz gestern so beseelt gesprochen hatte, am Fernseher erlebt. Ich war noch keine zehn Jahre alt gewesen, hatte gewöhnlich um acht Uhr im Bett zu sein, doch an diesem Abend bettelte ich so lange und herzerweichend, dass es meinem Vater leichter erschien, mir dieses kleine Kinderglück zu gewähren, als um der eigenen Abgeschiedenheit willen konsequent die Regel zu beschwören.

Anders als Redlitz sprachen mich Sigi Helds Eskapaden auf der Außenlinie nicht an, sondern riefen vielmehr meinen Protest hervor. Ich hatte zu meinem neunten Geburtstag von meiner Tante Dora ein Buch geschenkt bekommen, König Fußball, 512 Seiten. Anhand dieses Buches arbeitete ich mich langsam in die Materie ein, denn Fußball war kein leicht zu verstehendes Spiel. Noch wenige Wochen zuvor hatte ich in meiner Jungenklasse Spott geerntet, als ich nicht wusste, was eine Flanke war. König Fußball wusste es und wusste noch mehr: Vor dem Torwart standen die beiden Verteidiger, halb rechts der Verteidiger mit der Rückennummer 2, halb links der mit der Rückennummer 3. In der Mitte, aber nicht auf gleicher Höhe agierend, der Mittelläufer mit der 5, deutlich weiter vorn die beiden Außenläufer – der rechte mit der 4, mit 6 der linke. Deren Aufgabe war es, den Ball nach gelungener Abwehr nach vorn zu tragen, um ihn etwa den dort wartenden Halbstürmern mit den Rückennummern 8 und 10 zu übergeben, die den Angriff auf das gegnerische Tor gestalteten, indem sie entweder die Flügelstürmer – links die 11, rechts die 7 – einsetzten oder direkt den Mittelstürmer mit der Nummer 9 anspielten, dessen einzige Aufgabe es war, ein Tor zu erzielen und der damit im Brennpunkt allen Interesses stand.