Blindlings ins Glück - Ria Hellichten - E-Book

Blindlings ins Glück E-Book

Ria Hellichten

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Beschreibung

Bea und Johnny könnten nicht unterschiedlicher sein: Notgedrungen trifft sich die vegane Studentin mit dem arroganten Personalchef, den sie für ihre Abschlussarbeit befragen soll. Aber Johannes Baumann, der ihr noch vor wenigen Monaten bei einem Praktikum das Leben zur Hölle gemacht hat, ist jetzt ein gebrochener Mann: Auf einer Geschäftsreise ist er durch gepanschten Schnaps erblindet. Während Johnny sein Leben neu ordnet und Bea versucht, zwischen Studium, Poetry Slams und gesellschaftlichem Engagement zu sich selbst zu finden, kommen sich die beiden näher. Und weil sie so unterschiedlich sind, fliegen nicht nur Funken, sondern auch Fetzen. Ganz langsam begreifen sie dabei, dass sie ihrem Glück nur selbst im Weg stehen. „Blindlings ins Glück“ ist eine berührende Geschichte darüber, dass uns gerade unsere Fehler liebenswert machen. Der Roman erzählt von Menschen, die mutig loslassen, neu anfangen und lernen, über sich selbst zu lachen. Denn schließlich verstehen Bea und Johnny: Es kommt im Leben auf die kleinen Dinge an – manchmal sogar auf das, was man nicht sehen kann.

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And if I ever lose my eyes, if my colours all run dry,yes, if I ever lose my eyes, oh if … I won’t have to cry no more.Cat Stevens, Moonshadow

Die Geschehnisse, sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2021 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8410-8

Ria HellichtenBlindlingsins Glück

Für Vivian, die mehr sieht als wir alle.

PLAYLIST

Ben Howard – 7 BottlesU2 – Sleep Like a Baby TonightMumford & Sons – Blind Leading the BlindThe Rolling Stones – Tumbling DiceCat Stevens – MoonshadowLady Gaga & Bradley Cooper – ShallowKodaline – ReadyQueen – Let Me LiveBirdy – Save YourselfMumford & Sons – Hold on to What You BelieveKodaline – The One

PROLOG

Das Rattern der Jalousien durchbrach die friedliche Stille des Büros wie Kanonenschüsse. Gleißende Sonne füllte den Raum.

Tabea beobachtete, wie Barbara sich wieder vom Fenster entfernte und vor ihrem Computer Platz nahm. Die Sekretärin strich den Rock glatt und zog ihre Brille auf die Nasenspitze. Es dauerte geschlagene drei Sekunden, bis die Sekretärin bemerkte, dass alle Fenster minimiert waren und sie mit konzentriertem Blick auf das Hintergrundbild starrte: ein getigertes Kätzchen auf einer Wiese. Hektisch klickte sie auf den Maustasten herum.

Sprich ihn am besten gar nicht an, hatte Barbara gesagt. Der Vollautomat ist seit Freitag kaputt. Das macht ihn wahnsinnig und ich muss jetzt seinen Kaffee von Hand aufbrühen. Außerdem stehen die Gehaltsabrechnungen an: Die letzte Woche des Monats ist immer der Horror.

Entschlossene Schritte näherten sich vom Flur her, dann schwang die Glastür auf. Tabea wandte den Kopf. Das war also Johannes Baumann: Der maßgeschneiderte Anzug saß perfekt, genauso das unverbindliche Lächeln. Ein leichter Windzug wehte durch das gekippte Fenster und strich ihm lässig eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Fehlt nur noch, dass von irgendwoher coole Musik dröhnt, dachte sie. Aber statt Rock You Like a Hurricane begleitete nur das disharmonische Surren einer Fliege den Auftritt des Personalchefs.

Baumann verschränkte die Arme vor der Brust – das Jackett war wohl doch etwas zu eng geschnitten, denn es spannte bei dieser Geste eindeutig an den Oberarmen – und blickte wortlos von Tabea zu Barbara und wieder zurück. Dabei runzelte er die Stirn und sah sie beide so finster an, dass Tabea am liebsten unter dem kleinen Behelfsschreibtisch verschwunden wäre, den man ihr ins Zimmer geschoben hatte. Stumm drehte sich ihr Chef zum Fenster um.

„Soll ich Ihnen Kaffee bringen? Schwarz, wie immer?“, fragte Barbara.

Baumann nickte seiner Sekretärin zu, stellte seine Aktentasche ab und blieb ungeduldig vor dem Fenster stehen. Es verstrichen zwei oder drei stille Minuten, bis Barbara wieder herbeieilte und ihm eine dampfende Kaffeetasse reichte. Baumann nahm einen Schluck und verzog das Gesicht, dann goss er den restlichen Inhalt der Tasse in eine schmächtige Yuccapalme auf dem Fensterbrett. War wohl nicht das erste Mal, dass er seinen Kaffee teilte.

„Haben Sie wieder vergessen, den Filter anzufeuchten? Das schmeckt ja wie Spülwasser.“

Woher er wohl wusste, wie Spülwasser schmeckte? Tabea unterdrückte ein Schmunzeln. Das hatte sie nur gedacht, oder? Puh.

Baumann ließ sich in den ledernen Chefsessel hinter dem höhenverstellbaren Schreibtisch fallen. Schließlich knöpfte er sein Jackett auf, feuchtete einen Zeigefinger an und machte sich daran, einen turmhohen Stapel an Unterlagen zu signieren. Er war schon fast bei der Hälfte des Papierbergs angekommen, als er fragte, ohne aufzusehen: „Möchten Sie sich vielleicht vorstellen oder haben Sie schlicht vor, den ganzen Tag stumm dazusitzen und mir bei der Arbeit zuzusehen?“

Barbara verschluckte sich und spuckte beinahe ihren Kräutertee über den Bildschirm. „Entschuldigen Sie, Herr Baumann“, klinkte sie sich ein. „Ich dachte, Sie wüssten Bescheid, dass heute Frau …“

Tabea unterbrach ihre halbherzig gespielte Partie Tic- Tac-Toe gegen sich selbst und stand auf. Sie gab sich keine Mühe, irgendwas glattzustreichen, denn der recycelte Baumwollstoff ihres Fairtrade-Blazers machte ohnehin, was er wollte. „Bach“, sagte sie mit fester Stimme. „Tabea Bach. Wir haben uns nach dem Bewerbungsgespräch kurz gesehen und sicher hat Ihnen Herr Döring mitgeteilt, dass ich Ihre Abteilung in den nächsten Wochen als Praktikantin unterstützen werde.“

Beim Namen seines Vorgesetzten zog Baumann unverhohlen eine Augenbraue hoch, aber noch bevor er etwas erwidern konnte, streckte ihm Tabea enthusiastisch die Hand entgegen. „Ich freue mich auf die Zusammenarbeit.“

Er zögerte kurz. Verdammt! Hatte sie es wieder mal übertrieben?

Aber dann griff Baumann beherzt zu, drückte ihre Finger einmal kräftig und sagte: „Ganz meinerseits.“

Für den Bruchteil einer Sekunde trafen sich ihre Blicke. Keiner von beiden blinzelte, keiner sah weg. In Baumanns Augen lag plötzlich ein Funkeln, fast so, als wüsste er, dass er bei einer Lüge ertappt worden war. Gleichzeitig bog sich einer seiner Mundwinkel nach oben. Tabea verstand: Dieses jungenhafte Halblächeln war keine Show, das war ganz er. Für einen Moment dachte sie, Baumann wollte noch ein paar höfliche Begrüßungsfloskeln austauschen, aber alles, was er sagte, war: „Ich hoffe, Sie können Kaffee kochen.“

JOHNNY

Wie gerädert. Gehängt, gerädert und gevierteilt. Der letzte Abend der Geschäftsreise hatte ihm im wahrsten Sinne des Wortes den Rest gegeben. Er wusste nicht mal, wie lange er geschlafen hatte.

Freitag war er am Flughafen Basel-Mulhouse-Freiburg gelandet, daran erinnerte er sich. Von dort aus ging es nach Hause und er hatte sogar angefangen, eine Präsentation für die nächste Woche vorzubereiten. An seinen Rausch hingegen waren ihm nur wirre Erinnerungen geblieben, die wie im Fiebertraum zusammenhanglos an ihm vorbeischwirrten, dazu ein drückendes Gefühl in der Magengegend und stechende Kopfschmerzen. Nie wieder würde er solches Teufelszeug trinken, so viel war sicher.

Am Samstag, dem Tag nach der Landung, war Johnny speiübel geworden; er hatte seine Zeit zwischen der Toi­lette und dem Sofa verbracht und war früh ins Bett gegangen. Trotzdem fühlte er sich heute nicht viel besser. Und Johnny hasste Sonntage, selbst wenn er sie nicht mit einem üblen Kater zubringen musste. Wahrscheinlich türmten sich inzwischen die Briefe auf seinem Schreibtisch und das E-Mail-Postfach quoll über.

Johnny schlug die Augen auf, aber im Schlafzimmer war es stockfinster. Er massierte die Haut zwischen seinen Augenbrauen, die sich so kalt und glatt anfühlte wie Wachs. Sicher war es schon Nachmittag, dabei musste er dringend wieder an die Präsentation. Das war gleich der erste Punkt auf der Tagesordnung, abgesehen davon, sich mithilfe eines doppelten Espressos, einer heißen Dusche und zwei oder drei Kopfschmerztabletten wieder in einen ansehnlichen, disziplinierten und motivierten Menschen zu verwandeln.

Wenigstens nahm Johnny an, dass die anderen über die Eskapaden der letzten Tage Stillschweigen bewahren würden – denn niemand legte sich freiwillig mit dem Personalchef an. Außerdem waren die meisten seiner Untergebenen verheiratet und er war nicht sicher, ob die jeweiligen Ehefrauen, die ihnen am Flughafen „Viel Spaß“ gewünscht hatten, wussten, wie richtig sie damit lagen. Als internationales Pharmaunternehmen hatte Sanacur auch eine Tochterfirma in Spanien. Und die Spanier wussten, wie man feiert.

Etwas Weiches, Warmes schmiegte sich an seine Seite. Johnny streckte den Arm aus und kraulte den Kater. Das Schnurren des Tieres hatte eine angenehm beruhigende Wirkung auf ihn. Johnny seufzte und blinzelte ein paarmal. Die Dunkelheit umgab ihn grau und dicht, durchdrungen lediglich von ein paar bunten Blitzen und schemenhaften Formen.

Allmählich kroch ein Anflug von Panik in seinen müden Gliedern hoch. Betrunken war er bestimmt nicht mehr, also konnte es wohl nur die Erschöpfung sein. Vielleicht war er langsam zu alt für diesen Scheiß. Johnnys Magen krampfte sich zusammen, die Zunge klebte ihm trocken am Gaumen und der dumpfe Schmerz hinter den Schläfen zermürbte seine sonst eiserne Selbstbeherrschung. Reiß dich zusammen, Mann, sagte er sich und drückte seinen Oberkörper mit den Ellenbogen hoch. Dann richtete er sich ruckartig auf und stolperte aus dem Bett, wobei der Kater ein protestierendes Maunzen von sich gab. Für einen Moment verlor Johnny die Orientierung, schwankte und glaubte zu fallen, bis seine Beine endlich Halt auf dem polierten Parkettboden fanden. Trotzdem blieb das beklemmende Gefühl: Er konnte nichts erkennen und ihm war, als würden die Wände auf ihn zukommen; als müsste er jeden Augenblick dagegenprallen. Als er endlich den verdammten Lichtschalter gefunden hatte, stöhnte er auf: Murphys Gesetz. Ausgerechnet jetzt war die Birne kaputt oder die Sicherung durchgebrannt oder der Strom ausgefallen … es blieb dunkel.

Schlaftrunken stocherte Johnny in der Luft herum, bis seine Hand das kalte Metall der Türklinke fand. Im Flur hatte er keine Rollläden und die Morgensonne würde durch das Dachfenster scheinen. Ja, selbst an einem so trostlosen Sonntag wie heute. Er öffnete die Tür, aber auch im Flur war es finster. Leise fluchte er. Vielleicht hatte ihm jemand etwas in den Drink getan? Bei diesem Gedanken schnürte sich sein Brustkorb zu, was das Atmen – und somit auch das Denken – beinahe unmöglich machte.

Es kostete Johnny alle Mühe, sich zu erinnern: Nach dem letzten Caipirinha hatte er die Bekanntschaft aus der Bar mit auf sein Hotelzimmer genommen. Er wusste ihren Namen nicht mehr, Camila oder Chiara oder so was. Sie hatte eine Flasche Schnaps dabeigehabt, die sie irgendwo aufgetrieben hatte. An alles, was danach geschehen war, konnte er sich nur vage entsinnen. Da waren zwar undeutliche Bilder von den übernächtigten Gesichtern seiner Kollegen am Flughafen und einer schier endlosen Taxifahrt, aber keine Erinnerungen an die letzte Nacht in Barcelona.

Johnny klopfte sich mit den Handflächen auf die Wangen, um sich zur Besinnung zu rufen. Er war nicht in der Lage, eine Erklärung für seine Verfassung zu finden. Sein Herz pumpte einen Adrenalinstoß nach dem anderen durch seinen Körper und auf seiner Stirn bildeten sich feine Schweißperlen, aber er musste jetzt ruhig bleiben, das Problem analysieren: Plan – Do – Check – Act. Er wiederholte diese magische Formel so lange stumm, bis sich sein Herzschlag beruhigte. Als Erstes würde er sich wieder hinlegen. In ein paar Stunden wäre alles überstanden und dieses Gift, was auch immer es war, aus seinem Organismus gespült worden. Außerdem würde er Dr. Google fragen, der ihm schon in fast jeder Lebenslage beratend zur Seite gestanden hatte.

Benommen tapste Johnny wieder ins Schlafzimmer. Er hangelte sich am Kleiderschrank entlang zur gegenüberliegenden Wand und schließlich wieder zu seinem Bett, wo er sich fallen ließ. Dann streckte er den linken Arm aus und tastete nach seinem Handy, das auf dem Nachtschrank lag. Er drückte den Homebutton, aber das Display blieb schwarz. Johnny seufzte und drückte die Taste noch einmal. Ein Piepton erklang. „Hallo, Siri“, murmelte er.

„Hallo, Johnny“, kam es blechern zurück.

„Warum kann ich nichts sehen?“

„Das. Ist. Das. Resultat meiner Websuche zu. Warum kann ich –“

Resigniert pfefferte Johnny das Telefon auf sein Kissen. Ein grauenvoller Gedanke formte sich in seinem pochenden Kopf: Was, wenn er schon tot war und das hier seine ganz persönliche Hölle? Im nächsten Moment wollte er fast lachen, so absurd erschien ihm diese Vorstellung. Er hatte wohl in der Schulzeit zu viel Sartre gelesen! Andererseits begann er allmählich, an seinem Geisteszustand zu zweifeln. Vielleicht war er ja jetzt ein körperloses Wesen, nur noch eine Seele, die im Raum schwebte – oder sogar ein Zombie? Was für ein Blödsinn. Bis auf diese leidigen Kopfschmerzen war er bei bester Gesundheit, daran bestand kein Zweifel. Montags trafen sich die Abteilungsleiter zum Jour fixe und außerdem wurde es Zeit, ein paar arbeitsmüde Kollegen abzumahnen. Ganz zu schweigen von den Stellen, die für den neuen Außendienst besetzt werden mussten. Ohne ihn ging der Laden den Bach runter, so viel war sicher. Also würde er, Johannes Baumann, Master of Arts in Human-Resources-Management, am nächsten Morgen wie an jedem Montagmorgen spätestens um viertel vor acht an seinem Schreibtisch sitzen, notfalls auch blind.

Blind? Obwohl Johnny eben noch geschwitzt hatte, lief ihm jetzt ein eiskalter Schauer über den Rücken. Das konnte nicht sein – oder doch? Sollte er sein Augenlicht verloren haben, vielleicht sogar für immer? Der grausame Gedanke erfüllte das stickige Zimmer wie eine unbestimmte, gestaltlose Bedrohung. Johnnys Nackenhaare stellten sich auf. Der Drang, wegzulaufen, war so überwältigend, dass das Blut in seinen Ohren rauschte. Aber trotz dieses animalischen Fluchtinstinkts konnte Johnny keinen Finger rühren. Er war gefangen in dieser fremdartigen Dunkelheit.

Behutsam führte Johnny seine Hände an die Augen und befühlte mit den rauen Fingerspitzen die Lider. Er übte leichten Druck auf die Augäpfel aus. Die bunten Blitze, die durch sein Sichtfeld zuckten, wurden heller und plötzlich übernahm sein Verstand wieder die Führung. Dass er noch Formen und Farben sah, war ein gutes Zeichen, oder? Er musste dringend einen Arzt aufsuchen. Wo war denn jetzt das verdammte Handy? Vielleicht könnte er heute noch einen Termin bekommen … das heißt, es war ja Sonntag. Seine charmante Hausärztin fiel also schon mal weg. Warum passierte so etwas ausgerechnet am Wochenende?

Johnny tastete mit den Handflächen über seine Satinbettwäsche. Es dauerte eine Weile, dann hielt er endlich sein Handy wieder in der Hand. Gewohnheitsmäßig glitten seine Finger über den Bildschirm. Er drückte den einzigen Knopf, den das iPhone besaß. „Siri, ruf den ärztlichen Notdienst an.“ Er hätte nie gedacht, dass er diese Worte einmal sagen müsste.

„In Ordnung“, antwortete Siri. „Starte Notruf in 3 … 2  … 1 … Tuuut.“

Nervös lauschte Johnny dem Freizeichen in der Leitung, seiner einzigen Verbindung zur Außenwelt. „Notrufzentrale, guten Tag, mit wem spreche ich?“

„Hallo, Baumann hier. Ich kann nichts mehr sehen.“ Bestürzt stellte er fest, dass seine Stimme zitterte.

„Bitte erklären Sie mir genau, was geschehen ist. Gab es einen Unfall?“

„Nein. Aber ich glaube, ich bin blind.“

Die Stimme am anderen Ende der Leitung zögerte. „Haben Sie Schmerzen im Auge oder sonstige Beschwerden?“

Johnny stöhnte. „Zählt ein übler Kater dazu?“

Die Telefonistin schien keinen Spaß zu verstehen. „Hier ist die Notrufzentrale. Wenn Sie sich nicht in akuter Gefahr für Leib und Leben befinden, wenden Sie sich bitte an –“

Allmählich war seine Geduld zu Ende. „Verdammt noch mal!“, brüllte Johnny in sein Handy. „Ich kann nichts sehen! Ich finde alleine noch nicht mal zur Toilette, okay?“

„Bitte bleiben Sie ruhig. Nennen Sie mir Ihre Adresse, dann schicke ich einen Krankenwagen vorbei.“

Johnny schluckte. Er wollte nicht mit Blaulicht ins Krankenhaus gefahren werden wie ein Invalider. „Haben Sie denn keinen Arzt, der Hausbesuche macht? Einen Augenarzt am besten.“

„Warten Sie einen Moment, ich verbinde Sie.“

Mit der freien Hand fuhr sich Johnny durch die Haare und wartete. Was für ein beschissener Morgen! Es konnte wohl kaum noch schlimmer kommen. Kurz darauf meldete sich eine andere Frauenstimme und Johnny musste sich anhören, dass auch der ärztliche Bereitschaftsdienst keine Hausbesuche abstattete.

„Haben Sie jemanden, der Sie ins Krankenhaus fahren kann?“, fragte die Telefonistin.

Johnny überlegte. Seine Mutter könnte ihn sicher fahren, aber da würde er lieber im Schlafzimmer krepieren. „Danke, ich komme schon irgendwie hin“, nuschelte er ins Handy. Dann legte er auf.

Was er jetzt brauchte, wäre jemand, der keine Fragen stellte. Der machte, was man ihm sagte, und über die ganze Sache morgen im Büro kein Wort verlieren würde. Morgen im Büro? Was, wenn er morgen nicht ...

Johnny wischte sich den kalten Schweiß von der Stirn, wie um den Gedanken zu vertreiben, und wandte sich wieder seinem Handy zu. „Siri, ruf Babsi an.“ Babsi war seine Assistentin. Oder zumindest das, was dem in seiner Abteilung am nächsten kam.

„Ich finde keinen Bab-si in deinen Kontakten.“

„Siri, ruf BARBARA an.“ Allmählich nervte ihn die Konversation mit seinem Telefon und er freute sich da-rauf, endlich persönlich mit einem Menschen sprechen zu können – selbst wenn es nur Babsi war.

Die Sekunden, bis jemand den Hörer abnahm, zogen sich unerträglich. Na komm, Babsi, dachte er, geh ran. Was konnte sie an einem Sonntag schon vorhaben?

„Münzer?“, meldete sich eine zarte Frauenstimme.

„Babsi, haben Sie noch die alte Klapperkiste?“

„Herr Baumann, sind Sie das?“

Johnny stöhnte. „Hundert Punkte, Babsi.“

„Wie oft soll ich Ihnen noch sagen, dass ich für Sie Barbara heiße?“

„Jaja. Also, Babsi – Barbara –, kommen Sie sofort her, ich muss dringend ins Krankenhaus.“

„Ist was passiert?“, fragte Babsi. „Ein Notfall?“ Ihre ohnehin hohe Stimme überschlug sich fast und schmerzte in seinen Ohren.

Johnny knirschte mit den Zähnen. „Ja, so ungefähr. Holen Sie mich jetzt ab?“

Babsi zögerte. „Sie wissen aber, dass heute Sonntag ist? Und Sie hören sich gar nicht krank an.“

Johnnys stechende Kopfschmerzen machten diese Diskussion noch nervenaufreibender. „Und wissen Sie, dass Ihr Gleitzeitkonto ziemlich in den Miesen ist?“

Sie schnaubte. „Es ist doch einfach nicht zu fassen –“

„Kommen Sie jetzt … bitte?“

Wortlos legte Babsi auf. Aber Johnny war sicher, dass sie genau in diesem Moment aus ihrer Wohnung stolperte und in spätestens einer halben Stunde ihren alten Golf vor der schicken Altbauvilla in der Wiehre geparkt hätte, in der seine Maisonettewohnung lag.

Barfuß schlich er über den Holzfußboden und dachte nach. Um Babsi die Tür zu öffnen, musste er die Treppe hinuntergehen, in den Flur, wo sich die Gegensprechanlage befand. Wahrscheinlich wäre es auch nicht verkehrt, wenn seine Boxershorts und das durchgeschwitzte T-Shirt nicht die einzigen Kleidungsstücke wären, mit denen er im Krankenhaus auftauchte. Er hatte eine vage Ahnung, wo sich seine Jogginghose im Kleiderschrank befinden musste. Vielleicht könnte er den dicken Sweatstoff sogar erfühlen. Aber um sicherzugehen, sollte er das lieber Babsi überlassen, die sicher nichts dagegen hätte, wenn er ihr fast so gegenüberstünde, wie Gott ihn geschaffen hatte. Na gut, Gott und das örtliche Fitnessstudio. Trotz der beängstigenden Situation, in der Johnny sich zweifellos befand, amüsierte ihn dieser Gedanke. Und obwohl er wusste, dass er es mit seiner zynischen Art manchmal übertrieb, war ihm im Moment alles recht, was die Gedanken davon abbrachte, um dieses eine fatale, unaussprechliche Wort zu kreisen.

Mit der rechten Hand fuhr Johnny sich über die Bartstoppeln am Kinn. Er war sicher, dass man ihm das wilde Partywochenende ansah. Vermutlich hatte er Augenringe und eine ungesunde Gesichtsfarbe. Er wusste zwar, dass er einer der wenigen Männer war, denen selbst ein gewisses heruntergekommenes Flair gut stand, aber trotzdem wuchs seine innere Unruhe, weil er sich nicht ausgiebig im Spiegel betrachten konnte wie an jedem gewöhnlichen Morgen.

Die Klingel ertönte und Johnny zuckte zusammen. Er hörte, wie der Kater leichtfüßig voranlief und die Treppe herunterschwebte, aber er selbst hatte Mühe, ins untere Stockwerk zu gelangen, ohne sich dabei den Hals zu brechen. Mit einer Hand umfasste er das lackierte Holzgeländer, das sich glatt und kühl anfühlte, während seine nackten Zehen vorsichtig Stufe um Stufe ertasteten. Nie im ganzen Leben hatte er sich so hilflos gefühlt. Aber der Arzt würde ihm irgendwelche Augentropfen verschreiben und in ein paar Stunden wäre der Spuk hoffentlich vorbei. Johnny arbeitete sich zur Sprechanlage vor – nicht ohne sich den Fuß kräftig an der Vitrine mit den Modellautos zu stoßen – und drückte auf den Summer. Babsis Absätze klimperten auf dem Marmorboden, als sie über die Loggia auf seine Wohnungstür zusteuerte. Dann klopfte es energisch an der Tür.

„Ist offen“, rief er.

Babsi zog die Tür auf und kam auf ihn zu. Er spürte den Luftzug, den ihre Bewegungen verursachten, und roch ihr übersüßes Parfum. Wahrscheinlich musterte sie ihn gerade mit entsetztem Blick. Auch Designer-Boxershorts ersetzten nun mal keinen Stresemann und sein Outfit wäre selbst an einem Casual Friday nicht durchgegangen.

„Um es kurz zu machen und uns die Peinlichkeiten zu ersparen, Babsi: Ich scheine da ein Problem mit meinen Augen zu haben, sicher nur vorübergehend. Sie sehen aber trotzdem bezaubernd aus, wie immer.“

Sie schnaubte.

„Tun Sie das nicht, das ist nicht sehr damenhaft.“ Er machte ein paar Schritte auf sie zu und tastete sich dabei unbeholfen an der Wand entlang.

Es dauerte einen Moment, bis Babsi antwortete. „Ist das ein schlechter Scherz? Soll das heißen, dass Sie nichts mehr sehen können?“ Sie hielt inne und er hörte, wie sie nach Luft schnappte. „Sind Sie etwa blind?“

Blind. Schon wieder dieses Wort, das ihm durch Mark und Bein ging. Zum zweiten Mal, seit er an diesem elenden Morgen aufgewacht war, drohte ihn die blanke Angst zu überwältigen. Johnny zwang sich zu einem Lächeln. „Ach, papperlapapp, jetzt machen Sie mal nicht die Pferde scheu. Wenn Sie bitte so gut wären, ins Schlafzimmer im Obergeschoss zu gehen.“ Er machte eine vage Handbewegung in Richtung der vermuteten Treppe. „Und kommen Sie bloß nicht auf falsche Gedanken: Ich möchte eine Hose an- und nicht ausziehen, also holen Sie irgendwas Bequemes aus dem Kleiderschrank.“

Obwohl er es nicht sehen konnte, war er ziemlich sicher, dass Babsi den Kopf schüttelte. Ihren Absätzen nach bewegte sie sich an ihm vorbei über das Parkett in Richtung Treppe. Sie würde noch seinen Boden ruinieren, dachte er und verschränkte die Arme. Als sie oben war, hörte er, wie sie etwas Unverständliches vor sich hin murmelte, dann trippelten die Absätze wieder zu ihm herunter und kurz darauf spürte er ihre Finger auf seinem Oberarm.

„Erschrecken Sie sich nicht. Ich habe hier Unterwäsche, eine Jogginghose und ein frisches T-Shirt. Ich nehme an, Sie möchten nicht im Anzug zum Arzt.“

Johnny zog einen Mundwinkel hoch und streckte die Handflächen aus. Unbeholfen nahm er das weiche Stoffpaket entgegen, das Babsi ihm reichte, klemmte es sich zwischen Ellenbogen und Körper und wankte damit in Richtung Bad. Seine Hände streckte er dabei seitlich von sich, die Finger tasteten über die Vliestapete. Obwohl er seit fünf Jahren in dieser Wohnung lebte, musste er sich konzentrieren und steuerte mit unsicheren Schritten auf die Badezimmertür zu.

„Vorsicht!“, drang Babsis Stimme plötzlich an sein Ohr, aber es war zu spät: Johnny drehte den Kopf und prallte im nächsten Moment mit der Schläfe gegen etwas Hartes. „Verdammt!“ Er biss die Zähne zusammen und hielt sich mit der freien Hand den Kopf. Leise verfluchte er sich dafür, dass er dem Kater zuliebe die Türen immer halb offen stehen ließ. Die Schamesröte stieg Johnny heiß ins Gesicht und er musste ein paarmal tief Luft holen, um sich zu beruhigen. Es nützte niemandem, am wenigsten ihm selbst, –, wenn er jetzt die Nerven verlor.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte seine Assistentin.

„Es geht schon.“ Johnny seufzte. Kaum hörbar setzte er noch einmal an: „Babsi?“

„Ja?“

„Danke.“ Etwas lauter fügte er hinzu: „Und versuchen Sie erst gar nicht, mir zu folgen. Ich höre Sie kommen!“

Johnny zog vorsichtig die Tür hinter sich zu – um sich auf dem Rückweg nicht wieder zu stoßen und nicht weil ihn Babsis Blicke gestört hätten. Er torkelte zum Waschbecken, drehte den Hahn auf und schöpfte sich das angenehm kühle Wasser ins Gesicht. Nachdem er einen großen Schluck getrunken hatte, machte er eine eilige Katzenwäsche und versuchte, mit den feuchten Fingern seine Frisur in Ordnung zu bringen. Er zog sich die Kleidung über und stellte dabei fest, dass auch sein Outfit von Freitag noch auf dem Fliesenboden lag. Erleichtert zog er sein Portemonnaie aus der Hosentasche der Jeans: Die Chipkarte der Krankenkasse würde er brauchen. Er steckte die Geldbörse ein, aber plötzlich ließ ihn etwas innehalten. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal das Haus verlassen hatte, ohne einen gründlichen Blick in den Spiegel zu werfen. Bei diesem Gedanken stieg ein beklemmendes Gefühl in Johnny auf. Er ließ die Finger in sein Gesicht wandern, um die vertrauten Konturen zu betasten. Er war immer noch der Alte. Die hellbraunen, mit ein paar Silberfäden durchsetzten Haare fielen ihm in die Stirn, weil er sie nicht geföhnt hatte, aber sie waren auch nicht lichter als gestern, da war er sicher. Er konnte die stoppelige Haut ertasten, die sich über seine Wangenknochen und sein Kinn spannte – die Rasur musste warten. Probeweise verzog er die Lippen zu einem Lächeln, obwohl ihm überhaupt nicht danach zumute war. Die Grübchen saßen an derselben Stelle wie immer. Erleichtert atmete er auf und schüttelte den Kopf über sich selbst. Er war noch genau derselbe Mann. Derselbe gut aussehende Mann, auch wenn er nicht in den Spiegel gucken konnte, um das zu überprüfen.

Was Babsi anging, hatte er ohnehin schon länger den Verdacht, dass sie mehr als nur kollegiale Gefühle für ihn hegte. So wie beinahe alle Frauen, die diese Stelle in der Personalabteilung vorher bekleidet hatten. Im Gegensatz zu Babsi war keine von ihnen lang geblieben. Diese Anziehungskraft musste wohl von der Aura der Autorität ausgehen, die ihn umgab. Trotzdem würde er niemals etwas mit Babsi anfangen: Er pflegte Berufliches und Privates zu trennen. Kein Techtelmechtel im Job. Geschäftsreisen waren die Ausnahme, denn da konnte er sicher sein, seine Begleitung der vergangenen Nacht niemals im Büro wiederzutreffen. Oder überhaupt bei Tageslicht. Die Stadt bot schließlich genügend Möglichkeiten, seine Einsamkeit zu vergessen, wenn sie ihn doch einmal überkam, was selten genug passierte.

Aber von all dem brauchte Babsi nichts zu wissen. Schließlich war er jetzt auf sie angewiesen, wenn er nicht seine Mutter – Gott behüte! – oder seinen Kumpel Dirk anrufen wollte, der irgendwie nicht mehr derselbe war, seit er in den Ehehafen geschippert war.

Johnny hörte, wie Babsi sich räusperte. „Können wir jetzt bitte los? Ich habe heute noch etwas vor.“

Johnny seufzte und schwankte ein paar Schritte durch den Flur, um ihr seine Hand entgegenzustrecken. Aber anstatt sich bei ihm einzuhaken, schloss Babsi die Finger um seinen Unterarm und führte ihn zur Wohnungstür.

„Ein bisschen sanfter bitte“, säuselte Johnny mit gespielter Entrüstung. Den langen Haarsträhnen nach, die seine Wange kitzelten, schüttelte Babsi jetzt gerade den Kopf. „Ich brauche dringend einen neuen Job“, sagte sie halb laut zu sich selbst.

„Wie war das?“ Johnny blieb stehen. „Sagen Sie so etwas nicht! Hinterher landen Sie bei irgendeinem Ekel, das es nur auf Ihren hübschen Hintern abgesehen hat und nicht auf Ihre anderen Qua–“

Johnny spürte ihren wütenden Blick. Er hatte zwar nie sonderlich feine Antennen für zwischenmenschliche Stimmungen besessen, aber hier knisterte die Luft.

„Sie können von Glück reden, dass ich so geduldig bin“, zischte Babsi. „Ich hätte nicht wenig Lust, Sie hier sitzen zu lassen, und was machen Sie dann? Es ist Sonntagabend und zu Hause wartet mein Verlobter mit dem inzwischen kalten Essen, also lassen Sie einfach die blöden Sprüche.“

Johnny erstarrte. Er konnte nicht sagen, was ihn mehr schockierte: dass es schon Abend war und er über vierundzwanzig Stunden geschlafen hatte oder dass Babsi verlobt war. Zwar war ihm nicht entgangen, dass sie in letzter Zeit irgendwie aufgeblüht war, aber ... ein Verlobter? Und er hatte nichts davon gewusst? Nicht zu fassen.

„Sie sind verlobt?“, fragte er, ohne sich Mühe zu geben, die Neugier in seiner Stimme zu verhehlen.

Babsi stieß einen langen Seufzer aus und womöglich verdrehte sie auch die Augen. „Ach, hören Sie bitte auf, sich für mein Privatleben zu interessieren, das kaufe ich Ihnen nicht ab. Wenn Sie nicht so ein –“

Johnny zog erwartungsvoll die Augenbrauen hoch. Vielleicht hatte er es mit seinen Provokationen diesmal doch zu weit getrieben. Keine von Babsis Vorgängerinnen hatte ihn je beleidigt.

„Wenn Sie nicht so mit sich selbst beschäftigt wären, hätten Sie das vielleicht auch mitbekommen.“

Johnny zuckte nonchalant mit den Schultern. „Spätestens wenn sich der ganze Papierkram wegen der Namensänderung auf meinem Schreibtisch gestapelt hätte, wäre es mir schon aufgefallen.“

Babsi öffnete stumm die Wohnungstür und schob ihn umständlich hindurch. Johnny schaffte es gerade noch, in einem Anflug geistiger Gegenwärtigkeit seinen Wohnungsschlüssel vom Haken neben der Tür zu nehmen und einzustecken, dann zog Babsi die Tür hinter ihnen wieder zu. „Das sind bezahlte Überstunden“, sagte sie, bevor sie auf die Ruftaste für den Aufzug drückte, die einen leisen Piepton von sich gab. Johnny überlegte kurz, was er erwidern könnte; aber hier, an der Schwelle, die von seiner gewohnten Umgebung in die ihm neuerdings fremde Welt hinausführte, verging ihm plötzlich die Lust, zu streiten.

Vor dem Aufnahmetresen des Krankenhauses ließ Babsi ihn einfach stehen. „Es tut mir leid, Herr Baumann. Ich wünsche Ihnen alles Gute, aber ich muss jetzt wirklich wieder nach Hause.“

In ihrer gereizten Stimme schwang noch ein anderes Gefühl mit, das dafür sorgte, dass Johnny sich plötzlich wieder wie ein Schuljunge fühlte, der ins Büro des Direktors gerufen worden war. Wieder und wieder huschte ihm derselbe Gedanke durch den Kopf: Scheiße. Diesmal hast du wirklich großen Mist gebaut. Verdammte Scheiße …

„Bitte?“, fragte im nächsten Moment eine kratzige Frauenstimme mittleren Alters. „Wie kann ich Ihnen weiterhelfen?“

Johnny stammelte drauflos und schaffte es irgendwie, der Dame am Tresen zu erklären, weshalb er dort war. Er berichtete von bunten Blitzen, die durch sein Sichtfeld zuckten, von stechenden Kopfschmerzen und dem Wunsch, das Patienten-WC aufzusuchen. Gern in Begleitung, weil er es allein leider nicht finden würde.

Die Rezeptionistin schien etwas überfordert zu sein. Sie gab ein paar undefinierbare, genuschelte Wörter von sich und tippte dann wild auf den Tasten eines Telefons herum, bevor sie mit eindringlicher Stimme eine Stationsschwester herbeirief. Dann ging auf einmal alles ganz schnell: Menschen kamen, fragten Johnny aus, zerrten an ihm herum und ließen ihn wieder allein. „Guten Tag, ich bin Herr Doktor Soundso.“ „Hallo, ziehen Sie sich bitte aus und legen Sie sich hin.“ „Wir machen noch eine Computertomografie, könnten Sie die Uhr ablegen?“ …

Johnnys Kopf schwirrte und er wusste nicht, ob es am Kater lag oder an den Eindrücken, die er kaum zu fassen bekam, weil er in der riesigen Klinik und dem Gewirr aus fremden Stimmen inzwischen jegliche Orientierung verloren hatte. Gut zwei Stunden und etliche Untersuchungen später – er lag in einem Krankenbett und man hatte ihm inzwischen eine Infusion gelegt – fragte ihn jemand, der sich noch nicht einmal richtig vorgestellt hatte, schlicht: „Was haben Sie in den letzten achtundvierzig Stunden gemacht?“

Johnny klopfte mit zitternden Fingern auf die Tischplatte in dem Einzelzimmer, das man ihm kurzerhand zugewiesen hatte. „Wie ich bereits Ihrem Kollegen und dessen Kollegin gesagt habe, bin ich von einer Geschäftsreise zurückgekommen.“

„Wo arbeiten Sie?“

„Im Personalmanagement. Bei Sanacur, einem Pharmaunternehmen.“

„Die Reise war innerhalb Europas?“

„Spanien.“

Sein Gegenüber schien zu überlegen. „Und haben Sie am letzten Abend etwas getrunken?“

Johnny nickte beiläufig.

„Was genau?“

Er seufzte ungeduldig. „Meine Güte, ein paar Drinks eben. Als ob ich mich an jeden einzeln erinnern würde. Wir waren in einer Bar, also … erst Bier, dann ein paar Mojitos oder Caipirinhas und so weiter …“

„Vielleicht auch etwas Selbstgebranntes?“

Johnny schüttelte den Kopf. „Bestimmt nicht, nur das Bier und die Cocktails.“ Angestrengt versuchte er, den letzten Abend noch einmal in Gedanken Revue passieren zu lassen. „Außer –“ Er hielt inne und spürte, wie Wirbel für Wirbel ein eiskalter Schauer seinen Rücken hinunterlief. „Ich war später noch mit einer Frau auf meinem Hotelzimmer, die hatte eine Flasche dabei. Aber fragen Sie mich nicht, was das für ein Zeug war. Korn oder so was.“

Es folgte eine schwere, unheilvolle Stille, die nur von dem Geräusch durchbrochen wurde, das Johnnys nervös trippelnde Finger auf der billigen Pressspanplatte des Tisches verursachten. Es machte ihn wahnsinnig, dass der Arzt schwieg und er ihm nicht einmal ins Gesicht sehen konnte. „Jetzt sagen Sie doch was: Ist das irgendwie wichtig? Und wann bekomme ich endlich die Kopfschmerztablette, die mir die Schwester schon vor einer halben Stunde bringen wollte? Sonst lassen Sie mich wenigstens wieder nach Hause.“

Statt einer Antwort hörte Johnny leise Pieptöne, dann sprach der gesichtslose Arzt eilige Worte – größtenteils unverständlichen Fachjargon – in ein Telefon. „Herr Baumann“, begann er kurz darauf. „Bleiben Sie jetzt bitte ruhig und hören Sie mir gut zu.“

Schlagartig war Johnny hellwach. Er ballte die Finger zur Faust und versuchte sich ganz auf die Worte des anderen Mannes zu konzentrieren. Die Zeit schien für einen kurzen Augenblick stillzustehen. Er konnte seinen eigenen Herzschlag hören und spürte, wie das Blut durch seine Adern rauschte.

„Es ist denkbar, dass Sie eine Methanolvergiftung haben. Wir müssen noch auf einige Testergebnisse warten, aber ich will Ihnen keine falschen Hoffnungen machen.“

Johnny begann, unmerklich zu zittern. Er konnte nicht sagen, ob es an den Kopfschmerzen, an der Erschöpfung oder am Schock lag. Und bevor er eine Gelegenheit hatte, etwas zu erwidern, fuhr der Arzt erbarmungslos fort.

„Wenn Sie vor über achtundvierzig Stunden gepanschten Schnaps getrunken haben, sind die Schäden eventuell nicht mehr reversibel. Ihr Sehnerv ist womöglich geschädigt und es kann sein, dass Sie Ihr Augenlicht selbst bei sofortigem Therapiebeginn nicht zurückgewinnen. Mit Glück haben Ihre Nieren keinen Schaden davongetragen, das werden die Blutwerte zeigen. Wir verlegen Sie gleich in die Klinik für innere Medizin IV, die auf Nierenleiden spezialisiert ist. Dort kann der zuständige Nephrologe über das weitere Vorgehen entscheiden, aber wahrscheinlich ist eine Blutwäsche nötig, um weitere Spätfolgen zu vermeiden.“

Das Zittern wurde stärker und Johnny verbarg sein Gesicht in einer Handfläche. Er spürte, dass der Mann ihm sacht seine Finger auf die Schulter legte, aber die Berührung war so kalt wie das nach Sterilium und Linoleum stinkende Zimmer. „Ein Glas mehr von dem Schnaps und Sie wären jetzt vielleicht nicht mehr hier.“

Johnnys Brustkorb schnürte sich zu. Gleichzeitig schoss das Adrenalin schwindelerregend durch seinen Körper. Er schnappte nach Luft und schüttelte fassungslos den Kopf. Sein bisheriges Leben war zu Ende. Alles rauschte in einem irrsinnigen Kopfkino an ihm vorbei: der Erfolg, das Geld, die Frauen. Ja, er konnte sogar bildhaft vor sich sehen, wie seine Mutter entsetzt die Hände vor das Gesicht schlug und ihre effektvollen Krokodilstränen schluchzte. Ihr Junge, ihr einziges Kind, war ein Krüppel.

In diesem Augenblick wurde die Tür aufgeworfen, Jemand kam eilig herein, vermutlich eine Schwester, und nestelte an seinem Infusionsständer herum.

„Herr Baumann, ich bringe Sie zur Hämodialyse auf die nephrologische Station“, sagte sie.

Johnny setzte sich halb auf. „Kann ich danach wieder nach Hause?“

Die Schwester drückte ihn sanft zurück ins Kissen.

„Vorerst müssen wir Sie stationär aufnehmen“, entgegnete der Arzt. „Es kann einige Tage dauern, bis alle Behandlungen abgeschlossen sind.“

Johnny schnaubte spöttisch und spürte, wie ihm gleichzeitig Tränen in die Augen stiegen. Es dauerte einen Moment, bis er sich gefasst hatte. „Machen Sie von mir aus diese Dialyse oder was auch immer. Und dann will ich einfach nur noch schlafen.“

Die Verlegung und alle folgenden Prozeduren ließ Johnny mit stoischer Ruhe über sich ergehen. Er spürte den kalten Nebel auf seiner Haut und eine übelkeiterregende Alkoholwolke stieg ihm in die Nase, als die Schwester ihm Hals und Brustkorb desinfizierte. Der Nephrologe erklärte ihm, dass man eine örtliche Betäubung für einen zentralen Venenkatheter setzen müsste, um sein Blut möglichst schnell von den schädlichen Stoffen zu reinigen. Johnny nickte stumm. Er fragte nichts mehr und widersprach auch nicht. Er wollte endlich allein sein, um irgendwie zu begreifen, was geschehen war. Einen Schritt nach dem anderen, sagte er sich, obwohl dieser Gedanke ihn kaum beruhigen konnte. Du musst die Zwischenziele im Blick haben – wie beim Projektmanagement. Stell dir vor, es ginge um Geld und nicht etwa um dein eigenes Leben.Er stieß ein höhnisches Lachen aus.

Die Stunden zogen an ihm vorbei, ohne dass er genau verstand, was passierte. Johnny konzentrierte sich nur darauf, ein- und wieder auszuatmen und dabei möglichst nicht nachzudenken.

Nach der Blutwäsche fühlte er sich unendlich müde. Der Arzt fragte ihn, ob er irgendjemanden für ihn anrufen sollte, und Johnny verneinte vehement. Als der Arzt gegangen war, kam der Schlaf endlich tief und erlösend über ihn.

Am nächsten Morgen fragte eine Schwester wieder, ob er jemanden anrufen wolle. Johnny rieb sich stöhnend die Schläfen, ohne die Augen zu öffnen. „In meinem Portemonnaie – ich glaube, es liegt auf dem Nachttisch – sind Visitenkarten. Können Sie bitte meinen Arbeitgeber, Sanacur, benachrichtigen und ihm mitteilen, wie lange ich hier noch bleiben muss?“

„Natürlich.“ Er hörte, wie die Schwester an seiner Geldbörse herumnestelte. „Gibt es … keine Angehörigen, die ich informieren soll?“, fragte sie.

Johnny schüttelte den Kopf. Dann kam ihm ein anderer Gedanke. „Doch: Rufen Sie meine Mutter an. Sie muss den Kater füttern. Die Katze ist alleine in meiner Wohnung.“

„Haben Sie die Nummer für mich?“

Johnny überlegte. „0 … 7 … 61 … “ Er schluckte schwer. Verdammter Mist! Konnte es sein, dass er sich nicht einmal an die Nummer seiner Mutter erinnerte, die sich seit Jahrzehnten nicht geändert hatte und nur aus vier Ziffern bestand? „Sehen Sie in meinem Handy nach. Der Code ist mein Geburtsdatum.“ Zumindest das wusste er noch, auch wenn ihm die genaue Zahlenfolge nicht einfallen wollte.

Keine halbe Stunde später stand seine Mutter im Zimmer. Sie trug schon seit über dreißig Jahren das gleiche Parfum – Opium von Yves Saint Laurent –, sodass er instinktiv aus seinem Dämmerschlaf hochschreckte, sobald sie durch die Tür trat. Sie stellte etwas auf dem Boden ab, vermutlich hatte sie ihm Kleidung mitgebracht, dann umfasste sie sein Gesicht mit beiden Händen und sagte mit leiser, zitternder Stimme: „Oh, mein Junge. Du siehst schrecklich aus. Was hast du nur angestellt?“

Eine Weile saß sie stumm neben seinem Bett und er erkannte nur an ihrem verhaltenen Schluchzen und der aufdringlichen Duftwolke, dass sie noch da war. Seine Zunge fühlte sich plötzlich klebrig und trocken an und der aufdringlich-süße Duft verstärkte das Gefühl noch. Johnny wusste, dass auf dem Nachtschrank ein Wasserglas stand, aber er wollte sich nicht die Blöße geben, sich vor seiner Mutter zu bekleckern. Es war schon demütigend genug, dass sie jetzt hier war und ihn bemitleidete wie ein kleines Kind. Außerdem hatte man ihn wieder an eine Infusion gehängt, sodass sein Körper so oder so mit der nötigen Flüssigkeit versorgt wurde.

„Ich werde jetzt deinen Vater anrufen“, durchbrach Violetta plötzlich das Schweigen, dann hörte er, wie sie in ihrer Handtasche kramte.

Johnny erstarrte. Er hatte fast genauso lange nicht mit seinem Vater gesprochen wie sie. Waren es fünf Jahre oder schon zehn? Ganz sicher wollte er nicht, dass er ihn so sehen konnte. „Das wirst du nicht“, erwiderte er kühl.

Sie schnalzte mit der Zunge. „Junge, sei nicht albern! Er muss doch Bescheid wissen. Bis er von München hier ist, dauert es eine Weile.“

„Ich will ihn nicht sehen.“ Johnny sprach die Worte so hart und entschlossen aus, wie er konnte. Falls sie widersprach, müsste er sich die Infusionsnadel aus dem Arm reißen, aufstehen und sie persönlich aus dem Zimmer begleiten.

Violetta schluchzte leise. „Aber Junge …“

Er schloss die Augen. „Wenn du das nicht akzeptieren kannst, dann geh bitte.“

Seine Mutter erwiderte nichts, aber er hörte, dass sie den Reißverschluss ihrer Tasche wieder zuzog. Dann breitete sich die Stille erdrückend zwischen ihnen aus.

Nach einer Weile räusperte er sich. „Hast du den Kater gefüttert?“

Seine Mutter brauchte einen Moment, bis sie sich gefangen hatte. „Ja, ja … das mache ich nachher gleich. Das mache ich gleich als Erstes.“

Johnny biss die Zähne zusammen. Auf einmal drohte all die Wut, die sich in den letzten Stunden in ihm aufgestaut hatte, über ihm zusammenzubrechen. Wut über die Ungerechtigkeit, dass ausgerechnet ihm so etwas Schreckliches zugestoßen war, Wut über die Ärzte, in deren fremde Hände er sein Leben legen musste, ob er wollte oder nicht. Wut über seine ganze, sinnlose Existenz. Und jetzt auch noch darüber, dass sein Kater, dieses unschuldige Tier, das nichts für Johnnys Dummheit konnte, darunter leiden musste. Er wollte all das am liebsten herausschreien, aber derbe Flüche und zornige Vorwürfe hatten Violetta noch nie beeindruckt. Also tat er, was er schon früher, als Kind, stets getan hatte, wenn sie nicht seiner Meinung gewesen war: Er schluckte die Wut herunter, ignorierte das Gefühl, als sich schmerzhaft sein Magen verkrampfte, und atmete tief ein und wieder aus. Dann sagte er so gefasst wie möglich: „Du musst ihn mit zu dir nehmen. Er frisst nur sein gewohntes Futter, aber im Vorratsschrank in der Küche sollten genügend Dosen sein.“ Es würde mehr als nur ein Bad brauchen, um den Gestank nach Nikotin und teurem Parfum wieder aus dem Fell seines geliebten Tieres zu bekommen – dabei war der Kater wasserscheu.

Violetta seufzte schwer. „Ach, Junge. Die ganzen Katzenhaare überall … du weißt doch, dass ich da manchmal ein bisschen allergisch reagiere.“

„Bitte“, fügte Johnny in flehendem Ton hinzu und deutete ihr Schweigen als Zustimmung. Zu seiner Erleichterung stellte seine Mutter auch keine Fragen mehr. Er war sicher, dass die Ärzte ihr bereits alles gesagt hatten, was es zu wissen gab. Nach einer Weile stand Violetta auf, nahm den Wohnungsschlüssel vom Nachttisch – Johnny konnte hören, wie das Metall auf dem Plastik klirrte – und verabschiedete sich, indem sie unerwartet sanft über seine Wange strich.

Obwohl die Kopfschmerzen allmählich besser wurden und auch die Übelkeit nachließ, verbrachte Johnny den Rest des Morgens wie im Delirium und auch den Nachmittag und den Abend.

Aus den Stunden wurden Tage, in denen seine Gedanken immer wieder um dieselben Dinge kreisten: Er dachte an die Papierberge auf seinem Schreibtisch, die sich inzwischen wohl kaum noch bewältigen ließen, und an die Stellen im Außendienst, die erst einmal unbesetzt bleiben würden. Er dachte an seine Kollegen, die mit einer sonderbaren Mischung aus Sensationslust und Entsetzen über ihn sprechen und für Blumen samt Genesungskarte sammeln würden. Vielleicht waren sie sogar so geistesgegenwärtig, einen duftenden Strauß zu nehmen. Und er dachte an den Kater, der jetzt ein ebenso trostloses Dasein in einer Wohnung im achten Stock eines heruntergekommenen Plattenbaus in Haslach-Weingarten fristete.

Nur selten erlaubte sich Johnny, sich seine Zukunft auszumalen; sich vorzustellen, wie sein Alltag als Blinder überhaupt aussehen würde. Diese Überlegungen drohten ihn jedes Mal zu überwältigen und endeten nicht selten damit, dass er um Luft ringend, panisch und völlig aufgelöst nach der Schwester klingelte. Die gab ihm meist eine Beruhigungsspritze, mit der sich die quälenden Gedanken in einem weißen Nebel auflösten. Manchmal dachte Johnny auch an die dunkelhaarige Frau, die an diesem verhängnisvollen Abend vor zwei – oder drei? – Wochen sein schreckliches Schicksal geteilt hatte, ohne es zu wissen. Dann fragte er sich, ob Chiara, oder Camila, jetzt auch blind war. Aber er glaubte, sich dunkel daran zu erinnern, dass sie im Gegensatz zu ihm selbst nur wenig von dem Schnaps getrunken hatte.

Einmal, als die Sonne durch das geschlossene Fenster in sein Krankenzimmer fiel und kribbelnd seine Haut wärmte, ertappte sich Johnny sogar dabei, an Franzi zu denken und sich zu fragen, was sie sagen würde, wenn sie ihn jetzt so sehen könnte. Je klarer sein Verstand wurde und je besser es ihm nach Meinung der Ärzte ging, desto pathetischer fühlte er sich. Dann endlich, nach schier endlosen Wochen, war der Tag seiner Entlassung gekommen.

„Ich hatte Ihnen ja schon angeboten, dass Sie ein Sozialarbeiter aus unserer Klinik besuchen kann, um die weiteren Anträge zu stellen“, begann der Oberarzt. „Wollen Sie sich das vielleicht noch einmal überlegen?“

Johnny schüttelte den Kopf. Er erinnerte sich vage an das Gespräch. „Danke, aber meine Sekretärin wird sich um den ganzen Papierkram kümmern.“

Der Arzt schwieg einen Moment lang. „Gut. Aber bitte melden Sie sich noch diese Woche bei Ihrem Hausarzt. Die Nachsorgetermine sollten Sie ernst nehmen. Und er wird Sie auch zu den Angeboten beraten, die Sie in Anspruch nehmen können: spezielle Rehabilitationsangebote bei Späterblindung zum Beispiel und natürlich auch psychologische Betreuung.“

Johnny machte eine abweisende Handbewegung. „Ich brauche keinen Psychologen.“ Er stand mit wackeligen Schritten auf. In den letzten Wochen hatte er sein Bett nur für ein paar kurze Spaziergänge im Park des Klinikums verlassen, stets in Begleitung einer Schwester natürlich.

„Die Entlassungspapiere schicken wir direkt an Ihren Hausarzt. Sollen wir jemandem Bescheid geben, der Sie abholen kann?“

„Ich kann meine Mutter selbst anrufen, danke.“

„Möchten Sie, dass eine Schwester Sie ins Foyer bringt?“

Johnny wollte widersprechen. Aber der Wunsch, wieder nach Hause zu kommen, war größer als das bisschen Stolz, das ihm noch geblieben war – und allein würde er sich zweifellos im Irrgarten der Klinikflure verlaufen. Er nickte stumm. Der Arzt drückte auf den Rufknopf und verabschiedete sich.

Als er wieder allein war, zog Johnny sein Handy aus der Hosentasche. „Siri, ruft Violetta an.“ Am Telefon fasste er sich so kurz wie möglich und legte auf, bevor seine Mutter ihn mit neuen Fragen überhäufen konnte. Gleich darauf kam die Schwester herein und begrüßte Johnny freundlich. Für einen Moment atmete er auf.

Schließlich stand er mit der Sporttasche in der Hand im Krankenhausfoyer. Er überlegte, ob er nicht lieber ein Taxi hätte rufen sollen, aber das wäre nur wieder ein Fremder gewesen, der ihn angestarrt hätte; selbst wenn er die brennenden Blicke nicht sehen, sondern nur spüren konnte.

Johnny lauschte auf die automatische Eingangstür, die bei jedem Öffnen und Schließen ein disharmonisches Surren von sich gab. Vermutlich standen hier auch die Aschenbecher, denn eine Nikotinwolke drang zu ihm herüber und er konnte hören, dass sich in ein paar Metern Entfernung jemand unterhielt. Am liebsten wäre er hingegangen, um nach einer Zigarette zu fragen. Das hätte sein miserables Leben wenigstens für einen Moment erträglicher gemacht. „Verdammte Scheiße“, fluchte er leise, aber mit jeder Sekunde wuchs die Gleichgültigkeit, die ihn betäubend umhüllte. Er war Ende dreißig und wartete wie ein Schuljunge, der etwas ausgeheckt hatte, darauf, dass seine Mutter ihn abholte. Es war entwürdigend – und es machte ihm nicht einmal etwas aus.

BEA

Endlich war es so weit: Der ältere Mann hielt inne, zumindest für einen Augenblick. Kurz zuvor hatte er sich von dem Eichenpult erhoben – die ausgeblichene schwarze Robe spannte dabei nicht sehr würdevoll an seinem Oberkörper –, um zu verkünden: „Im Namen des Volkes ergeht folgendes Urteil: Die Angeklagte wird für schuldig befunden und zu einer Geldstrafe von 30 Tagessätzen à 20 Euro verurteilt.“

Tabea unterdrückte den Drang, sich eine Haarsträhne aus der feuchten Stirn zu streichen. Jetzt war ihr Einsatz. Auch wenn sie jedes Mal Panik überkam, liebte sie den Augenblick. Die Stille, die nur einen Herzschlag lang andauerte, kurz bevor man das erste Mal zu seinem Publikum sprach. Es war der gleiche vertraute Adrenalinrausch, der sie immer dann durchströmte, wenn sie hinter dem Vorhang hervortrat, auf die Bretter trat, die die Welt bedeuteten. Dabei dachte sie immer nur an den ersten Satz oder das erste Wort. Wenn man einmal angefangen hatte, lief es von allein. Auch wenn das hier eigentlich keine Bühne war.

Sie sah dem Richter in die Augen. Er hatte schon den kleinen Hammer erhoben und der hölzerne Kopf zitterte in der Luft, als sie den Mund öffnete, um zu sprechen. „Ich beantrage, eine Ersatzfreiheitsstrafe anzutreten.“

Aus dem Augenwinkel sah Tabea, dass eine blonde Frau im Publikum zusammenzuckte: ihre Mitbewohnerin Doro. Trotzdem fuhr sie fort: „Auch wenn ich gegen das Gesetz verstoßen habe, bereue ich nichts. Die letzte Wiese auf dem Campus zuzupflastern, war eine Fehlentscheidung. Die Ausbetonierung der begrünten Fläche hat dafür gesorgt, dass die Temperatur in der Innenstadt um circa zwei Grad angestiegen ist und noch weiter ansteigen wird. Aber noch bedenklicher ist die Tatsache, dass die freigelegten Grundmauern der alten Synagoge einfach wieder zugeschüttet werden sollen. Dabei wäre es ein wichtiges Zeichen der Solidarität, dieses Mahnmal der Reichskristallnacht zu würdigen, indem man beispielsweise –“

An diesem Punkt wurde sie von dem weißhaarigen Mann unterbrochen. Er hatte die buschigen Augenbrauen zornig zusammengezogen. „Frau Bach, eine Ersatzfreiheitsstrafe kommt nur bei Zahlungsunfähigkeit infrage. Ihr Anwalt wird Sie dazu beraten. Und die Beweggründe für Ihre … Aktion haben Sie bereits zur Genüge erläutert. Das Urteil ist hiermit verkündet.“ Er schlug seinen Hammer jetzt umso kräftiger auf das Pult. „Ich erkläre die Verhandlung für geschlossen.“

Es hätte schlimmer kommen können. Tabea hatte erwartet, deutlich mehr Spott aus den Worten des Richters herauszuhören. Immerhin hatte sie nicht einfach friedlich mit einem Plakat demonstriert, sondern sich an einen Bagger gekettet, um die Arbeiten auf der Baustelle zu behindern. Insgeheim hoffte sie immer noch, dass ihr Fall vielleicht genügend mediale Aufmerksamkeit bekommen würde, um die Umgestaltung des Campus in letzter Sekunde zu verhindern. Auch wenn ihre Aktion manchen Mitbürgern etwas übertrieben vorkommen musste, ging es für sie um mehr als ein paar hundert Quadratmeter Granit. Sie wollte, dass die Gräueltaten der Nationalsozialisten niemals in Vergessenheit gerieten – und somit auch nicht die Erinnerung an ihren Großvater, den sie nur aus Erzählungen kannte.

Tabea starrte dem Richter trotzig in die Augen und blieb stehen, bis ihr Verteidiger Platz genommen hatte und beharrlich am Ärmel ihres Blazers zupfte. Widerwillig gab sie nach und setzte sich wieder. Ihr Anwalt schob seine Unterlagen zusammen. „Das Urteil war zu erwarten, Frau Bach. Wir besprechen alles Weitere nachher in meinem Büro. Gehen Sie doch erst mal etwas essen.“

Tabea nickte, schüttelte kurz seine Hand und beeilte sich, nach draußen zu kommen. An ein Mittagessen war allerdings nicht zu denken, denn in zwanzig Minuten musste sie im Sprechzimmer von Professor Kohlmeis sein und sie wusste nur zu gut, wie sehr er Unpünktlichkeit verabscheute.

Aber bevor sie durch das Eingangsportal des Amtsgerichts eilen konnte, legte ihr jemand eine Hand auf die Schulter. „Bea!“, zischte eine vertraute Frauenstimme. Im nächsten Moment wurde Tabea in eine ruhige Ecke des Flurs gezogen. „Bist du eigentlich völlig verrückt geworden?“ Doro sah sie eindringlich an. Ihre blauen Augen funkelten wütend. „Du willst wegen ein paar alter Steine in den Knast gehen? Das kann doch nicht dein Ernst sein!“

Tabea versuchte erfolglos, sich aus dem Griff ihrer Freundin zu wenden. „Du weißt, wie wichtig mir das ist.“

Doro verengte skeptisch die Augen. „Ich kann es einfach nicht fassen! Wenn du wenigstens den Schlüssel nicht ins Gebüsch geworfen hättest, wäre die Feuerwehr nicht gerufen worden, um dich loszuschneiden, und es wäre bestimmt auch nicht zur Anklage gekommen.“

„Doro, das bringt doch jetzt nichts. Können wir das später in Ruhe besprechen? Ich muss gleich zur Kohlmeise.“

Ihre Mitbewohnerin ließ sie los und schüttelte nur stumm den Kopf.

In diesem Moment rief jemand vom Saal her ihre Namen: „Bea, Doro!“ Die hohe Stimme des jungen Mannes war Tabea nur zu vertraut. Flüchtig kam ihr der Gedanke, einfach so zu tun, als hätte sie nichts gehört. Aber dann drehte sie sich um und zwang sich, zu lächeln. „Justus! Was machst du denn hier?“

Doro warf Tabea einen bedeutsamen Blick zu, so, als wollte sie sagen: Ist doch offensichtlich, was der hier macht – dasselbe wie in den letzten zwei Monaten. So lange war es her, dass Tabea ihm unter dem Einfluss von einer Menge Alkohol und noch viel mehr Idiotie Hoffnungen gemacht hatte, dass sie jemals mehr sein könnten als Freunde. Und selbst das war schon zu viel gesagt, denn das Einzige, was sie verband, war ihre Leidenschaft für das Studententheater. Später,