Kinder sind was Wunderbares, das muss man sich nur IMMER WIEDER sagen - Johann König - E-Book

Kinder sind was Wunderbares, das muss man sich nur IMMER WIEDER sagen E-Book

Johann König

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Beschreibung

Mit drei Nachkommen ist man in Deutschland bereits überdurchschnittlich bekindert. Wenn die Orgelpfeifen ihre 5 Minuten bekommen und nur über Worte in großer Lautstärke zu erreichen sind, gehört man zu den Asozialen. Die Wunschkinder betrachtend, denkt sich der Mann in solchen Momenten ganz woanders hin: In eine Welt ohne Kinder. Eine Welt nur mit Fußball. Genau wissend, dass diese Welt unerträglich wäre. Unerträglich schön.
Johann König kennt alle heimlichen Gedankenblitze und Wünsche, die Eltern aus Scham für sich behalten. Diese beschreibt er wortreich und detailgenau, wobei in der täglichen Verzweiflung immer wieder seine unerschütterliche Liebe zum Kind durchzuscheinen versucht.

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Seitenzahl: 401

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Inhalt

CoverInhaltTitelImpressumWidmung Kapitel 1 - Fegen, Saufen, Einhorn kaufen – oder: Wie das Nassfutter für die Katze ins Playmobil kam Kapitel 2 - Lucky, Shorty, Pferdeäpfel – oder: Was humorlose Rumänen im Sauerland zu tun haben Kapitel 3 - Moslems, Yoga, Dummibärchen – oder: Warum man Squash nicht mit dem Mund spielt, weshalb dürftige Witze nicht besser werden, wenn man sie dürftig erzählt, und was Hitler mit all dem zu tun hat Kapitel 4 - Yoga, Clara, Mozzarella – oder: Wieso die Katze I-A macht Kapitel 5 - Quallen, Pisse, Humanismus – oder: Weshalb Dachs und Lachs keine gemeinsame Zukunft haben Kapitel 6 - Basteln, Pricken, Kinderarbeit – oder: Oh Schreck, oh Schreck, die Frau fährt weg Kapitel 7 - Nelken, Zimt und Calvados – oder: Wieso Bio-Tannen nichts für Vegetarier sind Kapitel 8 - Bratwurst, Kölsch und Seifenblasen – oder: Wie man das Glück erkennt, bevor es zerplatztNachwort

Johann König

Kinder sind waswunderbares

BASTEI ENTERTAINMENT

Vollständige E-Book-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Copyright © 2016 by Bastei Lübbe AG, Köln

Autor: Johann König, Kontakt: www.hpr.de

Mitarbeit: Jana Runde

Textredaktion: Dr. Ulrike Strerath-Bolz, Friedberg

Illustrationen Innenteil: Leonard Riegel, leonardriegel.de

Titelbild: © Boris Breuer

Covergestaltung: KURSIV Oliver Forsbach, Melanie Knaus

Datenkonvertierung E-Book:

hanseatenSatz-bremen, Bremen

ISBN 978-3-7325-1409-0

www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für euch

Montag, 10. Februar

Schiebe den Dreck des Tages in die eine und das Spielzeug des Tages in die andere Ecke, greife anschließend zum Kehrblech, fege die Kuchenkrümel, zerdrückten Erbsen, Salzstangenreste, Bockwursthälften, getrockneten Dattelstückchen, Erdklumpen, Fritten, Steinchen, Fruchtriegelbrösel, Plastikteile und Batteriefach-Schräubchen darauf und betrachte die Mischung. Kurz überlege ich, die einzelnen Dinge irgendwie zu sortieren. Diesen Gedanken verwerfe ich aber schnell wieder und schleudere stattdessen das volle Kehrblech wie einen Brautstrauß hinter mich in die Spielzeugecke. Dann schalte ich das Licht aus und verlasse den Raum. Gehe in die Küche. Im Kühlschrank ist noch Licht. Ein Bier strahlt mich an.

Es gibt eine Grundregel, die einem überbordenden Kindergeburtstag Einhalt gebieten soll: pro Lebensjahr ein Kind einladen.

In diesem Fall: sechster Geburtstag, sechs Kinder. Dazu die drei, die eh hier wohnen, macht neun. Plus ich. Ja, herzlichen Glückwunsch.

Das mit dem Kehrblech war nicht in Ordnung, denke ich bei der zweiten Flasche Bier. Zu meiner Verteidigung muss ich allerdings anmerken, dass meine Zurechnungsfähigkeit durch ein paar Ouzos beeinträchtigt war. Schuld daran war unter anderem mein Vorsatz, Deutschlands weltweiten Spitzenplatz im Bereich der Nahrungsmittelvernichtung nicht weiter zu unterstützen. Was hier im Land an Essen weggeworfen wird, ist ein absolutes Armutszeugnis, hatte ich vor Kurzem gelesen. Aus diesem Grund wurden nun bei allen angebissenen Kuchenstücken, Würstchen und Fritten die Anbissstellen abgeschnitten, auf den Katzenteller geworfen und der Rest in bunte Aufbewahrungsboxen geschüttet. Und um die übrig gebliebenen Getränkereste nicht komplett wegzuschütten, hatte ich die Idee, alle exquisiten Mischungen aus den Tassen und Gläsern der kleinen Gourmets auf ex auszutrinken. Diese Erfahrung war bereits nach dem ersten Schluck derart eindringlich, dass nur ein guter Tropfen vom Griechen das Geschmackserlebnis zur kulinarischen Vollendung führen konnte.

»Ich trink Ouzo, was machst du so?« Diesen leicht angestaubten Kalauer werde ich gleich meiner Frau in die Ohren rülpsen. Sie müsste bald fertig sein vom Blagen-in-den-Schlaf-Schlagen. Tragen, meine ich. Und singen. Lalala, batte, batte, Tuchen, der Bätter hatterufen, der Mond ist auf, auf einem Baum ein Tutut, simsalabim, der Tutut und der Esel, die hatten einen Streit, wer … wer hat die Totusnuss detlaut.

Ach, ist das schön, wie der Alkohol den Groll auf die Umstände dämpft. Ihm seine aggressive Energie nimmt. Diesem Groll, der immer mal wieder in puren Hass umzuschlagen droht. Allerdings in einen verpönten, nicht geduldeten, schambehafteten und unterdrückten Hass.

»Was hasst du?«, fragte mich neulich der Große.

»Dich«, sagte ich, »mit der Betonung auf dich.«

Er: »Nein, was du hast?«

Ich: »Ach so. Nichts, mein kleiner großer Furzknoten, gar nichts habe ich. Ich habe nur gerade, als ich zeitnah verhindern wollte, dass die Mittlere der Kleinen die Möhre unzerkaut in die Speiseröhre schiebt, da also habe ich nicht nur mein Glas Milch über Mamas Käsebrot gestoßen, sondern auch mir an der Tischkante dermaßen den Musikantenknochen, dass ich einfach mal kurz innehalten musste.«

Darauf er folgerichtig: »Ham wir noch Leberwurst?«

Ich trinke noch ein Bier und schiebe mir dabei mit der anderen Hand die dünn geschnittenen Scheiben von dem teuren Rosmarinschinken schier in den hungrigen Schlund. Vorsichtig kommt unser Kater Hekto-Pascal herein und sagt: »Ich mag keinen angebissenen Kuchen. Und Fritten schon gar nicht. Will auch Schinken.« Ich muss schmunzeln. Das war wohl gerade eine auditive Projektion. Eine nach diesem Tag verständliche, phantasievolle Fehlleistung meines angeschlagenen zentralen Hörsystems.

Jetzt schnurrt er mich an, der friedliebende Kerl, ich werfe ihm ein paar Scheiben auf einen Kinderteller und stelle den Teller auf die Terrasse. Gucke mich in der Küche um. Sehe ein Plastik-Einhorn der Mittleren unnütz auf dem Tisch herumstehen. Es ist rosa mit blauen Sternchen. Das Horn ist weiß. Fast wie in echt, denke ich. Bis auf die Sternchen natürlich. Dass es so etwas gibt, dass Mädchen mit drei so etwas lieben, dass Menschen daran verdienen, dass es aus Erdöl ist, das ist alles schon schlimm genug. Aber am meisten hasse ich, dass ich dieses Einhorn gekauft habe. Das passt einfach nicht zu mir.

Wann kommt denn meine Frau? Ist sie wieder mit eingeschlafen? Oder liest sie im Dunkeln mit ihrem Elektro-Buch Fantasy-Horrorgeschichten, um runterzukommen?

Nehme die Rede in die Hand, die ich heute Nachmittag vor dem versammelten Haufen gehalten habe. Eine selbstverfasste Geburtstagsrede, bei der die Kinder vorher die fehlenden Wie-Worte reinrufen mussten, die ich dann an Stellen meiner Wahl einsetzen konnte. War das ein Spaß! »Liebe fette Geburtstagsgäste, verehrter stinkiger Hein-Mück. An diesem schönen braunen Tag freuen wir uns alle, den geilen sechsten Geburtstag des baldigen dummen Schulkindes feiern zu dürfen.« Was haben wir gelacht. Kinder, die in dem Alter sind, dass sie aufs Sofa springen, sich vorbeugen und rufen: »Ich bin die allergeilste Arschkanone der Welt«, solche Kinder lachen über so etwas. Das ist schön. Für die Kinder.

Meine Frau kommt rein. Endlich. Sie blinzelt müde in das gleißende Licht des offenen Kühlschranks. Sie will etwas sagen, aber ich bin schneller: »Oh, da kommt ja endlich meine ekelhafte Frau mit ihren blauen Beinen und ihrem bescheuerten Gesicht.« Erwartungsfroh lache ich sie an.

»Was willst du? Hast du getrunken? Mach doch mal den Kühlschrank zu.« Natürlich. Sie kommt aus einer anderen Welt. Aus einer dunklen Welt mit Geschichten, Gezeter, Verhandlungen, Erpressungen, Hörspielen und Horror. Ich habe einen großen Vorsprung. Sie muss aufholen. Ich schütte ihr einen Ouzo ein. »Du trinkst Ouzo …«, setze ich an.

»Hast du aufgeräumt und gefegt?«

»Jawohl. In der Reihenfolge. Und jetzt …«

»Ich mag jetzt keinen Schnaps.«

»Kein Problem«, sage ich und opfere mich.

»Was riecht denn hier so?«

»Das ist der Grieche.«

»Sag mal, sehe ich das richtig, dass hier gerade das Einhorn auf der annen Herdplatte schmilzt?«

»Was? Oh. Wie konnte das denn … äh …«

»Sag mal, spinnst du? Wenn das anbrennt!«

»Oh Gott, das arme … keine Beine mehr, wie soll es denn da …« Ich ziehe das bis zum Rumpf eingedampfte Tier fädenziehend von der Platte. »Aber das Horn, das Horn steht noch. Das ist das Wichtigste. Das weiß glänzende Horn steht stolz im Wind der tausend Elfen. So kann es immerhin noch …«

»Du bist ja total besoffen!«

»Das ist nur passiert, weil ich den Kühlschrank schließen musste.«

»Hä?«

»Mit einem aufen Kühlschrank hätte ich auch die anne Herdplatte besser erkannt.«

»Das hast du doch schon vorher draufgestellt, du …«

»Wie fandest du eigentlich meine Rede?«

»Wieso steht denn da draußen ein Kinderteller?«

»Was?«

»Du weißt doch, dass ich es nicht mag, wenn du das Geschirr der Kinder für die Katze benutzt.«

»Ja?«

»Bis morgen. Und deck schon mal den Frühstückstisch.«

»Nichts lieber als das.«

11. Februar, 7.30 Uhr

Das Frühstück verläuft reibungslos. Es gibt wie immer Schokomüsli. Aber ohne Rosinen. Ohne jegliches Dörrobst. Das Dörrobst kommt den Kindern nicht auf den Tisch. Sondern darunter.

Für die Kleine gibt’s irgendetwas Zermatschtes. Sie hat aber keinen großen Hunger mehr, weil sie zum Ende der Nacht noch gestillt wird. Damit sie still ist und die Restnacht eine stille Nacht bleibt.

Meine Frau legt vor den Augen der Kleinen das nötige Frühstückslätzchen auf die Fensterbank und macht irgendetwas anderes. Fünf Sekunden später fragt sie: »Wo ist denn jetzt das Lätzchen?« Die Lätzchenbenötigende macht einen Laut wie »Oh«, was so viel heißt wie: »Keine Ahnung.« Ich zeige lässig auf die Fensterbank, die Kleine ruft: »Da!«, und meine Frau haut sich mit der Hand auf die Stirn. Das nennt man wohl übertragbare Stilldemenz: Das Kind saugt der Mutter die Gedächtnisfähigkeit aus dem Körper, ohne sie anschließend selbst zu nutzen.

Nebenan auf dem Tisch im Spielzimmer liegt ein weißes Blatt mit einem großen, schönen, blauen Kreis in der Mitte. Das weiß ich genau, denn ich habe ihn selbst gemalt und das Blatt dort hingelegt. Auf dem blauen Kreis ist das Einhorn. Es sieht so aus, als ob es durch einen See schwimmt oder watet. Die Mittlere hat aufgegessen und stürmt rüber. »Oh tutt mal, das Einhorn schwimmt im See!« Mit einem verschlafenen Gewinnerlächeln schaue ich meine Frau an. Dann kippt drüben die Stimmung.

14.30 Uhr

Stehe an der Kasse der Spielwarenabteilung im Kaufhaus und bezahle einen mittleren zweistelligen Betrag für ein mehrteiliges Einhorn-Set. »Wegen die Schmelzung von Einhorni«, wie die Mittlere anführt. »Wegen der …«, starte ich den Versuch einer Verbesserung in Richtung Genitiv, ende dann aber mit einer Sinnlosigkeit darstellenden Handbewegung. Die Mittlere grapscht sich die Packung und stapft davon. Sie hat – seit wir losgegangen sind – den Blick einer völlig im Recht seienden Trotzgöre. Dieser Blick, der sagt: Alter, wenn du jetzt nicht ohne Murren kaufst, was ich sage, oder sonst irgendeine dumme Bemerkung machst, dann schreie ich das gesamte Kaufhaus in Grund und Boden. Dieser Blick ist extrem respekteinflößend. Überlege beim Gehen, ob das Kind weiß, dass es in der Wirkung ein großer Unterschied ist, ob ein Tobsuchtsanfall in der passantenvollen Öffentlichkeit stattfindet oder wenn wir allein im Wald sind? Ich glaube, ja.

15 Uhr

Hole mit der Mittleren den Großen vom Kindergarten ab. »Hast du das neu?«

»Jaha. Hat der Papa mir deschenkt.«

»Oh, das ist gemein, ich will auch was Neues, warum kriegt die was und ich nicht?«

»Hallo, mein Großer, schön, dich zu sehen, wie war’s denn im Kindergarten? Wart ihr auch draußen? Wo sind denn deine Handschuhe? Morgen hat ja der Malte Geburtstag. Hast du eigentlich schon ein Geschenk für ihn? Was gab’s denn heut zum Mittagessen? Ach, guck mal, was der für ein tolles T-Shirt anhat, der Niklas.«

Ja, das ist meine Taktik, wenn Probleme im Anmarsch sind: ablenken, ablenken, ablenken. Und wieder klappt es. Er guckt mich an und sagt: »Das ist Finn.« Erst dann erleidet er seinen Zusammenbruch. Heulen, schreien, um sich schlagen, Schuhe wegwerfen.

15.30 Uhr

Stehe erneut im Kaufhaus und erwerbe für den Großen einen Wecker mit Stoppuhr und integrierter Taschenlampe. Das Plastikungetüm hat die Form seiner Lieblingsfigur von Star Wars. Er nennt sie »Lars Wheida«. Ich finde das so lustig, dass ich ihn nicht verbessere. Darth Vader, wie sollte ich ihm das denn auch erklären? Sage zur Verkäuferin: »Hier, einmal Lars Wheida, bitte«, und schmunzele sie kräftig an. Darauf sagt sie mitleidig zu ihm: »Na, hat der Papa dir auch was eingeschmolzen?«

16 Uhr

Sind alle zu Hause. Der Große fragt, warum Hekto-Pascal in seiner Legokiste sitzt und eine halbe Bockwurst isst. Ich sage: »Weil er das einfach gerne mal machen wollte«, und begebe mich außer Hörweite.

18.30 Uhr

Mein Squashpartner Reiner sagt mir beim Verlassen der Halle, dass er mittlerweile das Gefühl hat, die Familie würde mir alles in allem doch sehr guttun, auch hinsichtlich meiner sportlichen Leistungen. So stark, so wild entschlossen, mit so viel Biss, Wucht und unbändiger Schlagkraft hätte er mich ja selten zuvor erlebt. »Jaja«, sage ich, »das stimmt, das ist wirklich … die tut … so kann man’s natürlich auch … also dann.«

22.30 Uhr

Liege völlig fertig im Bett und denke über die Erfolge des Tages nach. Bin schon fast eingeschlafen. Dann denke ich an die Kindergarten-Abholgeschichte. Es gibt meines Wissens zwei Handlungsvarianten bei derartigen Tobsuchtsanfällen.

Erste Möglichkeit: Ruhig bleiben, sich runterbeugen, das Kind in den Arm nehmen, Verständnis mimen, das allgemeine Abhol-Gebrüll aushalten, das Gebrüll des eigenen Nachfahren vom Ohr weghalten‚ das sinnlose Geschwätz des dicken Malte ausblenden, Papa, ich muss Tatta von der Mittleren ignorieren, tief ein- und ausatmen. Und wenn dann alle gegangen sind, in aller Ruhe gut zuhören, zureden und erklären, um am Ende sein Gefühl des Ungerecht-behandelt-worden-Seins mit kluger Raffinesse so zu verbiegen, dass er sich verbal nicht mehr wehren kann.

Zweite Möglichkeit: Beide Kinder plötzlich und unerwartet packen und ohne Rücksicht auf Verluste aus dem Kindergarten zerren, in den Doppelkinderwagen reindrücken, anschnallen und nach Hause rennen. Scheiße, Jacke vergessen. Zurück. Mütze auch. Und Schuhe! Alles grapschen und brutalst anziehen. Wieder festschnallen. Wieder los. Beide heulen wie am Spieß. Die alte Frau von schräg gegenüber kommt uns entgegen. Sieht uns. Sagt: »Och, gibt der Papa euch nichts zu essen?« Der Frau volle Möhre mit dem Kinderwagen in die Parade fahren. Weiterrennen. Beinverletzte schreiende Frau durch plötzliches Bremsen vom Schoß des Großen auf den Asphalt befördern. Vorwärts huppelnd über die Beine der Frau weiterfahren. Zu Hause ankommen. Tür aufreißen. »Hallo, Liebling« zur Frau sagen. Von der die Kleine in den Arm gedrückt bekommen. Die hat sehr große Augen. Ihr Kopf wird roter und roter.

»Hä?«

»Ach, die hat ein bisschen viel von dem Pastinaken-Brokkoli-Brei in sich reingestopft.« Ich halte sie in den Achseln und schaue genau in ihr Gesicht. Die Frau drückt mit beiden Handflächen kräftig Bauch und Rücken zusammen. Es kommt zum oralen Vulkanausbruch. »Jetzt geht’s ihr besser.« Wische mir die Lava von den Augen und schaue der Frau nach.

Sie hat kaum etwas an, rennt zum Straßenrand und steigt in ein Auto.

»Halt, wohin?«

Darauf sie: »Ich bin doch heute beim monogamen Gruppen-Pilates.«

»Ach ja? Nein«, rufe ich. »Nein. NEIN! Das ist morgen.«

»Ruhig. Du hast geträumt. Alles ist gut. Wir sind hier.«

»Was? Wir? Wer?«

»Wenn du jetzt eh noch wach bist, könntest du die Kleine kurz wickeln?«

Donnerstag, 13. Februar, 12.30 Uhr

»Ich weiß ja, dass wir weniger wegschmeißen sollten, aber das hier ist echt fies«, sagt meine Frau und schüttet leicht angewidert eine bunte Mischung aus sauber angeschnittenen Fritten, Würstchen und Kuchenstücken in den Müll. »Hast du schon gepackt? Essen ist fertig. Wo geht’s denn eigentlich hin?«

»Görlitz, Cottbus, Jena«, zähle ich ihr leicht angewidert meine Tourwoche auf, wobei sich die Abneigung in diesem Fall ausschließlich auf die unzähligen zurückzulegenden Kilometer bezieht und nicht auf die mittelgroßen Ost-Städte.

»Oh«, sagt sie, »klingt irgendwie … weit weg.«

»Richtig.«

»Und kannst du vorher bitte noch deine Sporttasche wegräumen?«

»Aber klar.«

Mittwoch, 19. Februar, 8 Uhr

Die Tour war ausgesprochen schön. Görlitz ist eine tolle Stadt ohne Überraschungen. Ganz anders als die Kinder. Der Große ist auf Krawall gebürstet. Sagt zur Mittleren: Du guckst so dumm wie die Wäsche. Alle lachen. Das Telefon klingelt, die Mittlere springt auf, den Großen halte ich prophylaktisch am Arm fest. Er schreit, als hätte ich ihm mit der bloßen Hand den Oberarm zertrümmert. Als er ruhig ist, lauschen wir dem Gespräch. Die Mittlere sagt: »Ja … Nein … Ja … In der Tüche … Die ist am Tisch und sitzt … Otay.« Dann kommt sie zu uns. »Mama, da ist eine Frau, die …«

Meine Frau geht zum Telefon, legt den Hörer auf und sagt: »Die hat sich verwählt.« Coole Sau.

Der Große scheint fertig gefrühstückt zu haben und signalisiert dies, indem er den Löffel auf den Boden schmeißt. Ich sage: »Aufheben.« Er: »Nein.« Die Mittlere sagt: »Ich heb den schon auf.« Der Große sagt: »Nein, ich«, und steht auf. Die Mittlere kommt zu spät, ist ganz empört und sagt: »Das ist … das ist … das ist Erpressung.« Die Erwachsenen lachen. Sie wirft ihre Sirene an. Der Große schmeißt den Löffel wieder hin. Brüllt: »Dann hier, bitte schön, Dummkopf.« Die Kleine weint aus Solidarität einfach mal mit. Ein heulgeschreiiges Geräuschemonstrum fräst sich durch meinen koffeinfreien Frontallappen in Richtung Medulla oblongata.

Mit einem Schlag auf die Tischplatte beende ich offiziell das Frühstück. Beuge mich runter, will kurz den Löffel aufheben. Die Sirene der Mittleren verstummt, sie lacht und fragt: »Papa, warum hast du denn oben auf dem Topf ein Treis in deine Haare deschneidet?« Schaue sie an und überlege, sie im Affekt mit einem gezielten Handkantenschlag niederzustrecken. Dann fällt mir ein, dass das offiziell verboten ist, und lache künstlich mit.

13.30 Uhr

Kinder sind wundervoll. Ein Geschenk. Ein wundervolles wachsendes Geschenk voller Überraschungen. Kinder sind einfach toll. Was wären wir ohne Kinder. Kinder sind super. Kinder sind supertoll. Supertoll und wundervoll. Das sind Kinder. Das muss man sich einfach nur immer wieder sagen.

Schön ist aber auch, wenn die Kinder mal weg sind. Das ist fast noch schöner. Ohne Betonung auf fast. Das ist noch schöner. Ohne Kinder ist es ganz wundervoll. Aber nur, wenn man sie vorher zu lange um sich rum hatte. Also immer. Eine ganz einfache Rechnung. Und hier liegt auch der Vorteil für alle Eltern. Drei Tage ohne Kinder sind ja nichts, worauf sich ein kleinkindloser Mensch bereits Monate im Voraus freuen kann.

Das ist ein bisschen so wie mit Krankheiten: Gesundheit weiß derjenige viel mehr zu schätzen, der sehr lange krank war. Ein gutes Beispiel!

Die kinderlose Zeit, die ich mit meiner Frau verbringen kann, ist die Dreiviertelstunde, in welcher der Große und die Mittlere noch im »Tinderdarten« sind und die Kleine erfolgreich zum Mittagsschlaf genötigt wurde. Wenn ich zu diesem Zeitpunkt ebenfalls zu Hause bin, dann geht es richtig ab. Denn in dieser heiligen kurzen Weile fällt uns meistens nur eines ein: Wir eilen in die Küche, um endlich einmal in aller Ruhe richtig ordentlich zu essen. Das sind Momente des Glücks. Essen ohne Geräusche. Ohne Füttern, Auffüllen und Nachschütten. Ohne zu sagen: »Iss das doch erst mal auf«, »das ist noch heiß«, »da muss kein Salz dran«, »der Brokkoli ist so lecker«, »du magst keinen Pfeffer«, »das ist nicht mehr heiß«, »nur Chicken-Nuggets gibt’s nicht«, »probier doch erst mal«, »habt ihr euch eigentlich die Hände gewaschen?«, »nicht nur Apfelsaft«, »dann gibt’s keinen Nachtisch«, »ich möchte bitte noch Soße«, »nein, die sind nicht von einer Kuh«, »komm, noch drei Nudeln«, »vor dir!«, »von mir aus«, »ja, Chicken heißt Schwein«, »Teller mitnehmen«.

All das nicht. Sondern einfach nur essen. Und schweigen. Kauen und schauen. Und sofort denke ich, jetzt könnten wir mal all das sagen, was sonst untergeht. Und dann erzählt man die Erlebnisse, bei denen der andere nicht dabei war: »Vorhin beim Windelkauf war so eine blöde Kassiererin …«

»Hm.«

»Sagte nicht Guten Tag, guckte mich nicht an.«

»Hm.«

»Und fragte dann, ob ich den Fruchtriegel aus dem Kinderwagen nicht auf das Band legen wollte.«

»Aha.«

»Da hab ich gesagt, den habe ich nicht hier gekauft, der lag da schon vorher drin für die Kleine.«

»Ja.«

»Da sagt sie: Ja, ja. Nächstes Mal aber Bon mitbringen.«

»Hm.«

»Da hab ich gesagt, meine Frau kauft hier jeden Tag. Das ist eine Unverschämtheit, mir hier irgendetwas zu unterstellen.«

»Ach, die kenn ich.«

»Ich sah allerdings auch ein bisschen aus wie ein Penner.«

»Ja, ja. Nicht schlimm. Gestern hab ich da zwei Pakete Schokomüsli geklaut.«

»WAS?«

»Aus Versehen.«

»Hm.«

»Hatte das einfach übersehen unten im Kinderwagen.«

»Ah.«

»Und dann hab ich es gesehen, wollte es sagen …«

»Und?«

»Aber die guckt einen ja nicht an.«

»Hm.«

»Sie sagte dann die Endsumme, und da war’s mir dann auch egal.«

»Klar.«

»Schmeckt übrigens sehr gut.«

»Aber du hast doch gekocht.«

»Ach ja.«

»Ich nehme mir noch was.«

»Jetzt iss das doch erst mal auf.«

»Oh Mann!«

»Da muss kein Salz dran.«

»Hast du dir eigentlich die Hände gewaschen?«

»Jaha.«

»Jetzt aber nicht nur Apfelsaft.« Das Babyfon quäkt.

»Oh. Dann geh ich mal.«

»Teller mitnehmen!«

21 Uhr

Stehe in der Küche und schrubbe einen letzten Rest Einhorn von der Herdplatte. Wenn die Frau die Kinder zu Bette bringt, dann macht der Mann den Rest. Ich mache das wirklich gern. Lange und sorgfältig ab- und aufräumen, sodass ich auf jeden Fall noch etwas zu tun habe, wenn sie runterkommt. Oh. Da kommt sie auch schon. Und schon kratze ich eine Spur eifriger. Sie fragt als Erstes, ob ich mir erklären kann, warum der Große heute Nachmittag eine Dose Nassfutter geöffnet und ins Playmobil geschüttet hat. »Nein«, sage ich ernst und versuche, mein Gesicht so zu halten. Sie beginnt von Hekto-Pascal und Bockwurst zu erzählen, und ich ahne, wo das endet. Reflexartig schalte ich den Wasserkocher ein. Der ist in seinen besten Momenten so laut, dass eine normale Unterhaltung unmöglich ist. Sie bleibt in der Küche und wartet. Der Wasserkocher kocht und geht aus. Sie schaut mich an. Ich erfasse die Situation blitzschnell, hole Tasse und Beutel und gieße mir einen Tee auf. Darauf sie: »Du trinkst Stilltee?«

»Äh, nein. Für dich.«

»Und weißt du, was er sagte, als ich ihn fragte, was das mit dem Nassfutter sollte?«

»Nein.«

»Er sagte, dass Hekto-Pascal das einfach gerne einmal machen wollte.«

»So, als wenn der sprechen könnte, oder wie? Der hat sie doch nicht mehr alle. Na ja. Weißt du eigentlich, wer heute mit 5:0 Sätzen beim Squash gewonnen hat? Dein Mann. Und weißt du auch, was der jetzt macht? In die Badewanne gehen.« Sie hält kurz inne und dann das Babyfon ans Ohr. »Hab gar nichts gehört«, sage ich.

»Doch. Mist, die Kleine ist wach. Ich geh mal schnell. Ach so: Die Badewanne ist übrigens voll mit eingeweichtem Playmobil. Du müsstest also kurz das alte Wasser ablassen, das Playmobil abbrausen und dann zum Trocknen einfach in die … auf den … einfach ins Waschbecken oder so. Ich mach das dann morgen weg. Also, falls wir uns nicht mehr sehen: Gute Nacht.«

22 Uhr

Ein Mann sitzt nackt in einer Badewanne und braust mit warmem Wasser Nassfutterreste aus dem Inneren eines Plastik-Piratenschiffs. Um an das schlimme und demütigende Bild, das er hier abgibt, immer weniger zu denken, hat er vorher eine Flasche vom schlechtesten Rotwein des Kellers emporgetragen und beginnt nun, ihn sich möglichst wirkungsvoll einzuverleiben. Die abgebrausten Männchen, Autos, Pferde und Goldstückchen werden von ihm behutsam auf das am Boden liegende große Handtuch geworfen.

Wenn man die Szene in der 3. Person Singular beschreibt, dann lenkt es kurz davon ab, dass man es selber ist. Mit der Betonung auf kurz.

Ich brause also und werfe und trinke, brause, werfe, trinke, immer in dieser Reihenfolge. Der Geruch ist unerträglich. Hekto-Pascal kommt rein, setzt sich hin und schaut mir zu. »Ja, guck nicht so. Nur wegen dir das Ganze hier«, sage ich in leicht gespielter Erzürntheit. Er scheint nachzudenken. Dann geht er aufs Handtuch und beginnt, das Piratenschiff abzulecken. Da sind wohl noch kleine Futterreste dran. Erstaunt schaue ich ihm nun zu. Er beginnt zu schnurren. Ich bin ganz gerührt. Er erkennt meine Not und hilft mir. Toll. Hekto-Pascal, mein guter alter lieber Kater, den wir vor vielen Jahren aus dem Tierheim befreit haben, weil wir noch kein Kind hatten. Der älter ist als der Große. Und klüger. Der, auf dessen Namen ich während des Wetterberichts gekommen bin. Der, dessen großer Einschnitt in seinem Leben die Geburt unseres Großen war, weil seine Beachtungs- und Beliebtheitskurve wie ein Wasserfall abbrach, nur weil er haart und Zecken hat. Der, der seitdem draußen fressen und schlafen will. Und muss. Und der sich seitdem nur noch abends ins Haus traut. Was macht dieses gepeinigte Tier? Keine Vorwürfe, keine verbitterten Bemerkungen, kein schlechtes Gewissen. Nein. Es ist einfach nur da. Es ist da und hilft, wenn ich mich in einer der einsamsten und lächerlichsten Lagen der letzten Jahre befinde. Das ist groß. Das ist einfach stark. Das ist …

Ein paar Tränen kullern über mein Gesicht auf meine nackte Brust. Wische sie weg und sauge ein paar kräftige Schlucke aus der Rotweinflasche. Jetzt brause ich weiter. Überlege, extra schlecht zu brausen, damit er mehr Reste zum Abschlecken hat. »Ach, Hekto-Pascal«, seufze ich. »Wenn ich dich nicht hätte. Ich verspüre zu dir so eine tiefe Verbundenheit, ich weiß auch nicht.« Er hört auf zu schlecken und schaut mich an. »Ich weiß nicht«, sage ich nachdenklich, »du gibst mir irgendwas, das können mir die anderen gar nicht geben. Weil es … weil sie … keine Ahnung.« Er scheint tatsächlich leicht zu nicken. »Und dass du die halbe Bockwurst im Lego gefunden hast …«

Er grinst mich an. Ich grinse zurück. Hä? Können Katzen grinsen? Überlege, ob ich jetzt nicht erschrecken müsste, lasse es dann aber sein. »Du bist wirklich ein Kamerad«, sage ich. »Manchmal glaube ich, du wirst uns alle überleben. Du kleiner Tiger du, du … du ewige Katze.«

Da öffnet er plötzlich den Mund und sagt laut und deutlich: »Ist dir nicht kalt?« Ich erschrecke bis ins Mark, rutsche nach hinten weg, die Rotweinflasche kippt und zerbricht, alles rot, überall Blut, Hekto-Pascal rennt weg, meine Frau kommt rein: »Was machst du denn da? Du solltest doch …«

»Er hat gesprochen.«

»Was?«

»Er hat gesprochen.«

»Wer?«

»Ist dir nicht kalt?«

»Mir?«

»Nein, ob mir nicht kalt ist.«

»Das wollte ich dich gerade fragen.«

»Das hat er mich gefragt: ›Ist dir nicht kalt?‹, hat er ganz deutlich …«

»Ich geh ins Bett.«

23. Februar, 14 Uhr

Es ist Sonntag. Wir fahren in den Zoo: die Mittlere, der Große und ich. Hatte im Vorbeigehen eine Zeitungsüberschrift gelesen, nach der es dort ein Elefantenbaby zu bestaunen gibt, und so die beiden überzeugt, mitzukommen. An der Zookasse erfahren wir dann, dass in Wuppertal ein Elefantenbaby zur Welt gekommen ist. Hier also nicht. Große Enttäuschung. Und dann direkt die zweite: Der Alte ist nicht bereit, seine lauffaule Brut im Bollerwagen durchs Gelände zu ziehen.

»Och, aber das ist so weit alles. Ich hasse laufen.«

»Jaja. Los jetzt.«

Plötzlich kommt eine Frau in Rot auf uns zu. Ah, sie will Fotos machen, die wir nachher kaufen können. Das Rot ist ihre offizielle Fotografen-Uniform. »Wollt ihr euch mal kurz zusammenstellen?« Klar wollen wir. Knips, Knips. Hier. Für sie. Ein Zettel mit einer Nummer. Nr. 58. Danke.

»Wir wollen zum Spielplatz.«

»Aber wir sind hier, um Tiere zu sehen.«

»Wir wollen aber.«

»Von mir aus.«

Setze mich in eine Ecke und warte. Ob wir heute noch ein exotisches Vieh zu sehen bekommen? Ich bin da nicht besonders zooversichtlich, denke ich, und schmunzele still in mich hinein.

Endlich geht’s weiter. Da, die ersten Tiere. Erdmännchen. Wie putzig. Meine beiden Affen klettern sogleich auf das eingrenzende Mäuerchen, um etwas zu sehen. Stehe hinter ihnen und schaue den Erdmännchen beim Zuschauen zu. Zwei sitzen unter einer Wärmelampe und glotzen die Besucher an. Wer beobachtet hier eigentlich wen? Lustig, wie sie da sitzen. Ist es für diese drolligen Höhlenbauer wohl immer wieder aufs Neue interessant, welche ausgelatschten Menschenarten an ihnen vorbeistottern? Sehen sie deswegen immer wieder hektisch woanders hin, weil ihr Glaube den Blick in ein offenes Kameraobjektiv verbietet? Fragen über Fragen.

Plötzlich rutscht die Mittlere ab und fliegt bäuchlings in eine begraste Ecke des Geheges. Wie erstarrt bleibe ich stehen. Weiß einen Moment nicht, was ich machen soll. Dann nehme ich den Großen bei der Hand und wir ziehen weiter. Weder er noch die anderen Menschen scheinen Notiz zu nehmen von dem Vorfall. Auch die Betroffene nimmt es mit ungewöhnlicher Gelassenheit hin. Sie hockt sich in eine Ecke und beobachtet ihre neuen Spielkameraden. Toll. Ohne großes Hadern fügt sie sich in ihr Schicksal.

Rasch freundet sie sich mit den umtriebigen Rackern an. In der Kolonie ist sie schnell als Autorität anerkannt, weil sie mit knappem Abstand die Größte ist. Sie genießt es sehr, nicht mehr von ihrem Bruder geärgert zu werden, und erlernt das Buddeln und Graben allein durch Zuschauen und Nachahmung. Und schon nach kurzer Zeit kann sie sehr gekonnt Insekten fangen und Würmer aus der Erde ziehen. Monate später komme ich mit der Restfamilie an ihrem Gehege vorbei. Sie sitzt aufrecht unter einer Wärmelampe, hat die Arme angewinkelt, die Händchen stehen auf Brusthöhe ab wie kurze Pfötchen. Ruckartig bewegt sich der Kopf und hält Ausschau nach Feinden. Wir kommen näher. »Papa.« Wird sie uns erkennen? »Papa!« Wird sie mir ein schlechtes Gewissen machen? »PAPA!!!« Wird sie mir sagen, ich hätte sie absichtlich über die Mauer geschubst?

»PAPA, können wir jetzt endlich ein EIS!!!!!!!!!!!!«, höre ich es aus zwei Kinderkehlen krakelen.

»Was? Eis? Ja, klar. Da bist du ja wieder!«

»Hä? Papa, was ist los mit dir?«

»Nichts, mein Kind.«

»Eis! Wir wollen Eis.«

»Ja doch. Gerne.«

Also Eis für alle. Super. Sitzen, schlecken, schweigen. Innehalten und nachdenken. Was sagen eigentlich diese Tagträume über mein Verhältnis zu den Kindern aus? Keine Ahnung.

»Darf die Ziege auch von mein’ Eis?«

»Das ist ein Lama. Und: Nein, es darf kein Eis.«

»Ey, die Ziege hat mein Eis runtergehauen.«

»Warum hältst du es ihr auch hin?«

»Hab ich gar nicht.«

»Aha.«

»Will ein Neues.«

»Hier nimm meins.«

»Bähhhh, die Ziege hat mich angespuckt.«

»Oh.«

»Voll ins Auge.«

Ich muss lachen. »Ja, das machen Ziegen manchmal.«

Wir schlendern weiter. Kommen zum Affenfelsen. Hier ist immer was los. Rosa Ärsche, so weit das Auge reicht. »Guck mal, der Affe da knallt immer gegen den anderen Affen. Warum macht der das, Papa?«

»Das habe ich euch schon beim letzten Mal erklärt: Das sind Paviane. Und die knallen nun mal gerne aneinander.«

»Ach ja.«

»Kommt jetzt.«

»Ja.«

Wir trotten weiter. So ein Zoo ist doch ein Universum für sich. Die Tiere, die Besucher, das Personal, alles passt zusammen. Toll. Ich mag das hier. Die Tiere strahlen oft so eine Ruhe aus. Klar, sie sind eingesperrt. Aber das ist nötig. Damit wir sie kennenlernen. Nur was man kennt, kann man auch schützen. Und ihre in der Wildnis lebenden Artgenossen profitieren von den Erkenntnissen, die der Mensch nur aufgrund ihrer totalen Eingesperrheit erlangen kann. Sie sind quasi das Bauernopfer, das allen anderen am Ende einen Vorteil beschert. So die Theorie.

Ist natürlich nichts für Veganer hier. Ein bekannter Veganer, bzw. ein Bekannter von mir, der Veganer ist, aber ansonsten nicht sonderlich bekannt, außer bei seinen Veganer-Freunden natürlich, bei seinen grimmigen Veganer-Freunden, bei seinen schlecht gelaunten, korkgürteltragenden Pflanzenfresser-Freaks, seinen streitsüchtigen, militant-dogmatischen, dürren, humorlosen und inhumanen Tierprodukt-Verweigerern, um mal die gängigsten Vorurteile abzuarbeiten … dieser Veganer erzählte mir also, dass er keinen Honig isst, weil er den Bienen nicht die Süßspeise klauen möchte, und dass er nur in einen veganen Zirkus geht, also einen tierlosen.

»Einen veganen Zoo hast du aber noch nicht gefunden, mein blasser Freund, oder?«, hatte ich ihn damals aufgezogen und ein müdes Lächeln geerntet. Wie kam ich jetzt darauf? Ich weiß es nicht mehr. Ich finde es auf jeden Fall großartig im Zoo. Das wollte ich sagen. Es ist großartig, mit den Kindern in den Zoo zu gehen. Das muss man sich nur immer wieder sagen …

Da, der alte Gepard! Wie schön. Der ist wie ein alter Bekannter. Dreht wie immer stoisch seine Kreise. Immer den gleichen, ausgetretenen Pfad am Zaun entlang. Immer die größtmögliche Runde. Immer die Hoffnung auf ein Loch im Zaun.

Ein mittelalter Mann in Safari-Klamotten fotografiert ihn mit seinem Teleobjektiv. Steht einfach da am Zaun und wartet. Und jedes Mal, wenn der Gepard wieder auftaucht, hält der Mann seinen Finger auf den Dauerauslöser, um anschließend die Ergebnisse auf seinem kleinen Bildschirm zu betrachten. Ein merkwürdiges Schauspiel. Doch was ist das? Der eintönige Kreislauf scheint durchbrochen. Die Wildkatze hat die Richtung geändert und kommt nun von der anderen Seite. »Du Schlawiner«, sagt der Mann und ballert sich unbeeindruckt weitere Bilder in seinen Kasten. Wem zeigt der Mann diese Bilder? Und was würde der Gepard mit ihm machen, wenn er ein Loch fände? Das schnellste Landtier der Welt. Gefangen im umzäunten Nichts. Immer laufen, nie ankommen. Immer unzufrieden, aber keine Möglichkeit, etwas zu ändern. Keine Erinnerung an früher, zum Glück. An die Wildnis. Die Eltern, die leckeren Antilopen. Vielleicht eine Ahnung. Keine Kenntnis von der eigenen Sterblichkeit. Immer nur im Hier und Jetzt der Unfreiheit. Wenn Tiere zum Suizid fähig wären … »Papa?« … dann sähe es hier … »Papa?« … dann wären hier aber einige …

»Papa?«

»Ja.«

»Papa, warum guckt der Tiger so traurig?«

»Ich weiß es nicht, mein Kind. Vielleicht …«

»Papa?«

»Vielleicht möchte er einfach …«

»Papa?«

»Außerdem ist das ein Gepard.«

»Papa?«

»WASISTDENN?«

»Können wir Geld haben?«

»Wofür?«

»Dafür.«

»Ach so. Ja, hier.«

Die Kinder laufen vor zu einer Art Spenden-Rondell. Eine ganz ausgeklügelte Geld-aus-den-Taschen-zieh-Methode. Man schiebt eine Münze in einen Schlitz, von dem aus sie dann nach dem Loslassen auf der schmalen Münzkante in einer Abwärtsspirale in einen großen, tubaartigen Trichter rollt. Wenn zwei Münzen aneinander rasseln, rutschen sie direkt in die Tiefe. Das passiert auch, wenn man sie gezielt in den Trichter wirft, um das elegant rollende Münzrad der Schwester zu torpedieren.

»Können wir noch mehr?«

»Okay, jeder noch drei Münzen.«

»Papa?«

»Ja.«

»Wo rollt das Geld eigentlich hin?«

»Äh, in ein … äh, in einen Sack.«

»Und was machen die mit dem Geld?«

»Die reparieren die Löcher in den Käfigen. Damit der Gepard nicht ausbricht.«

»Können wir noch mehr?«

»Nein.«

»Warum nicht?«

»Ja, hier.«

Münzgelderleichtert latschen wir weiter. Da wird meine Erleichterung noch größer: Der Ausgang ist in Sicht! Eine Wand mit Fotos auch. Ach ja. Was waren wir noch? Nr. 58. Da sind wir ja. Ein DIN-A4- und ein DIN-A5-Abzug liegen da. »Wollen Se mal sehen?«, fragt eine andere rotwestige Frau.

»Ja, gern.«

»Dat kleine sechs, dat große zehn Euro.«

»Ah ja.« Ich nehme die Bilder in die Hand. Wirklich tolle Ausdrucke. Keine zwei Stunden alt. Alle drauf. Schön. Sie drucken es aus, ohne dass man es bestellt. Interessant. Wahrscheinlich ahnen sie, dass, wenn man es erst in der Hand hält, dass man dann denkt: »Ach, es ist ja schon ausgedruckt. Hm, und wenn ich’s jetzt nicht mitnehme, dann bleibt es hier unnütz liegen. Ein Foto von mir und den Kindern liegt dann einfach hier rum den ganzen Tag. Und jeder kann’s angucken. Und am Abend schmeißen sie es weg. Das will ich nicht.« Ganz schön perfide, diese Zoogesellschaft.

Da kommen auch schon die beiden Nachkommen angerannt, grapschen das große Bild aus meinen Händen und zerren daran aus entgegengesetzten Richtungen. Entreiße es ihnen unter unterschiedlichen Androhungen. Es ist total verknickt. Ich gebe es der Lady in red wieder und sage: »Nein, danke. Das ist mir …«

»Zu verknickt, oder watt?«

»Ja. Nein, natürlich nicht. Es ist einfach … keine Ahnung … zu teuer.«

»Ja, wie? Erst zerknicken Sie es und jetzt ist es Ihnen zu teuer?«

»Ja.«

»Aber Sie wussten doch vorher, vor dem Zerknicken, watt dat kostet.«

»Ja, wusste ich wohl.«

»Ja, und?«

»Ja, und? Ja, und? Ich selber habe es ja gar nicht zerknickt, wie Sie vielleicht gesehen haben«, sage ich forsch.

»Ja, dat hab ich gesehen, dat waren deine Kinder. Und jetzt soll ich dafür gerade stehen, dat du deine Blagen nicht im Griff hast, du Tünnes?«

»Was ist denn Ihr Schaden, Sie … Sie … Können Sie das Bild jetzt nicht mehr verkaufen, weil es zerknickt ist, oder watt? Gibt es denn noch weitere Interessenten? Wie viele potenzielle Käufer für dieses Foto laufen denn noch hier rum in Ihrem widerwärtigen Tieregefängnis?«

»Pass mal auf, du Kappes-Kopp …«

»Und überhaupt, die ganze Fotoaktion hier ist eine einzige, perfide Geldschneiderei, die auf dem Rücken der … die unter, unter fadenscheinigen … das ist alles eine riesige … genauso wie mit dem Rund, wo das Geld reinkommt! Ja, das können ruhig alle hören!« Die Kinder schauen der Auseinandersetzung mit offenem Mund zu. Schaulustige bilden einen kleinen Kreis. »Ich rufe jetzt den Sicherheitsdienst, da wird Ihre ganze Mischpoke aber mal ganz schnell von den Zoo verwiesen.«

»Des Zoos, Sie Pavian!«, brülle ich. Dann – wie auf ein Kommando – stürzen wir drei uns mit großem Geschrei auf die Frau, legen sie uns zurecht, schleppen sie ein Stück und werfen sie »bei drei« über die Mauer zu den Erdmännchen. Dann klopfen wir uns den Staub von den Händen und gehen unauffällig nach Hause.

16 Uhr

Der Polizist fragt, ob ich mit einer Verwarnung einverstanden bin. »Aber klar«, sage ich. »Gelbe Karte also. Für beide aber, oder? Auch für die Foto-Uschi.«

»Auf Wiedersehen. Herr König.«

»Wiedersehen, Herr Wachtmeister.«

»Und ein Jahr Zooverbot für Ihre ganze Bagage«, brüllt uns Foto-Frau hinterher.

»Aber gerne doch. Kommt, Kinder.«

23.15 Uhr

Schiebe mir noch schnell eine schöne Scheibe Schinken in den Schlund, bevor ich ins Bett gehe. Bin völlig im Eimer vom Squash mit Reiner.

Da stiefelt Hekto-Pascal in Richtung Katzenklappe und will nach draußen. »Ey, Kollege, wieso bist du drinnen?« Keine Reaktion. »Hey, warte mal. Willste auch ’ne Scheibe?« Er kommt angelaufen und verschlingt sie zügig. »Sag mal, was war das da vorgestern im Bad?«, frage ich ihn ernst. »Als du mich so verständnisvoll ansahst? Und dann fragtest: Ist dir nicht kalt? Hab ich das richtig gehört? Du kannst doch nicht wirklich sprechen, oder?« Er schaut mich an. Lange. Schaut mir tief in die Augen. Dann schüttelt er kurz den Kopf und rast davon. »Was war das denn jetzt? Hey, bleib hier, du …«

Montag, 3. März

Die Mittlere kommt völlig fertig aus dem Kindergarten, zieht mühsam einen Schuh vom Fuß und fragt: »Mama, wo kommen die Schuhe hin?« »Na, überleg mal. In die Toilette.« Ein müder Schmunzler des kleinen Mädchens verrät: Sie hat die Ironie verstanden. »Nein«, sagt sie, »in die Schuhtiste.«

»Ach ja, richtig.«

Witz und Ironie sind bei Kindern ein immer wieder aufs Neue auszutarierendes Feld. Ironie funktioniert nur, wenn die komische Übertreibung sehr offensichtlich ist. Beispiel: »Papa, ich muss mal.«

»Oh, das ist schlecht, dann musst du wohl mit dem Bus zur Oma fahren, wir haben leider kein Klo.«

»DOCH!!!«

Manchmal kann man es als Erwachsener aber auch schlecht einschätzen. Gestern sagte ich zum Großen beim Fußballgucken: »Wenn die Stuttgarter gegen Köln verlieren, dann kriegen die danach kein Abendbrot.«

»Nein?«

»Nein. Dann müssen die sofort ohne Zähneputzen ins Bett.«

Am nächsten Morgen, Köln hatte gewonnen und ich den Scherz längst vergessen, sagte er plötzlich: »Aber heute kriegen die wieder Abendbrot?«

»Wer? Was?«

»Die Stuttgarter.«

»Die Stuttgarter?«

»Ja, die ham doch verloren.«

»Das stimmt.«

»Aber das war ja gestern.«

»Genau.«

»Also dürfen die heute wieder Abendbrot essen.«

»Ach so. Ja klar. So viel die wollen.«

Dienstag, 11. März

Spiele mit dem Großen und seinem Freund Niklas im Garten Fußball. Bevor ich kam, haben sich die beiden bereits warm geschossen. Das heißt, sie haben versucht, mit dem Ball den flüchtenden Hekto-Pascal zu treffen. Jetzt spielen wir Papa gegen alle. Meine kleinen Gegner spielen extrem, sagen wir mal, ballorientiert, was mir alle räumlichen Möglichkeiten für Konter bietet. Natürlich möchte ich sie knapp gewinnen lassen, weil in Anbetracht ihrer spielerischen Klasse das Verlieren-Lernen für sie eine allzu harte und eintönige Angelegenheit wäre. Es geht bis zehn, und es steht neun zu acht für mich. Da schieße ich aus Versehen noch ein Tor, weil einer der beiden Dösbaddel einen harmlosen Kullerball reinrollen lässt. »Oh nein«, denke ich. Das war so nicht … das tut mir … was tun wir? Es gibt jetzt nur noch zwei Möglichkeiten: Entweder mein Großer bekommt einen mittelgroßen Nervenzusammenbruch, weil sie eh keine Chance gegen mich haben, weil sie nie eine hatten, weil ich zu gut bin, weil ich nur darauf aus bin, sie fertig zu machen, und weil ich blöd bin. Oder wir spielen bis zwanzig. Dann überrascht mein Sohn aber tatsächlich mit einer eleganten dritten Möglichkeit. Und zwar sagt er einen Satz, den er schon oft gehört, aber noch nie verstanden hat. Er sagt: »Das gilte nicht!«

»Warum das denn nicht?«

»Das war abseits.«

Ich muss lachen. Dann sage ich in aller Ruhe und Sachlichkeit: »Wisst ihr eigentlich, was abseits ist?«

»Nein.«

»Passt mal auf. Guckt mal. Ich zeig euch das mal. Also: Hier ist das Tor, das ist der Torwart.«

»Das ist ein Stein.«

»Ja, angenommen, mal angenommen, Niklas, das ist der Torwart, das sein Verteidiger, und das hier …«

»Das ist meins.«

»Ich will’s dir doch nur zeigen. Also das … und das sind die zwei im Angriff.«

»Angriff. Star Wars.«

»Ich hab Lars Wheida als Wecker.«

»Zeig.«

»Genau. Und wenn jetzt dieser Stürmer …«

»Oder wir spielen bis zwanzig.«

»Oder so.«

20.30 Uhr

Bin gut drauf und darum gerade dabei, Squash-Reiner den zweiten Satz gewinnen zu lassen, damit wir in einen dritten Entscheidungssatz gehen können, da verbaselt er das Vorhaben mit dem dritten leichten Fehler hintereinander. »Bin ich heute eigentlich nur von Flachpfeifen umgeben?«, denke ich leicht genervt, sage aber etwas anderes: »Der gilte nicht, das war abseits!« Daraufhin verlässt er den Platz. »Komm, lass aufhören«, sagt er. »Und rede bitte nicht mit mir wie mit einem Kleinkind.«

»Alles klar. Entschuldigung.«

Mittwoch, 12. März, 9.10 Uhr

Latsche wie so oft am frühen Vormittag als Erstes in Richtung Biomarkt, um die momentane Leere des Ladens zu nutzen für einen zügigen und stressfreien Einkauf. Die große Hürde dieses Vorhabens sitzt vorne im Kinderwagen, den zu schieben ich genötigt bin, weil ich heute früh die Kleine habe.

»Am Vormittag die Kleine haben«, was für eine schreckliche Formulierung. Wobei Form und Inhalt sich hier in Sachen Grausamkeit die Klinke in die Hand geben. Denn die Müdigkeit, die grausame Müdigkeit, die noch in meinen Knochen steckt, erschwert die Geduld, die nötig ist, um das Geschäft wohlsortiert und ohne Geschimpfe wieder zu verlassen.

Vor dem Markt steht ein Mann mit einem pappigen Plastikbecher in den Händen und begrüßt jeden mit einem freundlichen »Guten Morgen«. Das tut er, damit man sich beim Rausgehen an die nette Begrüßung erinnert und ihm als Dank ein bisschen Kleingeld gibt. Jaja. Ich habe ihn durchschaut. Ihn und seine perfiden Methoden. So wie der arbeitet, könnte er auch im Zoo anfangen, denke ich, als ich kopfnickend seine Anrede erwidere und eintauche in den Laden meines Vertrauens.

Im Eiltempo durchwandere ich die bekannten Gänge mit den bekannten Produkten an den bekannten Positionen im Regal, die ich schlafwandlerisch herausgreife und unten in den Wagen schmeiße. Flott ist mein Tun, um der Kleinen keine Möglichkeit zu geben, auf dumme Gedanken zu kommen. Dumme Gedanken könnte sie bekommen, wenn sie länger irgendwo rumsteht. Diese wären dann: Etwas haben wollen, zumindest aber anfassen wollen, dafür näher ran wollen, dann aus dem Wagen wollen, sich selbstständig weiter umsehen wollen, den Honig aus dem Regal ziehen und nachher nicht aufwischen wollen.

Auf dem Weg zur Kasse bekommt sie eine Fruchtschnitte in die mürrische Schnute geschoben, die Verpackung davon kommt mit aufs Band, und ich sage wie immer zur Kassiererin, dass ich keine Punkte sammele, die mir dann etwas zurückzahlen bzw. mit denen ich dann umsonst oder etwas billiger etwas bezahlen kann, das ich neu kaufen muss. Das ist mir viel zu kompliziert. Und zu hinterhältig. Ein perfides kapitalistisches Bonussystem mit dem alleinigen Ziel, den Konsum zu steigern und die Kaufsucht zu fördern. Ohne mich. Wenn es jetzt eine Kneipe gäbe mit der Regel, je mehr Bier man am Abend trinkt, desto mehr Bier kann man für das gleiche Geld am nächsten Abend trinken, dann würde ich … ich meine, das würde doch gar nicht erlaubt, oder?

»Das könnten Sie sich auch mal merken«, denke ich also bei der Verneinung der Punkte-Frage, als meine Tochter das übliche »Na, dir schmeckt’s aber, was?« mit einem kleinen Heulanfall quittiert.

Dem Mann vor der Tür gebe ich flüchtig, aber respektvoll ein paar Münzen in sein Behältnis und freue mich bereits auf den Höhepunkt meines Morgenrituals, auf meinen koffeinhaltigen Stammplatz, auf den täglichen Kaffee im Café. Kaffee und Café. Sollte man nie verwechseln. Dass der inhaltliche Unterschied dieser beiden Worte nicht jedem klar ist, sehe ich allerdings jeden Tag, wenn ich am Bistro gegenüber vorbeikomme, dessen Glasfront die Aufschrift »Café to go« ziert.

Sitze nun endlich wie immer in »meinem« Café und esse wie immer und unbestellt einen Joghurt mit Früchten zum doppelten Espresso. Heute allerdings ist mein Platz ein sehr kleines, bastbezogenes Kinderstühlchen am Kindertisch in der Kinderecke. Aber hier zu sein ist im Grunde kein Problem, die Einschränkungen sind minimal: Ich lese keine große Zeitung, sondern kleine Pixibücher, ich schaue die Bedienung nicht an, sondern schräg zu ihr auf, ich wische mir keine trockenen Kekskrümel von der Hose, sondern lasse mich geduldig mit Joghurt vollkleckern, usw.

Die Kleine krabbelt – also ich denke, sie hält es für Krabbeln –, sagen wir, sie robbt im Sitzen, na ja, sie sitzt und stützt sich dabei auf ihre Arme und Hände, um dann den eigenen Arsch hinter sich herzuziehen … wie auch immer. Die Kleine also mogelt sich irgendwie zum Kinderwagen und betrachtet die Einkäufe, die ich unten ins Gepäcknetz geschmissen habe. Dann schaut sie auf mich und beginnt natürlich damit, jedes Teil einzeln zu mir an den Kindertisch zu transportieren.

Ich beobachte das Geschehen mit einer stoischen Gelassenheit. Mit einer gottgegebenen Seelenruhe, die mich schon immer ausgezeichnet hat. Mit einer souveränen Abgeklärtheit, die sagt: Du bist mein drittes Kind, ich habe alles schon gesehen, mach du mal. Ich bin wirklich sehr dankbar für die Gabe dieser unverrückbaren Ruhe, die natürlich vom Bereich der totalen Gleichgültigkeit kaum zu unterscheiden ist.

Nun endlich ist der Kindertisch voll mit Brot, Käse, tiefgefrorenen Erbsen, Fischstäbchen, roter Soße, Mozzarella, Reis, Dosenfisch, Joghurt, Dinkelstangen, Salami und losen Möhren. Möhren, Äpfel und ähnliches Gedöns darf ich nicht mit Plastiktütchen kaufen. Wegen meiner Frau. Die will das nicht. Wegen des Mülls. Wegen der Meere. Recht hat sie. Also lose Möhren. Kann man ja auch viel besser tragen. Mit anderthalb.

Gehe kurz an die Theke und bestelle mir noch einen Espresso. Als ich wiederkomme, sehe ich, wie eine Frau mit drei kleinwüchsigen Artgenossen auf meinen Tisch mit den Einkäufen zustürmt. Eine Frau mit drei Kindern! Wie asozial ist das denn? Wie kann man sich denn bloß drei Kinder ins Leben dengeln lassen? Und jetzt wollen sie meine Lebensmittel unter sich aufteilen. Ich eile hinzu. »Stopp, Stopp, Stopp, ihr geht jetzt alle mal ein zwei Schritte zurück, das gehört nämlich alles uns!«, brülle ich mit dieser stoischen Gelassenheit, die mich so auszeichnet. »Schreien Sie doch meine Kinder bitte nicht so an«, sagt die Prekariatsmutti. »Das ist hier kein Spielzeug, weg, weg, weg«, sage ich, zerre den Kinderwagen herbei und schmeiße alles wieder zurück. Ignoriere tapfer, dass der Mozzarella ausläuft, und murmele: »Wenn man schon drei Kinder in die Welt setzt, dann sollte man die auch im Griff haben. Meine Meinung.« Die Kleine fängt an zu weinen, die Ghetto-Kids schauen verdattert und die Alte fokussiert mich. »Hab ich Sie nicht neulich im Zoo getroffen, am Fotostand?«

»Was?« Entgeistert schaue ich sie an. Zoo, Fotostand, Erdmännchen. Ach ja. Ich erinnere mich. Das ist die Frau, der wir die Fotos zerknickt haben. Foto-Uschi. Die uns dann anzeigen wollte.

»Ich habe Sie noch nie gesehen«, erwidere ich.

»Und dat is auch Ihre?«

»Allerdings.«

»Komisch. Sieht Ihnen gar nicht ähnlich. Na ja, kommt Kinder, lasst mal den Onkel in Ruhe.«

Ich schiebe den Kinderwagen zügig Richtung Ausgang, rutsche dann auf einer losen Möhre aus und schlage lang hin. Die Kleine fängt herzerfrischend laut an zu lachen. Ein Mann sagt: Dat is doch dieser Komiker. Das halbe Café lacht jetzt. Einer ruft Zugabe.

18 Uhr

Meine Frau packt sich meine Sporttasche und wirft sie die Kellertreppe herunter, bevor sie sich an den Abendbrottisch setzt. »Das lernst du auch nicht mehr, oder?«

»Was lernt der Papa nicht mehr?«

»Ich wollte die, wenn ich nachher hier eh alles aufräume, dann …«

»So, was wollt ihr denn essen?«

Wie jeden Abend preisen wir den kleinen Herrschaften verschiedenste Speisen und Getränke zum baldigen Verzehr an. Das abendliche Grundnahrungsmittel des Großen – frische Kalbsleberwurst – ist vergessen worden zu kaufen. Die dafür Verantwortlichen schieben sich gegenseitig die Schuld in die Schuhe.

»Iss doch mal Käse oder Schinken.«

»Nein!«

»Ach, entschuldige, ich meine, du darfst jetzt auf keinen Fall Käse oder Schinken essen.«

»Will ich auch nicht.«

Die Mittlere hat sich Dosenfisch, Joghurt, Salami, Fleischsalat, »alte Nudeln warmgemacht« und Mozzarella bringen lassen und ist nun mit der Auswahl überfordert.