BLINDE JAHRE - Sharon Wunsch - E-Book

BLINDE JAHRE E-Book

Sharon Wunsch

0,0
2,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

27 Menschen in einem brennenden Bus mitten in den verschneiten Alpen. Ein Fegefeuer, aus dem nur eine Frau und ein Hund lebend geborgen werden. Die Überlebende verschwindet für ein Jahr im Klinikum für Schwerstbrandverletzte. Sie erwacht mit falschem Namen am Bettpfosten. Verwechselt, vertauscht, vom Ehemann plus Tochter für tot erklärt. Eine totale Amnesie macht es zunächst unmöglich, sich an Unfall oder eigene Person zu erinnern. Die einsam gelegene Hütte, in der die ehemals vermögende Karrieristin Stella Moosberg nun als Meike Richter leben muss, birgt Geheimnisse einer mystischen Vergangenheit. Sporadisch einsetzende Erinnerungen werden zur Qual: Nichts passt zur Person der neuen Bewohnerin. Und der einzige Mensch, der diesen Zustand ändern könnte - Ehemann Julius Moosberg - hat für seine Zukunft gerade ganz andere Pläne. Es bliebe beim Gefühl lebendig begraben zu sein, wenn da nicht die beiden wunderbar skurrilen Nachbarn wären: Henry Plummer & Hazel Mc Murphy. Der pensionierte Polizist bedient sich wertvoller Kontakte und bringt damit eine Lawine ins Rollen, die nicht zu stoppen ist. Kontraste reizen die Autorin und sind der Motor von "BLINDE JAHRE". Mit dem ihr eigenen Sarkasmus und schwarzem Humor erzählt SHARON WUNSCH die Geschichte vom Gewinnen und Verlieren, von totalem Kontrollverlust und dem Kampf zurück ins Leben.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 545

Veröffentlichungsjahr: 2019

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Sharon Wunsch

BLINDE JAHRE

blind years

*

Ein kleiner Junge sammelt nach einem Sturm an der Nordsee gestrandete Seesterne ein und wirft sie zurück ins Meer.

Ein älterer Mann mit Hund kommt vorbei und fragt:

„Was machst du denn da?“

„Ich rette die Seesterne vor dem vertrocknen.“

Der alte Herr deutet auf Tausende von angeschwemmten Seesternen, die im Sand liegen.

„Das ist sinnlos. Guck mal, wie viele das sind. Das macht doch keinen Unterschied!“

Der kleine Junge hebt unbeeindruckt einen weiteren Seestern auf, betrachtet ihn, wirft ihn dann ins Wasser und sagt:

„Für den hier schon!“

*

Mit dem LEBEN ist es wie mit einem Theaterstück:

Es kommt nicht drauf an, wie lang es dauert, sondern wie interessant es ist und wie gut es gespielt wird.

(Seneca)

Danke für das schöne und allseits spannendeTheaterstück „LEBEN“ mit Dir!

Ich widme Dir diesen Roman,geliebter Ehemann & FreundMICHAEL

SHARON WUNSCH

ROMAN

©2019 SHARON WUNSCH

Autor: Sharon Wunsch

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN:

Paperback 978-3-7497-6845-5

 

Hardcover 978-3-7497-6846-2

 

E-Book 978-3-7497-6847-9

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar.

PROLOG

*

„Sag mal, wer hat mich damals eigentlich identifiziert in der Gerichtsmedizin?“

„Das war Dein Mann. Er war zusammen mit der Tochter dort.“

Sie überlegte weiter, kam aber zu keinem Ergebnis. Es machte alles keinen Sinn. Warum sollte ihr eigener Ehemann, von dessen Existenz sie erst vor wenigen Stunden erfahren hatte, eine andere Person für sie ausgeben?

Musste man so etwas nicht per Gesetz und mittels DNA ausschließen?

Henry Plummers Antwort war niederschmetternd. Beim

Busunglück in den Bergen gab es 27 Tote und nur eine einzige Überlebende. Da sämtliche Leichen schnell identifiziert wurden, war klar, wer dort in der Klinik lag. Leider hatte dieses arme bedauernswerte Brandopfer keine Möglichkeit, sich gegen den falschen Namen zu wehren, der bereits nach wenigen Tagen in die Akte aufgenommen und ans Bett montiert wurde.

Ein Pech kam zum andern: keine Verwandte, keine Besuche, komplette Amnesie.

Ohne Gedächtnis im falschen Kopf und Körper.

„ Weißt du, die Ausradierung deiner Person war wirklich einzigartig. Jede Spionageabteilung wär´ hocherfreut über derart viel Glück, einen Menschen - womöglich für immer - lebend verschwinden zu lassen: eine zweite Identität frei Haus.

Und niemand muss was dafür tun! Du warst ganz offensichtlich zur falschen Zeit am falschen Ort! Ich weiß nicht, woran er seine Frau damals erkannt hat. Aber ich werde mir die Akte irgendwie besorgen. Ich freu´ mich drauf, glaub´ s mir!“

Deutlich klang Zynismus aus der Stimme des altgedienten Polizisten.

*

Zweieinhalb Jahre zuvor…

*

Kapitel 1 – 19- Januar 2008 – 8.20 UhrMünchen Grünwald – Villa der Varner Biotec AG

Der Hausprospekt klang vielversprechend.

Berghotel Tauernblick, 4-Sterne, Tagungshotel am Weißsee.

Umgeben von Gletschern, Seen und Gipfeln des Nationalparks. Stilvoll eingerichtete Zimmer mit Blick über eine Traumkulisse: Urlaub über den Wolken. Wellnessbereich vom Feinsten, 24 Stunden Küchenservice, Kellerbar im typisch alpenländischen Charakter. Hotel nur mit der Gondel erreichbar. Gerne werden wir Ihre speziellen Wünsche beachten.

„Die haben wir, da könnt ihr euch sicher sein!“

Ein amüsiertes Lächeln überzog ihr Gesicht.

Das war´s, davon würde sich die Vorstandsetage von Varner Biotec überzeugen lassen. Brenner würde Augen kriegen, dass sie es wieder einmal geschafft hatte, derart kurzfristig eine Hotelunterkunft der Extraklasse für immerhin 60 Teilnehmer zu arrangieren. Mit einem enthusiastischen Klick vollzog sie die Anfrage mit Hinweis auf Dringlichkeit.

*

Drei Jahre harte Arbeit lagen hinter ihnen. Das neue Medikament benötigte eine extrem kostenintensive Test- und Erprobungsphase. Ständig die Angst im Nacken, dass ein anderer Konzern ihnen zuvor kommen würde. Und nun diese Überraschung: Das neue Präparat erfüllte nicht nur alle Erwartungen, es wurde in sämtlichen Parametern als wertvolle Neuerung der Diabetesforschung anerkannt und dementsprechend bewertet. Die Chefpharmakologen hatten sich überschlagen mit Lob an ihre wissenschaftlich-technische Abteilung und fuhren in Champagnerlaune am Abend ins Grand Hotel Salzburger Hof. Stella Moosberg (sie wiederholte vorm Laptop genüsslich langsam ihren Namen) und die neue Pressesprecherin von drüben (…wie hieß sie doch gleich?) mit im Gepäck. Niemüller hatte sie angeschleppt. Eine verhältnismäßig graue Maus, mit der sie noch keine zehn Worte gewechselt hatte. Überbleibsel aus einem liquidierten Pharmabetrieb in Innsbruck. Die würde es garantiert nicht lange bei Varner Biotec aushalten.

*

Es gab ein vorzügliches Menü und champagnergeschwängerte Reden. Gisbert Gruber, Seniorchef und Gründer von Varner Biotec hatte nach dem fünften Gang darauf bestanden, sie künftig beim Vornamen nennen zu dürfen. Damit sei Stella einen weiteren Schritt in die Vorstandsetage in Salzburg zu gelangen, nähergekommen. Sie müsse nur brav, artig und karrierebesessen, wie sie nun mal war, was er schmeichelnd betonte, weiter für Varner arbeiten.

Eine Stunde später trafen sie sich noch einmal an der Bar. „Kindchen, Sie sind aus demselben Holz geschnitzt! Wir wissen, was wir wollen, und wie wir es bekommen. Machen Sie weiter so. Und verlieren Sie nie Ihr Ziel aus den Augen!“

Mahnend hob er den Zeigefinger. Im Geiste ließ sie ihre To-do-Liste weiter Revue passieren.

Jetzt tätschelte er sie am Arm, was ihr schon weniger sympathisch war. Sein leicht alkoholisierter Atem streifte ihre Wange. Prioritäten setzen müsse man, und jetzt wäre erst einmal eine Tagung samt Feier für die Elite der Belegschaft angesagt. Das Nützliche mit dem Angenehmen verbinden, sprich: Corporate Identitiy et cetera pp.

„Wir lassen´ s mal so richtig krachen!“

Er kicherte seltsam belustigt und warf dabei einen tiefen Blick in ihr Dekolleté. Der Senior war halt noch von der alten Schule. Sie hatte keine Lust auf Sentimentalitäten oder Sex mit vergreisenden Männern in aufgemotzten Suiten.

Betont langsam stand sie auf, glättete ihren Seidenrock und schenkte ihm gönnerhaft einen betörenden Augenaufschlag, an dem sie lange vor dem Spiegel geübt hatte. Er verfehlte seine Wirkung nicht. Gisbert Gruber sank selig in die Kissen zurück und winkte ihr mit einem Glas Scotch hinterher.

*

Stellas To-do-Liste war wie üblich ellenlang. Sie hielt sich nicht länger als unbedingt nötig im Hotel auf, raste kurz nach 22.00 Uhr nach Hause und arbeitete bis nach Mitternacht.

Es war 7.30 Uhr, als sie ein Pampelmuse-plus-schwarzer-Kaffee-Frühstück später im dunkelblauen Businesskostüm erneut in ihren weißen BMW stieg.

Mann und Kinder sah sie nicht mehr. Den Zettel mit Gruß und Herzchen für die Kids hatte sie aus Versehen mitgenommen. Er lag zerknüllt auf dem Beifahrersitz. Keine Zeit, immer auf der Überholspur, wie üblich. Das zeichnete sie aus: Stella Moosberg, groß, schlank, dunkelhaarig, 39 Jahre alt und Münchner Verwaltungsleiterin bei einem der angesehensten Pharmaunternehmen Österreichs.

Ihre Karriere ging seit einigen Jahren steil bergauf. Schon heute verdiente sie das Doppelte ihres Mannes. Und der war immerhin ein halbwegs renommierter Anwalt. Im Spiegel lächelte sie sich selbstgefällig zu und strich an einer roten Ampel etwas beigefarbenen Concealer unter ihre übernächtigten Augen, beim nächsten Ministau etwas Rouge auf die Wangen und abschließend apricofarbenes Gloss auf ihre vollen Lippen.

Das Tolle daran: Sie hatte sich nicht einmal hochschlafen müssen.

Jede ihrer Stationen war hart erarbeitet und erkämpft worden. Eine Menge männliche Kandidaten hatte sie dabei hinter sich gelassen. Sie war einfach zu gut! Niemand der hohen Herren kam an ihr vorbei, ohne ihr nicht wenigstens schrittchenweise zu ihrem persönlichen Traum zu verhelfen: Das Glück und die Einsamkeit der Vorstandsetage hatte sie schon vor Jahren kennengelernt.

Während sie an diesem Morgen das Tor zum Pharmagelände passierte, dem Portier nachlässig mit der behandschuhten Linken zuwinkte, es war empfindlich kalt, spürte sie wieder das ultrasatte Gefühl, dass die Glücksfee in ihrem Leben sie reichlich geküsst und verwöhnt hatte.

Sie konnte sich an jeden einzelnen ihrer Schritte hinauf in die Geschäftsetage erinnern. Und es verursachte ihr immer noch ein angenehmes Kribbeln, wenn sie daran dachte, wie oft sie zu rigiden Mitteln gegriffen hatte, Konkurrenten auszustechen, um sie dann wehleidig kränkelnd am Wegesrand zurückzulassen. So war das Geschäft nun mal. Mit Vollgas ging´s weiter… und es würde ewig weitergehen, dafür würde sie sorgen. Sie hielt auch nichts von unkontrollierten Aktionen. Das passte nicht zu ihr, zur wohldosierten Lässigkeit und gezielt eingesetzten Arroganz. Zumindest im Berufsleben konstatierte sie leise, überließ sie nichts dem Zufall.

In einem großen Bogen kam sie neben der breiten Eingangstür aus Palisanderholz zum Stehen. Wie jeden Morgen klappte sie im Wagen ein letztes Mal vor Eintritt in die Arbeitswelt den Spiegel herunter, rollte hastig die beiden selbsthaftenden Lockenwickler aus dem Haar. Zwei Bürstenstriche später schmiegte sich die perfekte Welle an ihren Kopf. Peinlich genau achtete sie darauf, dass die dunkle Haarpracht unterhalb des rechten Ohrs endete. Was wie Zufall aussah, war exakteste Berechnung und wurde durch Verwendung von Haarlack unterstützt. Niemand sollte die beiden Hörhilfen sehen, die im Ohr wie kleine Mikrochips hafteten. Sie erzählten die Geschichte einer anderen Stella, die es schon lange nicht mehr gab.

Ihr neuer Parkplatz trug die Nummer 4 und symbolisierte gewissermaßen das Entree ihres Erfolges. Sie brauchte nicht einmal einen Schirm, um trockenen Fußes in den Palast von Varner zu gelangen. Als Studentin hatte sie oft mit klatschnassen Haaren in der Metro gesessen und sich sehnlichst gewünscht, eines Tages solche Vorzüge genießen zu dürfen. Bereits als Kind träumte sie von alleengesäumten Auffahrten und hörte sich mit einem schweren teuren Wagen langsam über das ausufernde Kiesbett rollen. Spontan entrang sich ihr ein tiefer Seufzer der Genugtuung. Sie hatte alles, wirklich alles in ihrem beruflichen Leben richtig gemacht.

*

Wie wenig man doch vom wahren Leben weiß. Und wie sehr sie gerade ihr Gefühl trügt: Die Glücksfee hatte sie längst verlassen. Ganz genau 29 Tage würden ihr noch aus ihrem alten Leben verbleiben: „29 Tage, 12 Stunden und 18 Minuten.“

Sie wird wie eine Eisscholle auf dem Meer treiben für eine unendlich lange Zeit. Ohne an diesem Zustand irgendetwas ändern zu können.

Kapitel 2 – 1. Februar 2008 - Villa am Tegernsee, Seeweg 66

Leise fluchend parkte sie neben dem Wagen ihres Mannes. Ihr blieb kaum Platz zum Aussteigen, derart schräg stand Julius Mercedes. Noch während Stella sich den steifen Nacken rieb, trat sie mit dem ersten Schritt - es hatte geregnet und jemand sinnigerweise die Außenbeleuchtung abgeschaltet - in eine tiefe Pfütze.

Na warte! Sie war gespannt, mit welcher Ausrede er ihr diesmal kommen würde und schüttelte im Halbdunkel die triefnassen Pumps. Igitt! Das laute Quapwatsch-Geräusch verfolgte sie noch, als sie sich im Heizungskeller der Schuhe und Nylons entledigte und eine neue Packung Strümpfe aus der Zellophan-Folie zog. Das mit den Einmal-Nylons war ´ne kleine Marotte von ihr. Die knisternde Verpackung landete zusammen mit den alten Strümpfen im Mülleimer.

Gerade war sie dabei, etwas Zeitungspapier in die Spitze der Pumps zu schieben, ein Trick ihrer seligen Großmutter, da stand Edgar vor ihr.

Sie erschrak, so sehr war sie in Gedanken. Stress und häuslicher Ärger ließen sie fahriger werden in den letzten Monaten. Hinzu kam, dass sie gerne auf der Rückfahrt das Hörgerät im Wagen abschaltete, um zu entspannen. Es war ein schönes Gefühl, wenn die Welt da draußen gedämpft an ihr vorbei waberte. Um diese Zeit konnte sie es sich leisten. Edgar, der grau-weiße Mops ihres Vaters glotzte sie an. Er hechelte und leckte sich unentwegt die Schnauze. Das kannte sie zur Genüge. Der Wassernapf auf dem Flur zur Einliegerwohnung neben dem Heizungskeller war leer. Futter war auch keins mehr da. Der arme Hund. Was hatte ihr Vater bloß wieder angestellt? Wie lange hing das Tier hier schon im Kellergang rum? Als Antwort hob Edgar das Bein und pullerte gegen die Eingangstür.

„Papa!“, rief sie laut, lief zum Ende des Ganges und klopfte an die Tür. Es stank bestialisch. Sie war mit dem Hausschuh in einen Haufen Scheiße getreten.

„Das darf doch nicht angehen. Vater!“

Stella trommelte an seine Tür. Diese gab nach und erlaubte einen Blick auf die abendliche Idylle ihres alten Herrn. Richard Tauber saß sehr aufrecht mit dem Rücken zu ihr gewandt am Tisch und unterhielt sich angeregt mit einem Plüschhasen ihm gegenüber. Ihr Kuscheltier aus vergangenen Tagen.

Richard hatte ihn von irgendeiner Klausurtagung mitgebracht, an einem x-beliebigen Stand auf einem Kirmesfest in Salzburg geschossen. Sie fand ihn ab der ersten Stunde einfach grässlich, wagte aber nicht, es dem geliebten Daddy, der so selten nach Hause kam, zu beichten. Nun kam er täglich uneingeschränkt zum Einsatz.

Seitdem der Hase mit am Tisch saß oder von ihm zum gemeinsamen Fernsehen auf das Sofa drapiert wurde, ging´s Richard augenscheinlich besser. Er wurde gesprächig und saß nicht mehr stundenlang stumm vor seinen Katalogen oder starrte auf seine Rätselseiten. Der Therapeutin gefiel das. Ihr als Tochter blieb nichts anderes übrig, als seinen neuen Vorstellungen von einem halbwegs zufriedenen Leben zu folgen.

Einem Rat aus früheren Wochen folgend, hatte sie ihrem demenzkranken Vater auch Familienbilder gezeigt. Er wollte wenig wissen, nichts von ihr, nichts vom gemeinsamen Leben, nur der dusselige rosa Riesenhase mit den ultralangen dünnen Fellbeinen, den rollenden großen Augen und dem dämlichen Grinsen im Gesicht beeindruckte ihn derart, dass er in kindlich penetrantem Ton darauf bestand, ihn wiedersehen zu wollen. Während er ansonsten die meisten Dinge schneller vergaß als man bis Zwanzig zählen konnte, brachte beharrliches Nachfragen ihn schließlich vom Dachboden zurück.

Richard bekam die Pflege, die er brauchte und seine Medikamente, denn nur mit denen blieb er ausgeglichen. Anfangs besorgte sie ihm wöchentlich Autoprospekte und Zeitungen. Er hatte gefühlte hundert Jahre sein Geld damit verdient, Limousinen an vermögende Leute zu verkaufen. Man sollte meinen, das zählte, und die Erfahrungen nutzen sich nicht derart schnell ab.

Die Demenz fraß binnen zweier Jahre alles auf. Erstaunlicherweise wurde diese Lücke bei ihrem Vater jedoch durch die totale Hingabe zu einem anderen Gebiet fast nahtlos ersetzt. Neuerdings lagen seine Obsessionen im Reich der sogenannten ‚weißen Ware‘. Keiner wusste, warum dies so war. Er führte den halben Tag Verkaufsgespräche über Waschmaschinen, wobei es ihm die Geräte der Marke Bauknecht besonders angetan hatten. Selbst beim Essen musste seine französische Pflegerin Schläuche und Ersatzmaterial bereitlegen. Während ihm Spinat und Püree in den Mund geschoben wurde, fragte er, ob sie Kontakt zur Werkstätte in Schorndorf aufgenommen habe, um Ersatzteile zu ordern. „Ab´ isch, Monsieur“, antwortete Cloé monoton und schob gleich noch etwas Rührei hinterher. Meist grummelte der alte Herr dann zufrieden vor sich hin und bastelte ein wenig abgelenkt an Plastikschläuchen.

Heute nimmt er Stella zuerst gar nicht wahr. Sie legt ihre versauten Hausschuhe ins Waschbecken und setzt sich neben ihn. Der rosa Hase starrt sie beide an. Er wird mit ‚Bob‘ betitelt, so wie der Chauffeur ihres Vaters, Gott hab´ ihn selig.

Cloé betet angeblich jeden Tag für den vor rund 10 Jahren Verstorbenen, weil sie an Reinkarnation glaubt und die Meinung vertritt, er wäre als Plüschhase neu auf die Welt gekommen, um ihrem Vater Gutes zu tun.

Auf dem Tisch liegen ausgeschnittene Waschmaschinen aus Katalogen herum, die in einem gesonderten Heft sauber nebeneinander eingeklebt werden. Die Therapeuten loben seine Aktivitäten. Er scheint den ganzen Tag über mit diesem Thema sowie seiner Rätselleidenschaft beschäftigt zu sein und ist relativ milde gestimmt. Das heißt im pflegerelevanten Sinne: Er ist pflegeleicht!

Stella fand´s irgendwie dennoch abartig. Sie brauchte sich nur die neuen Rätsel anschauen, die er täglich löste: Auch dieses Unternehmen sorgfältig wie üblich und lobend erwähnt von den Experten.

Keiner der georderten Koryphäen der letzten dreieinhalb Jahre verlässt das Haus, ohne ein Lächeln im Gesicht. Der Fleiß ihres Vaters beeindruckt sie alle ungemein. Kaum ein Patient habe nach knapp vier Jahren noch so viel auf dem Kasten wie er. Stella könnt´ manchmal schreien vor Verzweiflung und Wut und ja… das ist es wohl auch: Scham! Der Vater, ihr Heiligtum, ihr großes Vorbild. Der ehemals geniale Techniker Richard Tauber mutierte zum therapeutischen Wunderzwerg in Menschengestalt, einer traurigen Figur auf zwei Beinen.

*

Dem Hasen wird klargemacht, dass die Zahlen längst keine schwarzen Zahlen mehr wären. Ein Aufstieg sei auch nicht in Sicht. Er müsse sich einfach mehr am Riemen reißen, mehr akquirieren.

„Bob, das muss doch zu schaffen sein im nächsten Quartal. Die Ware ist einzigartig und auf dem neuesten technischen Stand! Bringen Sie sie an die Frau! Bauknecht weiß, was Frauen wünschen! Unser Slogan, - leben Sie ihn. Das kann doch nicht so schwer sein. Ich werde mich übrigens bei der Geschäftsleitung gegen eine diesjährige Gehaltserhöhung aussprechen, wenn das so weitergeht mit Ihnen.“

Ihr Vater schweigt bedächtig, legt nachdenklich die Stirn in Falten und blickt auf die heute gelösten Rätsel vor ihm wie auf eine Excel-Tabelle, während der Hase langsam vom Stuhl rutscht. Edgar zieht ihn am Arm unter den Tisch und hüpft im kurzen Sprung auf den verwaisten Platz. Er möchte auch mal solche Beachtung finden wie Bob. Wenn´s nicht so traurig wäre, müsste Stella eigentlich laut lachen.

Die Rätsel und Richards Lösungen, die den Psychologen sichtlich Freude bereiten, sind eigentlich gar keine. Er nimmt sich einfach einen Begriff vor, wie zum Beispiel ‚babylonischer Himmelsgott‘ mit drei Buchstaben und schreibt mit krakeligen Buchstaben ‚Uhu‘ in das Feld. Eine Drüsenabsonderung mit fünf Buchstaben ist für ihn ein ‚Apfel‘ und die Prinzessin von Jordanien heißt ‚Kleber‘, weil er den für seine persönliche Waschmaschinensammlung benötigt.

Ein polynesisches Rauschgetränk ist für ihn ‚Kaba‘, sein Lieblingsschokogetränk. Halt alles Sachen, die er noch kennt und die ihn am Denken halten, so begründen Neurologen ihre Strategie, Richard Tauber genau dieses Spiel bis zur Unendlichkeit weiter spielen zu lassen. Es strengt ihn an, man kann es deutlich erkennen. Er bemüht sich stundenlang, dieser Sache auf dem Tisch Herr zu werden. Es fordert ihn heraus, also wird´s dabei belassen und Stella übernahm den Kauf neuer Hefte. Der Verkäufer in dem kleinen Zeitungskiosk, den sie in der Mittagspause schnell mal aufsucht, wundert sich zwar über die große Menge, die sie an Ratematerial verbrät, äußert sich jedoch nicht dazu. Sie ist ihm direkt ein wenig dankbar dafür.

Wenn der wüsste…!

Ihr Vater hatte sich seine Freizeitbeschäftigung selber ausgesucht, und sich zahlreichen Vorschlägen der Neuropsychologie zu Anwendungen aus der Musik- und Kunsttherapie sowie Bewegungsübungen, Sinnes- und Wahrnehmungstraining hartnäckig verschlossen.

Bei den „Kim-Spielen“ zum Beispiel, bei denen Mitspielende durch Tasten und Riechen mit verbundenen Augen Gegenstände erraten müssen, war er das erste Mal richtig ausgeklinkt, hatte sich die Binde runtergerissen und sichtlich empört den Raum verlassen.

„Das ist mir zu lächerlich, diese Kinderspielchen mache ich nicht mit!“ Das Institut, welches sich zur Aufgabe gemacht hatte, verbliebene Fähigkeiten der Kranken zu trainieren sowie ihr Selbstgefühl zu stärken, betrat er nie wieder. Außerdem hegte er seit diesem Tage ein generelles Misstrauen, einen ihm nicht hinreichend bekannten Arzt aufzusuchen. Das wurde allerdings mit dem Verschwinden seines Gedächtnisses immer schwieriger. Leute, die ihn tagtäglich umgaben, waren soweit okay. Wechsel beim Personal an Physiotherapeuten zum Beispiel nahm er ungern in Kauf. Seine Rückversicherung lief meist über ein vertrauliches Gespräch mit Bob, wenn Cloé nicht in der Nähe war. Nur auf den Hasen war diesbezüglich Verlass.

Mit Bobs Einverständnis durfte der oder die neue Pflegekraft schließlich seinen Rücken massieren und Lockerungsübungen des Bewegungsapparates durchführen. Wobei er Frauen gegenüber ulkiger weise generell misstrauischer zu sein schien. Viele von ihnen mussten sich zunächst einem umständlichen Frage- und Antwortspiel unterziehen, bevor sie loslegen durften. Sie wurden nicht nur nach Referenzen befragt, sondern sollten dabei ebenso Pläne für ihre Zukunft darlegen. Dabei konnten schon mal 10-15 Minuten vergehen, ehe eine Behandlung in Sichtweite rückte.

Eine junge Praktikantin schien er vorbehaltlos zu mögen, denn er fragte mehrfach am Tag nach ihr.

Cloé war jedoch von deren respektlosem Verhalten mehr als entsetzt. ‚Diese Persson‘ (sie betonte dies in einer Art und Weise, als sei sie mit einen ekelerregenden Hautauschlag übersät…) habe Monsieur gegenüber auf seine Fragen zu ihrem persönlichen Hintergrund knapp mitgeteilt, es ginge ihn überhaupt nichts an, was sie in ihrer Freizeit mache. Er solle sich überlegen, ob er jetzt behandelt werden möchte oder nicht. „Es entstand eine entsetzlisch lange Bause …Madame, isch dachte schon, jetzt wird er ssornig, da lachte er plötzlisch, sog seine Ose un´seine Emd aus und legte sich zur Beandlung auf die Chaiselonge. Und… wissen Sie warum er diese Sinneswandlung vollsogen atte? Diese Persson, wie eißt sie doch gleisch, ich denke Bernadette… mon dieu, meinte mit eine Blick auf den Asen, dass sie auch so ein schönes Kuscheltier geabt habe. Und ob sie ihn streicheln darf. Da war´s um das Erz von ihre arme Errn Papa geschehen. Schrecklisch, Madame, …er ist soo ilflos!“

Diese Meinung konnte Stella nun wiederum nicht teilen. Ihr Vater war zwar oftmals irritiert und verwirrt, ein wenig depressiv, aber eher melancholisch veranlagt. Angstzustände gab es bisher noch nicht. Richard hatte auch sprachlich keinerlei Defizite und bemühte sich auf seine Weise, die ihm fremder werdende Welt zu begreifen. Dazu gehörte, da sich sein Radius krankheitsbestimmt unaufhaltsam verkleinerte, das er Nachrichtensendungen im Fernsehen zunehmend mied. Er war nicht imstande, die Inhalte zu begreifen, zuzuordnen und zu verarbeiten. Und bevor es ihn zu ängstigen drohte, schaltete er ab und wand sich seiner kleinen vertrauten Welt zu. Diese zu managen fiel ihm subjektiv betrachtet nicht übermäßig schwer.

Objektiv betrachtet war es ein Müllhaufen, den Richard verwaltete. Ein

Haufen Schrott, der seinem Kopf jeden Tag den Krieg erklärte.

*

Von einem führenden Neurologen zu erfahren, dass genetische Faktoren bei der Entstehung von Alzheimer nur eine untergeordnete Rolle spielen und sich bei Verwandten ersten Grades das individuelle Risiko nur geringfügig erhöht, hatte Stella eine beklemmende Last, ja fast Lähmung, genommen.

Sie würde auf sich und ihre sieben Sinne achtgeben, so schwor sie sich, während sie Richard vorsichtig über das volle graue Haar strich.

„Papa … hast du Edgar heute rausgelassen? Bist du Gassi gegangen mit deinem Hund?“

Fragend schaut er sie an.

„Da müssen Sie Cloé fragen, junge Dame. Sie hat das übernommen. Ich hatte heute zu viel in der Firma zu tun. Sie sehen doch, manche Angestellte lassen einen gar nicht zur Ruhe kommen.“

Seine Augen suchen ruhelos den Hasen unter dem Tisch. Es tut weh, dass er sie siezt und manchmal nicht weiß, wer sie ist, während er die Namen seiner Pfleger und Therapeuten nahezu alle behält. Leicht genervt wendet sie sich ab, schnappt sich Edgar vom Stuhl und scheucht ihn in den Garten hinterm Haus am See.

Der Mond steht hoch über ihnen. Edgar entleert sich zielstrebig an jedem Rhododendronstrauch, bevor er laut bellend die Umzäunung zur Uferpromenade entlangbrettert, um nächtliche Raucher zu warnen, die wie so oft leise telefonierend den Weg entlangschlenderten. Ein Einbrecher hätte es echt schwer bei ihm. Edgar ist zwar klein und dick, aber äußerst gelenkig und unerwartet bissig. Wenn ihm einer nicht passt, gibt´s schon mal ein ‚Wadenzwickerl‘, wie ihr Vater dies bezeichnete. Einige Anzeigen liefen bereits während seines sechsjährigen Daseins. Den Maulkorb hatte Richard bei seinem ‚Möpslein‘, wie er ihn kosend nannte, jedoch stets abwenden können.

„Das tut dem Viecherl nicht gut, da wird er bissig“, gab er zur Auskunft. Wohlweißlich nicht zur Kenntnis nehmend, dass er das bereits war. Egal, sie würde Edgar auf alle Fälle nicht mehr erziehen, das hatten im Haus schon zu viele probiert. Der hatte eh alle mit seiner Sturheit genarrt und machte getreu seinem laut Rassebuch beschriebenen Charakter stoisch weiter, was er wollte.

Stella regelte mit ihm alles übers Fressen. War er brav, gab´s mehr, wenn nicht, musste er sich anstrengen ihr gegenüber. Was er dann auch tat: Edgar war schließlich nicht doof.

Deshalb liebte er auch die Nähe zum Herrchen heute mehr denn je. Der fütterte ihn in all seiner Schusseligkeit neuerdings mit den unmöglichsten Speisen. Bei dem Gedanken musste Stella im mondbeschienenen Garten unwillkürlich lachen.

Erst vorigen Monat - sie war nach einer Präsentation ebenso spät nach Hause gekommen wie heute - sah sie wie üblich in der Einliegerwohnung nach dem Rechten.

Cloe hatte verabredungsgemäß gegen 18.00 Uhr das Haus verlassen. Ihr Vater saß einträchtig mit Edgar zusammen am Tisch. Auf dem Boden lagen verdreckte schwarze Gummistiefel und die Hundeleine, er war demnach ausgeführt worden. Vor ihnen standen zwei Teller. Während Edgar eifrig an einem Eisbein kaute und zwischendurch Erbspüree schlabberte, versuchte ihr alter Herr mit einem Schuhlöffel weiches Hundefutter vom anderen Teller zu essen.

Man konnte nur erahnen, was hier schiefgelaufen war. Vater hatte gedeckt, sich dann - einem plötzlichen Einfall folgend - der unbequemen Stiefel mittels Schuhlöffel entledigt, währenddessen der schlaue Edgar am Tisch die Plätze tauschte. Nun hatte er das anvisierte leckere Eisbein vor sich, während Richard auf dem ihm zugewiesenen Stuhl Hundefutter (es gab Truthahn und Reis) mit eben diesem Schuhlöffel Hand zu bewältigen versuchte.

Stella wusste, dass ihn dieses Essen nicht gerade krank machen würde. Er hatte einen Magen wie ein Pferd und schaufelte Unmengen am Tag in sich hinein, je nachdem, wann ihm wieder einfiel, dass man etwas zu sich nehmen müsse. Meist alles durcheinander, sofern kein Pfleger in Sicht war und ihn davon abhielt.

Edgar partizipierte letztendlich von seiner Unordnung im Kopf. Die Verminderung des Botenstoffes Acetylcholin, welcher Schuld an den stetigen Gedächtnislücken war, kam ihm gerade recht. Den ganzen Tag über hatte er damit zu tun, sein Herrchen auf seine Art zu bewachen. Sowie der sich erhob und Richtung Küche marschierte, versprach es, interessant zu werden. Seine knubbeligen Glupschaugen wurden noch größer, als sie eh´ schon waren. Sie stachen mit dem älter werden heraus wie kleine Ufos. Je dicker er wurde, desto mehr pupste, sabberte und schmatzte er. Und sein Schnarchen hörte man bis zum ersten Stock. Ihn wegzugeben, um ihm ein langes Leben zu sichern, kam leider nicht in Frage. Vater würde das Herz brechen. Je mehr er sich in die Demenz begab, umso mehr schmuste er mit Edgar. Die Hundeseele berührte und beruhigte ihn ganz offensichtlich. Cloé machte viele Bilder, auf denen ihr Vater neuerdings mit dem Hund eine Art Nachmittagsschlaf hielt, indem er ihn auf dem Chaiselongue liegend wie ein Kopfkissen unter seinen Kopf schob. Der Hund machte alles mit, Hauptsache die Futterressource blieb ihm erhalten und halbwegs in seiner Nähe.

*

Edgar bellte nun schon fast fünf Minuten ununterbrochen.

Wie gerne würde Stella den klaren Himmel mit unzähligen Sternen noch ein wenig genießen. ‚Möpslein‘ machte das unmöglich. Ungeduldig schob sie ihn zurück ins Haus.

Richard stand ihr mit nackten Füßen im Flur gegenüber.

„Zieh dir Hausschuhe an, Papa, es ist kalt!“

Sie öffnete die Badezimmertür, um ihm Zahnpasta auf die bereitliegende Bürste zu tun. Plötzlich strahlte er sie an und legte ihr sanft die Hand auf den Arm.

„Mein Mädchen ist wieder da. Wie schön, guten Abend. Ist wieder spät geworden heute, nicht wahr? Du bist immer so fleißig.“

Mein Mädchen hatte er gesagt. Darauf hatte es sich gelohnt zu warten. Ein echtes kleines Highlight. Sie seufzte. Das war all die Jahre seine absolute Lieblingsbezeichnung für sie gewesen, genau genommen bis das hier - sie hielt inne und sah sich im unaufgeräumten Zimmer um -, passiert war.

Das Schöne daran: Er sagte es immer noch derart liebevoll und jede Silbe betonend. Stella liebte ihn dafür. Die Momente des innigen Zusammenseins wurden langsam kostbar. Es gab nicht mehr viele davon.

Sie umarmte Richard und küsste ihn sanft auf die Stirn, nachdem sie ihn wenige Minuten später zum Bett begleitet hatte. Edgar hüpfte auf seine Bettdecke, sie löschte das Licht der Tischlampe und winkte im Türrahmen.

Ihr Vater hatte bereits die Augen geschlossen. Im Schein der Flurbeleuchtung sah sie ihn sich genauer an. Komisch, er wurde immer zarter. Derart gelöst wie spätabends, wenn er im Bett lag, sah er tagsüber selten aus. Sie konnte dies zwar nur am Wochenende, wenn sie sich mehr Zeit für ihn nahm, beurteilen, aber Chloé teilte ihre Auffassung. Womöglich hatte es auch damit zu tun, dass er in einem Stadium war, in dem er Veränderungen registrierte. Als Indiz wurde Wut, Beschämung und Niedergeschlagenheit diagnostiziert. Das stand nicht nur in den Protokollen der Pfleger, sie hatte es ebenfalls bemerkt, obwohl die Beobachtungsgabe in Bezug auf ihn sicherlich nicht zu ihren Stärken zählte. Oftmals musste sie mehrfach auf eine Veränderung hingewiesen werden, bevor sie diese ernsthaft registrierte. Schwächen zu sehen an ihrem Vater vermied sie wenn irgend möglich.

Edgar hatte seine Pfote hinübergeschoben. Über der Bettdecke nestelnd ergriff Richard sie, ohne die Augen zu öffnen. Ein Paar, das einander brauchte. Stella musste schlucken, derart weh tat die sich akut aufdrängende Klagemauer unerfüllter Sehnsucht angesichts dieses Pärchens. Sie würde ihren Paps niemals zurückbekommen. Weite Teile waren bereits verschüttet, und immer mehr würden verschwinden. Der Hund hatte es besser als sie.

Edgar nahm sein Herrchen täglich, so wie er war, mit und ohne Macken. Sie hingegen tat sich schwer damit, wenn sie ehrlich war, und hielt ihren alten Herrn vor allem aus der Öffentlichkeit zurück, um sich nicht kränken zu lassen.

Ihre Eitelkeit, ihr Perfektionismus, einst anerzogen durch ihn, ließ es nicht zu, dass andere ihn derart ‚Gaga‘ dahinwelken sahen. Zumal sie fürchtete, dass auf ihrer Arbeit unter Umständen Rückschlüsse auf ihre Person gezogen werden könnten, indem sie nach Überlastungsmerkmalen und Schwächen suchten, wie die Aasgeier über sie herfielen, um sie zu vernichten.

Sie wusste nicht, ob das so laufen würde, aber sie spürte bei jeder weiteren Anpassung an seine Beeinträchtigungen, dass es ihr zumindest schlechter ging. Dieser Milieutherapie, der sie sich als engste Angehörige laut den Ärzten verpflichtet fühlen müsste, entzog ihr sämtliche Energien, die sie eigentlich für ihren beinharten Job benötigte.

Tagsüber, wenn sie unterwegs war, ging`s mit einigen laut vorgetragenen Mantras einigermaßen: Aber abends, wenn sie heimkam, verfolgte sie der Geruch von etwas schleichend Zersetzendem. Nachts lag sie oft stundenlang wach und wälzte sich unruhig hin und her. Das sollten eigentlich Richards Krankheitssymptome sein und nicht ihre. Der wiederum schlief seelenruhig Hand in Pfote mit Edgar, bis die beiden gegen 8.00 Uhr von Cloé geweckt wurden.

Kapitel 3 –Tegernsee, Seestraße

Leise schloss sie die Tür hinter der Einliegerwohnung, schlich die Treppe nach oben und betrat ihr eigenes Reich. Julius lag der Länge nach in seinem Armchair, der aufgeschlagene Tegernseer bedeckte sein Gesicht, die rotbestrumpften Füße hingen schlapp herunter. Die Schuhe lagen genau wie sein Jackett und die gestreifte Krawatte über den Teppich verstreut. Er bot ein Bild des Grauens.

Der Fernseher lief und spendete kühle Lichtreflexe, welche die Szene in seltsam groteske Bilder tauchte. Es war Donnerstag und ein langer Skatabend mit seinen Freunden lag hinter ihm, das war ganz offensichtlich. Stella schaltete den Fernseher aus und schmiss die Fernbedienung auf den Teewagen neben den überquellenden Aschenbecher. Der Mensch unter der Zeitung grummelte. Er stank nach Whisky, rülpste leise und schnarchte übergangslos weiter. Die Zeitung mit Sportnachrichten hob und senkte sich bei jedem Atemzug. Es wirkte bizarr. Der Tennisschläger von Roger Federer spielte zitternd Richtung Netz.

Sie konnte Säufer absolut nicht ausstehen. Zu intensiv hatte einer davon in ihrer Kindheit eine tragische Rolle gespielt.

Mit einem Mal fühlte sie sich entsetzlich einsam und allein und stieg schweren Schrittes zwei Stockwerke höher ins Gästezimmer unterm Dach. Dort würde sie Ruhe haben für die kurze Nacht, die ihr blieb, wie so oft in den letzten Jahren. Ihr Privatleben war alles andere als berauschend. Niemand aus ihrem Umfeld wusste Bescheid. Nur die zwei kleinen Kinder, die unter ihr schliefen und die sie zuvor aufgesucht hatte, um ihnen einen Kuss auf die Stirn zu hauchen. Valerie und Leonard hatten im Laufe der Jahre Streit und Aggressivität zwischen den Eltern erlebt. Sohn und Tochter blieben die Leidtragenden, denn nichts verbesserte sich. Die Mutter kam später heim und der Vater wurde immer unzugänglicher für sie.

Kindermädchen wechselten häufiger, weil sie oft länger arbeiten mussten und selber kaum Privatleben hatten. Seit achtzehn Monaten gab es Barbara. Valerie und Leon waren mittlerweile im Vorschulalter und hingen mit bedingungsloser Liebe an ihr.

Der Neuzugang kam ursprünglich aus einem kleinen Dorf in Tschechien und arbeitete zuvor bei einem pensionierten, ziemlich versponnenen Ornithologen, der vor gut zwei Jahren verstorben war. Babs konnte sich übrigens fast ebenso wie Stella absolut auf sich und ihre Intuition verlassen und hatte den richtigen Riecher gehabt. Sie erkannte, was für ein Chaos in diesem Haus der reichen Leute herrschte. Stundenlang hing sie am Computer und surfte im Internet. Sie entnahm Geld aus der großzügig ausgestatteten Haushaltkasse für fadenscheinige Unternehmungen mit den Kids.

Sie log, wo sie nur konnte, so lange die Kinder zu klein waren, um sie zu entlarven. Es lief noch besser als in ihren kühnsten Träumen. Die Eltern schienen derart mit ihrem eigenen Leben beschäftigt, dass es gar nicht zu interessieren schien, was sie tagtäglich anstellte. Hauptsache die Kinder machten einen fröhlichen Eindruck. Dafür ließ sich leicht sorgen, und es blieb genügend Zeit für ihre persönlichen Vorlieben.

Im Internet bot sie ihre Dienste geilen, meist älteren Herren an, welche sie, während die Kinder im Kino saßen, in deren Wagen oral versorgte.

Mit ihren dicken Busen und festen Schenkeln flutschte dieses Unternehmen. Es brauchte nicht viel Zeit, um die meist feisten Dickbäuche zu befriedigen. Ihre Hand half hier und da mal nach, der Gier zur Explosion zu verhelfen. Ihr Geldbeutel, den sie stets unter der Matratze verstaute, füllte sich zusehends seitdem sie in diesem Hause weilte.

Die Kinonummer lief gut und die Kinder sahen gerne Filme zwei- oder dreimal. Manchmal ging´s auch einfach nur Eis essen. Babs verschwand kurz, nicht ohne zuvor Valerie - als der Älteren - die Aufsicht zu übertragen. Das gleiche Spielchen lief beim Essen im noblen Tegernsee 51 oder beim Griechen nebenan. Überall gab es lauschige Plätzchen, die man mal kurz auf einen Sprung aufsuchen konnte.

Handyverbindungen machten das problemlos möglich. Die Nummern, die dort in sportlichen 5 bis maximal 10 Minuten abliefen, wurden anstrengender. Um die körperliche Fitness zu erhalten, manche Wagen waren extrem klein und eng, brauchte Babs neben umfangreichen Mahlzeiten hinterher auch Trainingseinheiten, um erneut ihre Gelenkigkeit unter Beweis stellen zu können. Inzwischen hasste sie das Lenkrad verschiedener Fabrikate.

Auch im Fitnessstudio blieb es nicht beim Training auf der Matte. In den Duschräumen der Herren wurden die Einheiten entsprechend erweitert, während Valerie Ballettkurse nahm und das Stepptanzen lernte, und ihr jüngerer Bruder sein Kung Fu Training absolvierte.

Reichten diese Angebote noch nicht für Barbaras Aktivitäten, so wurden Schwimmlehrer verpflichtet, um den beiden zum Seepferdchen zu verhelfen. Immerhin lebten sie am Wasser und waren noch nicht schwimmtüchtig. Babsi trug Verantwortung, dagegen ließ sich nichts einwenden. Manchmal fühlte sie sich ein wenig schlapp von all den Aufträgen. Und dann überlegte sie sich, wie es wäre, bald mal beim Hausherrn vorbeizuschauen.

Beim Senior ging´s nicht, der war ja bereits hinüber, leider. Aber Julius Moosberg schien noch Saft in den Knochen zu haben, und eine gewisse Geilheit im Blick war ihm ebenfalls nicht abzusprechen. Das konnte was werden.

Ihr Kapital war vielleicht noch gute 5 Jahre einsetzbar: Immerhin war sie 35 geworden! Die meisten törnte das ab, wenn die Frauen Falten bekamen.

Sie war gescheit, die Barbara. Lediglich das Unheil, arm geboren worden zu sein, hatte verhindert, früh Gas geben zu können. Kein Internatsbesuch, keine höhere Schulbildung, keine schicken Klamotten, keine entsprechenden Freunde aus gutbürgerlichen Familien.

Alles nur Halunken um sie herum, die zusahen, wie sie mit vielen Tricks zu etwas Geld kamen. Meist Dreckiges, nichts, worauf man stolz sein konnte, - die Herkunft am Allerwenigsten. Ohne Schulbildung, aber mit gefälschten Papieren, lebte es sich jedoch besser. Ivana Svoboda alias Barbara Seligmann erfand sich einfach neu. Svoboda bedeutete Freiheit im Deutschen, und genau die nahm sie sich.

Sie empfand es nicht einmal als Urkundenfälschung. Es stand ihr einfach zu, ihr Leben ein wenig zu frisieren, um mehr Chancen zu erhalten und dort leben zu können, wo sie sich selber am liebsten wähnte: in den gehobenen Kreisen.

Wenn sie es sich recht überlegte, sollte sie wirklich mal beim Alten von der Moosberg ansetzen. Womöglich würde sie mit ihren erworbenen Fähigkeiten das Rad drehen können und irgendwann in ferner Zukunft selber dieses Reich regieren. So kaputt wie die Moosberg aussah und so spät, wie die heimkam, lief doch sowieso nichts mehr bei den beiden. Abitur und hervorragende Referenzen als Hausdame hatte sie zumindest vorzuweisen, das war doch schon mal ein Anfang. Die Herzen der Kinder hatte sie erobert, so viel stand fest. Sie fraßen ihr regelrecht aus der Hand. Kein Wunder, da war ja auch nichts, was sich ansonsten zum Andocken lohnte.

Babs rieb sich auf dem Sofa sitzend nachdenklich die Hände. Tatsächlich schien es an der Zeit, sich weiter im Hause umzuschauen. Sie klappte ihre Lieblingslektüre, einen Roman über die Zarin Anna Karenina auf Seite 289 zusammen und erhob sich von ihrem Lager. Durch das Bogenfenster betrachtete sie den Tegernsee, der majestätisch vor ihr lag.

Unterhalb des Fensters spielten die Kinder im Garten mit den neuen Federballschlägern. Das muntere Treiben an frischer Luft wurde von lautem Lachen begleitet und bescherte Ruhe und Muße für ihr Vorhaben. „It´s Playtime, Ivana!“ raunte sie leise. Es klang wie ein Versprechen. Ihre Träume waren kurz und knapp. Sie verhießen nur ein Ziel, das sich lohnte, zu verfolgen: Reichtum!

*

Vielleicht hätte sie zunächst erst einmal die alte Sekretärin ihres Chefs vom Tegernsee aufsuchen sollen.

Miss Cromwell, eine Engländerin mit passablem familiärem Hintergrund hätte ihr interessante Dinge erzählen können. Vielleicht wäre es beim Einschleimen mittels Biskuits und Tee auch nur bei klitzekleinen Hinweisen geblieben. Auf alle Fälle hätte es dazu geführt, dass sie sich eine andere Strategie ausgedacht hätte, und nicht derart obszön in die Räumlichkeiten von Julius Moosberg reingeplatzt wäre. Und das auch noch ohne Höschen. Pech gehabt!

Monsieur hatte inzwischen ganz andere Vorstellungen von Sexualität, und pflegte seine diesbezüglichen Vorlieben seit einem kurzen Thai-Urlaub auf Koh Mak - einer kleinen, sehr schönen Insel im Süden von Ko Chang - auch daheim weiter. Alles minutiös geplant mitten am Tag in der Firma. Denn genau das verlieh der Sache den entscheidenden Kick. Ein- bis zweimal die Woche war neuerdings Pizzatag angesagt.

Julius bestellte immer dieselbe: Thunfisch mit viel Zwiebeln, die er auf dem Schreibtisch sitzend genoss, während ihm zwischen den Beinen ein schlaksiger etwa 15-jähriger Thai rhythmisch den Schwanz rieb und an ihm kaute. Das hatte einen absoluten Reiz, jede Minute konnte jemand reinkommen, um diese besondere Mittagspause zu stören. Sie waren ein eingespieltes Team und er belohnte den Boten fürstlich für seine Dienste.

Da passierte es, dass der Seniorpartner der Anwaltskanzlei plötzlich im Türrahmen stand. Die vorbereiteten Papiere eines sehr delikaten Falles vor Gericht fielen ihm aus der Hand. Er umklammerte den goldenen Türgriff mit einer solchen Gewalt, dass die Hand kalkweiß auf ihm ruhte.

Julius Moosberg kaute selig lächelnd mit geschlossenen Augen am letzten Stück Pizza, während kleine Stückchen Zwiebeln und Thunfisch auf den schwarzhaarigen Kopf des eifrigen jungen Mannes fielen. Es hätte alles zu einem guten Ergebnis kommen können, wenn nicht einen Moment später, die Tür krachend ins Schloss gefallen wäre und das Tete-á-Tete unschön unterbrach.

Seine Sekretärin hatte schon so unendlich viel erlebt in ihrem langen Berufsleben. Sie stand kurz vor der Berentung und hätte selbstverständlich kein Sterbenswörtchen über diese kleinen Schweinereien verloren. Ihre leise Verachtung fügte ihrer Zusammenarbeit erfahrungsgemäß keinerlei Schaden zu.

Stattdessen musste es der Seniorpartner sein, der ihn überraschte. Der absolute Supergau!

Und wie scheiße das war, wurde ihm am Abend, als er sich mit

Whisky zuschüttete, so richtig bewusst. Nach diesem Desaster wieder eine gut dotierte Stellung zu bekommen, dürfte völlig aussichtslos sein. Wär´s ´ne Frau gewesen, die er gevögelt hätte, dann gäbe es da sicherlich, neben einer Entschuldigung für sein triebhaftes Benehmen - im Dienst wohlgemerkt -, noch eine gewisse Bereitschaft für eine weitere Zusammenarbeit. Aber so?

Eine persönliche Übergabe der fristlosen Kündigung hatte der Senior abgelehnt. Stattdessen ließ er seinen Adjutanten - eine picklige Rotznase von 27 Jahren - das verhasste Schreiben überreichen. Das Jüngelchen hatte dabei wissend gelächelt. Absolut respektlos, diese Person.

Wie dem auch sei, seitdem waren vier Wochen vergangen.

Dreißig lange Tage, an denen er außer Haus weilte, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, bezüglich seiner Anwaltstätigkeit. Seltsam erschöpft schneite er abends ins Haus, um sich auf den erstbesten Sessel vor den Fernseher zu schmeißen und langsam wieder nüchtern zu werden.

Er trank unterwegs ´ne Menge, um das Gedankenkarussell, was sich zusammenbraute, überhaupt auszuhalten. Immer die Furcht im Nacken, seine Frau würde das erfahren. Er hatte Angst, irgendwas würde durchsickern, und er in Rottach-Egern kein Bier oder Wein mehr trinken könnte, ohne hämische Blicke ertragen zu müssen, weil sie inzwischen alle über seine speziellen Neigungen informiert waren. Oh Gott, er wagte nicht, sich das Ausmaß der Demütigungen vorzustellen. Er war erledigt, für wie lange, würde sich zeigen.

Das Schweigen des Pizzaboys erkaufte er sich mit viel Geld. Per Handschlag, schriftlich ging ja schlecht. Der Junge bot ihm zum Abschied lächelnd - als sei nichts geschehen - erneut seine Dienste an. Das war

Hohn pur: Er hatte jegliche Lust daran verloren.

*

Und nun stand diese Schlampe ungebeten mitten im Türrahmen und fummelte sich doch tatsächlich an ihrer Muschi herum. Bääh! Diese schamlose Person glaubte doch nicht wirklich, nur weil seine Frau ewig außer Haus weilte, dass er sich mit ihr vergnügen würde!

Seine Empörung schien echt, war es aber natürlich nicht. Immerhin hatte er bei Weitem mehr verbrochen, als ihm diese kleine Nutte gerade anbot. Sein Kommentar war knapp, seine Stimme rauer und lauter als sonst:

„Los, ziehen Sie sich was an! Und hauen Sie ab, bevor ich meine Frau über sie Schlampe informiere. Sie sind fristlos gekündigt.

Und wenn Sie hier noch einmal auftauchen oder was mitgehen lassen, zeige ich Sie bei der Polizei an.“

„Aber Herr Moosberg, ich wollte doch nur…“ Er unterbrach sie barsch. „Was wollten Sie nur? Eine Nutten-Nummer abziehen mit dem Wabbelbauch und Hängetittchen, oder was? Ersparen Sie mir vor allem Ihr dämliches, dummes Grinsen, Miss Piggy. Fahren Sie dahin, wo Sie hergekommen sind, und besorgen Sie sich vor allem ein neues Gesicht. Das sieht ja aus wie eine fettglänzende Schwarte, mit winzig kleinen Augen und Nasenlöchern wie eine Steckdose. Und so was Hässliches soll ich vögeln? Wann haben Sie eigentlich das letzte Mal in den Spiegel geguckt, Lady Presswurst? Sie sind eine anbiedernde Pappnase, mehr nicht. Ich werde dafür sorgen, dass Sie hier in Tegernsee und Umgebung nie wieder Fuß fassen werden.“

Der Wortlaut kam ihm irgendwie bekannt vor. Bedingt durch die persönlich erfahrene Niederlage und Schande war er weitaus empörter und wütender, als es normalerweise der Fall gewesen wäre. Was bildete sich diese Person eigentlich ein? Dass er es mit jeder treiben würde? Nun gut, das nahm jetzt selbst in seinen Ohren unglaubwürdige Züge an.

Er befahl, sich zu mäßigen, knallte Ivana Svoboda alias Barbara Seligmann die Tür vor der Nase zu und widmete sich einem neuen Glas Whisky.

Inzwischen hatte er für diese köstlichen Tropfen zum Vergessen überall kleine Verstecke. Sein Konsum wurde in den letzten Jahren stetig mehr. Er musste achtgeben, was er tat und sagte. Es wuchs ihm alles allmählich über den Kopf. Mental war er nicht der Stärkste, und sein Selbstmitleid an manchen Tagen grenzenlos. Wenngleich er sich diese morbide Haltung auf Dauer nicht unbedingt leisten konnte, denn seiner Ehegattin gehörte der komplette Familienbesitz. Sie kam aus reicher Familie, er war als armer Schlucker hinzugekommen. Niemand in ihrer Familie hatte ihn geachtet, damals nicht und heute nicht. Er lief auf sehr dünnem Eis und musste höllisch aufpassen, vor allem Stella gegenüber.

Sein Pfand waren bislang die Kinder gewesen. Zwei hatte er mit ihr gezeugt und sich damit trotz einiger Verfehlungen vorerst das Bleiberecht gesichert. Ein kleines pikantes Geheimnis sicherte ihm zusätzlich eine Art Stillhalteabkommen. Es war schlichtweg Erpressung, die er wie nebensächlich anwandte, wenn seine Gattin früher damit gedroht hatte, ihn zu verlassen. Seine Vorgehensweise hatte schließlich Früchte getragen, und sie ihre Absichten aufgegeben, soweit er dies beurteilen konnte.

In den letzten beiden Jahren waren sie sich meist aus dem Weg gegangen. Es hatte höchstens unschöne Szenen gegeben wegen ihres kranken Vaters, um den er sich keineswegs zu kümmern gedachte, seiner eigenen Spiel- und Trunksucht, oder der Kinder, die er gern vernachlässigte. Wenn er ehrlich war, sie gingen ihm auf den Keks. Die Bagage mit ihren lärmenden Spielen durch Haus und Garten nervte ihn zusehends. Gut, sie waren Teil des Ganzen, und er musste sie, wenn sich´s irgendwie vermeiden ließ, meist auch nur von weitem ertragen. Im Geheimen zählte er die Jahre, die sie noch im Haus verbleiben würden.

Für sich selber hatte er nach der Pensionierung einen Schnitt geplant. Auf Koh Mak hatte es ihm so gut gefallen. Er würde sich ein kleines, bescheidenes Anwesen auf den Hügeln mit Blick zum Meer gönnen, sich von der frigiden Stella auszahlen lassen und den Annehmlichkeiten dieser fremden Kultur widmen. Es gab eine Menge Kinder, die sich das Geld des weißen Mannes verdienen wollten.

Manchmal, wenn sein Alltag und die vielen Bücklingsübungen

„Ja, Sir, selbstverständlich Sir…“, ihn allzu mürbe machten, stellte er sich mitten in einer langweiligen Sitzung vor, wie diese Dienste auf Koh Mak genau aussehen sollten. Und wie viele Annehmlichkeiten er sich gönnen könnte von seinem erworbenen, wohl eher auch erpressten Geld.

Es war eine ganze Menge, was auf ihn einstürmte. Es kostete ihn viel Fantasie und Kreativität, um die einzelnen Ideen, die da noch folgten, mit der Zeit zu integrieren. Das Internet war voll davon und er vergleichsweise ein Spießer, wenn er sah, was da abging.

*

Was er selbstverständlich zu diesem Zeitpunkt nicht wissen konnte:

Die Zauberfee war längst auf seine Seite gewechselt. Wenn man`s überspitzt ausdrückte - von gut nach böse. Und niemand würde diesen Prozess aufhalten können. Von heute auf morgen, ganz ohne sein Zutun.

Zur Vertuschung seiner Untaten würde Julius Moosberg sich weder rauslügen noch seine Zeit weiterhin aushäusig verbringen müssen…

Kapitel 4 –11. Februar 2008 - 7.30 Uhr, Tegernsee, Seestraße

Fluchend humpelt Stella ins Bad. Sie hatte sich mit nackten Füßen den Zeh am Klavier gestoßen. Das Scheißding stand völlig im Weg. Richard kannte zwar keine Noten mehr, aber er raubte allen den Nerv, weil er dennoch unbedingt spielen wollte. Sowie er am Klavier vorbeilief, hob er den Deckel und legte los.

Irgendwas, vor allem schön laut und penetrant falsch. Er entlockte dem kostbaren Steinway derart missliche, schräge Töne, dass es in den Ohren schmerzte, und sie um das gute Instrument fürchtete, zumal er damit im Gegensatz zu früher, nicht gerade zärtlich umging.

Schweren Herzens entschloss sie sich daher für den Transport ins enge Dach. Dort stand er nun mitten im Zimmer. Das Fußteil ihres Bettes berührte beinahe den Corpus.

Wenn sie den Kleiderschrank öffnete, halfen nur ihre langen Giraffenarme, um an die Garderobe zu gelangen. Ganz öffnen ließen sich die Spiegeltüren nicht mehr.

Das Klavier wirkte in dieser Umgebung wie ein Monstrum. Schade eigentlich, wie gerne hatte sie mit ihrem Vater am Wochenende vierhändig darauf gespielt. Sie vergötterte den virtuosen Klangkörper des Steinways, und ihr schien in jenen Stunden das Leben um vieles leichter in diesem Haus. Nichts zählte mehr, nur dahinperlende Töne und die Harmonie ihres Spiels.

Sie unterbrach das Zähneputzen und schaute sich lange im Spiegel an. Ringe unter ihren Augen verrieten, dass sie eigentlich nie ausgeschlafen war. Wie auch, es war alles nur noch anstrengend und neuerdings kamen die Albträume ihrer Kindheit zurück. Hing alles mit Richard zusammen, das wusste sie wohl. Es brachte sie aber keinen Schritt weiter.

Das Unterbewusstsein lachte über ihre Naivität anzunehmen, auch diesen Teil verwalten und bestenfalls komplett ignorieren zu können. Es war ihm schlichtweg egal. Es machte einfach weiter, wo es vor gefühlten hundert Jahren aufgehört hatte und scherte sich einen Dreck über ihre zwischenzeitlichen Versuche, Erklärungen zu finden, die das Gewissen beruhigen sollten, aber keinen Ausweg aus diesem Dilemma zeigten. Es blieb hartnäckig und ließ auch niemals mit sich handeln.

Irgendwas musste sie tun, sonst würde sie verrückt.

Jede Nacht schlief sie 4-5 Stunden. Zu viel Schlafmittel durfte sie nicht einnehmen, das ging auf Dauer nicht gut und würde ihren Job beeinträchtigen.

Mit schlechtem Gewissen überfrachtet, das für Jahre reichte, fügte sich Stella schließlich und vereinbarte erneut Termine bei ihrer Therapeutin.

Fazit war indes: Keine noch so klare Einsicht über die wahren Zusammenhänge reichte aus, um dieses Martyrium, in dem sie buchstäblich gefangen war, aus der Welt zu schaffen. Ein neues Los, irgendwie anders gestrickt als bereits erprobt, war nur mit der nötigen Geduld in die sich ergebenden Veränderungen zu erreichen. Und das kostete Lebenszeit. Geduld hatte sie nie besessen, weder um Umgang mit sich noch mit anderen. Erst recht nicht mit anderen, verbesserte sie sich. Das Spiegelbild gab ihr Recht. Sie war die Ungeduld in Person. An diesem Punkt machte sich Verbissenheit auf ihrem Gesicht breit.

Vielleicht hätte sie doch den Mut aufbringen und Richard fragen sollen, was er in dieser verhängnisvollen Nacht mit ihrer Mutter gemacht und wo er sie hingebracht habe. Schon beim Anflug eines Gedankens in diese Richtung verließ sie der Mut. Sie hatte Angst vor der Antwort ihres Vaters und lebte mit der Ungewissheit, womöglich einen Mörder an ihrer Seite zu wissen. Spätestens wenn sie fragen würde, müsste sie auch gestehen, was sie unabsichtlich gesehen hatte. Und dann wäre alles kaputt und es gäbe keine Ausrede mehr für ihren alten Herrn.

Es schien besser, das Geheimnis jener Nacht zu bewahren.

In seinem jetzigen Zustand hatte sich das Ganze sowieso überholt. Ob ihn die Belastung eines Mordes womöglich in die Demenz getrieben hat? Sie wusste es nicht.

Was sie allerdings wusste, war, sie musste damit klarkommen, dass er ihr gegenüber am Morgen danach lakonisch erklärt habe, Mutter sei fortgegangen und käme auch niemals wieder. Stella bräuchte keine Angst mehr zu haben, es würde alles gut!

Nichts wurde gut. Seelisch verkrüppelt bemühte sie sich verzweifelt, keinerlei Schwäche zu zeigen und dem Umstand ihrer Ohnmacht nicht nachzugeben. Selbst ein Verblassen der Erinnerungen machte es nicht leichter.

Auf diese Weise wurde sie letzten Endes zu der Perfektionistin, die sie heute war.

Gefühle blieben außen vor, außer zu ihrem Vater. Dem einzigen Menschen in ihrem Leben, der sie wahrscheinlich gerettet hatte. So genau weiß man das nicht als Kind, wenn ein Vater die alkoholsüchtige Mutter verprügelt. Zuvor hatte er seine am Boden liegende Tochter losgerissen, der diese kranke Person in ihren Wahnvorstellungen eine Stricknadel ins Ohr gestoßen hatte, damit sie endlich mal zuhörte, was man ihr zu sagen habe.

Stella hatte stark aus dem linken Ohr geblutet.

Am anderen klaffte ein langer Riss, hervorgerufen durch einen Kaminbesen, den Rebecca geschmissen hatte.

Sie sah die Eltern miteinander ringen. Sie versuchte zu schreien, aber es kam kein Ton heraus. Laut hämmernd hörte sie das Blut Richtung Kopf steigen, während es unaufhörlich in ihren Ohren rauschte. In ihrer Not wollte sie sich an den lieben Gott wenden. Durch das Gezeter ihrer Eltern konnte sie den Gedanken jedoch nicht zu Ende führen, er wurde immer wieder unterbrochen. „Lieber Gott… hilf uns!“ Ein kurzes Flehen, verzweifelt wiederholt, beendete die entsetzliche Szenerie - sie wurde ohnmächtig.

Als sie erwachte, lag sie in eine Decke gehüllt auf ihrem Bett.

Nebenan tobte der Krieg ihrer Eltern weiter.

Durch den Spalt sah sie, wie ihr Vater wutentbrannt - dicke Adern traten an seiner Stirnseite hervor - eine Strumpfhose ihrer Mutter nahm und eng um ihren Hals zog. Ein unterdrückter Schrei und ein undefinierbares gurgelndes Geräusch ließen Stella die Decke über den Kopf ziehen. Heftig atmete sie aus und ein. Selbst unter der Decke roch es überall nach Blut.

Sie schwitzte und keuchte, verzweifelt um etwas Ruhe kämpfend. Wie ein endloser Filmstreifen lief das Leben vor ihren Augen ab, während sie sich mühte, die Figuren und Erlebnisse zu sortieren.

Die Minuten verstrichen.

Der Film reichte zurück in eine gute Zeit, eine schöne Zeit. Sie war jetzt sehr klein, trug ein rosa Kleid, es war Weihnachten. Die Eltern standen um den Christbaum, küssten sich und blickten voller Stolz auf sie. Sie trug ein Gedicht vor.

Der Weihnachtsmann brachte ihr nicht wie gewünscht eine Blockflöte, sondern hatte im Nebenzimmer ein Klavier hingestellt. Es war riesig und ihr Bild stand darauf. Es war, als sei er vom Himmel extra für sie herabgekommen. Das Geschenk passte durch keinen Schornstein, so viel stand fest. Tage später noch musste Daddy ihr erzählen, während sie auf seinen Knien saß, wie der Weihnachtsmann geschwitzt habe auf seinem Weg zur kleinen Stella Tauber vom Tegernsee. Und wie viele Rentiere mit roten Nasen ihm geholfen hätten, seine kostbare Fracht abzuliefern.

*

Bald fand Richard die ersten Flaschenverstecke seiner Gattin, eins davon ausgerechnet im Klavierkasten.

Sein Geschrei von „wie blöd muss man eigentlich sein, um so etwas zu machen?“, wich dem Entsetzen, die Sucht seiner Frau nicht in den Griff kriegen zu können.

Er sperrte sie weg, schickte sie zu Entziehungskuren, mied gesellschaftliche Einladungen, bei denen ebenso ausgiebig gefeiert wie getrunken wurde. Es half alles nichts. Rebecca gestand sich nicht nur ein, versagt zu haben, sondern fühlte sich entmündigt und gedemütigt durch die offensichtliche Abneigung ihres Mannes. Woraufhin sie fortan mit Tabletten ihr Kontingent bis zum Stehkragen abfüllte. In diesem Zustand trank sie zwar weniger, wandelte aber wie ein Zombie durchs Haus. Ekelhaft orientierungslos, wie ihr Vater diesen Zustand bezeichnete, verlangsamt und begriffsstutzig wie ein Junkie. Was blieb, war ihre Hülle.

Mehrere Jahre sah man noch die äußere Schönheit dieser Frau, dann welkte auch ihr Porträt wie eine Wasserleiche. Sie wurde aufgedunsen und fett, die Leber zeigte Anzeichen der begangenen Vergewaltigungen. Das Organ wuchs mit seinen Aufgaben und verwandelte ihre ehemals schönen großen Augen in Schlitze.

Deutlich zeigte sich die innere Verwahrlosung, der bald auch die äußere folgen sollte. Erste Nachbarn wechselten die Straßenseite, wenn Rebecca ab und an das Haus verließ, um ihre Spritvorräte aufzufüllen. So etwas spricht sich schnell herum. Richard hatte für Zeiten seiner Abwesenheit eine Nurse eingestellt, die sich um Stella kümmerte. An dem Abend, der seine Tochter für immer prägen sollte, war er bedingt durch einen kleinen Unfall etwa zwei Stunden später nach Hause gekommen.

Wer konnte schon wissen, was genau diese Zeitspanne am Tegernsee anrichten würde.

Seither gab es einen unsichtbaren Graben zwischen gestern und heute. Niemand würde ihn ohne weiteres überspringen können, niemand hineinschauen und die Wahrheit entdecken. Es gab schließlich mehrere. Der hinzugezogene Hausarzt Dr. König kannte eine davon, Stella erahnte eine andere und bezahlte dies mit wiederkehrenden Albträumen.

Ihre Wahrheit hatte sie sich so zurechtgelegt, dass ihr Vater als eine Art Held dastand. Sie quälte sich auch nicht mehr mit der Frage, was er eventuell hätte anders machen können, um sein Kind zu retten. Diesen Punkt hatte sie das letzte Mal mit Ehemann Julius erörtert und es teuer mit späteren Erpressungsversuchen bezahlen dürfen.

Den verhängnisvollen Abend strich sie irgendwann völlig aus ihrem Kopf, obwohl Mord- und Gewaltfantasien in ihren Albträumen Thema Nummer Eins waren.

Sie schaffte etwas, was nur Kindern möglich ist: mit ihrem Erzeuger irgendwann einen neuen Anfang zu starten. Er war zwar selten anwesend, aber wenn, dann gab´s Programm. Sie gingen schwimmen im See. Er brachte ihr das Reiten bei und schenkte ihr das erste Pferd: Prinz hieß es. Im Sommer ging´s nach Italien, Spanien oder Frankreich. Im Winter fuhren sie in die Alpen zum Skifahren. Alles harmlose Vergnügen, wie sie andere privilegierte Kinder auch erlebten.

*

Froh, aber auch ein bisschen eifersüchtig war Stella, als ihr Vater drei Jahre später eine Frau ins Haus brachte. Das bedeutete neues, frisches Leben. Es konnte nur besser werden.

Sie gönnte Richard dieses Glück durchaus, wenngleich sie eine leise Angst überkam, dass seine Zeit für sie in Zukunft noch kürzer ausfallen dürfte. Sein Interesse an ihr würde niemals nachlassen, dessen war sie sich sicher. Wie sich herausstellte, war das nur ein Wunschgedanke.

Er stellte sie als Isa Sanchèz vor. Sie sprach nur spanisch, lachte viel und hing an seinen Lippen wie eine Primanerin. Isa kam aus Ecuador, war fünfzehn Jahre jünger als er, extrem klein und sehr schlank. Eine Archäologiestudentin aus der winzigen Republik im Nordwesten Südamerikas.

Er beflirtete sie in sehr aufdringlicher Weise, wie Stella angewidert feststellte, versuchte ihr jeden Wunsch von den großen schwarzen Kulleraugen abzulesen, mit denen sie ihn ständig anfunkelte, und die sie drehen konnte wie Murmeln. Ihre Bemühungen trugen Früchte: Sie zog bei ihnen ein.

Natürlich versuchte sie, auch das Kind ihres neuen Lovers zu bezirzen, indem sie Stella in den buntesten Farben von ihrer Heimat, dem Meer, den Bergen und der Kultur erzählte. Den Galapagosinseln mit ihren riesengroßen Schildkröten sowie den unwiderstehlichen Gerüchen des Dschungels. „Warst du schon einmal im Dschungel?“, musste ihr Daddy mühsam übersetzen, und als Stella bedauernd den Kopf bewegte, folgten sogleich der nächste Kommentar und das nächste Augenrollen.

Mit einem Satz: Isa war anstrengend. Stella verlor schnell das Interesse an ihr. Richard nicht. Er verliebte sich ziemlich kopflos und bedachte das kleine quirlige Geschöpf in den darauffolgenden Monaten mit Unmengen an Geschenken. Was wiederum - neben dem üblichen Augenrollen - viele schmatzende Küsse zur Folge hatte, und ihren Vater sichtlich glücklich zu machen schien.

Vor den Augen seiner Tochter wurde er wieder zum Kind, hüpfte irgendwann selber so ausgelassen durchs Haus wie sein neuer kleiner Schmetterling.

Er nannte Isa „Butterfly“, tanzte Tango auf der Terrasse mit Miss Sanchèz und vögelte mit ihr quer durch alle Räume. Stella hielt sich die Ohren zu, bei all´ den „Aah´s“ und „Ohhs“ oder sehnsüchtigen spanischen Kommandos, mit denen sie ihn antrieb wie einen alten Gaul.

Es war total peinlich.

Deshalb beschloss sie eines Morgens, dem ein Ende zu setzen. Sie saß wieder einmal allein am Frühstückstisch, weil die beiden Turteltäubchen die halbe Nacht mit ihrem dussligen Lover-Getue verbracht hatten und nicht aus den Federn kamen. Erst stahl sie nur 100 Mark aus seinem Portemonnaie, dann immer mehr, wobei sie auch die Haushaltskasse mit einbezog. Bis es nicht nur der Köchin, sondern selbst dem liebestollen Richard auffiel.

Obwohl er in den vergangenen Monaten nicht nur äußerst wenig Interesse an Stella gezeigt hatte, besaß er sogar noch die Frechheit, sein Töchterchen unter Verdacht zu stellen. Stella ließ sich ihre Wut allerdings nicht anmerken, sondern eröffnete mit unschuldslammartiger Beiläufigkeit, dass sie mehrmals gesehen habe, wie Isa größere Beträge aus der Kasse entnommen habe. Sie dachte, das wäre zwischen ihnen so abgesprochen.

Die Ecuadorianerin bestritt dies äußerst temperamentvoll mit aller Entrüstung, derer sie fähig war, plus dem üblichen Augenrollen. Es folgte ein Schwur auf das Leben ihrer gesamten spanischen Familie einschließlich dem Geist toter Angehöriger. Abschließend bekreuzigte sie sich, küsste sehr wirkungsvoll das kleine Amulett an ihrem kurzgeratenen Hals und verließ auf ihren hohen Stilettos wutentbrannt das Zimmer. Damit nicht genug: Sie mied Richard und seine Avancen rund zwei Wochen. So genau bekam Stella das nicht mit.

Als sie gar nichts mehr von ihr hörte, die Dame aber immer noch unter ihrem Dach weilte, ließ sie mit freundlichen Grüßen durch die Köchin das Frühstück hinaufbringen, nachdem sie zuvor das Bett-Tablett angesägt hatte.

Der Schrei kam prompt. Ein extra aus Spanien importierter starker Kaffee hatte Isas rechte Hand und das halbe Bein verbrüht.

Richards Tochter war wild entschlossen, diese Lady aus ihrem Leben rauszugraulen. Der Vater würde ihr eines Tages noch dankbar sein, dass sie ihn vor größerem Schaden bewahrt habe, dessen war sie sich sicher. Der nächste Einsatz folgte, als die beiden wieder vor ihren Augen miteinander turtelten und schnäbelten. Diesmal ging Stella einen Schritt weiter.

Ihr Vater wusste, dass Isa kaum Geld besaß, umso mehr musste es ihn erstaunen, dass ein kleines Bündel Geldscheine aus ihrer Jeans fiel, während sie diese gerade lasziv über den Schaukelstuhl im Wohnzimmer geworfen hatte, wohl um das Abendprogramm für Liebende einzuläuten.

Das Bündel rollte zu Boden, alles sauber zusammengefaltete 100-Markscheine. Stella hielt sich zu dieser Zeit in der Küche versteckt und blickte angestrengt durch die Essensluke.

Das breite ecuadorianische Lächeln verschwand augenblicklich aus Isa-Conchitas Gesicht (… in diesem Moment wirklich eine unglaublich dämliche Fresse), während sie sich rasch eine Wolldecke über ihre nackten Schultern zog. Wie eine von ihren spanischen Schildkröten mit Poncho, befand Stella aus ihrem Beobachtungsposten heraus.

Richard sagte nichts, stand auf, stopfte das Bündel Geld in ihren BH-Ausschnitt, bevor er sie tonlos aufforderte, sofort sein Haus zu verlassen. Die Geste fand Stella stark. Hatte was von Westernmanier, da machten die harten Jungs das auch immer so.

Nie wieder betrat eine andere Frau ihr Heim.

Entweder traf sich ihr Vater mit irgendeiner Nutte aushäusig, was sie vermutete, denn er war ein attraktiver, agiler Mann, oder er hatte wirklich alles Interesse an weiblicher Gesellschaft verloren. Keine Ahnung. Conchita-Dolores-Grinsebacke hatte sich übrigens keineswegs nett und dankbar für die verbrachte Zeit verabschiedet. Stella übersetzte mühsam den an Richard adressierten kurzen Brief, der unter der Haustür durchgeschoben wurde.

Dort stand geschrieben, dass seine ‚Gurke‘ (zumindest war das die lexikalische Übersetzung) ihr eh zu klein und unbedeutend war, und die ecuadorianischen Männer, zu denen sie nun zurückkehren wolle, viel leidenschaftlicher und charmanter wären als die verfickten Deutschen. Drei Ausrufezeichen beendeten diese Aussage.

Stella las das Ganze mehrmals und war empört. Wie gut, dass sie ihren Vater vor dieser blöden Kuh gerettet hatte. Die hätte ihm auf alle Fälle irgendwann richtig wehgetan. So blieb es bei einer kurzen amourösen Erfahrung, die ihn eher wieder auf den Boden der Tatsachen zurückbrachte.