Blinder Galerist - Johann König - E-Book

Blinder Galerist E-Book

Johann König

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Beschreibung

»Die Bilder, die im Kopf entstehen, sind genauso wichtig wie die Bilder an der Wand.« Wie kann man sich Kunst erschließen, wenn man sich auf seine Augen nicht verlassen kann? Was ist Sehen überhaupt, wenn die Welt um einen herum verschwimmt? Johann König, einer der wichtigsten deutschen Galeristen, verliert als Kind durch einen Unfall fast vollständig seine Sehkraft. In seinem Buch beschreibt er, wie es ihm gelang, die Welt und die Kunst neu wahrzunehmen. 

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Blinder Galerist

Die Autoren

Johann König, geboren 1981, ist ein deutscher Galerist. Seine Berliner Galerie gilt als eine der wichtigsten der Gegenwartskunst in Deutschland. Für 99 Jahre pachtete er die in den sechziger Jahren erbaute St.-Agnes-Kirche in Kreuzberg und ließ sie drei Jahre lang renovieren. Seit 2015 üben dieser spektakuläre Ausstellungsraum und die darin stattfindenden Ausstellungen eine große Anziehungskraft auf Kunstinteressierte und Kunstsammler aus. Zu den Künstlern der Galerie zählen u.a. Monica Bonvicini, Katharina Grosse, Jeppe Hein, Michael Sailstorfer, Norbert Bisky und Erwin Wurm.
Daniel Schreiber, geboren 1977, ist als Kunstkritiker für verschiedene internationale Zeitungen und Magazine tätig. Er ist Autor der Susan-Sontag-Biografie „Geist und Glamour“ (2007), sein hochgelobter persönlicher Essay  „Über das Trinken und das Glück“ wurde 2014 zum Bestseller. Er lebt in Berlin.

Das Buch

Andy Warhol, Isa Genzken, On Kawara, Rosemarie Trockel – von Kindheit an ist Johann König umgeben von großen Künstlern und ihrer Kunst. Mit zwanzig gründet er eine Galerie, obwohl er kaum etwas sieht.Was bedeutet es, nicht sehen zu können und Galerist zu werden? Wie kann man sich Kunst erschließen, wenn man sich auf seine Augen nicht verlassen kann? Was ist Sehen überhaupt, wenn die Welt um einen herum verschwimmt? Als Kind bekommt Johann König von Gerhard Richter Indianerkassetten geschenkt. Sein Vater Kasper nimmt ihn mit in die Städelschule und nach New York in das Atelier von Jeff Koons. Ein tragischer Unfall mit zwölf Jahren wirft ihn komplett aus der Bahn. Am tiefsten Punkt erkennt er, dass Kunst seine Rettung ist. In einer Betonkirche aus den Sechzigern betreibt er heute eine der spektakulärsten Galerien Deutschlands.

Johann König und Daniel Schreiber

Blinder Galerist

Ullstein

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ISBN: 978-3-8437-2017-5© 2019 by Ullstein Buchverlage GmbH, BerlinAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: Sabine Wimmer, BerlinUmschlagabbildung: Lukas Gansterer, WienE-Book-Konvertierung powered by pepyrus.com

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Inhalt

Die Autoren / Das Buch

Titelseite

Impressum

Widmung

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Dank

Bildteil

Social Media

Vorablesen.de

Cover

Titelseite

Inhalt

Widmung

Widmung

Für Greti, Karli, Rita und Franz und für Lena

1

Vor einer riesigen Anzeigetafel auf dem Flughafen London Heathrow versuche ich herauszufinden, von welchem Gate mein Flug nach Miami geht. Ich muss zur Art Basel Miami Beach. Die Kunstmesse am sonnigen Strand der Ostküste Floridas findet jedes Jahr Anfang Dezember statt. Wobei man als Galerist von Sonne und Sand wenig mitbekommt, stattdessen viel von Neonlicht und Betonböden. Sie stellt nicht nur den Abschluss des Jahres für die internationale Kunstkarawane dar, sie ist auch eine der wichtigsten und umsatzstärksten Messen der Welt. Wenn man sich auf dem globalen Kunstmarkt behaupten will, ist die Anwesenheit in Miami Pflicht – zumindest wird das einem suggeriert. Seit siebzehn Jahren gibt es die Messe, seit fünfzehn Jahren bin ich mit meiner Galerie dabei.

Allein zu reisen ist anstrengend. Ich brauche einfach viel länger, um mich zu orientieren. Die Ansagen des Flughafens, Warnungen, das Gepäck nicht unbeaufsichtigt stehen zu lassen, die Stimmen der Menschenmassen um mich herum, in vielen Sprachen. Einige der Leute rempeln mich an, während ich nach meinem Handy greife, um ein Foto von der Anzeigetafel zu machen. Manchmal gelingt es mir, mit meinem einen, noch sehenden Auge die Tafel systematisch abzusuchen und Abflugzeit, Flugsteig und etwaige Veränderungen des nächsten Flugs so zu erkennen. Ich muss dann nur ganz nah herantreten und mich anstrengen. Da ich auch in diesem Auge keine Pupille mehr habe, ist es möglich, meine Brille ganz weit nach vorne auf die Nase zu schieben und sie als eine Art Lupenglas zu benutzen. Abflugzeit, Airline, Gate. Ich kann sehen: Das ist diese Information, das diese, und dann auch, links, rechts, wo muss ich lang.

Heute muss ich die Anzeigetafel abfotografieren und das Foto auf meinem Smartphone großzoomen, um mich zurechtzufinden. Oft liege ich beim Abfotografieren auch daneben. Es gelingt mir nur selten beim ersten Versuch. Meistens fotografiere ich eine der falschen Spalten ab, bin zu weit oben oder zu weit unten gelandet. Das hängt auch stark von den Lichtverhältnissen und vom Abstand zur Anzeigetafel ab. Manchmal ist das Foto unscharf, das bringt dann auch wieder nichts. Auch das Zoomen selbst ist nicht einfach, oft sorgt die kleinste Handbewegung dafür, dass ich den Fokus verliere.

Wenn ich dann weiß, dass ich zu Terminal A, B oder C muss, – muss ich das erst einmal finden. Das geht schon alles irgendwie, aber ich brauche einfach länger, und das liegt mir überhaupt nicht. Die Situation wird dadurch erschwert, dass die meisten Menschen nicht erkennen können, dass ich schlecht sehe. Manchmal bitte ich um Hilfe. Nur kann man sich nicht immer auf die Hinweise anderer Leute verlassen, oft vertun sie sich auch, was in Situationen wie dieser katastrophale Auswirkungen hätte. Den Flug zu verpassen hieße, die Messeeröffnung und die Preview für die Sammler zu verpassen, auf der man für gewöhnlich den Großteil seines Umsatzes macht. Ich muss manchmal daran denken, wie ich eine Zeit lang Touristen in Berlin konsequent in die falsche Richtung geschickt habe. Das fand ich damals sehr lustig. Wenn man auf der anderen Seite steht, ändert sich die Perspektive darauf natürlich.

Irgendwann weiß ich, wo es langgeht. Das kann eine Weile dauern, deswegen nehme ich mir immer wieder vor, für jede Reise mehr Zeit einzuplanen – mehr Zeit zwischen den Flügen, mehr Zeit am Flughafen. In der Regel gelingt es mir nicht, dann ist es ein großes Gehetze. Beim Einsteigen weise ich mit einem Fingerzeig auf meine Augen und bitte darum, vorgelassen zu werden. Meist ist es dann nicht nötig, meinen Behindertenausweis vorzuzeigen, der mir oft das Anstehen erspart, was mir ebenfalls nicht liegt. Auf Mitmenschen, die in solchen Momenten nicht gleich sehen, dass ich eine Behinderung habe, wirkt es daher bisweilen so, als würde ich mich rüpelhaft vordrängeln und ohne Not eine Extrabehandlung einfordern. Dieser Eindruck wird dabei noch einmal ausgesprochen negativ verstärkt, da ich wegen meines eingeschränkten Blickfeldes und des fehlenden räumlichen Sehens schon mehr Leute angerempelt habe oder ihnen auf den Fuß gestiegen bin als der allergrößte Teil der übrigen Menschheit. Ganz zu schweigen von den zahlreichen Dingen, die schon zu Bruch gegangen sind, da ich sie fallen gelassen oder ungeschickt benutzt habe oder da ich einfach gegen sie gelaufen bin – von dem antiken Billardtisch eines großen deutschen Verlegers bis hin zu der mehrere zehntausend Euro teuren Armbanduhr eines Bekannten. Dass mich überhaupt noch eine Haftpflichtversicherung unter die Fittiche nimmt, kann ich nur mit Dankbarkeit quittieren.

Es ist mühsam, meinen Sitzplatz im Flugzeug zu finden. Die Flugbegleiter schicken einen freundlich in die richtige Richtung, aber das ist alles, und die Beschriftung über den Sitzen ist so klein, dass ich so dicht an die Konsole herantreten muss, dass ich sie fast mit der Nase berühre.

Irgendwann sitze ich auf meinem Platz und stelle mich auf die zehnstündige Flugzeit ein. Einige Leute sehen und grüßen mich, als müsste ich sie kennen. Allerdings weiß ich bei einigen nicht, wer sie sind, weil ich Leute schlechter erkennen kann, sobald ich ihnen nicht in ihrem eigenen Umfeld begegne. Mir ist bewusst, dass sie auch auf die Messe wollen, schließlich sitzen wir im selben Flieger, deshalb grüße ich mit großer Geste jeden zurück.

Wenn ich auf meinem Platz sitze, schaue ich sofort die E‑Mails durch, die reingekommen sind, seit ich aus dem Taxi gestiegen bin. Viele Menschen können ja im Flugzeug meditieren, das bewundere ich, aber ich schaffe das nie. Dann beginne ich, mich auf die Messe vorzubereiten und noch einmal die Fotos und Beschreibungen aller Werke durchzuschauen, die wir sechs Wochen zuvor per Seefracht verschickt haben. Galeriemitarbeiter sollten sie mithilfe in Miami ansässiger Speditionen schon in unserem Messestand installiert haben. Darunter befinden sich Werke von Künstlern, die teilweise schon seit der Gründung der Galerie im Jahr 2002 dabei sind. Sie sind zu Weggefährten und zu international bekannten Künstlern geworden. Die zwei Meter große und drei Meter lange Parallel Sine Curve des Dänen Jeppe Hein ist unter den Arbeiten, die wir auf der Messe zeigen – ein raumgreifender Parcours aus polierten Edelstahlstreben, der die Betrachter wie magisch anzieht und zur Interaktion anregt. Ein philosophisch untermauertes Gold-und-Silber-Bild von Jorinde Voigt, konzeptuelle Abstraktion voller Poesie. Eine Installation aus der Serie Hemmungsloser Widerstand der in Polen geborenen Künstlerin Alicja Kwade, eine Komposition aus Steinen und Glas, die trotz ihrer Zartheit und Stille das Gefühl vermittelt, dass sie jeden Augenblick zerbrechen könnte. Wir zeigen aber auch die Werke des Fotografen Andreas Mühe, Skulpturen der Schweizerin Claudia Comte sowie großformatige Zeichnungen des Belgiers Rinus van de Velde, die ich erst kürzlich für die Galerie entdeckt habe. Es gibt wahrscheinlich Schlimmeres, als aus dem Berliner Winter ins warme Florida zu fliegen, denke ich. Messehalle hin oder her.

Unsere Gesellschaft ist eine Gesellschaft der Sehenden. Alles um uns herum ist auf das Sehen aufgebaut. Das versteht man erst, wenn man nicht mehr oder schlecht sieht. Unser ganzes Leben hängt vom Sehen ab. In diesem Sinne sind Blindheit und Sehbehinderung – wie jede andere Behinderung auch – zunächst eine Kategorie sozialer Ungleichheit. Um ein gleichberechtigtes Mitglied unserer Gesellschaft zu sein, muss man konkrete physische Voraussetzungen erfüllen – das Sehen ist eine Hauptvoraussetzung dafür. Es ist kein Zufall, dass die Denker der Aufklärung ihre Ideen von Erkenntnis und Rationalität mit Licht- und Sehmetaphern illuminierten, ihre Gedanken zur Unmündigkeit des Menschen aber mit Bildern von Blindheit und Dunkelheit beschrieben. Daran hat sich bis heute kaum etwas geändert. Wie auch. Über Blindheit wird selten gesprochen, sie wird von den meisten Menschen nicht reflektiert, schlicht weil sie davon nicht betroffen sind. Schon seit Jahrhunderten werden Blinde entweder mit negativen Stereotypen des Mitleids oder gar der Bedrohung beschrieben oder aber mit Stereotypen der Bewunderung, wenn es um die besonders selbstständigen, besonders brillanten Blinden geht, die trotz ihrer Behinderung über sich hinausgewachsen sind und viel erreicht haben. Arme Figur oder Superheld, andere kulturelle Bilder gibt es nicht. Für den normalen Blinden oder Sehbehinderten, für seinen Alltag und sein Leben, gibt es kein gesellschaftliches Bild.

Natürlich ist Blindheit nicht gleich Blindheit und Sehbehinderung nicht gleich Sehbehinderung. Ich war zwölf Jahre alt, als ich bei einem Unfall – dazu später mehr – mein Augenlicht verlor. Lange Zeit sah es so aus, als würde ich nie wieder etwas sehen können. Gesetzlich wird Blindheit als eine Sehfähigkeit von unter zwei Prozent oder als ein Gesichtsfeld von unter fünf Grad definiert – diese Grenze klingt erst einmal theoretisch, aber sie markiert einen entscheidenden Unterschied. Den Unterschied, ob man sich in seiner Umgebung wenigstens ansatzweise noch visuell orientieren kann, ob man in der Lage ist, zwischen Licht und Schatten zu unterscheiden, zwischen Tag und Nacht, ob man überhaupt noch einen Zugang zur Welt der Sehenden hat, egal wie eingeschränkt dieser Zugang auch ist.

Es dauerte einige Jahre, bis ich nach mehreren Operationen auf meinem linken Auge wieder einige Prozent sehen konnte und es mithilfe einer Brillenstärke von 16 Dioptrien in die verschwommene Welt der Sehbehinderten schaffte. In dieser Zeit besuchte ich die Blindenstudienanstalt in Marburg – einer der besten Orte für Blinde und Sehbehinderte in Deutschland, an dem mir neben allem Wissen auch ein Vertrauen in meine Fähigkeiten vermittelt wurde. Noch bevor ich dort die letzten Abiturprüfungen abgeschlossen hatte, gründete ich meine Galerie in Berlin. Im Nachhinein ein verrückter Plan. Sieben Jahre später, im Jahr 2009, gelangte ich nach langem Suchen und Nachfragen an einen Freiburger Spezialisten, der ein neues Verfahren bei Hornhauttransplantationen einsetzte. Nach dieser Operation stieg meine Sehfähigkeit im linken Auge abermals an – eine »normale« Sehbehinderung und ein Befreiungsschlag, der mir ungeahnte Möglichkeiten eröffnete.

Eigentlich wollte ich nie Galerist werden, lange wollte ich noch nicht einmal etwas mit Kunst zu tun haben. Ich bin mit Kunst aufgewachsen, und man rebelliert ja immer gegen das, was man kennt. Meine Mutter Edda Köchl-König war Schauspielerin und Illustratorin für Magazine und Kinderbücher, mein Vater Kasper König ein Ausstellungsmacher, wie es damals hieß, und später der Direktor des Kölner Museums Ludwig. Mein Onkel Walther König betrieb eine nach ihm benannte Kunstbuchhandlung und den dazugehörigen Verlag. Die internationale Kunstszene ging bei uns zu Hause in der Ehrenstraße ein und aus. Köln war in den 1980er-Jahren die große Kunstmetropole Europas – auf Augenhöhe mit New York. Isa Genzken, Franz West, Martin Kippenberger, Hanne Darboven, Andy Warhol, Claes Oldenburg, David Hockney und Rosemarie Trockel kamen uns besuchen. Gerhard Richter war Trauzeuge meiner Eltern. Dan Graham wohnte zeitweise bei uns. Mit On Kawara fuhren wir in den Urlaub. Nam June Paik war nach einer »Fluxus-Taufe« mein Patenonkel. Ich bin ganz selbstverständlich in einer von Kunst geprägten Welt aufgewachsen. Mein Bruder Leo, der heute als Kunsthändler in New York arbeitet, und ich haben zwischen einer Brillo Box von Andy Warhol, einer Concetto spaziale-Bronze von Lucio Fontana und einem Sofa von Franz West Fußball gespielt.

Aber als Kind hat es mich auch oft genervt, dass es nirgendwo so etwas wie einen kunstfreien Raum oder auch nur so etwas wie einen kunstfreien Tag gab, dass jeden Augenblick Gäste vorbeikommen konnten und ich nie die ungeteilte Aufmerksamkeit meiner Eltern hatte. Kasper schleifte mich überall mit hin, zu jedem Künstler, zu jedem Atelierbesuch, in jedes noch so gottverdammte Museum, in jeden Off-Space. Nicht einmal in den Ferien blieb ich davon verschont. Egal, wohin wir fuhren, es hatte immer irgendetwas mit Kunst zu tun. Kunst. Kunst. Kunst. Dauernd nur Kunst. Viele Jahre lang fand ich Kunst das Schlimmste.

Natürlich ist es ein großes Geschenk, schon als Kind so viel gesehen, so viel Kunst erfahren, so viele spannende Leute kennengelernt und überhaupt so viel mitbekommen zu haben. Im Nachhinein verstehe ich, dass ich unheimliches Glück hatte, in so einer Umgebung aufzuwachsen – ein Privileg. Ich habe von Anfang an gelernt, dass Kunst so viel mehr als Sehen ist, dass sie das bloße Visuelle übersteigt. Die Bilder, die im Kopf entstehen, sind genauso wichtig wie die Bilder an der Wand und häufig sogar noch wichtiger als diese. Kunst erzeugt Unklarheiten, die Bedeutung eines Werks erschließt sich häufig erst durch den Zusammenhang. Wer mehr weiß, sieht auch mehr. Kunst bedeutet Dialog, man kann sie auch physisch erfahren, sie beruht häufig auf Konzepten und steht oft auch mit anderen Genres kultureller Produktion in Berührung – mit der Musik, der Mode, der Literatur und der Philosophie. Dank meines Umfelds habe ich schon als Kind intuitiv begreifen können, dass die wichtigste Eigenschaft von Kunst, ihre Einzigartigkeit, darin liegt, unser Verständnis vom Leben, auf das wir uns versteift haben, unsere unhinterfragte Weltsicht, aufzubrechen. Künstler hinterfragen mit ihren Werken so lange die grundsätzlichsten Dinge, bis sie auf etwas Neues stoßen. Ich weiß nicht, was nach meinem Unfall aus mir geworden wäre, wenn ich all das nicht schon vorher in mich aufgesogen hätte. Irgendwann habe ich verstanden, dass mir nichts anderes so viel Freiheit schenkt und so viel Enthusiasmus in mir auslöst wie der Umgang mit Kunst.

Die Galeriegründung war naiv und vermessen. Anfangs wusste ich nur vom Hörensagen über das Führen einer Galerie, und in den ersten Jahren sah es auch so aus, als würde Johann König, Berlin – heute nennen wir uns KÖNIG GALERIE – wie viele andere neugegründete Berliner Galerien jener Zeit untergehen. Hätte ich damals gewusst, was ich heute weiß, hätte ich gewusst, wie viel Energie, Arbeit und Aufopferung in das Wachstum der Galerie fließen würden, wäre ich das Ganze wahrscheinlich nie angegangen. Dennoch, im Grunde war die Galeriegründung so etwas wie ein logischer Schritt. Trotz des Umstands, dass ich in dem Bereich arbeiten würde, in dem es traditionell am meisten um das Sehen geht. So kam es, dass ich, wie es die Künstlerin Ays¸e Erkmen damals ausdrückte, der »erste und wahrscheinlich auch einzige blinde Galerist der Welt« wurde.

Die KÖNIG GALERIE ist heute ein internationales Unternehmen mit Standorten in Berlin und London, das inzwischen mehr als vierzig Mitarbeiter beschäftigt. Pro Jahr nehmen wir an fünfzehn bis achtzehn Kunstmessen auf der ganzen Welt teil – von Madrid, Paris, Basel und London bis hin zu Seoul, Shanghai, Hongkong, New York und Los Angeles. Wir glauben an die von uns vertretenen Künstler, und unsere Arbeit für sie hat mit dafür gesorgt, dass ihre Werke inzwischen in den wichtigsten öffentlichen und privaten Museen und Kunstsammlungen der Welt hängen. Wir haben oft einen langen Atem bewiesen und auch an Positionen geglaubt, an denen die breite Kunstwelt lange nicht richtig interessiert war. So etwa im Fall der Sound- und Installationskünstlerin Natascha Sadr Haghighian, die wir seit 2003 ausstellen und die nun den deutschen Pavillon bei der 58. Venedig-Biennale 2019 bespielt.

Die ganze Kunstwelt steckt gerade in einem massiven Umbruch, von dem man nicht weiß, wohin er führt. Wir sind gezwungen, darauf mit neuen Konzepten zu reagieren. Nicht nur die Globalisierung macht deutschen Galerien zu schaffen, sondern auch die politisch und steuerlich alles andere als idealen Rahmenbedingungen in Deutschland, die unter anderem dafür sorgen, dass man das Werk eines deutschen Künstlers im Ausland sehr viel preiswerter bekommt als hier. Das klassische Galeriemodell mit dem Künstler auf der einen Seite und der Galerie auf der anderen scheint immer weniger zeitgemäß zu werden. Es ist ein ziemlich hartes Geschäft, bei dem, wie überall sonst auch, permanentes Wachstum gefordert ist. Mit all den Messen, Ausstellungen, Kooperationen und Veranstaltungen ist es heute sehr viel aufwendiger, eine Galerie zu führen, als noch vor zehn Jahren – es macht aber auch viel mehr Spaß. So etwas wie eine »mittelständische Galerie« gibt es kaum noch. Entweder man gibt sich mit Kleinem zufrieden oder man kommt groß raus – und wenn man groß rausgekommen ist, lebt man mit dem ständigen Druck, seinen Status als Global Player zu halten und auszubauen. Der Markt entwickelt sich gerade dahin, dass die Sammler immer mehr auf etablierte Positionen setzen. Junge Künstler bleiben weitgehend außen vor. Das bedeutet auch, dass die Nachwuchsarbeit, die wir betreiben, schnell Früchte tragen muss. Das war früher anders. Man lebt inzwischen permanent mit einem extrem hohen wirtschaftlichen Risiko. Investiert man in drei oder vier große Kunstmessen und verkauft dort zu wenig, kann das durchaus existenzbedrohend sein. Nicht umsonst geht in der Presse seit einiger Zeit das Schlagwort des »Galeriensterbens« um.

Seit 2015 befindet sich die Galerie in der ehemaligen Kreuzberger Kirche St. Agnes, einem von uns umgebauten Gebäude des Berliner Architekten Werner Düttmann aus den 1960er-Jahren, das als eines der interessantesten Brutalismus-Bauwerke Deutschlands gilt. Darin haben wir nach den radikalen Plänen des Architekten Arno Brandlhuber zwei Ausstellungsräume und einen Skulpturengarten geschaffen. St. Agnes zieht Tausende Besucher aus aller Welt an – von Schulklassen bis zu Kunst sammelnden Milliardären. Wir versuchen, den Besuchern die Schwellenangst vor Kunst zu nehmen, die vielen immer noch als elitär gilt. Wir organisieren Performances, Lesungen, Künstlergespräche und Konzerte. Wir haben auch sonntags geöffnet, die Zeitschrift KÖNIG gegründet und das Label KÖNIG SOUVENIR für von Künstlern gestaltete Gegenstände und Textilien.

Das alles läuft sehr gut.

Wir kommen am späten Nachmittag in Miami an. Meine innere Uhr sagt mir, dass eigentlich Schlafenszeit ist. Ich folge dem Menschenstrom und frage dann nach der »Special Assistance«, um die strengen Grenzkontrollen der amerikanischen Einwanderungsbehörde schneller absolvieren zu können. Dort stehe ich in einer Schlange mit Menschen im Rollstuhl, und bilde mir ein, dass man sich wundert, warum ich hier bin. Ich reise nur mit Handgepäck, da es mir viel zu umständlich ist, das Gepäckförderband ausfindig zu machen und dann auch noch meinen Koffer darauf zu finden. Vor Ungeduld habe ich auch schon mal den erstbesten schwarzen Koffer vom Band geschnappt. Natürlich war es der falsche. Nach der Grenzkontrolle suche ich mir den Weg zum Taxistand, nach draußen.

Es ist schwül und gleißend hell, und ich schließe reflexhaft die Augen, extreme Helligkeit ist für mich genauso anstrengend wie Dunkelheit. Mein Auge kann, im Gegensatz zu den Augen anderer Menschen, die Lichtverhältnisse nicht selbst regulieren. Die Pupillen gesunder Augen weiten sich im Dunkeln und ziehen sich im Hellen zusammen; da ich keine Pupille mehr habe, machen meine Augen das nicht. Normales Tageslicht empfinde ich daher grundsätzlich als unregelmäßig. Jede Wolke, jeder Sonnenstrahl sorgt dafür, dass die Lichtverhältnisse schwanken. Einige Bereiche sind hell, dann wieder dunkel, dann wieder hell. Den meisten Menschen fällt das nicht auf, weil ihre Augen diese Schwankungen automatisch ausgleichen.

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