Blickdicht - Eugen Bach - E-Book

Blickdicht E-Book

Eugen Bach

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Beschreibung

Ein Junge entdeckt seine außergewöhliche Fähigkeit, mit seinem Blick und einem Zauberwortjedes Mädchen für sich einzunehmen und es dazu zu bringen, sich in ihn zu verlieben.Am Anfang selbst überrascht probiert er diese Fähigkeit an verschiedenen Mädchen und später Frauen aus.Er sucht sich die Frauen in der Schule, auf der Straße oder in Einkaufsgeschäften aus, nimmt sie ins Visier und spielt sein Spiel.Irgendwann setzt er seine Gabe nutzbringend für eine steile Karriere ein und findet eine attraktive, wohlhabende Frau in reiferem Alter. Erzählt wird dieser Roman aus der Retrospektive.Ein älterer Herr spricht die Begebenheiten in einer Seniorenresidenz in sein Smartphone.Der Senior erzählt mit einem lachenden und einem weindenden Auge die Liebschaftsgeschichten seiner Jugend, wobei er durch überraschende Metaphern und Vergleiche seinen Zuhörern mehr als ein Mal ein Schmunzeln auf die Lippen zaubert.

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Blickdicht

von Eugen Bach

Für

J. Heigl

M.Weig

Evelyn

Inhalt

Vorwort

Track 1 Ingrid

Track 2 Brigitte

Track 3 Henriette (eine Schuldirektorin nimmt mich ins Gebet)

Track 4 Ein angehender Kriminalkommissar will Casanova werden

Track 5 Jagdzeit

Track 6 Die Poolparty

Track 7 Bettgeschichten

Track 8 Im Himmel unterwegs

Track 9 Antiquitäten und ältere Damen

Track 10 Ich fliege auf

Track 11 Frauen über Frauen

Track 12 Ein Künstler unter sich

Track 13 Kunstausstellung

Track 14 Große Erwartungen

Vorwort

Ein Buch für alle diejenigen, die, wenn es sein muss, immer noch Kind sein können.

Für alle, die nie aufgehört haben zu träumen und für die wenigen, die Freude daran finden, oft genug wie gedruckt zu lügen.

Vor allem aber eine Geschichte über Liebe und Aberglauben, verbunden mit einer Zeitreise in die Welt von gestern.

Alle vorkommenden Personen sind reine Phantasiegeschöpfe.

Ähnlichkeiten mit Lebenden und Verstorbenen sind daher so gut wie ausgeschlossen.

Sämtliche Ereignisse beginnen und enden für den Leser im Zimmer eines exklusiven Seniorenstifts, in dem das Licht aber nie ganz verlöscht, weil fortwährend Aschehäufchen vergangener Lieben aufglühen.

Ich bin ein ziemlich alter Mann. Liegen und Lügen kann ich aber immer noch recht gut.

Nur das Aufstehen und Hinsetzen bereitet mir große Mühe.

Da beides mit Schmerzen verbunden ist, liege oder sitze ich die meiste Zeit.

Mein Aschenbecher ist immer gut gefüllt mit Zigarettenkippen und von den Gläsern inmeiner Reichweite ist immer eines mindestens zur Hälfte voll mit Wein.

Das macht die Tage erträglicher und etwas leichter.

Zwei Dinge gehören mir immer noch.

Die Erinnerung an mein bisheriges Leben und der noch fehlende winzige Rest.

Ich habe keine Kinder gezeugt, keinen Baum gepflanzt, kein Haus gebaut und kein Buchgeschrieben.

Doch gerade die Zeit, in der ich jung war, war auf wunderbare Weise einzigartig und außergewöhnlich, und warum gerade ich der Glückliche gewesen bin, weiß ich nicht.

Irgendwann habe ich beschlossen diesen Teil meines Lebens ganz einfach zu erzählen.

Da mich aber dabei Fragen nur unterbrechen und stören würden, gebe ich die Ereignisse einfach in meinem Phone wieder und drücke erst dann auf Aufnahme, wenn ich genügend Klarheit in meine Erinnerungen gebracht habe und sie in fertigen Sätzen wieder lebendig werden lassen kann.

Mit meinen weit über siebzig Jahren ist das, wie ich finde, ein wunderbares Gehirntraining. Ganz ohne Sudoku und Kreuzworträtsel. mit denen sich einige wenige Mitbewohner hier im Heim herummühen.

Was meine Hörer anbelangt, so habe ich nur einen, dafür aber recht aufmerksamengefunden. Er hört sich meine fertigen Tracks nicht nur an sondern kommentiert sie wortlos.

An seinem Gesicht erkenne ich sofort, ob ihn das, was ich aufgesprochen habe, langweilt oder ob er begierig ist mehr zu erfahren.

Bevor ich also mit meiner Geschichte beginne, erzähle ich erstmal von dem jungen Mann, der hier im Heim als Altenpfleger arbeitet. Aufgefallen ist er mir vom ersten Augenblick an.

Nicht durch sein Äußeres, denn seine Statur und sein Gesicht sind eher unscheinbar.

Nein, was mich sofort für ihn eingenommen hat, waren seine warmen und aufgeweckten dunkelbraunen Augen, die ausnahmslos jeden, der in seine Nähe kommt, anstrahlen.

Egoismus und sei es auch der Gesunde ist ihm völlig wesensfremd.

Er wirkt auf mich wie ein Ofen,der immer mit der gleichen Temperatur brennt, und diese herzhafte Nächstenliebe ist dann auch der Grund dafür, warum ihm alle hier im Haus mit Achtung und Respekt gegenübertreten.

Der Mann ist ohne Beziehung.

Was sein eigentliches Problem mit Frauen ist, weiß ich nicht.

Ich weiß nur, dass es ihm die eine oder andere junge Dame, wenn sie sich hier in Gestalt von Pflegerinnen oder Besucherinnen durch die Gänge bewegt, ziemlich angetan hat.

Er blickt ihnen dann sofort immer anerkennend nach, ohne dabei mit seinem Charakter zu brechen.

Er bleibt auch in diesem Moment völlig frei und ruht weiter gelassen in sich.

Vielleicht so wie ein Kunde vor einem Autosalon, der zwar die Nase fast an die Scheibe drückt aber sich längst damit abgefunden hat, dass ihm das nötige Kleingeld für die Luxuskarossen fehlt.

Schon in unseren ersten Gesprächen – wir hatten schnell Zutrauen zueinander gefasst – hatte er das blaue Auge seiner Beziehungslosigkeit nicht versteckt, sondern es mich offen sehen lassen.

Er meinte, die Damen, die ihm gefielen, bekomme er nicht und die, die nicht über das für ihn nötige Gütesiegel verfügten, wolle er nicht.

Ich habe das kurz zusammengefasst und nicht mit seinen eigenen Worten wiedergegeben, denn eine weitere Eigenart seines Wesens besteht darin, mindestens drei Sätze zu sagen, wenn einer genügen würde.

Am Anfang war mir das gar nicht so aufgefallen, weil mich seine menschliche Art so faszinierte. Aber dann bemerkte ich es doch irgendwann, vielleicht so wie eine Unebenheit in einem Spazierstock, den man aber dennoch gern in der Hand hält.

Er sagt also beispielsweise: „ He, alter Frauenheld! (das bezieht sich auf meinen unglaublichen Erfolg bei Frauen) Willst du heute zum Abendessen in den Speisesaal oder willst du lieber im Zimmer essen? Ich meine, ich kann dich rüber begleiten. Ich habe auch kein Problem damit, dich hier zu verköstigen.“

Es passiert nur noch sehr selten, dass ich mich allein zum Essen in den Speisesaal begebe.

Nicht deshalb, weil der Weg dorthin für mich mühsam und anstrengend ist. Wenn ich mich an den Geländern, die überall in den Gängen angebracht sind, abstütze und festhalte, brauche ich ohne Hilfe zwar eine Ewigkeit, aber es ist zu machen.

Der Grund ist vielmehr, dass ich gar nicht weiß, was ich dort soll.

Es ist so wie bei einem alten Hund, dem man den Napf vor die Hütte stellt. Würde man ihn auch von seiner Leine losmachen, er fräße auch dann an keinem anderen Platz.

Diese halbe Stunde mit all den anderen alten Menschen macht mich schwermütig, weil mir dann klar bewusst wird, dass wir uns alle an der Endhaltestelle befinden.

Schlaffe Wangen, schütteres graues und weißes Haar, Altersflecken an Händen und Armen, Rollatoren und Rollstühle sind hier der Spiegel, in den man jeden Moment blickt. Dennoch nehme ich es manchmal auf mich, weil ich mich bewegen muss und weil ich, sobald ich in mein Zimmer zurückgekehrt bin, die für mich tote Welt des Alters wie einen Vorhang zur Seite schieben kann und auf meinem Bett liegend, den Blick zur Zimmerdecke gerichtet, wieder und wieder eintauche in die süße Welt von gestern.

Track 1 Ingrid

In meiner Kindheit und Jugend gab es kein Handy, keinen Computer und kein Internet.

Aber es gab Frauen und was für welche!

Für mich bedeuteten sie genau dasselbe wie für kleine Meeresschildkröten der Ozean.

Eigenartigerweise ist das Erste, was mir dabei einfällt der Kaugummi.

Damals gab es keine Kaugummis, die die Zähne weißer machten oder in zig Fruchtsorten unterteilt oder frei von Zucker waren.

Der Kaugummi war groß und schwer und süß. Um mit ihm fertig zu werden, brauchte es gewaltige Kauanstrengungen. Die Mädchen in meiner Schule strengten sich auch gewaltig damit an. Manche von ihnen schoben sich zwei oder sogar drei von diesen süßen Brocken in den Mund und nach einiger Zeit formten sie mit ihren genauso süßen Lippen, Zungen und Mündern eine dicke fette Blase, die sie dann in letzter Sekunde gekonnt am Zerplatzen hinderten.

Dann beförderten sie die Riesenkugel wieder ganz zurück in den Mund, um das Kauspielchen wieder von vorne beginnen zu lassen.

Es wurde gekaut wie bei Kühen auf der Weide mit dem Unterschied, dass die Milchlieferantinnen sich selbst genügten, die Mädchen aber ihre kleine oder größere Show damit abzogen.

Wenn die Aufmerksamkeit durch Größe des Ballons, Gang, Bewegung und Blick der Kauenden groß genug war, ließ sie ihn auf einmal mit einem lauten Geräusch platzen.

Diese kontrollierte Explosion war der Höhepunkt der Darbietung, vor allem dann, wenn sie dir im Moment des Knalles ihren Blick schenkten. Das hieß dann:

„Na, schau her! Alles unter Kontrolle. Bin ich nicht einmalig?

Nun damals reflektierte ich nicht so viel wie in späteren Jahren. Ich atmete nur tief durch und wusste: „Ihr seid einmalig!“

Eine von ihnen war Ingrid.

Sie war Arzttochter und damals vielleicht dreizehn oder vierzehn Jahre alt. Ihr Ballon hatte in etwa immer die gleiche Größe und sie musste sich auch gar nicht zu irgendwelchen Rekordversuchen aufschwingen.

Die Blicke der Jungs ruhten auf ihr wie die Ferngläser einer Jagdgesellschaft auf dem einengroßen Rehbock. Wenn sie in den Spiegel schaute, sah sie sich sozusagen durch das eigeneFernglas. Was sieh sah, hob sie haushoch über die anderen Mitbewerberinnen hinaus undgenauso gab sie sich auch. Sie hatte kurzes rötliches Haar, große blaue Augen und ein paar Sommersprossen.

Die Krönung aber war eine Stupsnase, die dieses bildhübsche Gesichtchen veredelte wie eine Kirsche die Schokoladentorte. Bemerkenswert auch ihre Kleidung. Ein Faltenröckchen, das genau bis zu den Knien ging, die Strümpfe in der Farbe des Rockes und an den Füßen teure dunkle Lederhalbschuhe mit kleinen Silberapplikationen.

Dazu eine weiße Bluse und ein hellblaues Jäckchen. Alles sah aus, als hätte man es ihr gerade gekauft.

Zusammengehalten wurde die gesamte Komposition von einem tadellos gezogenen Scheitel, der welche wilde Bewegungen sie auch immer mit ihrem Kopf ausführte, brav in die ursprüngliche Form zurückfiel.

Zähne, Bluse und der Ballon in seiner dezenten Größe mischten ein Weiß an, für dessen Sauberkeit und Frische mir im Moment nur zwei Vergleiche einfallen. Ein Südseesegel und der Kittel einer bildschönen Apothekenhelferin.

Wenn ich über ihre Figur etwas sagen müsste, würde ich am liebsten schweigen und stattdessen eine Zeitrafferaufnahme von ihr auf irgendeinem Monitor laufen lassen.

Man kennt das ja gut von Naturfilmen, wenn die Kamera die Knospe filmt und die Transformation zur Blüte nicht Wochen oder Monate dauert, sondern sich in Sekunden vollzieht. Dann würde man auch sofort sehen, wie flüchtig und kurz die Schönheit der Jugend eigentlich ist und sie noch weit mehr wertschätzen.

Nun ja, ich durfte sie kennen lernen als die Knospe gerade aufsprang und das Kind sich in genau das bezaubernde junge Ding verwandelte, das ich jetzt ganz deutlich vor mir sehe, während der Rauch meiner Zigarette langsam an die Decke zieht.

Sie hat ihre blaue Jacke über eine Stuhllehne im Tischtennisraum unseres Gemeindezentrums gehängt. Ingrid steht an der Tischplatte, die linke wirft den Ball senkrecht nach oben, der Kaugummi detoniert recht sanft, ohne dass sie dabei jemanden eines Blickes würdigt und der Schläger in ihrer Rechten bringt den Ball zielsicher über das Netz.

Da nicht das Match sondern nur sie allein der Gegenstand unseres Interesses ist, folgen meine Augen und die ein paar anderer Jungs nicht dem Ball sondern nur ihr allein.

Unter der Bluse hält ein weißer Büstenhalter ihren kleinen runden Busen gefangen.

Sein genaues Aussehen bleibt dabei ein Rätsel und die Phantasie schwingt sich deshalbzu den herrlichsten Mutmaßungen auf.

Als der Ball ganz nah vor dem Netz aufschlägt, muss sie sich weit nach vorne beugen undunser Blick geht so auch unter ihr Röckchen. Das Fieber steigt jetzt bei den meisten rapide an und während sie sich aufrichtet und der Rock viel zu schnell wieder an seinen Platz zurückfällt, rahmt mein Gehirn das eben gesehene Bild für die Ewigkeit ein.

Jetzt muss ich an die Turnstunde denken. Während wir Jungs auf Pfiff eiserne Stangen Meter für Meter nach oben klettern müssen, haben die Mädchen im anderen Teil des Saales, abgetrennt durch eine kleine Wand , Bodenturnen.

Gottseidank bleiben sie aber von der Höhe aus in bester Sichtweite.

Oben an der Stange sollen wir mit einer Hand an der Turnhallendecke anschlagen und alle die es schaffen, bekommen von unserem in die Jahre gekommenen Sportlehrer Herrn Waibel dann auch prompt eine Eins ins Notenbüchlein. Einige von uns schaffen es auch wirklich.

Allerdings wurde mein Glied auf dem beinharten Weg nach oben so herrlich von der Eisenstange stimuliert, dass ich mein Glücksgefühl zwischen den Beinen noch einige Sekunden lang auskosten muss, während ich wie ein satter Affe in der eisernen Baumkrone des Turnsaales hänge.

Wann immer es geht, wandert mein Blick zu Ingrid hinüber und die schwarze Turnbekleidung, die sie und auch ihre Mitschülerinnen in der Turnstunde tragen, gehören zur aufregendsten Wäsche, die ich jemals vor meinen Augen hatte.

Alle Mädchen trugen einen schwarzen Turnanzug. Der bestand aus zwei Teilen. Ein Leibchen in der Art eines Unterhemds, das gerippt war und den Blick auf Hals und Arme freigab, dazu ein Gymnastikhöschen, ebenfalls gerippt , das aufregend eng saß und die nackten Beine oder Beinchen ihrer Besitzerinnen erst recht hervorhob. Die meisten liefen barfuß herum oder hatten schwarze Gymnastikschühchen an den Füßen. Die wirkliche Beschaffenheit ihrer Körper blieb durch diese Turnbekleidung zwar wie in einem Tresor versteckt, andererseits ließ aber die Machart dieser Baumwolle unschwer die Zahlenkombination erahnen, die in den Tresor hineinführte und es brauchte gar nicht viel Phantasie, um sich ein genaueres Bild von den Proportionen jenes Mädchens zu machen, das einem nicht mehr aus dem Kopf ging. Vom Bauch oder von Bäuchen war absolut nichts zu sehen, denn das Hemdchen steckte entweder in der Hose oder fiel weit darüber.

Für uns war das eine herrliche und geheimnisvolle nicht bauchnabelfreie Zeit.

Ingrid nahm den Ball für eine weitere Angabe in die linke Hand. Mittlerweile war aber ihre Gegnerin uneinholbar weit vorne und jetzt ging es bloß noch darum, das Match zu Ende zubringen. Der Ball retournierte scharf zu Ingrid hinüber. Während sie soweit es ging zurückwich, um den Ball doch noch zu bekommen und ihn auf die Tischplatte zu bringen, öffnete sich plötzlich die Tür und herein kam Joachim.

Was jetzt passierte, war an Dramatik für mich reicher als eine Notlandung bei Triebwerksausfall. Ingrid, die bis jetzt nur uns oder besser unseren Augen gehört hatte, ließ den Ball Ball sein und rief nur ein einziges Wort. Nämlich den Namen ihres Liebsten. Dann flog sie in seine Arme wie der Falke auf den ledernen Handschuh seines Trainers.

In meiner Seele war es auf einmal totenstill. Ich hätte mich nicht einmal mehr setzen können, selbst wenn mich jemand mit aller Kraft nach unten gedrückt hätte. Eng umschlungen standen sie da und küssten sich. Seine fünf Finger auf ihrem Scheitel waren dabei so besitzergreifend wie die Tentakel eines Kraken.

Als sich endlich irgendwann seine Zunge von ihrer löste und er sie mit hinaus vor die Tür zog, dachte ich nur noch darüber nach, was mich von Joachim unterschied. Ich war fünfzehn und er drei Jahre älter. Er sah verdammt gut aus und ich mühte mich in Bezug auf Kleidung und Frisur redlich damit ab, etwas über dem Durchschnitt zu liegen.

Im Moment war er der Gewinner und ich der Verlierer. Soviel stand fest. Aus meiner eingebildeten Nähe zu Ingrid war lichtjahrelange Entfernung zu irgendeinem Stern geworden.

Dann, es musste zwei oder drei Nächte nach dieser Niederlage gewesen sein, hatte ich einenganz besonderen Traum, der für mein weiteres Leben entscheidend werden sollte.

Unser Schulhaus war ein riesengroßer alter Kasten mit uraltem Holzgeländer und breiten Treppen.

Das Geländer war ziemlich steil und manche von uns setzten sich darauf und rutschten gekonnt Stockwerk für Stockwerk hinab. Kurz vor dem Ende musste man abspringen, um gleich darauf mit dem Hosenboden wieder Fahrt aufzunehmen und die Reise bis ins Erdgeschoß fortzusetzen.

Je nach Qualität der Hose wurde das mitunter zu einer ziemlich rasanten Angelegenheit und die besten von uns hatten hierbei den Status eines Zirkusakrobaten und damit natürlich auch die Aufmerksamkeit der Mädchenwelt.

Mein angekratztes Selbstbewusstsein führte wohl dazu, dass ich wenigstens im Traum diesen Joachim übertrumpfen musste. Ich rutschte jetzt nämlich nicht die Treppen hinunter, sondern ich sprang sie in großen Sätzen hinab.

Es war, als ob ich über den Stufen schweben würde. Mit den Fingerspitzen berührte ich lässig das Geländer und dann sprang ich los. Dabei war ich selbst freudig überrascht, dass ich mir dabei nicht weh tat. Selbst wenn ich mitten auf einer Treppenstufe landete, um gleich darauf mit dem nächsten Sprung meinen Flug fortzusetzen, war ich dabei so sicher wie ein Makakenäffchen im Regenwald.

Ich war der eine Artist unter den Artisten. Der eine Held unter den Helden. Der König unter den Königen. Es verstand sich natürlich von selbst, dass ich mein volle Sprungtechnik nur einsetzte, wenn Ingrid auf der Bildfläche erschien. Und es funktionierte so gut, dass ich mich auf einmal in ihren Blicken baden konnte. Ihr Kaugummi zerplatzte genau in dem Moment als sie etwas zur Seite trat, um mich vorbeifliegen zu lassen.

Als ich erwachte, rieb ich mir die Augen und begriff, dass ich alles nur geträumt hatte. Aber es war alles andere als ein Schock. Ich hatte nämlich erkannt, dass ich über ganz besondere Eigenschaften verfügen musste, um genau die uneingeschränkte Aufmerksamkeit zu erreichen, die ein Joachim einfach so bekam.

Wie wäre es, so begann ich mich jeden Tag und jede Woche nach diesem Traum zu fragen, wenn ich zum Beispiel mit einem ganz besonderen Blick oder mit der Kraft meiner Stimme eine andere Person dazu bringen könnte, sie bedingungslos in mich verliebt zu machen. Es wäre nicht nur phantastisch, sondern es wäre, da war ich mir ganz sicher, der Traum eines jeden Jungen.

In den folgenden Wochen und Monaten experimentierte ich wie wild herum. Ich hielt zu allen Frauen, die mir über den Weg liefen und mir dabei beiläufig einen Blick schenkten, nicht nur Blickkontakt sondern versuchte sie mit aller Kraft zum Stehenbleiben zu bewegen.

Manche von ihnen drehten sich auch irritiert nach mir um, weil ich sie so anstarrte. Aber nicht eine blieb stehen. Ich ließ mich aber davon nicht abschrecken. Kein Hund, kein Vogel, keine Katze war vor mir sicher. Ja, ich machte in den Zoogeschäften nicht einmal vor Fischen, Mäusen, Hasen oder Wellensittichen halt.

Mein Blick wurde von Tag zu Tag eindringlicher und fordernder. Aber nichts geschah. Nun entschloss ich mich dazu, Blick und Stimme zu vereinen und ganz gezielt einzusetzen.

Die ersten Versuche machte ich vor allem mit Hunden und Katzen, wenn ihre Besitzer nicht in der Nähe waren. Und wirklich – jetzt erzielte ich bei weitem bessere Ergebnisse. Einmal brachte ich einen Pudel soweit, dass er sich mit mir fast dreihundert Meter von seinem Frauchen entfernte.

Als ich ihn aber gerade dazu bringen wollte, sich auf den Boden zu legen, ertönte ein lauter Pfiff und mein Versuchskaninchen preschte einfach auf und davon.

Aufgeben kam nicht in Frage. Die Tierversuche wurden besser und besser. Irgendwie kam es aber zu keinem nennenswerten Durchbruch. Und dann auf einmal führte mich die zufällige Begegnung mit einer Nachbarin zum ersehnten Ergebnis.

Es war Frau Reilinger, die Oma von Ida, einer Klassenkameradin. Ida selbst war übergewichtig wie alle Frauen in ihrer Familie und ziemlich verschlossen. Unsere Begegnungen im Treppenhaus begannen und endeten deshalb immer nur mit einem kurzen Hallo. Sie hatte gerade die Tür aufgesperrt und war mit einer schweren Einkaufstasche und drei Tüten auf dem Weg nach oben ins fünfte Stockwerk.

Weil es damals üblich war in der Nachbarschaft beim Tragen zu helfen, nahm ich ihr gleich die schwere Tasche aus der Hand und sagte: „ Warten Sie , Frau Reilinger! Ich helfe Ihnen!“

Ich drückte mich schnell an ihr vorbei, nahm wie mein Held im Traum gleich mehrer Stufen auf einmal und hörte sie noch rufen: „ Warte aber bitte vor meiner Tür. Nicht gleich wieder weglaufen!“

Oben angekommen stellte ich ihre Tasche ab und ein Blick nach unten zeigte mir, wie sie nach und nach die Treppen heraufkeuchte. Natürlich hoffte ich darauf, dass ein kleines Taschengeld für mich heraussprang. Ich hatte vor ein paar Wochen gerade mit dem Rauchen begonnen und die nächste Packung Zigaretten war überfällig. Zu dieser Zeit kosteten die Glimmstängel übrigens nur ein Zwanzigstel von dem, was man heute dafür bezahlen muss.

Weit wichtiger als das Geld, war mir aber nach all den Tierversuchen meine kleinen Fortschritte endlich an einer richtigen Frau auszuprobieren. Das Alter war mir dabei zunächst völlig egal. Also nahm ich, nachdem sie oben angekommen war, meinen ganzen Mut zusammen, blickte ihr meerestief in die Augen und sagte mit der ruhigsten und sanftesten Stimme, die mir gerade möglich war: „ Sie brauchen m i r wirklich nichts zu geben! Das hab ich gern gemacht!“

An was ich mich dabei auch heute noch genauestens erinnern kann, war, dass ich, als ich das Wörtchen „mir“ aussprach, instinktiv eine Bewegung auf sie zumachte und sich in eben diesem Moment unsere Blicke ineinander verbohrten.

Und es trat – so unglaublich das klingt – plötzlich eine Veränderung in ihrem Verhalten ein. Sie sah mich so liebevoll wie ihre Enkelin an und meinte: „Du bist wirklichein reizender Bub! Na, wart mal eine Sekunde!“ Sie öffnete ihre Wohnungstüre, bat mich herein und ließ mich auf der Wohnzimmercouch Platz nehmen. Dann sah sie mich mit dem freundlichsten Blick, zu dem sie fähig war, an und fragte mich:

„Na, magst einen Kakao?“ Dabei kam sie auf mich zu und streichelte mir über das Haar. Ich schluckte, biss mir auf die Lippen und meinte nur:

„ Ja, danke, Frau Reilinger!“

Was bis jetzt passiert war, übertraf meine kühnsten Erwartungen. Sollte wirklich diese zufällige aber sorgfältige Betonung der drei Buchstaben m i r in Kombination mit den gekreuzten Blicken das Unmögliche möglich gemacht haben?

Um Gewissheit zu haben, musste ich unbedingt noch ein wenig warten und so wartete ich mit klopfendem Herzen auf ihre Rückkehr aus der Küche. Fünf Minuten später war es dann soweit.

Sie steuerte mit einer Tasse Kakao direkt auf mich zu, stellte sie vor mich auf den Wohnzimmertisch und setzte sich gleich neben mich. Wir saßen jetzt Bein an Bein. „Hab dir extra viel Zucker reingetan. Wirst sehen, der schmeckt dir bestimmt!“

Sie sah mich von der Seite an, ohne den Blick von mir zu wenden, strich mir erneut über das Haar und legte mir ihre andere Hand auf den Oberschenkel. Jetzt hielt ich die Luft an. Kein Zweifel mehr. Die Frau mochte mich mehr als mir lieb war. Mit zitternder Hand nahm ich die Tasse auf und trank einen kleinen Schluck von ihrem Kakao. Als sie dann noch näher an mich heranrückte und mir dabei ihren Arm um die Schulter legte wurde es richtig brenzlig. Von dieser Frau wollte ich mich auf keinen Fall verführen lassen. Ich beschloss blitzschnell auf das Trinkgeld zu verzichten, sprang in einem Satz auf und brachte nur noch heraus: „Jetzt muss ich aber wirklich gehen!“

Ich rannte zur Tür, öffnete sie und stürzte, ohne sie wieder zu schließen, die Treppen hinab.

Dabei übersprang ich so viele Stufen wie niemals zuvor und es war ein Wunder, dass ich mir dabei nicht das Genick brach. Unten angekommen war ich viel zu aufgewühlt um zu gehen.

Ich lief und lief, bis ich zu einem meiner Lieblingsplätze in der Stadt gekommen war. Mein Glücksgefühl war unbeschreiblich. Einer der unglaublichsten Träume war wahr geworden. Kein Olympiasieger, kein Erstbesteiger oder Astronaut hätte sich besser fühlen können als ich.

Aber warum gerade ich? Warum sollte ausgerechnet ich das riesengrößte Glück der Welt haben? Vielleicht war es irgendeine Gen – Besonderheit?

Ich hatte mal davon gelesen, dass es Menschen gab, die viel schneller alterten als andere oder welche, die selbst die schwersten Sprachen in wenigen Tagen oder Wochen lernen konnten.

Ich zündete mir eine Zigarette an, nahm ein paar ganz tiefe Züge und beschloss ziemlich schnell, meine neuen Fähigkeiten in den kommenden Tagen an anderen wildfremden Frauen zu testen. Um einfach und unverdächtig mit ihnen ins Gespräch zu kommen, fragte ich sie nach dem Weg oder irgendwelchen Adressen von Geschäften und siehe da – mit allen gab es nur Volltreffer. „Entschuldigung, können Sie m i r vielleicht helfen“ war dabei immer meine einleitende Frage undwährend ich Ihnen tief in die Augen blickte und mich ein wenig auf sie zubewegte, geschah immer wieder ein und dasselbe. Alle entwickelten plötzlich die größten Gefühle für mich. Ich verstand die Welt nicht mehr. Von einem Tag auf den anderen hatte sich mein Leben völlig verändert.Was für eine Zukunft mir mit diesen Fähigkeiten wohl bevorstand?

Klar war jetzt nur, dass ich dieses Geheimnis bewahren musste. Zu niemandem ein Wort! Und dann - bereits einige Tage später - ergab sich die Gelegenheit herauszufinden, ob das Wunder auch bei Ingrid möglich war.

Es war ein Donnerstag Nachmittag. Als ich zur Tür hereinkam, lagen zwei Schläger und ein Ball auf einer Hälfte der Platte. Gottseidank war meine Angebetete im Raum. Sie unterhielt sich gerade mit einer Freundin und sah genauso hinreißend aus wie immer. Von Joachim und den anderen Jungs war nichts zu sehen. Ich begrüßte die beiden, die ebenfalls kurz von mir Notiz nahmen, holte tief Luft und gab mich so locker wie möglich, als ich sagte: „ Na, Ingrid. Machen wir ein Spielchen?

Noch bevor sie antworten konnte, warf ich aber schon den Köder aufs Wasser, den ich mir vorher genau überlegt hatte. Mein nächster Satz war: „ Wenn du gewinnst, dann gewinnst du zwei Kinokarten. Ist ein Film mit H.B.“ Ich nannte ihr den Namen eines damals bekannten Filmschauspielers in der Hoffnung, dass sie anbeißen würde.

„Kannst ja zusammen mit Joachim reingehen. Der ist zwar erst ab sechzehn, aber in dem Kino kontrollieren sie dich nicht.“ Während des letzten Satzes hatte ich die zwei Karten lässig aus meiner Hosentasche gefischt und sie in die Höhe gehoben. Dann wartete ich auf den Ruck der imaginären Angelschnur.

„Gut, dann komm!“ meinte sie kämpferisch, nahm einen Schläger und schüttelte ihren Scheitel schwungvoll nach rechts. Dann rief sie: „ Erstmal um die Angabe!“ Ich war jetzt schon selig.

Denn ich hatte für die nächste Zeit – allein schon durch das Spiel – ihre ungeteilte Aufmerksamkeit.

Da ich besser spielte als sie, musste ich sie gewinnen lassen. Denn dann ergab sich bestimmt irgendwann die Gelegenheit in Ruhe mit ihr die Blicke zu kreuzen. Nach ein paar Minuten lag ich schon vorne, achtete aber darauf, meine Führung nicht auszubauen und verschlug deshalb die nächsten eigentlich sicheren Bälle.

Gleichstand. Dann ließ ich sie davonziehen, denn sie war jetzt so aufgeregt, dass sie nicht nur am Kaugummi kaute, sondern auch an einem ihrer Fingerchen.

Nach dem letzten von mir verschlagenen Ball sprang sie einen halben Meter in die Höhe, rief zweimal „Gewonnen, gewonnen!“, umarmte ihre Freundin und kam dann langsam auf mich zu.

Mir ging es jetzt wie einem Konfirmanden, der bei der Feier einen Text aufzusagen hat, aberdann so nervös geworden ist, dass er sich an kein einziges Wort mehr erinnert.

Sie kam näher und näher und ich dachte nur:

„ Lieber Gott, wenn es jetzt noch einmal klappt, dann verspreche ich dir hoch und heilig, dass mir ein einziger Kuss genügt! Ich schwöre es.“

Heute weiß ich natürlich, dass es in diesem Moment nicht schwer war dem lieben Gott alles zu versprechen. Ich ahnte ja schon voraus, dass es mir wieder und wieder gelingen würde und in meinem Innersten wusste ich, dass dieser Verzicht auf andere Freuden kein echter Verzicht war.

Und so kreuzten sich unsere Blicke dann auch tatsächlich als ich mit gedämpfter Stimme nur noch meinte:

“ Ingrid, das Spiel hat m i r richtig Spass gemacht!“

Als ich ihr die Karten in ihre ausgestreckte linke Hand drückte, war sie wie Wachs in meinen Händen. Vor allem in ihren Augen sah ich wiederum die Veränderung, die so urplötzlich vorging. Es war die reine Liebe. Kein Zweifel. Wenn ich ein Baby gewesen wäre, hätte sie mich an sich gedrückt und mich erbarmungslos abgeknutscht. Aber ich war ein junger Mann. Deshalb ließ sie jetzt alles geschehen. Ihr Mund, ihre Augen, ihre Nase, ihre Haut... alles kam näher und näher.

Es wurde heißer und heißer. Die Wahnsinnshitze hätte ich bis in alle Ewigkeit aushalten können. Ich schluckte und sie schluckte. Dann berührten wir uns zum allerersten Mal. Ja und dann, dann zog ich sie an mich und küsste den süßesten Kuss, den ein Fünfzehnjähriger überhaupt küssen kann.

„Sag mal, Kurt. Wann ist denn eigentlich der zweite Track fertig?“ Mein junger Freund und Pfleger Florian schüttelte gerade mein Kissen auf, während ich mit dem Oberkörper weit nach vorne gebeugt bloß darauf wartete mich wieder darauf zurückfallen lassen zu können.

„ Ist fertig. Du musst ihn dir aber wieder selbst auf dein Handy überspielen. Ich habe keineAhnung, wie das funktioniert.“

„ Ja, klar. Ist kein Problem. Mach ich gerne. Wenn du mir jetzt dein Handy geben würdest, dann könnt ich ...“

Bevor ich mich zurückfallen ließ, holte ich das Handy aus der Schublade neben meinem Bett, zog das Ladekabel ab und reichte ihm breit lächelnd einen weiteren Teil meines Lebens.

Ich war sicher, dass er am zweiten Track auch Geschmack finden würde, denn da beschrieb ich den Übergang von der Raupe zum Schmetterling. Es ging sozusagen um meine Wandlung von einer Jungfrau zum Mann.

„Vergiss aber bitte auf keinen Fall, mir morgen Zigaretten und zwei Flaschen Wein mitzubringen! Aber bitte nur den Chardonnay von X.“ Ich nannte ihm den Namen eines Supermarkts ganz in der Nähe.

„Denn von dem letzten, den du gebracht hast, hatte ich grauenvolles Sodbrennen.“

Er nickte jetzt mehrmals und meinte leise: „ O.k. Kurt, Hab`s verstanden. Kannst dich drauf verlassen. Nur den Chardonnay!“

Jetzt machte er ein paar Minuten an seinem und meinem Phone herum und dann war Brigitte auch schon bei ihm archiviert.

Track 2 Brigitte

Die Geschichte mit Ingrid verlief im Sande. Ich bin nämlich auch heute noch stolz darauf, dass ich alle Schwüre, die ich jemals geleistet hatte, auch gehalten habe.

Das liegt daran, dass ich immer schon entsetzlich abergläubisch war. Woran das genau bei mir liegt, weiß ich nicht. Ich weiß nur das eine, Pech ist Pech und Glück Glück. So einfach ist das eben.

Schwarze Katzen haben mir immer schon Pech gebracht und bis auf den heutigen Tag, weiß ich mir nicht anders zu helfen, als sofort den Rückweg anzutreten, wenn so ein schwarzes Biest direkt vor mir herumschleicht. Egal, wo ich bin, ich kehre sofort um und versuche mein Ziel anders herum zu erreichen. Bei Ingrid war es deshalb nur der eine Kuss und ich wusste, dass es damit vorbei war. Jedenfalls von meiner Seite.

Einige Tage nach den damaligen Ereignissen sah ich auf meine Hände. Zwischen denFingern hielt ich einen Brief von Ingrid.

„Lieber lieber Kurt! Was ist los? Was ist mit dir? Ich wollte doch mit dir zusammen ins Kino gehen. Seit Tagen gehst du mir aber aus dem Weg. Warum? Warum nur? Ist es wegen Joachim. Den habe ich doch überhaupt nicht geliebt. Dich liebe ich, nur dich allein! Bitte, bitte, sag mir, was los ist. Ich liebe dich so sehr! Ich weiß gar nicht mehr, was ich machen soll. Ich denke nur noch an dich. Bitte, bitte antworte mir!“

An das Ende des Briefes hatte sie drei Herzen gesetzt, die sie mit einem Buntstift rot ausgemalt hatte. Nun die Wahrheit konnte ich ihr natürlich nicht sagen , ich fühlte aber sofort, dass mein Glück nach einer gewissen Zeit immer auch Unglück für andere Menschenbedeuten würde. So wie eine Münze ihre zwei Seiten hat.

Aber wie gesagt, damals fühlte oder ahnte ich das nur und dachte nicht eine Sekunde darüber nach. Dafür war ich viel zu berauscht von meinem neuen Ich.

Ich wusste, ich hatte die Tür zum Paradies aufgestoßen und ich wollte nur hinein.

Es war wie eine Jahrmarktsfreikarte für alle Fahrgeschäfte dieser Welt und ich wollte einfach nur fahren und fahren und fahren. Rücksichtnahme in welcher Hinsicht auch immer passte nicht dazu.

Darum fiel es mir auch nicht schwer den Notlügenschrank zu öffnen. Mir war klar, dass ichfür Ingrid richtig lügen musste, damit sie ihr normales Leben weiterführenwürde können. Also drehte ich ihren Brief um und schrieb auf die Rückseite:

„Liebe Ingrid. Es tut mir leid. Ich gehe mit einer anderen. Ich liebe sie wirklich. Entschuldige bitte!“

Diese Worte verfehlten ihre Wirkung nicht. Fortan ging mir Ingrid auch aus dem Weg. Für größeren Kummer blieb keine Zeit, denn ich wollte weiter im Paradies herumlaufen und es bis zum allerletzten Meter ausschreiten.

Aufklärung gab es zu unserer Zeit nicht. Wir wussten so ungefähr, was die Erwachsenen in ihren Schlafzimmern machten. Aber wir hätten gerne viel mehr gewusst.

Die, die mehr darüber wussten, gaben ihr Wissen im Pausenhof großspurig weiter. Sie spielten sich auf wie Lehrer und scharten, je nach Wissensstand und Kompetenz auf diesem Gebiet, vor allem die jüngeren Schüler um sich.

Einer von den Älteren hatte fünf oder sechs Schwarz-Weiß Fotos, auf denen man sehr genau sehen konnte, was sie da im Bett machten. Für mein Leben gern hätte ich eines davon gehabt, aber er verlangte dafür ein Vermögen. Also speicherte ich das Foto so gut es ging in meinem Gedächtnis und dachte bloß noch daran, sobald wie möglich genau das zu machen, was die Erwachsenen da taten. Ingrid wäre hierfür natürlich am allersüßesten gewesen. Aber durch meinen unseligen Schwur hatte ich diese Möglichkeit leider vertan.

Da ich aber jetzt in der bewundernswerten Lage war, mir jede aussuchen zu können, mit derich ins Bett wollte, ging ich die Reihe der in Frage kommenden Frauen durch.

Übrig blieb Brigitte.

Sie war zwölf Jahre älter als ich und eine neue junge Lehrerin an unserer Schule.

Je mehr ich über sie nachdachte, desto klarer wurde mir, dass ich schon recht bald den einen Pfeil abschießen würde, der sie mitten ins Herz treffen sollte.

Brigitte war ganz anders als der Großteil unserer Lehrer. Sie war ein frischer Wind im muffigen autoritären Schulalltag. Sozusagen ein warmes kleines Licht in der Dunkelheitder Schulkatakomben.

Nicht nur, dass wir aus geringstem Anlass geprügelt wurden – Stock und Ohrfeigen gehörten zur Grundausstattung unserer Pädagogen– , sondern auch derUnterricht selbst wurde in der Regel immer in ein und derselben Verpackung dargeboten. Nämlich in absoluter Strenge, kombiniert mit lebloser Wiederholung und Auswendiglernerei. Ein Lehrer ist mir dabei noch in ganz besonderer Erinnerung.

Er schneite immer mit energischem Schritt in die Klasse herein und obwohl Fenster und die Türe geschlossen war und alle auf ihem Platz saßen, begann sein Unterricht immer mit denselben Worten: „ Guten Morgen! Fenster und Türe bitte schließen, auf die Plätze – aber rasch! Nehmt das Buch heraus, Seite X Übung Y. !“

Dann ging es reihum mit der Übung wie beim Klingelbeutelreichen in der Kirche.

Jeder kam dran und wenn einer von uns gerade träumte oder sich mit dem Nachbarn unterhielt, flog plötzlich sein Schlüsselbund durch das Klassenzimmer, und brachte jeden so schnell in die Realität zurück wie der Gong einen Boxer. Manche unserer Erzieher tobten sich mit dem Stock übrigens immer wieder gern an ein und demselben Schüler aus.

Wenn die Schulstunde dann endlich zu Ende ging, durfte man für ein paar Minuten zum eigenen Ich zurückkehren, bis wieder der nächste von ihnen durch die Tür trat.

Brigitte dagegen fragte uns schon in der ersten Stunde, wie es uns ginge, ob wir gut geschlafen hätten, welches unsere Lieblingsmusik sei oder was wir gerne machen wollten. Ihr Unterricht fiel von Anfang an positiv aus dem Rahmen.

Ich erinnere mich, dass sie uns in irgendeiner Deutschstunde nicht mit irgendeinem Themalangweilte, wo man das Für und Wider abzuwägen hatte, um dann am Ende zu irgendeinem bestimmten Ergebnis zu kommen, das vor allen Dingen eines, nämlich vernünftig zu sein hatte.

Sie kam mit einem Tonband und einem lilanen Korb an, in dem sie buntes Schreibpapier hatte. Dann ging sie von Bank zu Bank, musterte die Schüler kurz und suchte intuitiv für jeden eine andere Farbe heraus. Hellblau, gelb, hellgrün, türkis, orange, lila und sogar rosa. Wer wollte, konnte seine Farbe natürlich auch selbst auswählen. Ich bekam übrigens türkis. Auf alle Fälle gab es auf einmal kein liniertes Einheitsweiß mehr auf den Bänken, sondern alle Tische leuchteten wie Blumenbeete in der Frühlingssonne.

Dann stellte sie einen knallroten Kaufhauswecker auf ihren Tisch und meinte:

„ In neunzig Minuten wird er klingeln, dann solltet ihr fertig sein! Ein eigentliches Thema gibt es heute gar nicht. Ich möchte, dass ihr einfach etwas ganz Eigenes schreibt. Ein Märchen, eine erfundene Geschichte, ein Abenteuer, ein Geheimnis oder etwas von euch selbst, euren Freunden oder eurer Familie. Was ihr wollt. Völlig egal. Ein paar von den besten Geschichten werde ich dann in der nächsten Stunde vorlesen.

Damit ihr aber in die richtige Stimmung dafür kommt,werde ich euch auch n bisschen Hintergrundmusik machen.“

Dann schaltete sie das Tonband ein und leise erklang eine ganz wunderbare Musik, die zwar nicht alle aber doch einige von uns in dichterische Höhen hob.

Dann irgendwann rasselte plötzlich der Wecker ziemlich unsanft los und Brigitte ging von Tisch zu Tisch, um alle Verrücktheiten einzusammeln.

Heute weiß ich nur noch, dass sie ein paar Tage später natürlich eine Geschichte von Hans vorlas. Der saß zwei Bänke hinter mir, war der Älteste in unserer Klasse und hatte in Deutsch ausnahmslos „sehr gut“.

Aber der las ja fast vierundzwanzig Stunden am Tag, kannte alle Schriftsteller und niemand von uns wunderte sich über seinen Erfolg. Es war auch sagenhaft gut, was er da fabriziert hatte. Es ging um seine Begegnung mit einem Eichhörnchen in irgendeinem Friedhof. Das Tierchen konnte sprechen, sprang zu ihm auf die Bank und es begann ein dermaßen phantastischer Dialog, dass die Gebrüder Grimm ihn sofort in ihre Märchensammlung aufgenommen hätten, wenn es ihn zu ihrer Zeit nur schon gegeben hätte.

Wir anderen backten natürlich wesentlich kleinere Brötchen, hofften aber inständig, dass Brigitte auch uns noch aus ihrem Körbchen zog. Zwei anderen von meinen Mitschülern widerfuhr noch die große Ehre, aber dann war es auch schon vorbei. Nur Heinz, ein Junge mit ziemlich viel Pickeln im Gesicht, durfte seinen Text noch vorlesen. Und das kam so.

Sie nahm Heinz Blatt aus ihrem Korb und ging zu ihm hin. Man konnte sehen, dass sein Werk vor Korrekturen überfloss.

Sie sah ihn lächelnd an, legte ihm den Text auf den Tisch und meinte für alle von uns gut hörbar:

„ Penis schreibt man übrigens nur mit einem „n“!“

Einen Moment lang war Stille. Alle fragten sich, ob sie richtig gehört hatten. Dann brach ein Gejaule und Gepruste los, das es so überhaupt nur bei Brigitte geben konnte. Und schließlich riefen alle: „Vorlesen! Vorlesen!“

Heinz hatte gar kein Problem damit, jetzt im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Er genoss es sichtlich und nahm auch gleich sein Manuskript vom Tisch, um es Brigitte zu reichen. Sie lachte auch und fragte etwas lauter „Wollt ihr das wirklich hören?“ Unsere Neugier war natürlich grenzenlos und da meinte sie nur noch: „Gut, Heinz, dann lies es mal selbst vor.“ Was dann kam, war filmreif.

Er marschierte in aller Seelenruhe nach vorne, räusperte sich mehrmals und während wir gespannt darauf warteten, dass er endlich anfing, kratzte er sich zunächst nur nochmal am Kopf. Dann sprach er den ersten Vers seines gewaltigen Gedichtes. Der war aber viel zu leise. Kein Mensch verstand irgendein Wort. Schließlich sagte unsere Lehrerin so betont freundlich wie die Pädagogen heutzutage: „ Du musst lauter sprechen - lieber Heinz!“

Leider kann ich mich von seinen drei oder vier Strophen, für die er neunzig Minuten lang geschwitzt hatte, nur noch an die erste erinnern und sie hieß:

„ Ich liege hier am Nackertensee

und die Sonne scheint so schee.

Ihre warmen Strahlen scheinen auf meinen Pennis

Schee is...!“

Nach jeder Strophe folgte ein Riesengelächter. Die Stimmung bei uns Jungen wurde besser und besser und die meisten sahen sich jetzt auch an diesem See liegen oder darin herumschwimmen. Dass niemand dabei eine Badehose brauchte, machte die Freiheit vollkommen.