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"GOTT IN DER WOLKE" - Wer loslässt, HAT BEIDE HÄNDE FREI Man fand ihn in seinem Ganzkörperkondom im Flussbett, die geliebte Angel fest umklammernd… Hubert Freytag war meine Backfischliebe. Tot sein, das geht gar nicht. Wegen mir. Wo soll ich hin? Was soll ich tun? Für wen lohnt sich jetzt alles? Ein jahrzehntelang unspektakuläres Dasein im Angler-Fiasko inclusive Fischfangbearbeitung lagen hinter Doris Freytag. Während bei anderen Familien fröhlich-bunte Blumentöpfe Küchenfenster zierten, gab es in ihrem Fishermans-Life 'Madenzucht ohne Geruch' in gestapelten Tupperdosen auf Fensterbrettern. Bloß kein Verharren im Wartezustand: Kurzerhand spendet Doris das Erbe randvoll mit Fischleichen gefüllter Truhen für die Tombola der Freiwilligen Feuerwehr, schreibt ein paar Zeilen, legt ihr Schlüsselbund auf die Treppe … und geht! Und das noch vor der Beerdigung ihres Gatten… Tochter Karina wird's schon richten. Die musste man sich ohnehin erst mal nervlich leisten können. Die Flucht wird abenteuerlich: Planlos überrumpelt vom Dasein als verrückte Rucksacktante, die nach dem Tod ihres Gatten für einige Monate eine Art Freifahrtschein genießt und schließlich in Venedig landet! Die Begegnung mit drei älteren Herren auf einem Gutshof in den italienischen Weinbergen wird letztendlich zur emotionalen Reise zu Dingen, die wirklich zählen. Was ihr begegnet, ist dialogstarker Midlife-Spaß voll Ironie und großer Loyalität. Humorvolle Menschen, die einen gewissen Abstand zu sich selbst haben. Freunde, die sich alljährlich wertvolle Zeit miteinander schenken. Ihre Philosophie: Alt werden ist nicht unbedingt Lebensabschnitt, sondern eine Einstellung. Du wirst erst alt, wenn du anfängst, deine Träume zu vergessen! "Nach und nach löste sich der Staub von meiner Seele. Glück, Sinnhaftigkeit erlebst du nicht am Ende deiner Reise – sondern unterwegs." * Delikat besetztes Figurenkarussell mit zartem Schmelz dank einer Prise Magie und Happy End. "Manchmal ist es amüsant zu wissen, dass die, die dir das Schlimmste wünschen, verkraften müssen, dass dir gerade das Beste passiert..." "GOTT IN DER WOLKE" bietet nicht nur Unterhaltung, sondern regt auch zum Nachdenken an. Es thematisiert relevante Fragen zu Verlust, Freundschaft und der Suche nach Lebensfreude in der Lebensmitte. Leser können sich auf eine humorvolle Erzählweise freuen, die tiefgründige Einsichten in die menschliche Psyche vermittelt und die Kraft des Neuanfangs feiert. *
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Seitenzahl: 327
Veröffentlichungsjahr: 2024
SHARON WUNSCH
GOTT IN DER WOLKE
Wer loslässt, hat
BEIDE HÄNDE FREI
LEBEN IST DAS MIT DER FREUDE
UND DEN FARBEN …
…NICHT DAS MIT DEM ÄRGER UND DEM GRAU
1 Ich konnte sie hören, als ob sie direkt neben mir stünde. Dabei saß ich auf der Treppe im Hausflur ein paar Meter unter ihr. Langsam redete sich meine Tochter in Rage.
„Ich bin übrigens sozial nicht kompetent genug, um mit langweiligen Menschen über Dinge zu sprechen, die mich nicht interessieren!“
Sie spuckte es förmlich heraus, die Finger trommelten ungeduldig auf der Tischplatte.
Meine Güte, wenn Clara das mitbekäme, was sich hier mit ihrer Enkelin abspielte. Die Hormontherapie war wirklich kein Zuckerschlecken.
Allerdings pflegte Karina schon vorher ein aufbrausendes Temperament.
‚Von wem sie das wohl hat!‘,höre ich in meinem Kopf und denke: Mutter, halt dich da raus, wir können es beide nicht mehr ändern. Außerdem hat sie einen Mann, der das jetzt alles übernimmt - ich meine unser Erbe an missglückter Erziehung …
Der Ärmste scheint aktueller Gesprächspartner zu sein. Ich höre ein zimmerdosiertes: „Lass meine Mutter aus dem Spiel, du Versager!“
Ich ahne, dass sich keine Gelegenheit mehr ergeben dürfte, sie persönlich von meinem Vorhaben zu unterrichten. Verständnis für meinen zugegebenermaßen desolaten Zustand ist eher nicht zu erwarten. Wahrscheinlich würde sie mich lautstark für verrückt erklären und mir die Autoschlüssel wegnehmen, …was auch immer.
Karina musste man sich nervlich erstmal leisten können.
Mein Schwiegersohn passte in ihr Beuteschema. Auf mich machte er einen ziemlich devoten Eindruck. Trotz seiner Einsneunzig wirkte er kleiner und irgendwie schmächtig gegen Karina. Bereits in jungen Jahren lief er gebeugt in einer Art Dauerverneigung: Meiner Tochter dürfte das gefallen. Unterdrückt in zweiter Generation, erst die Mama und beinahe nahtlos seine Angetraute.
„Kläre doch bitteschön deine Erzeugerin auf. So geht das nicht weiter, Bernd! Sie kommt ins Heim! Basta!
Entweder sie geht, oder ich! Überleg‘ s Dir, aber nicht zu lange!“
Jetzt schnaubte sie wie ein Pferd. Klang nicht sehr attraktiv, verfehlte aber selten die beabsichtigte Wirkung.
Mein Schwiegersohn schien für solche Signale indes nicht sonderlich aufgeschlossen. Offensichtlich riet er ihr zu mehr Entspannung.
Hääh? Wie blöd ist das denn in so einem Moment. Da hält man doch wohl eher die Klappe. Das konnte nicht gut geh‘ n. Karina kennt sich bestens aus, die hatte Übung. Jahrelang hat sie sich mit ihrem Vater gefetzt und an ihren Mechanismen gefeilt. ‚Es gibt kein Schicksal, welches nicht durch Verachtung überwunden werden kann‘, zitierte sie bereits bei früheren Anlässen gern Albert Camus.
Verachtete fortan ihren leicht cholerischen Vater, wurde eine engagierte (…und wohl ebenso anstrengende) Lehrerin und ignorierte jegliche Anteilnahme unserer häuslichen Gegebenheiten. Einzige Ausnahme blieb Bodo, unser Labrador.
Beides hat sich zwischenzeitlich erledigt, der Hund vor einem Jahr das Zeitliche gesegnet und ihr Vater vor 11 Tagen.
Um den Hund weinte ich mehr als um meinen Mann …
Wobei: Ich befinde mich seither in einer Art Schockstarre. Kann weder essen, vernünftig schlafen, noch überhaupt irgendeine Tätigkeit aufnehmen. Den Anspruch ‚sinnvoll‘ mal außen vorgelassen.
*
Hubert Freytag war meine Backfischliebe. Ich habe niemanden anderes kennengelernt.
Tot sein, das geht gar nicht. Wegen mir.
Wo soll ich hin? Was soll ich tun?
Wen soll ich bekochen? Für wen lohnt sich jetzt alles?
Apropos Kochen. Fisch würde es zumindest nicht mehr geben. Ersatzlos von der Karte gestrichen. Falls ich jemals wieder kochen sollte: Nie wieder Fisch.
Mein halbes Leben hatte ich mit diesem Mann in einer Art Fischkutter verbracht. Er angelte, bis ihm die Würmer aus der Nase kamen (die sprichwörtlichen Ohren waren längst dicht).
Berge von toten Fischen tummeln sich unter uns in den Truhen. Der Keller randvoll mit Fischleichen. Dabei wohnen wir erst wenige Jahre hier.
Es wäre nutzbringender gewesen, gleich ein Bassin einzubauen und dieses mit Eiswürfeln zu füllen, um die Massen beherbergen zu können.
*
Mein Mann war Elektriker. Wenn er nicht arbeitete, war er beim Angeln. Und weil in Delmenhorst die Flüsse und Seen fußläufig unerreichbar waren, mussten wir halt dichter ran ans geliebte Nass.
An der Müritz, inmitten der achtundzwanzig Mecklenburger Seen, war sein persönlicher Traum in Erfüllung gegangen. Das Reservoir der absoluten Möglichkeiten ergoss sich direkt vor unserer Haustür.
Die ich fortan immer weniger aufmachte.
Frische Luft hatte ich auf meiner einsamen Terrasse mit direktem Blick auf die Flussmündung der Elde genug. In eitler Verblendung wird sie von Einheimischen auch ‚Themse‘genannt.
Keiner fand das komisch, nur ich.
Na gut, ich war ja auch ´ne Zugereiste aus dem Westen. Die wurden hier eh nicht ernst genommen.
Zwischen all dem vielen Wasser blieb ich in den letzten sechzig Monaten hundeseelenallein, bis der Mann mit dem Fischgeruch allabendlich durch die Tür trat und ein gegrummeltes „Hallo, mein Schatz, wie war dein Tag“, den meinen neu zu versüßen pflegte. Indem er als erstes seine Beute in die Badewanne schmiss, es sich im Fernsehsessel bequem machte, um sich von mir die Füße massieren zu lassen. Weil ihn das stundenlange Stehen auf einem Fleck mitten im tosenden Bach so anstrengte.
Massieren konnte ich gut. Hatte ich mal gelernt: Fußpflege. Ist ´ne Ewigkeit her. Dabei waren wir uns auch das erste Mal begegnet.
Ich hing schon damals einen halben Meter unter ihm. Das Bild mochte er anscheinend und nahm mich auf in sein ‚Fishermanslife‘.
Das Hobby fand ich anfänglich zwar etwas altertümlich, aber durchaus ehrbar und vor allem ‚männlich‘.
Trullerhafte-Mädchen-Macke: Aus dem Alter war ich damals halt noch nicht raus. Heute wüsste ich es besser …
Ließ man die Tatsache mal außer Acht, dass seine überwiegend zarte Beute von einigen hundert Gramm Lebendgewicht überhaupt keine Chance gegen die Leckereien am Haken hatte.
Der große Hubert in seinem Ganzkörperkondom an Gummiklamotten nahm es nebenbei gesagt keineswegs mit Haien im Meer auf, im Gegenteil. Selbst auf einem kleinen Fehmarner Fischerboot kotzte er die ganze Fahrt und überließ mir das Halten der Angel. Da war´ n wir noch nicht mal verlobt.
Eine Stunde später, meine Klamotten bereits klamm und Hände blau gefroren, hatte ich meinen ersten und unseren einzigen Hecht riesigen Ausmaßes zappelnd am anderen Ende und versaute Hubert dieses einzigartige Erlebnis, weil ich ihn samt Angel vor Schreck ins Meer zurückwarf. Ich meine den Fisch, nicht Hubert …
Obwohl ich das heute vielleicht anders entscheiden würde.
Zumindest wäre mir viel erspart geblieben.
*
Meine Verliebtheit bezog sich damals auf seine stattliche Größe, seine Augen und vor allem seine Hände, die mir nach dem ersten Kuss wegweisend aufzeigten, wie wir zukünftig unser gemeinsames Leben gestalten: Er band mich übergangslos in sein Hobby ein.
Leider verpeilte ich, dass alles eigentlich schon Anleitung für mich war. Dass er mir mit seinen flinken Händen nicht nur zeigen, sondern beibringen wollte, worin meine zukünftige Aufgabe bestehen sollte.
Und als ich langsam ahnte, in welche katastrophale Richtung das führen könnte, kam Karina. Ich dachte, es würde sich was ändern, aber das war naiv. Ich blieb ans Haus gebunden und er verbrachte noch mehr Zeit in der Natur.
Ist ja auch schöner, den Amseln beim Abendlied zu lauschen, als einem laut schreienden Säugling.
*
Schon die Schwangerschaft überforderte mich. Übelkeit und Erbrechen blieben mein treuer Begleiter über neun Monate. Die Geburt war eine Katastrophe und ich derart benebelt, dass ich - durch erdrutschartig sinkenden Blutdruck - kaum Durchblick hatte.
Zum Dauerbrenner amüsierter Erzählungen pflegte Mutter zum Besten zu geben, dass ich beinahe das falsche Kind mit nach Hause genommen hätte. „Hahaha…, Doris war schon fast am Ausgang mit dem kleinen Buben!“
Ich fand das nicht witzig. Also …, wenn ich ganz ehrlich bin, Babys sahen damals für mich alle gleich aus. Mal abgesehen davon: In meinem Zustand hätte ich womöglich selbst einen Truthahn mit nach Hause genommen!
Während ich als Nächstes mit einer Art Schwangerschaftsdepression kämpfte, für die es damals noch keine passende Bezeichnung gab, pflegte mein Ehemann übergangslos seine alten Lebensgewohnheiten.
Karina war ein sogenanntes Schreikind …
Ehe der Arzt entdeckte, dass alles seinen Ursprung in einem Leistenbruch hatte, waren Wochen vergangen und ich am Rande eines Nervenzusammenbruchs.
*
An eine Situation aus dieser Zeit erinnere ich mich, als wäre es gestern gewesen. Selbst nach 12 Tagen hatte das Kind noch nicht mal einen Namen. Hubert nannte sie ‚die Lütte‘, meine Mutter fragte nach dem ‚Baby‘ und ich wühlte mich - neben Sprotten bearbeiten - allein wie üblich durch eine Liste weiblicher Vornamen.
Ich bin im Zeichen Waage geboren. Die übernehmen zwar Verantwortung, sträuben sich aber nur allzu gerne vor Entscheidungen.
Zusätzlich wurde ich abgelenkt durch den Anblick milchig-toter Fischaugen.
Zum besseren Verständnis zitiere ich hier mal aus der ‚TIMES‘ für Sportangler: ‚Selbst die kleinsten Sprotten erfüllen eine Aufgabe. Sie werden nach ihrem irdischen Ableben zu Köderfischen. Und die darf man nicht einfach in die Tiefkühltruhe legen, sonst frieren sie zusammen. Wickelt man sie in mehrfach gefaltetes Zeitungspapier, lassen sich die Sprotten leicht trennen. Tote Köderfische stellen eine wirkungsvolle Methode zum Fang großer Fische dar. Je älter und größer ein Hecht wird, desto seltener verspürt er Lust, einem schnellen, gesunden Beutefisch nachzujagen. Mit der Zeit gibt er Fast Food auf und wendet sich lieber langsamen oder verletzten Beutefischen zu. Kommt der tote Köderfisch in Sichtweite, wird der große Hecht aktiv‘…
DAVON TRÄUMEN ALLE ANGLER!
Und genau deshalb stapelten sich in unserer Banktruhe Hunderte olle Zeitungen. Die glitschigen Dinger wurden eingewickelt, wann immer Zeit dafür war. Ich hatte ja laut meinem Ehemann nur mit Haus und Kind zu tun. Alles halbwegs sauber in Tupperdosen auf dem gesamten Küchenfensterbrett zu stapeln, blieb eine Übergangslösung: Madenzucht ohne Geruch war zwar der letzte Schrei, aber mit den Krabbelviechern ließ sich eben nur Kleinzeug anlocken …
*
Am vierzehnten Tag fiel die Entscheidung ihres Vornamens aufgrund einer Zeitungsanzeige. Die Seite, welche ich gerade um den blutig schleimigen Körper einer Sprotte rollte, zeigte eine ganzseitige Werbung für Karina, einer Vollmilchschokolade mit Nüssen aus dem Hause Stollwerk.
Während ich froh war, meine Suche beenden zu können, stellte sich später heraus, dass meine Tochter angeblich Jahre darunter litt, nach einer simplen Süßware benannt worden zu sein.
Ich selber bekam den Namen der Schauspielerin Doris Day verpasst und fand das auch nicht sonderlich prickelnd. Obwohl mein Name angeblich Gottesgeschenk bedeutet und aus dem altgriechischen stammt. Ich glaube nicht, dass sich meine Mutter jemals darum Gedanken gemacht hat. Sie sah nur das unterhaltsame Schauspieltalent darin.
Ihre Erwartung musste im realen Leben der Enttäuschung weichen. Ihre persönliche ‚Doris‘ war weder besonders redefreudig, noch wurde sie durch ihren Ehemann dazu ermutigt.
Andere Kerle soffen am Feierabend, meiner stand bis zur Hüfte im Wasser und vergnügte sich in aller Stille.
Viele Jahre der Stille und des stetigen Angelns später hätte ich lieber gerne einen daheim gehabt, der laut „We are the champions“ grölt, wenn seine Fußballmannschaft gewonnen hat und hinterher mit Kumpeln deren glorreichen Sieg feiert.
*
Die glibberigen Fische, die ich jahrelang auch noch ausnehmen musste, waren mir irgendwann so zuwider, dass wir vier Wochen vor seinem Tod unseren größten Ehestreit hatten, weil ich zur Tombola der Freiwilligen Feuerwehr eine bis zum Rand befüllte Fischtruhe in Aussicht stellte. „Nur über meine Leiche“, hatte Hubert geschrien, als ehrenamtliche Helfer das Teil abholen wollten.
Kann sein, kann auch nicht sein: Möglicherweise hatte diese Aktion dazu beigetragen, dass sich in seinem Hirn eine Arterie löste. Wenn man oft rumschreit, ist das bestimmt nicht förderlich für ein langes Leben.
Zumindest habe er nichts gemerkt, hat Doktor Bunsenbrenner gemeint, als er mir nach Huberts Abtransport ein paar Beruhigungstabletten verordnete. Ich habe die nie genommen. Es gab ja nichts mehr, was mich aufregen würde, … allenfalls die Beerdigung!
*
Während ich noch immer auf der unteren Treppenstufe im Flur kauere und warte, dass über mir endlich der Hörer aufgelegt wird, ergoss sich ein neuer Schwall Verbitterung aus Karinas Mund.
Eigentlich wurde sie ihrem Vater immer ähnlicher.
„Yoga? Y-o-o-g-a-a? Das ist doch wohl nicht dein Ernst!! Warum verdammt noch mal sollte ich das machen? Da sitzen Hausfrauen rum, die sich mit verwinkelten Beinen eine Innenschau auf ihr leeres Leben gönnen! Und das am besten jede Woche!“
Das fand ich jetzt gar nicht mal so schlecht und gab ihr 7 von 10 Punkten.
„Bernd, merkst du noch was? Die will dich doch nur erpressen! Man muss nicht aus Angst vor dem Tod Selbstmord begehen, aber man darf auch nicht um jeden Preis ‚nicht‘ sterben wollen! Deine Mutter kommt doch nur in eine Seniorenresidenz. Und … okay, da sitzen viele alte Leute rum, aber das bedeutet verdammt noch mal doch kein Wechsel ins Siechenhaus!“
Jetzt wurde zur Abwechslung mit dem Kugelschreiber auf den Tisch von Tante Leni eingedroschen.
Es reichte.
Ich habe für diese Litanei einfach keinen Nerv, außerdem: ICH MUSS LOS!
Es blieb also beim Zettel. Meine erste, zugegebenermaßen feige Option. Die kurze Information bot das Feld für künftige Flächenbrände:
Du musst das mit der Beerdigung von Papa alleine regeln.
Im Herd ist ein Huhn. Ich muss los! Tschüss!
Papa ist irgendwie nicht tot für mich.
Deshalb kann ich ihn auch nicht beerdigen.
Tschüss!
Formfehler: Tschüss kam gleich zweimal vor. Das war meiner Aufregung geschuldet. Eigentlich wollte ich noch eine Entschuldigung unterbringen, aber der Satz gelang mir nicht. Nun gut.Es wird jetzt eh alles den Bach runtergehen und ich geteert und gefedert. Egal, was ich hier noch auf der Treppe vor mich hinkritzele …
Den Wahrheitsgehalt mal außen vorgelassen, ähm: Natürlich wusste ich, dass er tot ist. Mausetot, um genau zu sein.
Ich habe das ja mit eigenen Augen gesehen. Es war Hubert und niemand anderes.
Die Lüge verschaffte mir allerdings einen Grund zu gehen. Wenn man Gaga oder zumindest ein bisschen Meschugge ist, darf man das. Damit wollen die Angehörigen sowieso nix zu tun haben. Ich wäre früher oder später eine Last.
In diesem Augenblick ist zu gehen mehr eine Methode, um letztendlich alle zu befreien von den weitreichenden Folgen.
Und mir persönlich schenkte es Zeit. Zeit zum Nachdenken.
*
Den Zettel lege ich auf die Stufe.
Als ich die Tür leise hinter mir schließen will, fällt mir noch was ein. Auf Zehenspitzen laufe ich zurück und lege mein Schlüsselbund ordentlich neben meine Abschiedszeilen. Ich brauche es nicht mehr. Mich gibt’s hier nicht mehr:
ICH - DORIS FREYTAG – LÖSE MICH GERADE AUF.
In diesem Häuschen versickert die Zeit.
Das will ich nicht mehr.
Ein vergessenes Leben.
Ein Gefängnis am Ende.
Wenn ich es nicht ändere.
Okay…, ich bin auf dieser Welt ja nicht völlig allein in diesem Gefängnis. Von mir gibt‘s Tausende, besser: Wir sind Tausende. Verstreut und isoliert.
*
Warum ich allerdings mit der Aktion nicht warten kann, bis nach Huberts Beerdigung, kann ich beim besten Willen nicht sagen. Außer, dass es traurigerweise nichts gibt, was mich aufhält: Nicht mal Mama, die selber davon spricht, dass sie das Haltbarkeitsdatum bereits überschritten habe.
Junges neues Leben existiert auch nicht um mich herum: Karina hat mir ein Enkelkind angeblich erspart!
„Hab´ ich etwa Lust auf verstrahlte Spielplätze und Mütter, die über Durchfall reden?“
Wenn ich so gedacht hätte, wäre Karina nie geboren worden.
*
10 Porzellanschweine knallen gegen die Fahrertür, als ich hastig meinen größten Rucksack auf die Rückbank werfe.
Mein ganzes Leben begleiteten mich diese ‚Dinger‘, wie sie mein Göttergatte zu bezeichnen pflegte. Ich fütterte sie fleißig für imaginäre Reisen, die wir nie antraten. Und während meine Family mehr oder weniger über mein Hobby lachte, bekam ich in Ermangelung jeglicher Fantasie zu jedem zweiten oder dritten Geburtstag ein neues Glücksschweinchen für meine Sammlung.
Im Gläserschrank standen 14 Stück nebeneinander, wie in einem Stall, fehlte bloß noch das Gatter. Ich habe mich für die mit den schönsten oder lustigsten Gesichtern entschieden.
Wo die Schlüssel waren, wusste ich nicht mehr. Im Safe fand ich sie jedenfalls nicht. Zerdeppern wollte ich die armen Viecher auch nicht. Zu oft beim Entstauben in lachende Gesichter geschaut und dabei die Glückskleeblätter auf ihren dicken Rücken gezählt. Jedes ein Unikat von Hand bemalt.
Die Geldschatulle war mir eindeutig zu heavy. Ich nahm die Scheine raus und stopfte sie zu Unterhosen und Socken in den Seitentaschen. Ordentlich erzogen, packte ich noch Tempotaschentücher obendrauf. Auch so ein Relikt aus Mamas kleiner Welt, welches ich nahezu lückenlos übernommen habe. Etwas, worauf ich nicht gerade stolz bin. Wenigstens schleppe ich nicht wie sie ewig Bonbons als Proviant mit mir herum.
*
Ich überlegte, ob ich Mutter noch kurz anrufen sollte, entschied mich aber dagegen. Als ich das letzte Mal mit ihr sprach, hatte sie eine gefühlte halbe Stunde nur über das Fernsehprogramm der Krankenstation gemeckert.
„Stell Dir vor Kind, die gucken sich eine Sendung an, wo ungefähr 10 Menschen auf 20 qm leben. Wie in einem Bunker. Die können angeblich nicht raus, müssen Kuh-Urin trinken, Ochsen-Anus essen oder sich von Käfern ernähren. Es wird permanent gemobbt und alle amüsieren sich darüber. Dem´ s ohnehin schon am übelsten geht, muss sich in einer Art Selbstkreuzigung beweisen und Punkte sammeln, damit das asoziale Pack Essensrationen in Form von Kakerlaken und riesigen Waldspinnen kriegt. Ein Urwaldarzt ist auch zugegen, falls einer kotzen muss von all dem Fraß oder die Schikane einfach nicht mehr aushält. Ich meine, wie krank ist das denn?? Als Kinder haben wir uns früher im Bunker vor den Kakerlaken gefürchtet.
Dafür kriegen die heutzutage übrigens Geld! Und wenn sie selber genug haben von dem ganzen Dreck da drinnen, schreien sie hysterisch in die Kamera: „Ich bin ein Star, holt mich hier raus!“
Entschuldige Kind, ich will das ja nicht überstrapazieren, aber für so einen Scheiß gibt’s hoffentlich kein Drehbuch, oder? Ich meine, denen haben sie doch ins Gehirn geschissen. Millionen sehen sich so etwas an. Schämen die sich denn nicht? Wie nennt man das man noch?
Hmm … Fremdschämen, jetzt hab‘ ich`s.“
Ich hörte sie den Kopf schütteln, ihr Haarnetz mit den kleinen weißen Perlen verfing sich mehrmals am Hörer. Ein schabendes Geräusch, das mich unweigerlich ans Abziehen der Fischschuppen erinnerte …
„Ich verstehe die Welt nicht mehr Kind! Dafür zahlt man doch keine Sendegebühren…oder??“
Mutter stoppte kurz ihren Monolog, bis sie seufzend betont leiser fortfuhr. Wahrscheinlich war sie nicht allein im Raum.
„Es wird Zeit, dass ich wieder meinen eigenen Fernseher habe. Die Leute gehen mir sowas von auf den Senkel! Alles olle Grauköppe! Das ist nichts für mich. Die sind hohl in der Birne. Wenn mein Bruch verheilt ist, lasse ich mich hier nie mehr blicken! Gott, wie ich mich nach dieser Stunde sehne … Kindchen!“
*
Im Gegensatz zur Mutter meines Schwiegersohns war meine Mutter zunächst gerne in die Krankenabteilung einer Seniorenanlage verlegt worden. Dafür entfloh sie ja dem Krankenhaus, wo es eklige Leute und ekliges Essen gab: Kurzum Mitmenschen, die den ganzen Tag laut rülpsten und furzten!
Ihr Oberschenkelhalsbruch verheilte zusehends …
Aktuell war sie wild darauf erpicht, rauszukommen, um wieder unter normalen Menschen leben zu können, wie sie sich ausdrückte.
Dabei war sie - zumindest in der bettlägerigen Abteilung - die Älteste mit ihren 86.
Ich dachte nicht daran, Clara in ihre alte Wohnung zu verfrachten. Es machte einfach keinen Sinn. In einem Seniorenheim würde man ihr alles abnehmen, sie bräuchte sich um nichts zu kümmern.
Aus meiner Sicht war es das Beste, um nicht zu sagen, die lebensverlängernde Variante: Ihr Alltag gesichert, einschließlich der Hilfe bei Körperpflege und Hygiene samt Tablettenüberwachung. Immer schaute ein freundliches Gesicht durch die Tür, um zu fragen, ob Mutter dies oder das schon eingenommen, gegessen und getrunken habe.
Während sie genervt die Augen rollte, fand ich das fundamental gut. Nichts blieb außer Kontrolle. Wie fein ist das denn. Ich mit meinen knapp 60 Jahren vergesse ja schon laufend, die Blutdrucktabletten einzunehmen …
*
Apropos, ich dreh erneut um. Diesmal muss ich durch den Schuppen gehen. Schlüssel ist ja nicht mehr. In der Küche wedelt Karina mit dem Zettel in der Hand.
„Mama, was soll das?!“, guckt sie streng über ihre Brille, während ich in der Schublade nach meiner neuen Hunderter-Packung-Tabletten schiele und schon den Rückmarsch antrete.
„Das kannst du doch nicht machen?! Übermorgen ist der Termin beim Notar! Und in 10 Tagen Papas Beerdigung!! Wo bitteschön willst du hin, Mama?“
Karinas Stimme wird schriller: „Komm sofort zurück!“
Der Satz klingt entlarvend nach Lehrerin, die einen Flegel von Schüler zur Räson ruft! Sie vergriff sich mir gegenüber eindeutig im Ton.
Heute kann und will ich das nicht diskutieren, wobei ..., war sie eigentlich jemals liebenswürdig gewesen? Ich meine am Stück und vor allem mir gegenüber?
Bei diesem Gedanken bin ich schon an der Gartenpforte. Während meine Tochter in der offenen Tür verharrt, beide Hände in ihre ausladenden Hüften gestemmt, springe ich ins Auto und starte mit quietschenden Reifen. Immer in der Angst, am Ende hier doch nicht wegzukommen.
Vielleicht bin ich wirklich nur eine arme Irre, wer weiß.
Ich werde es wohl drauf ankommen lassen müssen.
*
Die Schweine scheppern mit mir über die gepflasterte Landstraße.
Ich nehme das jetzt mal als Applaus für meinen gepfefferten Abgang und muss tatsächlich lächeln …
2Weit komm‘ ich allerdings nicht.
Mein uralter Golf hat bereits ein paar Minuten später am alten Marktplatz seinen Geist aufgegeben. Es machte tüff-puff-tüffff-ffff…
Mitten auf der Straße blieb der Wagen stehen.
Bäcker-Gundel kommt sofort rüber gerannt, um mir zu helfen. Sie besitzt ein ähnlich altes Vehikel. Mehrfach haben wir an der Tanke über unsere Schrottkarren gelästert. Uns war klar, woran es lag.
„Zündkerzen! Wird immer schlimmer mit den Dingern und passiert immer öfter …“ ächzte sie, während wir den Wagen vor die Feuerwache gegenüber schoben.
Hinter dem Fenster im Pförtnerbereich winkte uns Gitti zu. Ihr hatte ich vor kurzem die Kühltruhe mit den Fischleichen für die Tombola versprochen.
Jeder, der mich kennt, weiß, dass ich meine Versprechen halte. Per Handzeichen signalisierte ich, dass sie mich anrufen soll.
Noch bevor ich spontan in den gerade eintreffenden Bus nach wo auch immer steige, ruft sie aufgeregt zurück und fragt, wie lange ich den Pkw zu parken gedenke.
Ihr appellierendes „Doris, du stehst im absoluten Halteverbot!“ beeindruckt mich nicht sonderlich. Ich habe ein verführerisches Gegenangebot: „Gitti, wenn du den Wagen für mich irgendwie aus der Gefahrenzone ziehst, kriegt die Feuerwehr für euer neues Spritzenhaus fünf prall gefüllte Fischtruhen von mir. Kannste gleich abholen lassen. Karina ist im Haus! Tschüss!“
Ich denke, das geht soweit in Ordnung. Ist ja auch astreiner Fisch!
Wer will den nicht haben - außer mir?
*
Da ich nicht weiß, wohin ich genau will, hab´ ich der Einfachheit halber bis Endhaltestelle bezahlt und nutze die Zeit zum Gedankensortieren für ein erstes Resümee: Ich bin tatsächlich auf einem imaginären Weg, um zumindest nicht sofort wieder umkehren zu müssen, attestiere ich mir mutig. Na also, Doris, nu mach was draus, denn:
Ist der Ruf erst ruiniert, lebt sich`s völlig ungeniert!
Claras Worte …
*
Langsam wurde es dunkel.
Wir fuhren schon eine Ewigkeit durch gesichtslose Straßen und hielten schließlich am Ende einer Sackgasse vor einem riesigen eingezäunten Feld. Gleißendes Scheinwerferlicht ringsherum.
Der Fahrer beißt genüsslich in ein Brot, als ich ihm von hinten auf die Schulter klopfe.
„Meine Güte, Sie haben mich ja fast zu Tode erschreckt!“
Er zermalmt ein Salatblatt wie eine Kuh, langsam und bedächtig, sodass ich echte Zweifel an seiner Aussage hege. Monsieur hat mich einfach vergessen oder übersehen im Bus. Und nun weiß er nicht so recht, wie er diese blasse Person hier im Halbdunkel loswerden kann.
Das ist alles.
Am liebsten hätte ich ihn um ein Stückchen Brot gebeten. Und ein Schluck aus seiner Thermoskanne wäre auch nicht schlecht.
Stattdessen steige ich einfach aus, schultere meine Schweinchen im Rucksack und laufe schnurstracks an der Umzäunung entlang.
Als ob genau dies mein Plan war, was natürlich kompletter Blödsinn ist.
In der nächsten halben Stunde stolpere ich entweder über Maulwurfhügel oder trete in ofenrohrartige Kaninchenbauten. Eine scharfe Rechtskurve führt durch ein Waldgebiet. Als ich schon glaube, eine Höhle zum Übernachten bauen zu müssen, öffnet sich eine breite Lichtung direkt vor mir. In einiger Entfernung kann ich das Eingangsportal eines Flughafengebäudes erkennen.
Ich traue meinen Augen kaum! Wow!
*
Offensichtlich habe ich mein erstes Ziel erreicht. Ich denke, ich sollte fliegen. Wohin weiß ich zwar nicht - anscheinend das Credo dieses bis jetzt einzigartigen Tages -, aber ich könnte ja mal einen Blick hineinwerfen.
In der Halle alles öde und leer. Die Anzeigentafeln sind abgeschaltet. Überhaupt scheint das Gebäude sehr übersichtlich zu sein.
Durch bodentiefe Fenster erblicke ich eine Handvoll kleinerer Flugzeuge auf dem Rollfeld. Wo bitteschön bin ich hier gelandet? Ein Privatflughafen? Bundeswehrgelände?
Nee …, dann wäre es verbarrikadiert und mannshoch mit Stacheldraht umzäunt. Auf einem Wachturm würden patrouillierende Soldaten stehen und ich jetzt direkt vor meiner Nase in eine Gewehrmündung blicken, verbunden mit der lautstarken Aufforderung, mich gefälligst auf den Boden zu legen und die Hände über den Kopf zu kreuzen.
Habe ich alles im Fernsehen gesehen…
*
Hier passiert zunächst gar nichts. Es ist derart leise, ich höre meine Absätze auf dem Steinboden klackern. Am liebsten würde ich ‚Hallo, ist da jemand?‘ rufen. Ich heb´ s mir für später auf, klingt irgendwie kindisch.
Bus oder Taxi stehen auch nicht vorm Gebäude.
Plan B kann ich damit vergessen.
In einiger Entfernung schieben uniformierte Raumpfleger ihre Wagen und wischen mit rot-weißen Plastikbändern abgetrennte Flurbereiche.
Am Ende der Halle entdecke ich dann doch noch eine Traube normal gekleideter Menschen vor einem Schalter.
Statt einer Lesehilfe habe ich mitten im Winter interessanterweise meine Sonnenbrille mitgenommen. Mein Hirn schien mit Wunschgedanken schon einen Schritt weiter zu sein …
Mit zusammengekniffenen Augen buchstabiere ich mühsam: Ticketschalter. Das klingt erst mal gut.
Auf dem Klo versuche ich mit meiner Nagelfeile Geld aus meinem größten Schwein zu fischen, bis mir das Bündel zwischen Socken und Unterhosen einfällt.
*
Die Menschentraube ist verschwunden. Eine junge Dame in blau-weißer Uniform und Headphone redet offensichtlich mit einem Angestellten. Nebenher hackt sie auf ihrem Handy herum.
„Nur die vom Catering fehlt noch!“ Sie stoppt und sieht hoch.
„Warte …, es steht jemand vorm Schalter!“
Per Handzeichen wedelt sie ein „Passport Mam“ entgegen. Während sie auf mein ehemals schlankes Gesicht in den 90-ern schaut, redet sie pausenlos mit wem auch immer ...
Meine schüchterne Frage „Wo geht’s denn hin?“, beantwortet sie mit fehlinterpretiertem: „Da drüben entlang, Mam! Beeilen Sie sich. Sie sind spät dran!“
Eine weitere Uniform kontrolliert mich.
Zuerst sollen meine Schweinchen übers Band hoppeln, aber dalli. Kaum habe ich die niedlichen Dinger durch den Scanner in meinem Rucksack erkannt und hätte gern‘ ein Foto davon, reißt eine ältere Dame meine Arme hoch, um mich einer Leibesvisitation zu unterziehen. Es hat gepiept. Und zwar ausgiebig. Ich muss mich entblättern. Erst meine Gürtelschnalle, dann meine Schuhe.
Eisenstängchen im BH beäugt sie kritisch, danach will sie meinen Schmuck. Ich habe alles mitgenommen, weil ich mich in der gebotenen Eile nicht entscheiden konnte. Es liegt auf einem Haufen wie beim Pfandleiher. Unter ihrem strengen Blick werden die Sachen gebeamt. Als sie mit forscher Handbewegung auffordert, meine gedrehten bunten Kopftücher abzulegen und mir einen Plastikkasten zur Aufbewahrung hinwirft, protestiere ich.
Ich weiß noch nicht mal, wohin es geht und ob ich das überhaupt will, und werde mich darum erst recht nicht völlig nackig machen.
Was habe ich in der Vergangenheit darum gekämpft, als Person mit diesem Trümmerfrauenlook, wie sie es bezeichneten, halbwegs akzeptiert zu werden. Selbst mein Mann dachte anfänglich, dass ich den ‚Kopp‘ voll Tücher trage wegen des ewig ungemütlichen Wetters an der Küste.
Überhaupt: So langsam werde ich wütend. „Zum Mitschreiben; das ist nicht praktisch, das ist mein Schmuck!“
Eine Kollegin kommt zu Hilfe und erklärt, als Ausnahme dürften nur religiöse Gründe geltend gemacht werden, um die Abnahme einer Kopfbedeckung zu verweigern.
Na bitte, da haben wir’s ja:„Meine Tücher sind meine Religion!“
Die Auslegung gefällt mir. Ich nicke bestätigend und blicke stoisch entschlossen. Das kann ich gut.
Die Uniformierte schaut mich an, als ob sie in Erwägung zieht, die Security zu rufen. Wahrscheinlich ist niemand mehr im Haus. Überrumpelt, wie sich beide fühlen, passiert nix.
Flugzeuglärm macht jede weitere Unterhaltung unmöglich. Dabei hätte ich jetzt wenigstens gerne gewusst, wohin ich fliege.
Okay, ich werde das wohl hinnehmen müssen. Scheint keine gute Idee, um diese Zeit durch den Wald zurückzulaufen und meine Reise neu zu überdenken.
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Eine Stewardess schleust mich wortlos weiter. Mit verkniffenem Mund wird mir von knochigen kleinen Händen ein VIP-Bändchen „Klimaschutz- Kongress-Catering“ um den Arm gebunden. Ehe ich protestieren kann, werde ich unsanft in einen Bus hineingedrückt.
Kurze Zeit später öffnen sich geräuschlos zwei Flügeltüren. Und weiter geht’s die Stufen einer Gangway voran in den Körper des großen gelben Vogels. Eine Stewardess hält mir ein Stück Herzschokolade vors Gesicht, die nächste dirigiert mich an ausgestreckten Hälsen vorbei in die letzte Reihe. Die Türen schließen sich, Lichter gehen aus, noch ehe ich mich beruhigen und sammeln kann.
Die Ansage über meinem Kopf erfolgt zweisprachig. Ganz allein sitze ich neben meinem Rucksack, als der Kapitän die Gäste vom ‚Klimaschutz-Kongress‘ zu ihrem Heimflug beglückwünscht. Man flöge mit Verspätung und werde bei ausreichender Sicht in 55 Minuten landen.
„Schönen Flug und beehren Sie uns bald wieder“, habe ich mir hinterher zusammengereimt, um meine Nervosität in positive Bahnen zu lenken.
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Die Stewardess lässt ihr perlweißes Gebiss vor mir aufblitzen: Ob ich zum Sushi vielleicht auch ein Glas Champagner serviert haben möchte? Pikiert schaue ich aufs Tablett: Ob ich vielleicht nur eine Boulette und einen Kaffee haben könnte?
Sushi bekanntermaßen ein ‚No go‘ für mich. Dann hätte ich ja auch gleich zu Hause bleiben können. Fisch habe ich selber genug.
Es bleibt daher bei einer Tüte kunterbunter Smarties. Hab ich seit meiner Kindheit nicht mehr gegessen. Knackt unaufhörlich. Als ich in das glänzende Metall über mir schaue, habe ich blaue Zähne und Zunge wie ein Vampir.
Die Leute um mich herum sind bester Stimmung. Sie parlieren chaotisch durcheinander wie im Kindergarten. Am ehesten klingt es italienisch.
Ich versuche es mit Logik und konstatiere: Da sie anscheinend alle so sprechen, werden wir wohl auch dort hinfliegen …
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Die Frage aller Fragen ist für mich jetzt bloß: Ist was Alpines dabei oder geht´s wieder ans Wasser…? Ich will‘ s nicht überstrapazieren, aber von da komme ich gerade, und da gibt’s für mich ´ne Menge ungebetener Meeresbewohner. Ich bin mir sicher, in nächster Zeit kein dementsprechendes Restaurant betreten zu können. Auch wenn die Ware superfrisch ist und nachhaltig gefangen.
Scheißegal … es ist Fisch!Bähhh!
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Ganz ehrlich? Langsam habe ich die Schnauze gestrichen voll. Das kann passieren, auch so plötzlich. Habe ich alles gelesen in der Apothekenzeitschrift. Eines ist sicher: Wenn man ernst zu nehmende Signale großzügig übersieht, kann ´ne Menge passieren.
Wie bei mir heute Morgen…
Als ausflippen hätte man es früher bezeichnet, heute heißt das wohl
eher ‚Burn-out‘. Jeder hat das irgendwann im Laufe seines Lebens: Burn-out ist absolut ‚IN‘!
Hab‘ ich das auch … oder ist das, was ich erlebe, einfach nur das berühmte Tüpfelchen auf dem sprichwörtlichen ‚I‘?
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Im Apothekenblatt war von einem Fall die Rede, wo eine Frau urplötzlich - also von einem Moment zum anderen - ihren Mann verließ, nachdem der Gatte beim Blick in den Kühlschrank „Barbara, der Senf ist alle!“ von sich gab.
Ich weiß noch, dass mich das beschäftigt hat, weil … Hallöli??!
In einer 20-jährigen Ehe muss Barbara doch wohl sehr viel mehr passiert sein als dieses leere Senftubengedöns!
Natürlich nur rein hypothetisch überlegte ich: Hätte es einen ähnlichen Anlass für meine Ehe gegeben?
Zunächst fiel mir nix ein, aber dann wars, als ob man eine Tür öffnete, hinter der eine Lawine sich unaufhaltsam ihren Weg bahnte und mich unter sich begrub: Fische, Fischberge, Leichen, aufgequollene Leiber, Gräten, Innereien, milchig tote Augen … wohin man blickte.
Komisch…, ich hatte diesen Albtraum schon des Öfteren und mich nie gefragt, ob ich dagegen etwas tun müsse.
Das Ende des Traums zeigte übrigens immer das gleiche Szenario:
Während ich bis zum Hals im Fischschlamm steckte und keinen Ton mehr rausbrachte, lag mein Mann draußen am Swimmingpool und bestellte sich einen Cocktail.
Es hätte mir zu denken geben müssen. Zumindest sehe ich das so aus jetziger Perspektive. Dann säße ich womöglich nicht hier, sondern beim Therapeuten. Ich denke mal… wie immer allein. Hubert war ja beim Angeln.
Mensch Doris, mahne ich mich zu etwas mehr Konzentration: Hubert ist tot, … der kann nicht mehr angeln!
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Ich war ein wenig weggedöst, als mir Missis Bleaching - mit Zähnen wie ein geöffneter Implantat-Kasten - einen dampfenden Kaffee vor die Nase hielt. Während ich vorsichtig am heißen Getränk nippe, registriere ich, dass ich hier eingezwängt wie ich war, zumindest das erste Mal wieder in Ruhe nachdenken kann: Also … Berge wären schon schöner!
Wenn´s ginge und sich das ganze Unternehmen nicht ohnehin gleich in Luft auflösen würde, setze ich kleinlaut hinzu.
Ich meine, irgendjemand muss sich ja geirrt haben mit mir und dem VIP-Armband. Und… bisher habe ich nichts bezahlt. Ich bin zwar noch nie geflogen, aber es kommt auch keiner um an Bord zu kassieren.
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Schließlich beginnt der Sinkflug.
Erst ganz zum Ende hat es mich verzaubert, dieses hinreißende Bild der wunderbaren Formation von vorbeiziehenden Wolken.
„HALT!“ hätte ich beim nächsten Blick aus dem Fenster am liebsten geschrien. Das kenne ich! Alles schon auf meinem Lieblingssender gesehen. Die Art der Parzellierung, diese einzigartige Anordnung einer Inselstadt! Eine Stadt mit Kanälen statt Straßen. WOW!Filmkulisse über 24 Stunden, und das tagtäglich!
Venedig von oben, die Lagunenstadt mit dem Canale Grande. Die vielen Gaslaternen: Alles in melodramatisch trübes gelb-orangenes Licht getaucht! Da drüben der Altstadtturm am Markusplatz. Fehlen nur noch tausend Tauben, die ich mal abgesehen vom Abendlicht so weit oben ohnehin nicht erkennen würde. Vielleicht schlafen sie auch schon, wer weiß.
Der Flieger macht eine Schleife, verliert rasant an Höhe und Schwupps ist alles weg.
Die Landung ist derart hart, es rattert, quietscht und rumst überall. Ich fühle mich wie ein Hamster im Staubsauger, mein Körper bebt.
Als wir endlich stehen, schau‘ ich mich vorsichtig um. Okay, es scheint auch für andere ein paar Turbulenzen gegeben zu haben. Niemand klatscht, und das tun sie doch in Flugzeugen immer, wenn die landen. Hat mir Gundel von Bäcker Petersen ungefragt erzählt. Deren Cousine aus Berlin fliegt öfter.
Unverdautes Sushi liegt allerdings nicht in den Gängen. Demnach bin ich doch etwas sensibler als der Rest der Passagiere, die im englischen immer ‚Pessenjärs‘ genannt werden, was ich viel schicker finde.
Wenn ich was zu sagen hätte, würde ich im Übrigen niemals so einen Fraß für einen Flug ordern. Bei mir gäbe es Kartoffelsalat mit Bockwurst oder Leberkäse im Brötchen. Das kennt jeder.
Und deshalb kann man sich nebenher auf was anderes konzentrieren. Zum Beispiel Wolken zählen und … apropos: in Ruhe die Aussicht genießen.
Die launige Ansage vom Käpt´n höre ich nur ansatzweise. Ich schwelge in Erinnerungen, denke an ‚Casino Royale‘ und ‚Wenn die Gondeln Trauer tragen‘.
Vor mir lärmt und quatscht erneut alles durcheinander. Dieser Klima-Kongress erinnert mich irgendwie an einen Kegelklub!
Wie auf Kommando zerren sie ihr Handgepäck aus den Boxen und stürzen laut lamentierend Richtung Ausgang, während ich immer noch schwer beeindruckt im Sessel sitze. Was für eine Überraschung! Mir kommen fast die Tränen: Ich bin tatsächlich in Venedig!
In einem Augenblick der Sentimentalität würde ich jetzt gerne jemanden anrufen. Aber wen? Ohne ihn zu verwirren, verärgern oder mich einfach bloß als meschugge bezeichnen zu lassen …
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Hubert hätte mich zumindest nicht für ‚Gaga‘ erklärt.
Hier gibt’s genügend Wasser, das wäre eine Option. Er würde mich ‚Hundert-pro‘ als erstes fragen, welchen Fisch es hier zu angeln gäbe.
Mein erster Besuch wäre ebenfalls vorprogrammiert: nicht etwa die Kathedrale, die Basilika oder die Piazza San Marco, sondern ´ne alte Fischhalle. Von der und ihrem Inhalt müsste ich ihm reichlich Aufnahmen schicken: Sämtliche Fische, Größe, Gewicht, Farbe … und die Kiemen nicht zu vergessen.
Ich brauche nicht drüber nachdenken:
Hubert ist TOT…
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Auf dem Weg in die frische italienische Luft schwöre ich mir insgeheim, dass ich bei diesem Abenteuer sofort aufhöre, an gestern und vorgestern zu denken.
Ich verschreibe mir ein Morgen, das mir ganz allein gehören soll.
Ob das geht, werden wir ja sehen …
3 Ganz so einfach wars dann doch nicht für mich.
Man hatte schon noch eine Erwartung an die Dame vom Catering und wohl auch jemanden gebucht, der mehrsprachig unterwegs ist und versorgt.
Auf ihre Koffer wartend, staute sich die wabernde Menschen-Traube vor den Gepäckbändern, während ein hochgewachsener Herr in der Halle eine Fahne ‚Klimaschutz-Kongress‘ in meine Richtung hielt und unaufhörlich winkte.
Ich weiß nicht, von wem er die Information hatte, dass ich mit diesem Verein zu tun habe, nur hinter mir stand niemand mehr. Ich war allein mit Rucksack plus verräterischem Band am Handgelenk. Als ich mich möglichst unauffällig bemühte, dieses lästige Plastikteil loszuwerden, erschien die Sushi-Stewardess mit der Bitte, ihr zum Ausgang zu folgen. Es wurde eng.
Das Programm der italienischen Delegation schien entgegen meiner Vorstellung zu diesem Zeitpunkt keineswegs beendet.
Der aufgeregt winkende junge Mann war vom Landespressebüro.
Umständlich stellte er sich vor, erst auf Italienisch, Englisch, schließlich in holperigem Deutsch.
„Scusi, Madame, isch bin von die Presse. Leider hab isch die Adresse für die abschließende Bankett vergessen. Scusi, dürfte ich wohl in ihre Buuus mitfahre? Grazie!“
Hut lüftend, lächelte er charmant und küsste mir die Hand. Sehr galant das alles und ich äußerst deplatziert in meinem Camper-Chic aus Jeans, Anorak plus Rucksack.
Wie kam ich aus dieser Nummer bloß wieder raus?
Am liebsten wäre ich jetzt umgefallen: Liegenbleiben, bis der Krankenwagen kommt. Womöglich würde mir auf dem Weg Richtung Klinik etwas Gescheites zur Rettung der Situation einfallen. Nur welcher Umstand sollte meine ‚Doris-Daseinsberechtigung‘ herbeizaubern?
Eigentlich gab´s nichts außer Flucht.
Im Fernsehen brachten es pfiffige Knast-Akteure immer fertig, sich mittels Krankentransports die Flucht zu ermöglichen.
Ob ich die Coolness für den richtigen Moment hätte? Ich müsste es ausprobieren.
Gerade als ich die Luft anhielt, um bis 100 zu zählen, um dann kommentarlos umzufallen (vor Urzeiten in der Schule vor einer Mathearbeit erfolgreich konzipiert), passierten die Trolley-behängten Delegierten die Absperrung. Mein neuer Pressefreund stürmte mit Mikrofon und Kamera hinterher.
Was soll ich sagen? Job ist Job, und meiner wars nicht.
Ich packte meine Schweinchen auf den Rücken und verschwand leise weiterzählend Richtung Ausgangsportal.
Die doppelwandige Tür verschluckte mich in ein stickiges Zwischenräumchen, um mich Sekunden später in die abendlich warme, weiche Venedig-Luft auszuspucken: Geruch von Oleander, Vanille, Patchoulie, was auch immer!
Ich hätte springen mögen wie ein Känguru, mir laut auf die Brust trommelnd wie ein Orang-Utan samt Tarzanschrei!
Es gab mir einen nie zuvor gespürten Hauch von Großartigkeit …
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Am Firmament meinte ich, ein paar Sterne entdecken zu können und war überglücklich.
Mein Leben in den letzten 24 Stunden sprach zumindest rational gesehen völlig dagegen. Außer man impliziert, dass die Rucksacktante womöglich verrückte Tendenzen aufweist und Doris Freytag deshalb hier und heute eine Art Freifahrtschein genießt.
Es wäre ihr zu wünschen, dass sie sich irgendwie wieder einkriegt und möglichst schnell in die Spur schiebt.
So´ n Abgang macht sich als schadenfrohe Anekdote ausgesprochen gut und bleibt für ewig in den Köpfen der Leute.
„Das ist doch die Doris…die ihren toten Mann in der Gerichtsmedizin Zweitausend-und-irgendwas liegenließ, um nach Italien abzuhauen. Konnte der feinen Dame gar nicht schnell genug gehen, hört man. Soll da einen jungen Lover oder zwei gehabt haben. Man sagt, sie war ein ziemlicher Feger … blabla-labersülz!“
Läuft ähnlich ab wie bei der ‚Stillen Post‘. Jedes Öhrchen hängt einfach seine Lieblingsversion von einer kleinen Schlampe hintendran. Selbst ein unnatürlicher Tod ist da selbstverständlich nicht auszuschließen.
„Ich will ja nichts gesagt haben, man hört nur so einiges. War ein netter sympathischer Kerl. Ist hier geboren. Ich kenne seine Eltern noch. Hat immer freundlich gegrüßt.
Sie kam ja von woanders. Fühlte sich wohl als was Besseres, hat nie mit jemandem geschnackt. Hätte der Junge sich mal lieber die Tochter von Grill-Hannes genommen, das wäre ihm besser bekommen.
Gift im Kaffee der Thermoskanne … und der arme Hubert stürzt beim Angeln im seichten Gewässer der Länge nach hin und konnte sich nicht mal mehr wehren …“.
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Ich war durchaus bereit zu bekennen, dass etwas in mir nicht stimmte. Als würde ich neben dem Menschen stehen, der ich einmal war.
Okay, eine Meise hat jeder, aber es kann einem passieren, dass aus dem possierlichen Vögelchen ein Raubtier wird, das einen im Innern auffrisst.
Und … merkt oder spürt man das?
Diesbezüglich war mein tiefes Seufzen eher pathetischer Natur: