Pauls lange Heimreise - Sharon Wunsch - E-Book

Pauls lange Heimreise E-Book

Sharon Wunsch

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Beschreibung

Die unbeschwerte Wochenendehe von Claire und Paul Augustin nimmt ein abruptes Ende, als der von seiner Regensburger Firma heimkommende Makler dem Sekundentod zum Opfer fällt. Für Claire beginnt eine wahre Odyssee: Ihr Mann hat ein abenteuerliches Doppelleben geführt, das im dramatischem Kontrast zum Ehealltag stand. Erschüttert stellt sie fest, dass Paul ihr völlig fremd geworden ist. Materiell scheint sie bankrott. "Vielleicht findet sich die Wahrheit, wenn man die Lügen vergleicht!" In Regensburg erwartet sie kein spartanisch möbliertes Appartement, sondern ein luxuriöses Loft: "Völlig traumwandlerisch tappte ich im Doppelleben meines Mannes umher. Mein Paul, der mich seit 20 Jahren auf den gleichen Möbeln sitzen ließ. Hier, in seinem zweiten Leben, bin ich die Frau, die eigentlich nach Mottenpulver riechen müsste…" Ein Perspektivwechsel, so drastisch wie endgültig: Paul in der Urne, Claire im schicken Loft! Im Safe findet sie ein One-Way-Ticket nach Los Angeles, in der Garage eine knallrote Harley Davidson! Als sie erfährt, dass es eine Geliebte plus gemeinsames Kind gibt, wird's eng! Zurück in Berlin zersägt Claire ihr altes Mobiliar und schmeißt es scheppernd aus dem Fenster. Geschockt, verletzt und doch fasziniert begibt sie sich schließlich auf die Suche nach ihrem wahren Ehemann. Mit Freundin Kathi und Urne im Rucksack geht's los Richtung Route 66, nachdem sie sich zuvor durch eine besondere, jedoch unerlaubte Beisetzung die Asche von Paul gesichert hat. Das letzte große Szenario um Pauls Asche, beziehungsweise seine Heimreise, findet ein furioses und grandioses Ende. Sarkasmus und schwarzer Humor begleiten diese spannende Reise.

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Seitenzahl: 408

Veröffentlichungsjahr: 2020

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Sharon Wunsch

Pauls lange Heimreise

Alles liegt vor uns, alles liegt in uns und alles kann sich wandeln.

Unsere Sehnsucht und unsere Hoffnung

sind der Anfang der Schöpfung.

„Man muss noch Chaos in sich haben, um einen tanzenden Stern gebären zu können.“

Friedrich Nietzsche

„Also sprach Zarathustra“

SHARON WUNSCH

Pauls lange Heimreise

ROMAN

©2020 SHARON WUNSCH

Pauls lange Heimreise

2. überarbeitete Auflage

Autor: Sharon Wunsch

www.sharon-wunsch.de

Verlag & Druck: tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg

ISBN:

Paperback 978-3-347-20689-2

 

Hardcover 978-3-347-20690-8

 

E-Book 978-3-347-20691-5

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese

Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Kapitel 1 DIE KATASTROPHE

Leben ist das, was uns zustößt, während wir uns etwas ganz anderes vorgenommen haben.                                                                                                  Henry Miller

Die Therapeutin war bereits in der zweiten Stunde unserer Unterhaltung der Meinung, dass ich mein persönliches Drama doch am besten niederschreiben sollte. Das Gespräch ähnelte mehr einer Befragung als einem Dialog; ich erhielt kaum Gelegenheit, mehr als „Ja“ oder „Nein“ zu äußern.

„Es wird ihnen, liebe Claire Augustin, sicherlich helfen, ihr Schicksal anzunehmen, Trauer zu fühlen und letztendlich auch zu bewältigen. Sie sind mit Ähm…“, jetzt musste die Gute erst mal auf ihren Bogen schielen und rechnen, „mit ihren 55 Jahren sehr jung für ein Witwenmodell im klassischen Sinne. Ich denke, da lässt sich noch Vieles aktivieren für ihr weiteres Dasein.“

Fehlte nur noch, dass sie mit einem „nicht wahr, meine Liebe…“ geendet hätte. Der Satz klang in meinen Ohren, als bräuchte man bloß einen winzigen Chip auszutauschen. Eine tröstliche - wenn auch schwer umsetzbare - Vorstellung in meiner Lage. Bei mir war nicht nur ein Kabelchen durchgebrannt, sondern das ganze System lahmgelegt.

‚Ex und hopp‘ wäre prima, aber auch das funktionierte nicht: Ich lebte, aber der Mann an meiner Seite war seit 10 endlosen Tagen tot.

Ich hatte demnach die Wahl, aus meinem Leben irgendwann in ferner Zukunft wieder etwas Sinnvolles zu machen. Paul nicht.

In manchen Momenten hätte ich gerne mit ihm getauscht.

Absurd, jedoch für mich typisch: Ich kniff mal wieder!

*

Frau Doktor Thadeus war mir schon zu diesem Zeitpunkt extrem unangenehm. Mit ihrem distinguierten Getue wirkte sie antiquiert. Sicherlich hatte sie auch einen erstklassigen Stammbaum vorzuweisen.

Sie gab mir zwar nicht die Blöße, gleich bei der ersten Begegnung Näheres über meine zugegebenermaßen desaströse Kindheit wissen zu wollen. Das Gefühl eines enormen Niveauunterschiedes hing jedoch unüberbrückbar in der Luft. Neben ihr kam ich mir von Beginn an wie eine kleine Feldmaus vor, und wäre auch liebend gern in mein winziges, feuchtes Erdloch zurückgekrochen. Stattdessen musste ich inmitten apricofarbener Wände, eine weitere halbe Stunde ausharren.

Eine schmale Hakennase zierte ihr langes, griechisch anmutendes Gesicht. Mit streng gescheitelten, glatten Haaren, zusammengepressten Lippen und prüfendem Blick hinter der goldenen Chanelbrille, thronte sie businessmäßig auf der äußeren Kante ihres englischen Ledersessels. An ihrem Schwanenhals hing eine megalange Perlenkette, die über winzig kleinen Brüstchen baumelte. Jalousien reflektierten zarte Sonnenstrahlen. Sie schienen auf ihren goldberingten Händen zu tanzen.

Genau diese Art von Bräute hatten gerade nichts in meinem derzeitigen Leben zu suchen. Es war mir unmöglich, Kontraste in diesem Ausmaß zu ertragen. Mit ihrer Körperhaltung, Mimik und Gestik entsprach sie dem Typ Frau, dem ich freiwillig keinen Platz in meinem Leben einräumen würde.

Ich hatte deutliche Zweifel, dass ich mich in dieser Aura überhaupt entspannen konnte. Und… war nicht genau das eine notwendige Voraussetzung für eine erfolgreiche Therapie? Wer zum Teufel hatte mir diese Profi-Psychorette eigentlich aufgehalst?

Ich saß da wie ein Kuckuckskind, irgendwie aus dem geborgenen Nest entführt und abschließend in ein Leben hineingesetzt, welches nicht zu passen schien. Und das sah man mir in dieser Stunde auch äußerlich an. Alles, was ich trug, war zerknittert. Meine roten, dicken Haare waren irgendwann mal zu einem Zopf gedreht: Lange Haarbüschel hatten sich aus der Spange gelöst und kringelten sich auf der ehemals weißen Bluse, verziert von Spritzern einer Spaghetti Soße. Eigentlich passten sie hervorragend zu meinen Sommersprossen. Im Juni feierten sie Hochsaison. Mein Gott, was nahm Trauer doch für Formen an. Im Augenblick war von der alten Claire nichts Vertrautes übrig. Im absoluten Ausnahmezustand musste ich mich jeden Tag bemühen, Teile von mir wie ein Puzzle neu zusammenzusetzen. Das zumindest hatte die Trauertrainerin richtig gesehen.

Das Einzige, worauf ich mich verlassen konnte, war, dass ich buchstäblich immer und überall zu spät kam und dies schon mein ganzes Leben lang. Nicht nur zu dieser Sitzung, die jetzt langsam ihrem Ende zuging. Selbst zu meiner Hochzeit, der Beerdigung meines Vaters und sämtlichen Schulaufführungen meiner beiden Kinder war ich gehetzt, ohne jemals pünktlich anzukommen.

*

Frau Doktor fasste abschließend noch einmal ihre aktuelle Wahrnehmung zusammen: Genau genommen fehle es bei meinen Schilderungen zu den entscheidenden Momenten nach dem Tod meines Mannes an Mitgefühl.

Sie hatte recht. Sicherlich war ein Merkmal für diese Einschätzung das Fehlen von Tränen, zu denen ich im Augenblick, fast zwei Wochen nach Pauls Heimgang, nicht fähig war. Stattdessen ratterte ich runter, was mich am allermeisten beschäftigte. Ich konnte nicht schlafen und das machte mich schier kirre. Das Umherwälzen im riesigen Doppelbett nahm einfach kein Ende und kostete mich unglaublich Kraft. Denn nachts sind nicht nur alle Katzen grau. Nein, kein Schwein ist wach, niemand ruft an, keiner kümmert sich um mich. Nicht mal mehr mein Paul! In diesen Stunden überwältigte mich eine unverständliche Wut, die mich ebenso am Weiterschlafen hinderte.

Die diplomierte Psychologin empfahl als erste Maßnahme gegen meine Schlaflosigkeit immerhin ein Mittel, welches schon meiner Oma Freude bereitet hätte: heiße Milch mit Honig zum Beruhigen. Bloß keine Einnahme von Schlaftabletten! Gegebenenfalls würde sie mir etwas Homöopathisches verordnen. Und im Übrigen: Wut sei völlig in Ordnung! Das wäre ein Teil des zu erwartenden Prozesses. Ich müsse mich halt in Geduld üben und mithilfe ihrer therapeutischen Maßnahmen noch einmal durch den Tunnel gehen. Alles noch einmal durchleben, um es abschließend sauber verarbeiten zu können. Apropos, hatte sie wirklich sauber gesagt?

„Was ich ihnen raten würde, Frau Augustin, wäre Folgendes: Schreiben Sie doch über ihre aktuelle Situation. Es könnte ein Weg sein, dem anvisierten Ziel näher zu kommen.

Ich darf Ihnen für die anstehende Beerdigung Ihres Gatten alles Gute wünschen. Wenn Sie zwischendurch meine Hilfe in Anspruch nehmen möchten, klingeln Sie bitte bei meiner Sekretärin durch. Ansonsten sehen wir uns in einer Woche wieder.“

Letzteres war eher keine Frage, sondern Anordnung. Was musste ich für ein kaputtes Wrack sein, dass die sich unseres Wiedersehens derart sicher war. Es gab außer ihr noch eine Menge Seelenklempner in der Hauptstadt. Wiederum hatte ich kaum Lust, in anderen Räumlichkeiten mit meinem Gejammer von vorne anzufangen. Ich fühlte mich jetzt schon total erschöpft und überdrüssig von meinem eigenen Leid, was ja ab sofort ‚mein Schicksal‘ hieß.

In mir wehrte sich alles, welche Verantwortung auch immer dafür zu übernehmen. Stattdessen wollte ich verdammt noch mal mein altes Leben zurück!

Schon spürte ich ihre Hand in meiner, das heißt, die Spitzen ihrer Rechten berührten kaum meine Handfläche und nahmen kalt und hart Reißaus, als ob ich eine ansteckende Krankheit hätte.

„Was für ein Begräbnis haben Sie eigentlich geplant?

Ah ja…, eine Urnenbestattung! Ich verstehe.“

Diese überhebliche blöde Kuh. Was bitteschön versteht sie?

Und… überhaupt: Sie kostete mich jetzt schon genug Nerven. Wie sollte das erst werden, wenn ich den Zehner-Block Therapiestunden in Anspruch nahm, den mir ihre Sekretärin in die Hand drückte. Vielleicht hatte diese Entwicklung ja was Gutes und ich beizeiten in der Lage, meine ganze Wut auf die Therapeutin zu projizieren, sodass mein armer toter Ehemann verschont bliebe. Das wäre immerhin schon ein kleiner Erfolg.

Von der Praxis schien ich kaum genug kriegen zu können. Zwei Mal lief ich zurück, weil ich Tasche und Autoschlüssel vergessen hatte. Zu allem Überfluss klebte ein Ticket an meiner Windschutzscheibe, gefühlt das Hundertste. Ich sollte vielleicht Buch darüber führen. Nun ist mir doch noch zum Heulen. Ich flenne ohne Hemmungen mitten auf der Straße. Ein komisches Bild für Frau Doktor, die in diesem Augenblick aus dem Fenster schaute, um sich von der anstrengenden Sitzung mit mir zu erholen. Vermutlich hielt sie eine Schale Earl-Grey-Tee in ihren zarten Fingern.

Da war ich während der Sprechstunde nicht in der Lage, ein einziges Tränchen über den Tod meines Ehemannes zu vergießen, und jetzt heulte ich wegen eines Tickets über zehn Euro wie ein Schlosshund.

Ich sag´s doch, ich bin völlig durch den Wind!

*

Mein Mann Paul hatte es vorgezogen so zu sterben, dass niemand mir in den darauf folgenden Tagen beiseitestehen konnte. Meine besten Freundinnen - Lilo, Kathi und Maria - waren im Urlaub oder anderweitig unterwegs und würden erst in einer Woche oder so eintrudeln. Unsere Kinder lebten nicht in Berlin und steckten darüber hinaus in für sie wichtigen Prüfungen, sodass ich ihnen die desolate Mutter ganz gern ersparen wollte. Wir telefonierten zwar nahezu täglich, aber das ersetzte nichts.

Und während Paul in einer Kühlbox des medizinischen Gerichtsgebäudes lag und dort einer Sektion nur knapp entging, der Chefarzt hatte den Sekundentod eindeutig diagnostiziert, versuchte ich bei achtundzwanzig Grad im heimischen Garten nach einem lähmend langen, einsamen Tag, die Vorschläge von Frau Doktor Thadeus umzusetzen.

Mit einer Tasse heißer Milch und einem Löffel Akazienhonig sowie Pauls Laptop unterm Arm setzte ich mich auf unsere Veranda. Der schönste Teil unseres kleinen Hexenhauses. Die Lichtreflexionen am frühen Morgen und jetzt, gegen achtzehn Uhr, waren einfach göttlich.

Heute lief alles anders. Ich konnte mich weder auf Laptop noch Garten konzentrieren. Die Hortensien richteten geradezu aufdringlich fröhlich ihre Köpfe in die Höhe. Rosen mit gelben Blüten hingen an den von Paul gebastelten Drahtspalieren im Fenster. Zum Greifen nah, ein wirklich schönes Bild.

Melancholie überfiel mich. Ich fing an zu heulen und das war schon das dritte Mal an diesem Tag.

Gestoppt wurde mein Tränenfluss nicht wie üblich durch eine verstopfte Nase und der Suche nach einem Taschentuch, sondern durch den Sprint zum Klo. Die Milch war sauer und ich hatte es nicht mal bemerkt. Ein Blick in den Kühlschrank zeigte, dass meine abendliche Beruhigungstablette wohl ausfallen musste. Nix mehr drin!

Seit Pauls Tod, also seitdem keiner mehr auf mich aufpasste, ging ich jeden Tag an die Ecke, kaufe mir entweder einen fetten Whopper, Pommes mit viel Mayo oder einen Kebab mit ordentlich Knoblauch.

Die Hauptsache war, sich mit Fast Food-Menü vollzustopfen, damit mir möglichst lange keine Gedanken zum Thema Essen kamen. Die Bestellungen waren inzwischen äußerst einprägsam für den schielenden Komiker hinter der Theke: „Hallöli! Heute W, P oder K für Sie, junge Frau?“ Zweifelsohne die Anfangsbuchstaben der bevorzugten Gerichte. Vielleicht soll das auch gar nicht witzig sein. Womöglich hängt das Gestammel damit zusammen, dass heutzutage vornehmlich SMS-mäßig kommuniziert wird und ganze Sätze gar nicht mehr auftauchen.

Ich hingegen, ein Mensch aus der Steinzeit, brauchte zwei Tage, um ihm auf die Schliche zu kommen. Momentan selber furchtbar mundfaul, kommt mir sein Gute-Laune-Spielchen sogar recht. Ich komme mir vor, als stünde ich an einem dieser hässlichen Chromautomaten, drücke auf einen Knopf und ‚Zack‘ poltert was in die Klappe. Der Vorteil beim Kurzausflug ist, dass ich hier quasi zu Hause bin. Brauche auf nix zu antworten, leg´ nur das Geld auf den Tresen.

„So, jetze iss’er fertich, dat jute Stück. Passen se uff, junge Frau, heiß und fettich! Na denn, Jut’n und nüscht für unjut. Bis morjen, meene Gutste, wa?!“

Durchaus anregend, diese Konversation.

Heute gibt es Kebab. Sofort stürmt unsere Katze heran und streicht schnurrend an meinen Beinen herum.

„Ja, Cassy, ist ja gut, Frauchen gibt dir gleich ein Leckerli!“

Nun gut, das kommt gerade nicht sehr glaubhaft an bei unserer elfjährigen, gefräßigen Cassandra. Mit ausgefahrenen Krallen zerrt sie an meinem Unterrock. Vielleicht liegt´s auch einfach daran, dass sie mich nicht richtig versteht, ich gebe mir kaum Mühe, deutlich zu sprechen.

An die Spüle gelehnt, schmeiße ich das fettige Papier ins Becken und stopfe laut mampfend den kompletten Kebab in mich hinein. Cassy springt neben mir auf die Abdeckplatte vom Herd.

„Kommscht du da runter du blödesch Vieh!“

Genauso hatte sich das die Katze vorgestellt: Frauchen fällt prompt ein Stückchen Fleisch runter!

Bevor sie ihrer Beute habhaft werden kann, schnappt unsere alte Jagdhündin Sally zu. Enthusiastisch wie immer, wenn es ums Fressen geht. Jetzt gibt´s Krieg, beide verschwinden in den Garten.

Inzwischen habe ich alles heruntergeschlungen und bekomme prompt Schluckauf. Meine Güte, wie ein Neandertaler: Ich glaub es einfach nicht! Früher, in meinem alten Leben, also vor dem Tod meines Gatten, habe ich nicht nur gerne und gut gespeist, sondern bin auch durch tadellose Manieren bei Tisch aufgefallen. Paul pflegte zu sagen: „Niemand kann derart herrlich Essen zelebrieren!“

Wenn der mich jetzt hier sehen könnte.

Komischerweise nehme ich bei dieser Art von Mästerei eher ab. Meine Hosen sitzen im Bund ziemlich locker. Trauer intensiviert den Stoffwechsel: „Drama, Baby, Drama!“

Ich glaube, mir wird schlecht.

*

Mehrere Post-it-Zettel in lustig grellen Farben mit notwendigen Einkäufen hängen am Küchenschrank. Vielleicht sollte ich doch mal losgehen, bevor gar nichts mehr läuft. Selbst die Basics wie Waschpulver und Geschirrspültabs sind nicht mehr vorrätig. Inzwischen benutze ich ausschließlich Pril aus der gelben Flasche für den kleinen Abwasch. Das Ergebnis kann sich sehen lassen. Wenngleich ich die Dosierung noch nicht so richtig raus habe und bei der Waschmaschine ab und an Schaumblasen durch die geschlossene Tür quellen. Mir schnurzpiepegal. Am Ende blitzt es. Und wenn nicht, schalte ich das ganze Programm eben noch mal an. Dieses Prozedere hat überdies den Vorteil, dass ich erst viel später den ganzen Kram entleeren muss und mehr Zeit habe, faul auf der Couch herumzulümmeln.

Seitdem Paul tot ist, lege ich gewissermaßen einen Dornröschenschlaf ein. Alle Aktivitäten auf Schmalspur. Nichts geht mehr, ich bin eingefroren in mir selbst. Liege chillend da und warte, dass mich entweder die Rosen komplett überwuchern und man mich aus dem Dornenbett herausschneiden muss oder morgen irgendjemand erscheint, der mir sagt, dass alles nur ein kurzer Albtraum war und Paul spätestens am Wochenende wieder bei mir sein wird.

Ich ahne nicht nur, ich weiß inzwischen ganz genau, dass das nichts wird. Wahrscheinlich brauche ich nur noch ein paar Tage, um aus dieser Lethargie herauszukommen und der Unausweichlichkeit fest in die Augen blicken zu können:

Ich bin Witwe und das eigentlich viel zu früh!

Bis es soweit ist, genehmige ich mir lieber jeden Tag ein, zwei Fläschchen Wein aus Pauls Vorräten und erzähle mir was von früher, als die Welt - genauer gesagt, meine alte Welt - noch in Ordnung war.

In diesem Sinne: Prost!

Ich kann nicht beschreiben, wie sehr er mir jetzt gerade fehlt…

*

Zweiter Anlauf: heiße Milch mit 1 Teelöffel feinstem Akazienhonig - irgendwann im Juni 2004-

Die allerletzten positiven Erinnerungen an mein altes Leben stammen vom Frühjahr 2004, exakt dem 28. Mai! Sie sind für immer auf die Festplatte von Hirn und Herz gebrannt.

Es ist nachmittags, 15.26 Uhr, an diesem heißen Tag.

Ich weiß das so genau, weil ich spontan auf die Uhr geschaut habe, als ich ihn von unten hörte:

„Hallo, Rapunzel, lass’ dein Haar herunter!“.

Paul steht im Vorgarten und grinst zu mir nach oben. Ich stehe am Fenster im zweiten Stock unseres Hauses im ältesten, ausgewaschenen, rosa Trainingsanzug und hab gerade mit Bügeln begonnen. Ich wollte noch rasch vor Pfingsten meine Tafeldecke mit Lilienblüten aufarbeiten. Pflaumen- und altdeutscher Apfelkuchen aus der Kühltruhe waren schon im Ofen.

Ich weiß gar nicht, was mich dazu bewogen hat, uns derart opulent für den Nachmittag einzudecken. Normalerweise essen wir so gut wie nie Kuchen und im Nachhinein betrachtet muss ich sagen, es wird wohl auch der letzte in meinem Leben bleiben.

Auf jeden Fall habe ich darüber die Zeit aus den Augen verloren, ebenso wie mein Handy. Das war irgendwo zwischen der ersten und dritten Etage. Selten erinnere ich mich, wo ich es abgelegt habe. In der Regel muss ich mich übers Festnetz anrufen, um dann zum Raabe-Refrain ‚Kein Schwein ruft mich an, keine Sau interessiert sich für mich‘ das begehrte Stück ausfindig zu machen. Ich sollte es am Körper festbinden! Mein Mann hatte mich also auch diesmal nicht erreichen können, um mir die frohe Botschaft zu verkündigen, dass er zwei Stunden früher nach Hause kommt.

Seit ein paar Jahren führen wir eine sogenannte Wochenendbeziehung, weil der Firmensitz von Pauls Arbeitgeber, einem weltweit verbundenen Immobilienmakler, von Berlin nach Regensburg verlegt worden war. Mitte der 80er und Anfang der 90er Jahre haben wir Trennungen dieser Art ebenfalls für viele Monate in Kauf nehmen müssen. Es war in Ordnung, wir fühlten uns darin gewissermaßen trainiert.

Paul nahm sich eine Einzimmerwohnung am Rande von Regensburg. Ich hatte einige Wochen Schwierigkeiten, allein im großen Ehebett einzuschlafen, während mein Mann, Geschäftsführer der Firma Claasen & Partner, sich lange schwer tat, einen Rhythmus in sein Arbeitsleben zu bekommen.

Seit Beginn des Jahres 2002 war ich Hausfrau. Der Verlag, indem ich jahrelang gearbeitet hatte, wurde aus konjunkturellen Gründen geschlossen. Da Paul es ohnehin an der Zeit fand, mich anderen Dingen, und vor allem ihm mehr zu widmen, wurde der 31. Dezember 2001 mein letzter Arbeitstag.

In der darauf folgenden Zeit aktivierte ich eingeschlafene Beziehungen zu netten Frauen aus meiner Freundesclique. Inzwischen war ich Fünfzig, unsere Kids am Ausziehen, um in anderen Städten zu studieren und ihr Glück zu versuchen. Es tat gut, mit den Mädels fortan Zeit zu verbringen. Mein Seelenleben war stabil, der langsame Rutsch ins Klimakterium verlief ohne nennenswerte Schwankungen oder negativer Einbrüche. Ich fing an zu joggen, zog stundenlang mit unserem Irish-Terrier Sally durch die Wälder, traf mich mittags zum Essen mit einem der Mädels, ging mit ihnen shoppen oder ins Kino. Es gab wunderschöne Weinabende, bei denen viel erzählt und gelacht wurde.

Das alles passierte zwischen Montag und Freitag, genauer gesagt bis Freitag gegen 17.30 Uhr. Denn dann kam Paul aus Regensburg zurück. Die Uhren wurden angehalten, das fertige Essen auf der Terrasse serviert, der Wein entkorkt.

Jedoch vorher - und gewissermaßen als Einstimmung auf das gemeinsame Weekend - ging es nach einem kleinen Willkommenstrunk ins Bett.

An diesem Ritual ließ sich nicht rütteln, das schien festgeschrieben in unserem Ehevertrag. Paul erwartete jeden Freitag sein lecker aussehendes Schatzi, nämlich mich, und er ließ sich auch erst dann auf dem Stuhl am Esstisch nieder, wenn die Süße ehelichen Pflichten nachgekommen war.

Früher war ich eine ziemlich Wilde. Dies hat sich in den letzten Jahren geändert. Ich finde meinen Mann nach wie vor toll, habe auch Spaß am Sex, aber mein Verlangen danach ist deutlich reduzierter, meine Einstellung relaxter. Für mich total okay.

Wenn ich ehrlich bin: Es entlastet mich spürbar, dass Sex nicht mehr so arg in meinem Kopf herumgeistert und sich ihm alles unterordnen muss. Die Prioritäten haben sich verschoben. Basta!

Allerdings nicht bei meinem Paul. Der wird eher immer verrückter. Neuerdings bringt er mir sündhaft teure Unterwäsche mit, will sich mit Pornofilmen stimulieren, trägt hautenge Slips unterhalb seines ansehnlichen Bauches und bittet mich doch tatsächlich - nach immerhin einem Vierteljahrhundert - für ihn Strapse zu tragen.

Dazu bemerkt meine siebzigjährige Bekannte Dorothee mit ihrer ewig kotterigen Berliner Schnauze in gemütlicher Frauenrunde:

„Je oller, je doller’ sach ick nur. Ick gloob’ det doch einfach nich. Können die eijendlich nich kieken? All dat welke Fleisch! Sei’n wer mal ehrlich: Wir wern doch nu alle nich schöner mit de Zeit. Weißes Haar am Sack und jenau so ’ne olle Muschi! Für mich wär’ dat nischt mehr!“

Alles gackert und ich kriege blöderweise auch noch einen roten Kopf. Dabei wollte ich bloß mal vorsichtig anklopfen, ob sie auch solche festen Termine im Kalender haben. Anscheinend nicht. Meine Freundin Maria bringt es auf den Punkt:

„Na da weiß man wenigstens, wann man dich nicht spontan besuchen sollte. Ich werde es mir rot im Kalender notieren!“

Total peinlich das Ganze. Im Nachhinein bereue ich, diese Intimität gebeichtet zu haben.

Ich liebe Paul. Der Freitag-Termin ist zwar manchmal ein bisschen lästig, aber okay. Daheim soll´s ihm gut gehen. Er hat viel Stress in der letzten Zeit, ist oft gereizt, poltert los wegen Kleinigkeiten und schläft nachts unruhig. Ich bin froh, ihn jetzt, exakt einen Monat vor dem offiziellen Ruhestand für ein langes Pfingstwochenende in die Arme schließen zu können. C’est la vie!

Jetzt war er da… und ich stand hier oben in meinen schäbigsten gemütlichen Klamotten.

Apropos unrasiert, auch das war eine neue Marotte von ihm: Eine sogenannte Intimrasur fände er schick, hat er neulich gesagt. Ich war erst ganz schön verdattert, als er mir diese Frisur einer Flugschneise, wie er es nannte, anbot.

„Schatzi, in München kannst du zum Friseur gehen damit. Das steht auf der Preiskarte drauf, als offizielles Angebot!“

Etwas später setzte er noch ein etwas verrucht Gehauchtes „Ich kann dir diese Rasur auch selber verpassen, Süße!“ hinzu.

Das mit der Flugschneise habe ich weder Dorothee noch sonst wem erzählt, und bislang überhaupt vermieden.

Der neue Paul ist schon etwas gewöhnungsbedürftig. Und wenn es zu viel an ausgefallenen Wünschen wird, muss ich ein klares ‚Nein‘ formulieren. Aber bis jetzt geht es.

Mit all den ausgebufften, karrieregeilen Youngstern um sich herum, hat der Arme garantiert viel Ärger herunterzuschlucken. Vielleicht sind seine Extras daheim eine Art Ventil oder so…

Meine Hoffnung ist: Das legt sich wieder, wenn er erst ganz daheim bei Muttern ist!

Nur noch dreißig Tage, dann bleibt er mir für immer. Juhu!

Erster Wermutstropfen: Ich weiß allerdings nicht so recht, was dann aus den Treffen mit meinen wunderbaren Freundinnen wird. Die mag er eigentlich nicht besonders. Er teilt mich nicht gerne mit anderen und wacht eifersüchtig über die zur Verfügung stehende Zeit am Wochenende.

Aber na ja, eines nach dem anderen…

*

Es wird immer später mit mir an diesem 28. Mai 2004.

Paul hat noch zweimal darum gebeten, dass Rapunzel ihr Haar herunterlassen soll. Das zweite Mal deutlich unwirscher.

„Das Beste kommt zum Schluss, mein Lieber! Mach dir doch schon mal einen Drink!“

Damit müsste ich jetzt eigentlich genügend Zeit für den Wandel zum gewünschten Dresscode haben: vom kleinen Mädchen aus dem Trainingscamp zum männermordenden Vamp!

Heute will allerdings gar nichts gelingen. Die schwarzen Strümpfe reißen, der Hüfthalter sitzt schief und will sich absolut nicht auf der geduschten, feuchten Haut von der Stelle drehen. Das tief dekolletierte Kleid hat Knitterfalten und die kann Paul überhaupt nicht ausstehen.

Zu allem Überfluss kriecht leicht verbrannter Geruch in meine Nase. Verdammt! Ich habe vergessen, den Herd auszuschalten. Der Wecker ist garantiert schon vor ´ner Viertelstunde abgelaufen.

Ich rase runter, drehe wie wild an den Knöpfen unseres Herdes. Und da sehe ich es… und kann das Bild in dieser Sekunde sofort lesen, weiß genau Bescheid. Blitze ziehen durch mein Hirn, der Atem stockt, das Herz schlägt bis zum Hals. Das Ausmaß der Katastrophe bleibt mir bis ans Ende meiner Tage präsent.

Mit lautem Knall fällt das Kuchentablett zu Boden, was unsere dösig in der Ecke liegende Hündin aufschreckt, sie aber nicht abhält, vorsichtig vom heißen Teig zu naschen.

Wie zur Salzsäule erstarrt stehe ich in der Küchenmitte: Paul liegt schräg auf dem Polster unserer Gartenbank und blickt gen Himmel. Die Arme hängen herunter, als ob er sich abstützen will. Die Schieflage spricht dafür, aber er, mein Paul, spricht nicht!

Ich habe mich hinterher immer und immer wieder gefragt, was es war. Was war der Auslöser bei diesem sich mir von der Küche bietenden Bild für die Annahme, er sei tot?

Übrigens eines seiner Lieblingsspiele mit mir. Bei allen möglichen Gelegenheiten war er in den vielen Jahren unserer Beziehung schon umgekippt, leise gefallen, oftmals mit raushängender Zunge und irrem Blick zum Himmel. Aber immer, wirklich immer, hatte er dabei theatralisch die Hand auf sein Herz gelegt. War es das, was an diesem Bild falsch war?

Hektisch ziehe ich Strümpfe aus, reiße wie wild am Hüftgürtel und schmeiße beides, samt Backblech mit einem Aufheulen in den Mülleimer. Ich berühre sein Gesicht, seine Brust, seinen Hals, versuche mir in äußerster Anspannung irgendetwas aus dem Schatzkästchen der Wiederbelebungsmaßnahmen abzuringen. Ich fühle, wie der Boden unter mir nachgibt und mich meine gestammelten Worte wie Watte einfangen und ersticken.

Zu allem Irrwitz lugt in dieser Minute die Sonne hinter den Wolken hervor. Ein langer goldener Strahl ergießt sich über Pauls Gesicht. Während die Augen matt wirken, sind seine Gesichtszüge völlig entspannt.

Auf seiner Nase klebt eine Muschel.

Die letzte Muschel seines Arbeitslebens sollte es eigentlich sein. Unsere Tochter Nele hatte sie auf Sylt gesammelt, wir haben sie in einer Schale auf der Veranda platziert.

Es waren genau sechzig, für jeden Monat Arbeit eine Muschel.

„Und danach, Papa, kommt die große Freiheit!“, pflegte sie zu sagen.

Um mich damit zu belustigen, hatte er sie sich auf die Nase gelegt.

Mein Gott Paule, was für ein Drama!

*

Jener Sekundentod, der Paul an diesem Frühsommertag ereilte, veränderte auch mein Leben für immer!

Buchstäblich von einer Sekunde zur anderen fielen alle Sterne samt Sternschnuppen vom Himmel und für einige Wochen blieb ich in einer undurchdringlichen Hülle stecken. Ohne Zeit und Raum, und vor allem ohne Möglichkeit, am anderen Ende wieder in die Sonne treten zu können.

Ausgerechnet Paul war es, der mich nach vier trostlosen Wochen in die Realität zurückführte. Einer Realität, von der ich nie zu träumen gewagt habe und von der ich wünschte, dass sie mir erspart geblieben wäre. Aber dazu später.

Kapitel 2 DER ABSTURZ

Cassandra hat sich komplett auf meinem Kissen ausgebreitet und liegt mit ihrem großen Katzenkopf auf meinem Arm. Meine Finger kribbeln, weil sie unter ihrem Gewicht eingeschlafen sind. Vorsichtig versuche ich, die missliche Lage zu verbessern. Cassy quittiert dies mit unzufriedenem Mauzen, wobei ihre langen weißen Barthaare zittern. Jetzt fixiert sie mich unter trägen Wimpern, um festzustellen, ob ich womöglich ans Aufstehen denke. Ihrer Einschätzung nach gehen wir heute erst mal nicht raus. Sie gähnt ausgiebig und streckt mir ihre Pfote ins Gesicht, was so viel heißt, wie: „Pfötchenmassage!“

Wer kann ihr schon widerstehen. Zumal das zum Einschlafritual geworden ist. Ich massiere die Fußballen, sie schnurrt emphatisch im Takt und wir schlafen ein. Was Beruhigenderes gibt es kaum aus der Hausapotheke, kostet nichts und ist wunderbar geeignet als vertrauensbildende Maßnahme.

Ich bin nicht wach genug, um irgendeinen Job zu machen, drehe mich auf die andere Seite und strecke mich. Meine nackten Fußsohlen berühren das Fell von Sally, die es sich am Fußende gemütlich macht. Da wären wir also vollzählig!

*

Meine beiden Haustiere sind von Beginn an eher glücklich darüber, dass Paul seit 2001 von Montag bis Freitag aushäusig weilt. In unserer Kuschelzeit unter der Woche richten sie sich ganz nach Belieben bei Frauchen ein und guckten freitags anfänglich etwas mürrisch, wenn der Herr des Hauses in der Türfüllung stand.

Seitdem er ihnen - als Tipp von mir - ein besonderes Leckerli mitbringt, sind die Wogen geglättet. Sally bellt nicht mehr vor unserer Schlafzimmertür und Cassy springt nachts nicht mehr auf die Klinke, um sie zu öffnen. Mit viel Zureden schlafen sie im Erdgeschoss und bewachen das Haus – hoffentlich.

Seitdem Paul tot ist, sind beide noch anhänglicher geworden. Kein Wunder, meine Aura muss das reinste Chaos für sie bedeuten. Die ewige Heulerei und das ständige zu Hause rumhocken dürfte nicht nur völlig neu sein, sondern auch etliche Fragezeichen in ihren Köpfen auslösen. Sally fixiert mich, als wolle sie fragen, ob sie demnächst ins Tierheim abgeschoben wird. Sie ist tapfer und verlässt sich ganz auf mich. Ich merke aber, dass sie ratlos ist und mir deshalb alles recht machen möchte.

Unsere Hündin war immer kess, eine ordentliche Portion egoistisch und unabhängig. Jetzt schmust sie viel, braucht neuerdings oft Streicheleinheiten. Kein freudiges Schwanzwedeln mehr. Sie trottet den ganzen Tag brav hinter mir her und passt anscheinend auf uns auf. Eine ungewohnte Rollenaufteilung für zwei ambitionierte Alphatiere.

Mit Pauls Sterben ist bei unseren Tieren ein Stückchen Unabhängigkeit verloren gegangen. Sie haben jetzt eine Aufgabe und die scheine ‚Ich‘ zu sein. Das stimmt mich zwar einerseits traurig, aber andererseits zwingt mich dieser Umstand zum Zusammenreißen. Ich kann mich nicht so gehen lassen, wie ich es möchte. Am liebsten würde ich mich einschließen und gedanklich tagelang nur um meinen winzig kleinen ‚Paul- und-Ich-Kosmos‘ drehen. Genau das geht nicht.

Cassy war schon immer sehr sensibel. Eine ganz treue, liebe Freundin, besonders wenn ich in den letzten Jahren mal unglücklich war. Laut Paul hat sie den magischen Blick! Wir waren uns einig, unsere gute alte Cassandra ist die Reinkarnation meiner viel zu früh verstorbenen Oma, welche mich auf diese Weise weiterhin beschützt.

Es gibt nichts, was sie einem durchgehen lässt. Sie guckt mich an und prüft, ob sie gebraucht wird oder einfach ihren Lieblingstätigkeiten nachgehen kann: chillen, fressen, Mäuse jagen.

Hat sie mit ihrem durchdringenden Blick auch nur den Hauch eines Unwohlseins ausgemacht, bekomme ich das komplette Paket an Unterstützung. Ob ich will oder nicht. Sie zieht ihr Programm durch, indem sie acht Kilogramm Lebendgewicht einsetzt zum Kuscheln, Schmusen und Streicheln. Und das Beste, wozu sie fähig ist, kriege ich noch obendrein: Sie ‚redet‘ und stupst mich dabei mit der Pfote am Arm. Sie erzählt im leichten Singsang und schaut mich intensiv aus ihren großen grünen Kulleraugen an. Das hat etwas unglaublich Berührendes.

Bevor ich Cassandra kennengelernt habe, wusste ich gar nicht, dass es so etwas überhaupt gibt. Selbst unsere Katze hat rund fünf Jahre gebraucht, um mit dieser Art Herzenskontakt zu beginnen.

Inzwischen quatscht Cassy ein kleines Katzenlexikon voll und ich bilde mir ein, auch meistens genau zu wissen, wovon sie redet. Eigenartigerweise macht sie das nur mit mir und dies über den ganzen Tag verteilt. Wie zum Beispiel jetzt, ich hab es erst gar nicht bemerkt. Cassandra miaut unentwegt aus der Küche. Ich nuschele in mein Kissen und überlege schon zum dritten Mal, ob ich sie gestern gefüttert habe und überhaupt noch Katzenfutter da ist.

Die Antwort kommt auf vier Pfoten nach oben. Cassy knackt einen von Sallys Biskuits und die rührt sie erst an, wenn buchstäblich nichts mehr geht.

Mein schlechtes Gewissen lässt sich nicht mehr locker zur Seite schieben: Ich muss einkaufen! Der Hund frisst seit gestern Cornflakes, ohne Milch, damit habe ich meinen Körper am Abend zuvor ja schon übersäuert. Igitt, ich mag gar nicht dran denken.

Als ich langsam nach unten stakse, frisst Cassandra Reste von meinem Thunfischsandwich und klemmt nebenher ihre zierliche Zunge in ein kleines Schnapsglas. Oje, ich habe ja gestern abend noch eine Spezialparty mit mir gefeiert, endlos Musik gehört und dabei die Flasche Irish-Cream geleert.

Ich entschuldige mich bei meinen beiden Mitbewohnern und mache mich bereit für einen Ausflug Richtung Supermarkt. Höchstwahrscheinlich kommt da ohnehin nicht viel zusammen: Ich bin ja jetzt allein! Schon wieder drücken sich Tränen in meine Augenwinkel, dabei ist der Tag jungfräulich und ich habe noch nicht einmal die Zähne geputzt.

Bevor ich es mir anders überlege, laufe ich aus dem Haus. Keine Ausrede ist mir derzeit schlecht genug. Grund für diese Aktivitäten in Schmalspurformat ist, dass ich einen weiteren Tag gewinne, ohne mich in die Luft sprengen zu wollen. Ich habe ehrlich gesagt Angst, dass ich mich für den Sprung vom Felsen entscheide.

Zum Gespräch darüber bin ich nicht bereit, nicht einmal mit engen Freunden. Ich weiß, was die wollen: selbstverständlich nur Gutes!

*

Mein Handy klingelt. Ich stehe im Supermarkt und stapele Hundefutter in meinen Einkaufswagen. Eine weibliche Stimme teilt mir in knappen Worten mit, dass die histologischen Untersuchungen abgeschlossen seien und die Staatsanwaltschaft den Leichnam zur Feuerbestattung freigegeben hat. In den Unterlagen fehlen Angaben zum Bestattungsinstitut. Ob ich die jetzt telefonisch machen könne?! Ich ringe um Fassung, während die Lautsprecherreklame über mir den Duft eines unwiderstehlichen Duschgels preist.

„Versäumen Sie nicht ‚Sensation‘, dessen würziges Amarula und Sandelholz für einen inspirierenden Start sorgt und den Hauch von Abenteuer versprüht. Die Entdeckungstour dieses einzigartigen Tages kann beginnen!“

Also, ich kann eigentlich nicht klagen. Für meinen Geschmack ist mein Tag, gegen 12.00 Uhr mitteleuropäischer Zeit, mit genau diesem einen Anruf aus der Pathologie schon randvoll an Einzigartigkeit. Mehr ist gar nicht zu ertragen!

Während ich den Kopf aus der Gefriertruhe ziehe, in der ich geschäftig Hähnchenbrüste begutachtete, versuche ich mein Herzrasen unter Kontrolle zu bekommen.

Ich werde nicht gefragt, ob es gerade passt, ob man sich vielleicht für die nachfolgende Mitteilung erst einmal setzen möchte oder womöglich schon sitzt, nämlich auf dem Klo…

Nein… da wird am Telefon mit der einen Hand mit Bomben geschmissen, während sie in der anderen womöglich histologische Schnitte oder Biopsien von anderen Toten auf einem Reagenzglasträger balancieren. Vielleicht betrachten die Damen und Herren auch gerade entartete Zellmembranen eines Lungencarcinoms oder Mammatumors, während sie die Entsorgung meines Mannes aus ihren Kühlschränken vorantreiben.

Ihnen fehlt dabei nur noch der Transportaufkleber am großen Zeh für die Reise ins Krematorium.

„Hallo, Frau Augustin, sind Sie noch dran? Hier ist das Gerichtsmedizinische Institut!“

Ich dachte, ich hätte etwas gesagt, aber wahrscheinlich war das einen Hauch zu leise. Verzweifelt versuche ich, meine Stimme über die der Werbung zu erheben.

„Es ist leider ganz unpassend.“

Der Satz hat mich unglaublich Kraft gekostet. Ich höre noch, wie die leiernde Stimme ein „… wir können Ihren Mann nicht ewig hier behalten, Frau Augustin!“, nachschickt, da habe ich mein Handy zusammengeklappt und dieses böse Weib aus meinem Leben verbannt.

Tief durchatmend lehne ich an der Wand und kann jetzt endlich aufhören, völlig hirnverbrannt Dose auf Dose zu stapeln, weil ich mich irgendwie beschäftigen muss, um nicht auf der Stelle durchzudrehen. Der Einkaufswagen ist voller ‚Leber mit Erbsen und Reis‘.

Eine Dose, die mir unsere äußerst wählerische Cassy nie abnehmen würde: Sie liebt Thunfisch!

Okay, okay…, beruhige ich mich, die Frau kann ja nichts dafür. Es ist halt so, dein Mann ist nur ein Fall, und zwar streng gesehen, ein medizinisches Abfallprodukt von rund 100 Kilogramm Körpergewicht, bei einer Länge von 1,90 Metern und einem Kopfumfang von 64 Zentimetern. Alles in der Pathologie erfasst und jetzt zu den Akten gelegt. Beinahe zumindest, es fehlt noch dein Okay, Claire!

Bei rationaler Überlegung gibt es absolut keinen Grund für Aufregung. Wenn man allerdings frisch gebackene Witwe ist wie ich, möchte man seinen Mann weder zu den Akten noch in die Erde legen.

Natürlich darf der arme Paul mit Zettel am Zeh im Zellophan-Sack auch kein Dauerzustand sein. Man stelle sich vor, alle Toten des Monats Mai sind schon verarztet, nur Paul liegt Ende Juni noch in seiner Schale für die Abholung. ‚Der Letzte macht das Licht aus‘. Keine gute Idee. Ausgerechnet in diesem scheiß Supermarkt holen mich meine Versäumnisse ein. Shit!

Ich nehme mir vor, ab sofort disziplinierter auf das Ziel hinzuarbeiten, meinen Gatten anständig zu Grabe zu tragen.

*

Pflichtbewusst hatte ich Arbeitgeber, Krankenkasse, Bank, die Stelle für Pensionsbezüge, sämtliche private Versicherungen sowie unseren Anwalt und Notar, um nur die Wichtigsten zu nennen, von Pauls akutem Ableben informiert. Zu mehr fehlte mir die Kraft. Nach wie vor empfinde ich alle Anforderungen bezüglich Pauls Tod als unüberwindbaren Marathon.

Lebens- und Unfallversicherungen mussten zum Beispiel innerhalb von achtundvierzig Stunden vom Tod des Versicherungsnehmers unterrichtet werden. Absolute Grausamkeit und für mich auch überhaupt nicht einsehbar.

Albtraumhaft blieb in Erinnerung, wie ich mich Pfingstsonnabend, kaum dass mein Gatte vierundzwanzig Stunden tot war, maulwurfartig durchs Haus gewühlt habe, um Unterlagen zu finden. Mir war zum Heulen, wenn ich alte Bilder von uns sah, oder unser Glück durch kleine Zettelchen dokumentiert wurde, die ich zwischen allerlei Krimskrams in Schubladen versteckt finde.

Keine gute Zeit zum Erinnern, hier im Supermarkt. Trotzdem rollen ungebremst weitere Filme dieser aufgezwungenen Late-Night-Show in meinem Kopf ab. Ich kann das einfach nicht abstellen. Es verfolgt mich geradezu. Ich sehe mich wühlen und wühlen zwischen losen Blättern, fest verschnürten Versicherungsunterlagen und riesigen Stapeln von Garantien, wobei ein Großteil der Geräte gar nicht mehr im Haushalt existierten, sondern längst auf Mülldeponien, oder gepresst und neu verarbeitet andere Aufgaben erfüllen. Es gab eine Bedienungsanleitung von einer Waschmaschine, die zwei Wochen nach Garantieablauf ihren Geist aufgab, weil unser Sohn jede Menge Pfennige hineingeworfen hatte. Nebenbei bemerkt, Simon ist jetzt über zwanzig Jahre alt. Dann gab‘s noch den Prospekt von der Bügelmaschine. Ein riesiger Klopper, das Geschenk von meiner unmöglichen Mama Betty zur Hochzeit, eine Art Mitgift! Paul lachte sich damals schlapp. Das gute Stück stand jahrelang unbenutzt im Keller. Sehr zum Unmut meiner Mutter, die sich wahrscheinlich dachte, dass ich endlich zur tollen Hausfrau mutiere, wenn ich einen Mann und Ring am Finger habe. Sie hatte sich in mir - wie so oft - gründlich geirrt. Zu ihrem Leidwesen war ich selbst zum Aufräumen nicht geboren. Wie man in dieser Nacht deutlich erleben konnte, hat sich daran bis heute nichts geändert. So ging das weiter und weiter, ich fand tausendundeinen Schatz unter all den Stapeln, aber nur spärlich die geforderten Papiere.

*

Am nächsten Morgen taten mir alle Knochen weh. Ich hockte im begehbaren Kleiderschrank meines Mannes auf dem Boden, eingekeilt zwischen Anzügen und Sakkos, eine halb leere Flasche besten Malt Whisky im Arm. Wahrscheinlich habe ich nach meiner Endlossucherei von Dokumenten mitten in der Nacht beschlossen, zu Paul zu gehen, um seinen wunderbaren Duft einzuatmen. Hier im Ankleidezimmer ist er mir am gegenwärtigsten, man braucht nur die Augen zu schließen.

Das hat etwas derart Tröstliches, dass ich auch in den darauf folgenden Tagen das Bedürfnis verspüre, seine Sakkos mit meinen Armen zu umfangen und meine Nase ganz tief hineinzustecken. Mich empfing das gleiche Gefühl wie immer, wenn er mich umarmte: Ich war zu Hause! Am Morgen nach meinem Besäufnis kroch ich also in Katerstimmung auf allen Vieren aus dem Schrank, wobei ich ein reichlich zerknittertes Bündel Versicherungspolicen unter meinem Hintern hervorzog. Gott sei Dank hatte sich kein Whisky darauf verteilt.

Ich trug Pauls Lieblingssakko, dunkelgrüner Tweed mit Lederbesatz an den Ellenbogen und zu allem Überfluss auch noch meine Kermit-grünen Froschgummistiefel. Irgendwann war ich mit Sally noch mal Gassi gegangen und hatte danach anscheinend nicht die Kurve gekriegt.

Um den Hals baumelte Pauls Nerzbesatz vom Wintermantel, der hatte besonders intensiv seinen Parfümduft angenommen und damit meine Wahl deutlich beeinflusst. Auf dem Kopf klebte die Fellmütze mit Ohrenklappen, Pauls letztes Weihnachtsgeschenk von mir. Vorrangig gedacht für einen bitterkalten, windigen Inselbesuch bei unserem Nesthäkchen Nele. Jetzt ist Sommer und normale Leute tragen draußen kurzärmelige Blusen und nachts gar nix.

Zuschauer hatte ich bei dem peinlichen Morgenauftritt auch: Die Bank gegenüber, ehemals gedacht zum Schuhe anziehen, war besetzt von meinen Hausgefährten, die regungslos meinen mühseligen Aufstehversuchen folgten.

Erst als ich mich komplett ausgepellt hatte und mit einem rosafarbenen alten Frottee-Schlafanzug vor ihnen stand, wedelte Sally mit dem Schwanz und Cassy beeilte sich, mir die Beine abzuschlecken.

Ob die Tiere sich etwas zusammenreimten? Und wenn ja, was? Den ganzen Tag wurde ich das Gefühl nicht los, von ihnen beobachtet zu werden, vornehmlich von hinten. Aber vielleicht sprach aus mir auch nur das schlechte Gewissen.

*

In den nächsten Stunden hatte ich genug damit zu tun, den Tod von Paul bürokratisch abzuwickeln. Da ich keine Ahnung vom Versenden von EMails hatte, glühte unser Telefax.

Allein die Adressen zu finden, kostete mich eine weitere Flasche besten französischen Rotwein aus Pauls Weinkeller: ‚In Memoriam‘ für meinen Liebsten!

Ich war ein wenig im Dauertee und trug eine Dunstglocke von Schwermut mit mir herum. Das ganze Desaster würde höchstwahrscheinlich so lange anhalten, bis ich jede Menge Umarmungen durch meine drei Freundinnen erhielt, auf die ich im Augenblick mehr als angewiesen war, um richtig ticken zu können.

Vierzehn Tage Urlaub zum falschen Zeitpunkt konnten ganz schön lang sein. Kathi müsste als Erste eintreffen, danach Maria. Ich hatte bislang keine Postkarte aus dem Süden erhalten und in meinem besonderen Fall war ich auch nicht traurig drüber.

Weitläufigere Freunde informierte ich ebenfalls mittels Faxgerät und bat um einige Tage Ruhe für mich. Ich erhielt achtundfünfzig SMS-Mitteilungen, die ich nicht las, sondern der Einfachheit halber löschte, sowie zweihundertneunundneunzig Spams via Internet. Neben drei Dutzend Viagra-Werbespots waren auch Angebote von Beerdigungsinstituten dabei. Eines hatte ich versehentlich geöffnet. Es bot mir ‚Sarghemdchen und Sargdecke für sage und schreibe 99 Euro‘ an, sowie Urnen zu ausgesprochen fairen Preisen!

Kaum zu glauben. Woher hatten die alle meine Nummer? Wer vertickte da schon wieder konsumträchtig Pauls Tod in alle Welt?

*

Heute gehe ich fremd. Meine ‚K-P-W-Bude‘ muss an diesem Tag mal ohne meinen Besuch auskommen. Viel zu weit weg, ich muss unbedingt sofort etwas essen, ehe ich mich hinters Steuer setze. Wahrscheinlich bin ich völlig unterzuckert.

Ich versuche erst gar nicht, aus meinen Einkaufstüten was Essbares zu angeln, sondern laufe zum Fischimbiss gegenüber. Gebratener Fisch mit Kartoffelsalat lacht mich an.

Kaum habe ich mich in der Schlange angestellt, werde ich von vier Nachbarn unter eifrigen Beileidsbekundungen gefühlte fünfzehn Minuten zwangsverhaftet.

Ich konnte Beerdigungen und das ganze Drumherum noch nie leiden und kam mir auch immer recht blöd vor beim Kondolieren die passenden Worte des Beileids zu formulieren. Alles hörte sich so gleich an, als ob man ein Tonband vor- und zurückspulte und die Worte klangen irgendwie unehrlich. Im Kopf lief ein anderer, viel besserer Film ab. Stattdessen mühsam formulierte Sätze, begleitet von einem Mindestmaß an Tragik. Es brauchte nur wenige Minuten und meine Mimik und Gestik schien wie mit einem Sekundenkleber fixiert, adaptiert von zig Kondolierenden vor mir: Verlogenheit pur.

Ich habe bei diesen Anlässen nicht gerade selten den Beigeschmack eines schlechten Theaterstücks.

Ich hasse es immer noch, das wird nicht besser, auch wenn ich jetzt auf der anderen Seite stehe. Eigentlich fürchte ich mich vor der Beerdigung. Bevor mich noch mehr Menschen mit ihrem Beileidsgesülze zutackern, entscheide ich mich fürs Fischbrötchen vom Take-away, das geht flotter. Gerade ist unser Hausarztes grüßend vorgefahren, und darauf habe ich echt gar keine Lust.

Schnell verschwinde ich in der Apotheke gegenüber, ich brauche sowieso eine größere Menge Kopfschmerztabletten.

Die Chefin bittet mich unmissverständlich, ihr in den Nebenraum zu folgen, einer Art Abstellkammer. Träge bejahe ich die Frage, ob ich Frau Augustin sei, und denke noch bei mir, dass jetzt nicht der geeignete Zeitpunkt ist, ihre verständliche berufsbedingte Neugierde über die näheren Umstände, die zum Tode meines Ehegatten führten, zu befriedigen. Ich habe Hunger, und Paul hatte schon immer recht mit der Feststellung: ‚Wenn Claire Hunger hat, ist mit ihr nicht zu spaßen‘.

„Frau Augustin, ich wundere mich seit 2 Wochen darüber, dass Ihr Mann seine Medikamente nicht abgeholt hat. Ich habe auf sein Handy gesprochen, aber er hat nicht zurückgerufen. Dabei kann er die Blutgerinnungspräparate eigentlich nicht weglassen…“

An dieser Stelle unterbreche ich die eifrige Dame mit der ultrakurzen Information: „Mein Mann ist tot!“

Die Beileidsbekundung geht in die nächste Runde. Das ist in Ordnung so. Ich werde mich für einen langen Zeitraum daran gewöhnen müssen, dass Hinz und Kunz ihr Beileid aussprechen, obwohl ich das nicht mag. Aber: Was zum Teufel meint die Apothekerin mit Quickwert, und was redet sie da von der anderen Geschichte, dem weitaus aussichtsloseren Kampf?

Eigentlich möchte ich hier raus. Und zwar sofort. Ich ertrage es keine weitere Minute in diesem Kabuff. Vielleicht bin ich auch auf dem besten Wege, irrezuwerden. Keine Ahnung. Auf jeden Fall finde ich mich eine Minute später auf dem Parkplatz wieder, ohne Kopfschmerztabletten und ohne das Päckchen für Paul.

Wozu auch!?

Es hat angefangen zu regnen. Ich sprinte zum Auto. Den einsetzenden Platzregen kann ich auf dem Parkplatz eigentlich auch noch abwarten. Die Scheibenwischer des Citroëns kratzen altersschwach über das Glas der Windschutzscheibe, während ich in aller Ruhe mit dem Fischbrötchen ein kleines Picknick einlege.

Das ungläubige Gesicht der Apothekerin geht mir trotzdem nicht aus dem Sinn. Wahrscheinlich übertreiben Apotheker ohnehin immer ein bisschen, um ihre Kundschaft gewissermaßen an der langen Leine zu halten.

Weiter komme ich nicht. Die Tür wird aufgerissen.

„Tut mir leid, Claire, wenn ich dich so überfallen muss. Aber ich sah deinen Wagen gerade auf dem Parkplatz… und da wollte ich…“

Ich weiß natürlich, was unser nasser Hausarzt will. Mir sagen, wie sehr es ihm leidtut und ob er mir in dieser schweren Stunde vielleicht helfen kann. So weit, so gut, all das tut er dann auch. Es rauscht an mir vorbei. Ich bin derzeit nicht in der Lage, solchen Akt souverän zu meistern. Hartmut Becker will anscheinend aber noch mehr. Er sitzt auf dem Beifahrersitz, blickt angestrengt aus dem Fenster und sagt ein paar Minuten gar nichts.

Dankbar über stille Gesellschaft mampfe ich mein Fischbrötchen, als ob es nichts Wichtigeres gäbe, als den Hunger eines alten geschundenen Mädels zu befriedigen. Dabei ahnte ich bereits mit dem letzten Bissen dieser keineswegs taufrischen Makrele, dass ich in den nächsten Minuten etwas hören werde, was mich nie mehr in die alte Claire zurückversetzen könnte und damit endgültig aus meinem gewohnten Leben herauskatapultiert.

Ich weiß noch, dass ich zunächst gute Miene zum bösen Spiel aufsetzen wollte, indem ich in fast heiterem Ton fragte:

„Und? Wie war dein Urlaub? Hast wenigstens du dich gut erholt?“

Kein Pardon für mich. Hartmut kennt solche Szenarien aus seiner langjährigen Praxis nur allzu gut.

„Claire, was ich dir heute sagen muss, wird sehr schwer für dich sein. Aber ich denke, dass man dich mit dem pathologischen Bericht ohnehin konfrontieren wird. Darum hörst du es zuerst von mir. Dein Mann war sterbenskrank. Paul hatte Prostatakrebs. Nach einer Operation hätte er relativ gute Lebenschancen gehabt. Der Tumor hatte zwar mehr als einen halben Prostatalappen infiltriert, jedoch die Kapsel und Organgrenzen noch nicht überschritten. Mein Praxispartner und ich rieten daher zur kompletten Entfernung der Prostata. Das war vor gut 9 Monaten. Sein PSA-Wert, also der Wert, der eine signifikante Aussage bietet, stieg im Laufe der letzten Monate merklich an.

Paul konnten wir trotzdem nicht überzeugen. Er lehnte jeglichen operativen Eingriff strikt ab! Natürlich hatte ich ihn über mögliche Inkontinenz und Beeinträchtigung der Erektionsfähigkeit informiert. Für den erstgenannten Punkt gibt es ein spezielles Training mit beeindruckend positivem Ergebnis, für letzteres einige neue Wege, um mehr Lebensqualität zu erreichen. Kein Arzt kann allerdings garantieren, dass die Potenz erhalten bleibt. Mein Gott, Claire, was rede ich denn da. Du hast sicher ganz andere Probleme. Es tut mir so leid. Es gibt ihn nicht mehr und ich erwähne dir gegenüber medizinische Einzelheiten. Das muss in deinen Ohren wie geballter Schwachsinn klingen. Typisch Mediziner.

Ich kann es irgendwie selber nicht fassen, es ist alles so unwirklich. Da denkst du, der größte Feind dieses Mannes liegt in seinem Krebsbefund und dann macht ihm ausgerechnet die Pumpe einen Strich durch die Rechnung. Er hat mir gegenüber auch nie etwas von Herzbeschwerden erwähnt.

Das letzte EKG liegt genau zwei Jahre zurück. Da war nichts. Nur sein Bluthochdruck und erhöhte Leberwerte fielen auf. Psychisch schien er allerdings angespannt zu sein, daran kann ich mich gut erinnern. Ich schob das auf die Veränderung im Job, du weißt schon, Familie in Berlin und der größere Teil von einem ist in Regensburg unterwegs, ohne wirklich zu Hause zu sein.

Wir baten ihn, in Ruhe über die OP nachzudenken und keine spontanen Entscheidungen zu treffen. Wir baten ihn auch, seine Familie in die Thematik einzubeziehen. Ohne Nennung von Gründen rief er uns irgendwann an und teilte meinem Praxispartner, nicht mir, telefonisch mit, dass für ihn auf gar keinen Fall ein wie auch immer gearteter Eingriff infrage käme. Es blieb uns nur, ihm extrem starke Medikamente zu verabreichen, um den Krebs halbwegs in Schach zu halten und in der Zwischenzeit auf Vernunft und Einsicht zu hoffen.

Es hat Paul sehr beschäftigt, wie lange er noch leben könne. Ich habe ihm ohne Operation einen Zeitraum von zwei bis drei Jahren genannt. Diese Krebsart wächst relativ langsam und bei ihm waren keinerlei weitere Organe betroffen.

Irgendwann im November bat er mich, ihm ‚Viagra‘ zu verschreiben, die blauen Wunderpillen. Ich habe dies aus ärztlicher Sicht abgelehnt. Möglicherweise hat er sich das Zeug auf andere Weise besorgt. Zu diesem Thema weißt du sicher mehr als ich!“

*

Ich weiß nicht, ob ich zu diesem Zeitpunkt überhaupt noch lebte. Gut, tot konnte ich nicht sein, denn ich rechnete mir gerade aus, was die muffig schmeckende Makrele wert war, wenn einhundert Gramm fünfundfünzig Cent kosteten. Das Preisschild vom Fischstand hatte ich noch vor Augen, mein Magen rebellierte.

Vielleicht könnte mich eine ordentliche Fischvergiftung aus dieser irgendwie unangenehmen Situation retten?

Es käme ein Heli vorbei, flöge mich ins nächste Hospital, und ich wäre gewissermaßen aus dem Schneider. Diesen Stuss vom Beifahrersitz konnte man sich ja nicht länger antun.

Na gut, ich könnte ja auch einfach den Schlüssel abziehen, aussteigen und Hartmut so lange im Wagen einschließen, bis er endlich aufhört, zu dozieren. Ob das klappen würde, wage ich zu bezweifeln. Ärzte sind immer so hartnäckig bemüht, einem ihre Diagnosen aufzudrängen.

Inzwischen höre ich meinen Atem nicht mehr, da war nur ein leichtes Rauschen in meinen Ohren. Hartmut erzählt und erzählt und blickt dabei stoisch gegen die Windschutzscheibe.

Ich war da und auch wieder nicht. Mit ein bisschen Fantasie hätte man sich einbilden können, wir säßen wie im Bus nur zufällig nebeneinander und jeder würde etwas aus seinem Leben erzählen, was ihn persönlich beschäftigt, ohne dass unsere Lebenswege sich jemals real kreuzten.

Er erzählt mir von irgendeinem Patienten, den es anscheinend schwer getroffen hat. Der Arme, nur was hat das alles mit mir zu tun ?

Am liebsten hätte ich gelacht. Aber das passte irgendwie nicht. Es war eng und stickig. Die Scheiben beschlugen von der Feuchtigkeit.

Ich könnte jetzt ein großes Herz auf die Fensterfront malen und würde das auch am liebsten sofort tun. Und zwar in Höhe des Beifahrersitzes, damit Paul es ansehen kann, wenn er da mal wieder sitzt. Ich traue mich bloß nicht, Hartmut beiseitezuschieben, um mit der großen linken Herzhälfte anzufangen.