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Bangkok, 2018. Ein Ferrari rast über eine rote Ampel und erfasst die Krankenschwester Vanida. Der Fahrer flieht unerkannt und lässt die schwerverletzte Frau zurück. Die Suche nach dem Täter bleibt erfolglos, der Fall wird eingestellt und Vanida stirbt nach vier Jahren im Koma. Im Januar 2022 wird Nathapong Vorayut entführt. Sein Vater, Mehrheitsaktionär des Energiegetränke-Konzerns Blue Horse, vertraut auf seinen privaten Sicherheitsdienst und engagiert zusätzlich die New Yorker Ermittler William LaRouche und Izzie Pazetti. Dann geht eine merkwürdige Lösegeldforderung ein. Die Kidnapper verlangen eine lächerliche Million Dollar für den Kronprinzen der milliardenschweren Familie. Gerüchte besagen, Nathapong habe sein Verschwinden mit seinen Rich-Kid-Freunden vorgetäuscht. Der Patriarch hält William und Izzie an der kurzen Leine. Als sie mehr über den Unfall mit Fahrerflucht erfahren, will Izzie aussteigen. Erst Bangkoks Polizeichef Vitikorn bringt die Amerikaner wieder ins Spiel, als er ihnen ein mysteriöses Schreiben übergibt. Die Auflösung des Falls ist selbst für den abgebrühten Vitikorn schwer zu verdauen …
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Seitenzahl: 334
Veröffentlichungsjahr: 2025
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1. Auflage
© 2025 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)
Bernburger Straße 2, 06108 Halle (Saale)
www.mitteldeutscherverlag.de • [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
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Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)
Umschlagabbildung: Erstellt mit DALL·E, einer KI-gestützten Bildgenerierungssoftware von OpenAI. Die Nutzung erfolgt gemäß den Lizenz- und Nutzungsbedingungen von OpenAI.
ISBN 978-3-68948-025-7
Printed in the EU
INHALT
PROLOG
VIER JAHRE SPÄTER 1
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NACHWORT
PROLOG
Bangkok. September 2018
Die junge Frau wirft den Blick in die Auslage der Shanghai-Vintage-Boutique. Dort sind Qipao-Kleider aus der Periode zu sehen, als die Metropole am Huangpu-Fluss nach dem Ende der chinesischen Kaiserherrschaft in Gesetzlosigkeit und Dekadenz versank und selbst Missionare zum Opium griffen und zu Huren schlichen.
Windowshopping nach Mitternacht? Warum nicht, denkt Vanida, so heißt die Frau, schließlich ist sie in bester Laune und kein bisschen müde. Es ist auch nicht das erste Mal, dass sie vor diesem Geschäft verweilt, aber noch nie war es zu dieser Stunde. Natürlich kommt ihr In the Mood for Love in den Sinn. Ein Melodram, das die Geschichte von Frau Chan und Herrn Chow im Großstadtdschungel von Hongkong erzählt, und dessen wortkarges Spiel der beiden einsamen Seelen alleine durch die farbenprächtigen Qipaos erträglich wird, mit denen Frau Chan ein wenig Zuversicht in die Melancholie auf der Leinwand zaubert.
Das ockergelbe Modell wäre Vanidas erste Wahl. Der Seidenstoff ist mit stilisierten Pfingstrosen bedruckt, dunkelblaue Wirbelknöpfe setzen hübsche Farbakzente und den Abschluss bildet ein hochgeschlossener Kragen mit eingearbeiteten Goldfäden. Auch der Schnitt ist nach ihrem Geschmack – nicht provozierend, aber körperbetont genug, um die Blicke auf sich zu lenken. Sie strafft den Oberkörper, hebt die Fersen an und betrachtet ihr Spiegelbild in der Schaufensterscheibe. Die Figur für ein solches Kleid hätte sie. Welche Schuhe wohl dazu passen? Und welche Accessoires? Gelegenheiten, diesen Qipao auszuführen, würden ihr schon einfallen.
Zwei Häuserblocks weiter passiert Vanida die gläserne Front eines Hotelfoyers, in der sie sich ein weiteres Mal erkennt. Es ist eigentlich nicht ihre Art, sich selbst zu bewundern. Aber heute hat sie Lust daran. Sie blickt sich um. Weit und breit ist kein anderes menschliches Wesen zu entdecken. Sie wischt sich ein paar Haarsträhnen aus dem Gesicht, zupft am Kragen ihres Poloshirts und zieht die Nase kraus. Auch wenn man sie gelegentlich um ihre hübsch geformte Nase beneidet, Vanida selbst glaubt mehr an die Anziehungskraft ihrer Augen. Wird nicht immer wieder behauptet, die Augen seien der Spiegel der Seele? Wenn es um die Nase geht, hatte sie so etwas noch nie gehört. Sie lächelt. Dabei kommen Wangengrübchen zum Vorschein, die in Asien mit Fruchtbarkeit und Lebensglück in Verbindung gebracht werden und die für Schönheitschirurgen mittlerweile zu Goldgruben geworden sind, sollten sie nicht wie bei Vanida angeboren sein.
Sie dreht eine Pirouette. Sogar die Beine und der Po können sich sehen lassen, seit sie regelmäßig im Fitnessstudio schwitzt. Vanida wirft ihrem Spiegelbild einen Luftkuss zu und bemerkt erst jetzt den Nachtportier an der Hotelrezeption, der sie interessiert beobachtet und nun einen Daumen anerkennend in die Höhe streckt. Vanida fährt sich verlegen durch das Haar, hält selbstbewusst den Blickkontakt und sieht, wie der Mann ihren Luftkuss erwidert, dann entschuldigend die Schultern hebt und zum Telefonhörer greift. Okay, wenn nicht heute, dann vielleicht ein anderes Mal; womöglich in dem ockergelben Qipao, sagt sie sich und setzt ihren Weg im nächtlichen Bangkok fort.
So zufrieden sie mit ihrer äußeren Erscheinung und der persönlichen Entwicklung in der letzten Zeit auch ist, die meisten ihrer bisherigen zweiundzwanzig Lebensjahre waren ein Kampf für die angestrebte und gegen ihre tatsächliche Lebenswirklichkeit. Die Kindheit und Jugendjahre verbrachte Vanida in ärmlichen, aber keineswegs unglücklichen Verhältnissen einer Reisbauernfamilie, in der das Geld knapp war und die Launen der Natur immer wieder auch die Launen ihrer Verwandtschaft beeinflusst hatten. So lernte sie früh, die flüchtigen Augenblicke der Unbeschwertheit zu schätzen, zumal ihre Eltern sie lehrten, dass es für nicht privilegierte Menschen immer und überall Mächte gebe, mit denen man sich besser nicht anlegte.
Der erste Schritt, dieser Welt der Unterwürfigkeit zu entkommen, war für Vanida die Ausbildung zur Krankenschwester, die sie sich gegen den Willen ihrer Eltern erstreiten musste, weil die der Meinung waren, ihre Tochter solle nicht nach den Sternen greifen, wenn auf der kargen Scholle jede Hand gebraucht werde. So finanzierte sie die Lehrgangsgebühren mit nächtlichen Putzdiensten, schloss als Jahrgangsbeste ab und nahm bald darauf fernab der Heimat eine Stelle in Bangkok an. Deshalb ist es nur folgerichtig, dass sie die vor wenigen Tagen zugestellte Stipendiumszusage für ein Medizinstudium an der Chulalongkorn-Universität nicht als Lotteriegewinn betrachtet, sondern als Lohn für die Bemühungen, ihrem Leben einen Sinn zu geben. Schließlich war es schon als kleines Mädchen ihr größter Wunsch gewesen, einmal Ärztin zu werden.
Und ist dieser Erfolg nicht Grund genug für ein kurzes Innehalten und eine Feier im Freundeskreis? Unbedingt, hatte Vanida entschieden. So sitzt man bis Mitternacht bei einem koreanischen Barbecue zusammen, trinkt Bier und Soju, genießt gegrillte Lammkoteletts mit scharfem Sesam, marinierte Rinderfiletstreifen und geschmorten Schweinbauch. Als man die Tafel aufhebt, zieht der harte Kern weiter, angeführt von Vanida, die diesen Abend in vollen Zügen genießt. So geht es noch eine ganze Weile durch die Bars von Nana Plaza und der Soi Cowboy, bis man sich nach einem allerletzten Glas voneinander verabschiedet.
Inzwischen ist es kurz vor drei – die Zeit, in der Bangkok in eine Art Dämmerzustand fällt, bevor mit dem Morgengrauen die Großstadthektik wieder das Leben der Menschen diktiert. Vanida stiefelt den Sukhumvit-Boulevard hinauf, tagsüber eine der hoffnungslos überforderten Verkehrsadern von Bangkoks Downtown. Als es zu regnen beginnt, kümmert sie das keine Spur. Es ist Monsun und September der Monat, in dem der Himmel über Bangkok an sieben von zehn Tagen die Schleusen öffnet. Der tropisch warme Niederschlag benetzt ihr Gesicht und durchfeuchtet das Haar, was sich aufregend anfühlt und sie übermütig von Pfütze zu Pfütze springen lässt. Gleich ist die Hochbahnstation Phrom Phong erreicht, in deren Nähe sie sich ein Apartment mit einer Kollegin teilt, die ausgerechnet heute den Nachtdienst übernehmen und für ihre Feier absagen musste.
Auf dem Boulevard drosseln die wenigen Fahrzeuge im Regengeprassel die Geschwindigkeit und die Menschen, denen Vanida begegnet, kann sie an den Fingern abzählen – verlorene Seelen, die in Pappkartons unter Plastikplanen eine Heimat für eine Nacht gefunden haben; unausgeschlafene Gestalten auf dem Weg zur Frühschicht; aufgekratzte Nachtschwärmer wie sie selbst. Ein Mann mit einem Zwergpudel zieht Vanidas Aufmerksamkeit auf sich. Seine Kleidung sorgt im nächtlichen Monsun für ein munteres Farbenspiel: der hellblaue Anzug ist mit einem weinroten Einstecktuch kombiniert und auf seinem Kopf sitzt ein zitronengelbes Hütchen. Der Mann hat mit seinem Hund unter dem Vordach eines 7-Eleven-Shops Schutz vor dem Regen gefunden und beobachtet, wie sein Gefährte an langer Leine das Beinchen an einem Hydranten hebt. Als sie die beiden passiert, begegnen sich ihre Blicke für einen Moment und Vanida sieht in traurige Augen, die so gar nicht zu der fröhlichen Verkleidung passen wollen. Der Regen wird stärker und sie beschleunigt ihre Schritte. Als sie sich aus der Entfernung noch einmal umschaut, sind der Pudel und sein Herrchen wie vom Erdboden verschluckt und an dem Hydranten schnuppert ein abgemagerter Straßenköter, wie es sie zu Tausenden in Bangkok gibt.
Vanida hat den Fußgängerübergang erreicht, der sie sicher auf die andere Straßenseite führen soll. In wenigen Minuten wird sie ihr kleines Zuhause betreten und sich für ein paar Stunden aufs Ohr legen, um einigermaßen erholt zur Nachmittagsschicht antreten zu können. Obwohl es zu dieser frühen Stunde in Bangkok üblich ist, Verkehrsregeln lediglich als unverbindliche Empfehlungen zu betrachten, hält Vanida im strömenden Regen an der für Fußgänger auf Rot geschalteten Ampel an. Ein tropischer Schauer hat schließlich noch niemanden umgebracht. Als das Signal auf Grün springt, setzt sie ihre ersten Schritte auf die Fahrbahn. Sie hebt den Blick zur gegenüberliegenden Straßenseite und entdeckt dort zuerst den Pudel, dann den Mann mit den traurigen Augen, der sich – diesmal im Unterstand einer Bushaltestelle – das gelbe Hütchen in den Nacken schiebt und eine Zigarette anzündet.
Im selben Moment, als Vanida überlegt, ob diese zweite Begegnung ein Zufall ist, überfällt sie eine beißende Helligkeit. Sofort legt sich ein Tränenschleier über ihre Augen, der die auf dem Asphalt tanzenden Regentropfen in funkelnde Diamanten verwandelt. Ihr Körper erstarrt. Sie scheint dem brutalen Licht wehrlos ausgeliefert zu sein, und aus Sekunden wird eine Unendlichkeit.
1
Sankt Gilgen. 17. Dezember 2022
Für Damrong Vorayut, einen kleinen Mann mit schütterem Haar und Augengläsern so dick wie Flaschenböden, scheint es eine halbe Ewigkeit her zu sein, dass er das letzte Mal echten Schnee gesehen hat. Er kann sich noch gut erinnern, wie ihn seine Frau Sukanya so lange bearbeitet hatte, bis er einwilligte, mit der Familie nach Aspen, Colorado, zu reisen. Immerhin, Sukanya und der kleine Nathapong – der Junge war damals sechs Jahre alt – hatten in der weißen Pracht der Rocky Mountains bei bitterer Kälte und strahlendem Sonnenschein einen Riesenspaß. Für Damrong verlief dieser Urlaub weniger erfreulich, nachdem er sich auf der Skipiste das Kniegelenk verdreht hatte und monatelang an den Nachwirkungen laborierte. Diese Erfahrung hatte Spuren hinterlassen, weshalb sich Damrongs Begeisterung über den Besuch des vorweihnachtlichen Österreichs in Grenzen hält. Zu Hause in Thailand mag es Skorpione und giftige Schlangen geben, und eine Überdosis scharfer Chilis kann den Magen heftig durcheinanderbringen. Aber in seiner Heimat ist, soweit ihm bekannt, noch kein Mensch auf Glatteis zu Schaden gekommen.
Damrongs Stimmung hellte sich ein wenig auf, als Salzburg ihn und seine Familie entgegen allen Vorhersagen nicht mit Schneemassen und klirrendem Frost empfing, sondern mit Schmuddelwetter und grau verhangenen Berggipfeln. Für Damrong ist die Wetterlage, an der sich auch seit seiner Ankunft vor zwei Tagen nichts geändert hat, keine Klage wert. Er findet sogar, dass diese Atmosphäre wie die Faust aufs Auge zum Begräbnis von Friedrich Pusnik passt, welches seine Anreise aus Thailand erfordert hatte. Ja, es kam unerwartet, als er vor einer Woche die Nachricht von Pusniks Tod erhielt. Man hatte ihm dazu mitgeteilt, Pusniks Abschied vom Leben sei eine friedliche und schmerzlose Angelegenheit gewesen. Welch ein Gerede, dachte Damrong, als er das hörte. Was Pusnik in seinen letzten Stunden gefühlt und erlitten hatte, hätte nur er selbst beurteilen können. Und der Mann ist immerhin einundachtzig geworden. Ein Alter, in dem das natürliche Ende jeden Tag ein Stück näher rückt, auch wenn man sich für unersetzlich hält und auf ein Lebenswerk blicken kann, das sozusagen unsterblich macht.
Damrong, der demnächst sein zweiundsechzigstes Lebensjahr vollendet und sich noch längst nicht im Zenit angekommen sieht, hatte stets ein distanziertes Verhältnis zu Pusnik. Im Unterschied zu seinem verstorbenen Vater Wirat war es ihm auch nie ein Bedürfnis gewesen, diesem Mann persönlich nahezukommen. Der vormalige Patriarch der Vorayuts hatte vor bald vierzig Jahren gemeinsam mit Pusnik die Blue Dragon Company ins Leben gerufen, ein inzwischen global aufgestellter Getränkekonzern, dessen koffeinhaltige Lifestyle-Produkte immer wieder neue Kohorten jugendlicher Konsumenten begeistern und zugleich die älteren Semester bei der Stange halten. Wirat Vorayut und Friedrich Pusnik verband eine Art fernöstlich-alpenländische Geistesverwandtschaft, die weit über das Geschäftliche hinausging. Sie entwarfen nicht nur revolutionäre Marketingkampagnen und tüftelten an hippen Brausevarianten. Sie vergnügten sich auch gemeinsam beim Hochseeangeln in asiatischen Meeren und bestiegen die Berge in Pusniks alpiner Heimat – und Damrong erinnert sich noch lebhaft daran, als er in jungen Jahren Zeuge gewesen war, wie die beiden Unternehmer-Urgesteine in einem Salzburger Nachtclub ihren berühmtesten Werbeslogan ausgebrütet hatten: Blue Dragon lässt deine Ideen fliegen.
Wie für Damrongs Vater wird sich nun auch für Pusnik das Rad des Lebens weiterdrehen. An einem anderen Ort, in einem anderen Körper, mit anderen Herausforderungen. Das Karma dieses Mannes wird ihm zweifellos einen angemessenen Rang bei der Wiedergeburt zumessen und verhindern, dass Buddha ihn als Kanalkröte in die nächste Runde schickt. Für Damrong wird es dagegen im Hier und Jetzt weitergehen. Und dabei müssen dicke Bretter gebohrt werden. Nichts wird so bleiben können, wie es ist. Hatte er nicht lange genug ertragen, wie Pusnik nach Wirats Tod die Machtverhältnisse zu seinem eigenen und zum Vorteil seiner Seilschaften gewendet und die noch lebenden Vorayuts dabei mehr oder weniger ignoriert hatte?
All das geht Damrong durch den Kopf, als sich zehn Tage nach Mariä Empfängnis in Sankt Gilgen der Trauerzug von Pusniks Anwesen am Ufer des Wolfgangsees die Ischlerstraße hinaufwindet. In der Nacht war das Thermometer unter den Gefrierpunkt gesunken. Damrong fröstelt es und er stößt weiße Atemwolken in die winterkalte Luft. Die Gipfel der nahen Berge, von denen sein Vater immer geschwärmt hatte, stecken noch im Vormittagsnebel. An den Straßenrändern verliert sich schmutzig-grauer Altschnee und über dem See steht milchiger Dunst. Damrong fragt sich, wie es sein kann, dass diese Gegend sich sogar in dieser unwirtlichen Jahreszeit touristischer Beliebtheit erfreut.
Während er weiter seinen Gedanken nachhängt, nähert sich die Prozession der Pfarrkirche zum heiligen Ägidius. An der Spitze seine Exzellenz der Erzbischof von Salzburg, unter dessen prächtigem Messgewand ein grober Strickpullover und ein paar Etagen tiefer derbe Winterstiefel zum Vorschein kommen. Ihm folgen die Sargträger, auf deren Schultern ein Eichensarg lastet. Dahinter schreitet der einundzwanzigjährige Nigel, Pusniks einziger leiblicher Nachkomme, umrahmt von seiner Mutter und Pusniks letzter Lebensgefährtin. Ihnen hinterdrein folgen ein Häuflein entfernter Verwandter und die drei Vorayuts: Damrong, seine Frau Sukanya und sein Sohn Nathapong, der mittlerweile dreiundzwanzig Jahre zählt. Hinter den Thailändern reihen sich mehrere Hundert weitere Trauergäste ein, die dem berühmtesten Sohn von Sankt Gilgen die letzte Ehre erweisen: alte und neue Freunde, hohe und höchste Repräsentanten aus Politik, Wirtschaft und Sport und natürlich das Management und die Belegschaft der Blue-Dragon-Konzernzentrale, die sich gleich hinter dem südlichen Ortsausgang in den Anstiegen hinauf zum Zwölferhorn versteckt.
Als die Pfarrkirche erreicht ist, verstummt das Glockengeläut und Orgelmusik setzt ein, während sich die klamme Feuchtigkeit weiter ihren Weg durch Damrongs Winterbekleidung bahnt. Nein, der Winter ist wirklich nicht seine Sache – weder in den Rocky Mountains noch im Salzburger Land und auch nicht im japanischen Wintersport-Mekka Niseko, wo seine Holding-Gesellschaft kürzlich ein luxuriöses Ski-Resort eröffnet hat, das schon in der ersten Saison zwanzig Prozent der Baukosten eingespielt hat. Damrong fragt sich ein weiteres Mal, ob es irgendwo auf der Welt einen Platz geben könnte, an dem er sich wohler fühlen würde als in seiner thailändischen Heimat. Dabei verfolgt er, wie sein Sohn Nathapong ohne jedes Schamgefühl mit dem Smartphone alles dokumentiert, was ihm exotisch erscheint.
2
Im Anschluss an den Imbiss mit Totensemmeln und Tafelspitz machen sich die Vorayuts nach Pusniks Beerdigung auf den Weg zurück nach Salzburg, wo man im Hotel Sacher residiert. Wüsste man nicht, wen die Fahrzeugkolonne befördert, ließe sich vermuten, hinter den getönten Scheiben verberge sich ein gekröntes Haupt oder ein Staatspräsident mit seiner Entourage.
Dem Führungsfahrzeug der Bundespolizei folgt eine Limousine mit Madame Sukanya, ihrer Kosmetikerin und zwei Pekinesen. Im nächsten Fahrzeug lehnen Damrong und Nathapong in den Polstern der Rückbank. Der Familienjustiziar Kamada hat neben dem Fahrer Platz genommen. Drei Kleinbusse transportieren das Sicherheitspersonal, den Hairstylisten, einen Fitnesstrainer, die Familienwahrsagerin, eine Hundebetreuerin, mehrere Sekretäre und den Chefkoch, ohne den die Vorayuts Bangkok nicht verlassen.
Im Wagen mit den beiden männlichen Vorayuts herrscht dicke Luft. Nathapong ist aus der realen Welt wieder in die virtuelle gewechselt. Sein Vater öffnet die Minibar und greift missmutig nach einem Ginger Ale. „Bei meinen Ahnen! Kannst du nicht einmal fünf Minuten auf diesen Teufelsapparat verzichten?“
„Daddy, ganz cool bleiben. Stress schadet nur der Gesundheit. Ohne Internet würde Blue Dragon nicht mal halb so viel Kohle abwerfen. Schau mal: Ich hab den Sarg und die ganze Show drum herum gefilmt. Voll krass! Ich werd’s noch stylen und dann mal sehen, was an Comments reinkommt.“
„Und wann wirst du endlich erwachsen? Dein Großvater hat in deinem Alter schon ein halbes Dutzend Firmen gegründet und Millionen verdient.“
„Und heute ist Grandpa tot. Wusstest du eigentlich, dass ich über dreihunderttausend Follower auf TikTok habe? Mag sein, dass Grandpa zu seiner Zeit ein Genie gewesen ist. Aber heute ist heute, und dreihunderttausend Follower –“
„Schweig still! Dein Großvater hat sich täglich vierundzwanzig Stunden den Arsch aufgerissen, um den Wohlstand und das Ansehen der Familie zu mehren. Und hätte der Tag sechs Stunden mehr, wären es dreißig gewesen“, fährt Damrong seinen Sohn an und es folgen stille Minuten. Als die Wagenkolonne die Uferstraße am Fuschlsee erreicht, meldet sich der Justiziar. „Damrong, wir sollten uns mit dem Boss noch bezüglich der Konferenz mit den Blue-Dragon-Leuten abstimmen …“
„Mein Sohn heißt Nathapong! Wenn ihn seine Kumpane Boss rufen und Madame ihre Hunde Chanel und Champagner nennt, reicht mir das vollauf.“
„Ich bitte um Verzeihung“, gibt sich Kamada kleinmütig. „Ist mir nur so rausgerutscht. Aber zum Thema: Karajan hat mir den Besuch in Bangkok bestätigt. Auch wenn unsere Strategie, was die Neubesetzung der Vorstandsposten angeht, klar ist – wir haben noch nicht endgültig besprochen, wie wir uns gegenüber Nigel verhalten wollen.“
„Was gibt’s da zu besprechen? Die Blue Dragon-Leute werden sich noch wundern. Jetzt sind wir mal dran.“
„Das könnte schwierig werden“, wendet Kamada ein. „Nigel übernimmt als Alleinerbe Pusniks Geschäftsanteile. Seine Anwälte haben noch keine Andeutung gemacht, ob der Bursche in die operative Geschäftsleitung einsteigen will. Vergessen wir nicht, er hat in letzter Zeit eng mit seinem Vater zusammengearbeitet.“
„Nigel ist noch ein halbes Kind. Blue Dragon hat fünfzehntausend Mitarbeiter und ist auf allen Kontinenten vertreten. Da braucht es Erfahrung und Führungsstärke. Sollte der Junge sich dennoch in den Vordergrund schieben wollen, werden wir von unserem Vetorecht Gebrauch machen.“
„Das wäre eine Möglichkeit“, stimmt Kamada zu. „Aber wie ich höre, hat Nigel die Sympathien sämtlicher Bereichsvorstände. Und Albrecht Karajan soll mit Nigel sogar mehr verbinden, als es mit dem alten Pusnik der Fall gewesen ist.“
„Seit wann beugen sich die Vorayuts den Vorstellungen ihrer Angestellten? Mein Vater hat Pusnik machen lassen, weil der Mann zu seiner Zeit der Beste war. Jetzt ist Pusnik tot und es beginnt eine neue Ära. Wie du weißt, will ich mich demnächst auf neue Herausforderungen konzentrieren und beabsichtige, den Vorsitz im Blue-Dragon-Aufsichtsrat abzugeben. Ayong wäre eine passable Nachfolgerin. Sie ist jung, nicht hässlich und hat eine schnelle Auffassungsgabe. Außerdem liegt die entscheidende Macht beim Vorstandsvorsitzenden …“
„Und der heißt Albrecht Karajan, dessen Vertrag Pusnik kurz vor seinem Tod noch einmal um drei Jahre verlängert hat“, erinnert Kamada.
„Ha!“ Damrong lacht auf. „Das war eine der vielen Entscheidungen, bei denen Pusnik uns übergangen hat. Karajan ist ein König auf Abruf. Sollte er den jungen Pusnik benutzen, um den Konzern zu kapern, werden wir das zu verhindern wissen. Du kennst meinen Plan.“
„Selbstverständlich“, antwortet Kamada. „Karajan wird in die zweite Reihe versetzt. Sollte ihm das nicht passen, muss er Blue Dragon verlassen. Den Vorstandsvorsitz übernimmt dein Bruder. Und Nathapong wird Finanzvorstand und ist damit der potenzielle Nachfolger deines Bruders, wenn er sich in ein paar Jahren zurückzieht.“
„Dad, das kannst du vergessen!“, protestiert Nathapong, ohne von seinem Smartphone aufzuschauen. „Ich habe keinen Bock auf den Job. Habt ihr dieses Sankt Gilgen gesehen? Das ist ein Nichts im Nirgendwo. Bei allen Göttern! Da will ich nicht begraben sein.“
„Nathapong, du hörst mir jetzt gut zu.“ Damrong senkt seine Stimme und sucht vergeblich den Blickkontakt zu seinem Sohn, der trotzig aus dem Fenster schaut. „Du bist dreiundzwanzig Jahre alt. Du hast in Harvard Betriebswirtschaft studiert. Zumindest steht das auf deiner Diplomurkunde. Nun kommt die Zeit, in der du deiner Familie und deinen Ahnen nicht nur Respekt entgegenzubringen hast, sondern auch den Platz einnehmen wirst, den man für dich bestimmt hat.“
Offener Widerspruch ist nicht Nathapongs Sache, und Rebellion gegen die Eltern geht in Asien gar nicht – und wenn doch, nur in den niederen Klassen, in denen jede Generation wieder von vorne anfangen muss. „Dad, ich verstehe das. Und – auch wenn es mir nicht leichtfällt – ich will meinen Beitrag leisten. Aber könnte ich nicht vielleicht irgendwas anderes machen? Gib mir einen Job in der Formel 1 oder bei Maranello Motors. Da könnte ich garantiert mehr für die Familie leisten als bei Blue Dragon in diesem schrecklichen Kaff, dessen Namen ich schon wieder vergessen habe.“
„Nathapong, du fügst dich meinen Anweisungen. Und merke dir: Kein Vorayut macht irgendetwas. Ein Vorayut macht auch keinen Job. Ein Vorayut gestaltet und dominiert.“
3
Bangkok. Samstag, 17. Dezember
Auch neuntausend Kilometer östlich des Wolfgangsees geht es auf Weihnachten zu, was in Thailands Hauptstadt nicht wirklich von Bedeutung ist, sieht man von den mit Dekorschnee überzuckerten Plastik-Weihnachtsbäumen und dem Jingle-Bells-Gedudel in den Shoppingmalls einmal ab. Aber es gibt Oasen, in denen das christliche Brauchtum ernsthaft kultiviert wird. So ist beispielsweise im Personalaufenthaltsraum der Intensivstation des Siam International Hospitals eine Weihnachtskrippe mit handbemalten Holzfiguren aufgebaut. Paulo, ein katholisch getaufter Krankenpfleger, hatte das Ensemble während einer Pilgerreise nach Rom erworben, es mit bunten Lichterketten nach dem Geschmack seiner philippinischen Heimat aufgemöbelt und dabei den verloren gegangenen Esel durch einen roten Plüschelefanten ersetzt. Die Mitarbeiter, zusammen ein gutes Dutzend Gesichter, haben sich unweit der Weihnachtskrippe zur Schichtübergabe versammelt. Die Stimmung ist bedrückt. Vor wenigen Stunden ist geschehen, was schon lange zu befürchten war.
„Lucky ist heute Morgen kurz nach sieben von uns gegangen. Wir haben sie in ein Einzelzimmer verlegt, damit die Kollegen der Spätschicht sich noch von ihr verabschieden können.“ Doktor Tangapans Blick wandert durch die Runde, für die der Tod alltägliche Routine ist. Dabei bemerkt die Medizinerin, wie sich die eine und der andere verschämt gegen die Tränen wehrt und dieser Kampf meistens verloren geht.
„Gott hat sich ihrer erbarmt!“, sagt Paulo und bekreuzigt sich.
„Dein Gott hat sich verdammt viel Zeit gelassen“, urteilt ein bulliger tätowierter Mann, der Bettenschieber der Abteilung. Sein Name ist Kob Sook, aber alle Welt nennt ihn Steel, sein Kampfname aus den Tagen, als er ein professioneller Muay-Thai-Boxer gewesen war. „Verdammt lange Zeit hat er sich gelassen“, wiederholt Steel und wischt sich eine Träne von der Wange. „Ich kann mich noch genau erinnern, wie ich Lucky aus der Notaufnahme abgeholt habe. Es hat mir mein Herz zerrissen. Die Kleine war eine Kämpferin und eine Lady. Eine echte Lady. Aber sie hatte keine Chance. Ich hab’s von Anfang an gespürt. Ganz ehrlich, am liebsten würde ich –“
„Habt ihr die Verwaltungsdirektorin von Luckys Tod informiert?“, will die Leiterin der Spätschicht wissen.
„Die Verwaltungsdirektorin?“
„Du weißt, dass wir Khun Sukasem jede Veränderung von Luckys Zustand melden müssen.“
Doktor Tangapan schüttelt den Kopf. „Wir hatten Wichtigeres zu tun. Paulo und Steel haben Gebete gesprochen und letzte Erinnerungsfotos gemacht. Und es hat seine Zeit gebraucht, bis jeder Lucky eine gute Reise ins nächste Leben gewünscht hat. Ich denke, das ist das Mindeste, was wir ihr schuldig sind.“
4
Bangkok. Dienstag, 3. Januar 2023
Damrongs Blick trifft Albrecht Karajan, der mit Gerry Oldman, dem Vorstand der Rechts- und Vertragsabteilung, zu der Generalbesprechung angereist ist, die man während Pusniks Beerdigung vereinbart hatte.
„Schön haben Sie es hier“, lobt Karajan und hält dabei Damrongs herausforderndem Blick stand. Der Mann, den Damrong für einen König auf Abruf hält, ist mit Oldman zum ersten Mal im neuen Hauptquartier der White Tulip Holding, in der die geschäftlichen Aktivitäten der Vorayutsgebündelt sind.
Damrong ist ebenfalls mit Begleitung angetreten. Rechts von ihm sitzt sein jüngerer Bruder Phrapat, an seiner linken Seite der Familien-Consigliere Kamada. Das Trio wird ergänzt vom Vorayut-Nachwuchs: Phrapats Tochter Ayong, eine hellwache Erscheinung von achtundzwanzig Jahren, und ihr fünf Jahre jüngerer Cousin Nathapong, der sich bemüht, ein Interesse an dieser Versammlung vorzutäuschen.
„Wie man mir berichtet hat, konnte der Blue-Dragon- Umsatz im operativen Geschäft des abgelaufenen Jahres um achtzehn Prozent verbessert werden“, beginnt Damrong, nachdem das Begrüßungsritual erledigt ist. „Im gleichen Zeitraum stiegen allerdings die Kosten um sechsunddreißig Prozent, was unterm Strich zu einem empfindlichen Gewinnrückgang geführt hat.“
„Gegen die galoppierenden Energiepreise, die inflationsbedingt erhöhten Produktionskosten und die Lohnforderungen der Mitarbeiter ist kurzfristig kein Kraut gewachsen. Wir haben inzwischen das Effizienzprogramm Golden Future implementiert, mit dem wir die Gewinne in den kommenden Jahren auf neue Rekordwerte treiben werden“, erläutert Karajan und fügt an: „Das garantiere ich Ihnen persönlich und verspreche es auch im Namen meiner Vorstandskollegen.“
Damrong wechselt einen Blick mit Kamada, der nun übernimmt: „Albrecht, Sie dürfen Khun Damrongs Feststellung nicht persönlich nehmen. Ich möchte Ihnen aber den Rat geben, mit Garantien vorsichtig zu sein. Wer hätte ahnen können, dass eine globale Pandemie die Weltwirtschaft derart durcheinanderbringt? Dazu kommen militärische Konflikte und Krisen an allen Ecken der Welt. Alleine die Götter wissen, was morgen passiert. Wir Menschen haben nur die Gewissheit, was gestern geschehen ist.“ Kamadas Blick wandert hinaus aus dem Sitzungsraum und streift über den nahe gelegenen Lumphini-Park.
„Wie dem auch sei, wir wissen um diese Schwierigkeiten, für die Sie und Ihre Vorstandskollegen keine Schuld tragen“, macht Kamada weiter. „Aber zu unserem Bedauern müssen wir feststellen, dass es zu viele hausgemachte Probleme bei Blue Dragon gibt. Um es deutlich zu sagen: Die Kosten sind zu hoch. Nehmen wir exemplarisch das Marketingbudget. Ein gewaltiger Brocken! Und selbstverständlich ist nicht alles heiße Luft. Aber ein relevantes Weniger dort wäre ein kräftiges Mehr an anderer Stelle. Auch im Kleinen hapert’s. Ich erinnere an das noch immer ungelöste Norwegen-Problem. Wir verstehen einfach nicht, weshalb es dem Blue-Dragon-Management bis heute nicht gelungen ist, unsere Produkte in einem Land mit derart zahlungskräftigen Konsumenten uneingeschränkt im freien Handel zu platzieren.“
„Das kann ich nicht so stehen lassen“, wehrt sich Gerry Oldman. „Die Gesundheitsbehörden von Norwegen betrachten unsere Getränke wegen des angeblich zu hohen Koffein- und Zuckergehalts fälschlicherweise als Risiko für minderjährige Konsumenten. Wir haben eine Studie in Auftrag gegeben, mit der dieser lächerlichen Unterstellung die Grundlage entzogen wird. Darüber hinaus darf ich Ihnen verraten, dass unser Produktabsatz und der dabei erzielte Gewinn im schwedisch-norwegischen Grenzgebiet global betrachtet zu unseren Top-Drei-Ergebnissen zählt.“
„Mr. Oldman“, erwidert Kamada. „Sie wollen mir jetzt aber nicht erzählen, dass wir mit den Norwegern nur Geld verdienen können, wenn unsere Energiegetränke wie in Zeiten der amerikanischen Prohibition geschmuggelt und in Kaffeebechern serviert werden.“
„Khun Kamada.“ Karajan hebt beschwichtigend die Hände. „Gerry wollte nur sagen, dass Blue-Dragon-Produkte von der norwegischen Jugend nach wie vor begehrt werden, auch wenn es für diese Altersgruppe beim legalen Erwerb dieser wunderbaren Getränke im Moment noch ein wenig klemmt. Ich versichere Ihnen, wir bekommen das geregelt.“
„Dann ist ja alles gut“, schaltet sich nun wieder Damrong ein und korrigiert sich sofort. „Nein, es ist nicht alles gut. Die größte Sorge meiner Familie ist die Tatsache, dass sich der blaue Drachen im Sinkflug befindet. Mein Vater hat diese Firma gemeinsam mit Friedrich Pusnik zu einem Weltkonzern entwickelt. Unser blauer Drachen muss gehegt und gepflegt werden, damit er die Nase vorne hat. Nun verlieren wir kontinuierlich Marktanteile. Im abgelaufenen Jahr hat sich unser Anteil am globalen Umsatz von Lifestyle- und Energygetränken auf vierzehn Prozent reduziert. Noch bedenklicher ist, dass es unserem Hauptkonkurrenten Devil’s Beverage gelungen ist, seinen Anteil auf einundzwanzig Prozent zu verbessern und uns als Weltmarktführer abzulösen. Die Frage muss deshalb erlaubt sein: Operiert das Management von Devil’s Beverage in einer anderen Welt als Blue Dragon?“
„Meine Herren! Verehrte Miss Ayong.“ Karajans Stimmlage verschärft sich, schließlich war an Pusniks Grab eine Aussprache auf Augenhöhe verabredet worden und jetzt riecht alles nach einem Tribunal. „Blue-Dragon-Produkte unterliegen Zyklen. Ich gebe zu, unsere Pipeline für Innovationen hat in der jüngeren Vergangenheit nicht konstant das geliefert, was uns resilienter gemacht hätte. Ich darf Sie aber an Friedrich Pusniks legendären Ausspruch erinnern: ‚Im Geschäft mit Lifestyle-Produkten gewinnt derjenige, der die Welle am längsten reitet!‘ Mit unserer brandaktuellen Melonendrink-Kreation baut sich in Indien gerade eine Monsterwelle für uns auf – und das in einem Markt mit eins Komma vier Milliarden Konsumenten. Da wird sich die Konkurrenz warm anziehen müssen!“
„Pusniks Sprüche sind uns bekannt. Der Mann ist in der Reklamebranche groß geworden“, meldet sich Damrongs Nichte Ayong zu Wort und korrigiert den Sitz ihres Brillengestells. „Für mich ist der von Ihnen erwähnte Melonendrink lediglich eine der üblichen Sondereditionen, deren Wellen nach einer Saison auslaufen. Und von einer Milliardenkundschaft in Indien zu sprechen, halte ich für überzogen. Eine Analyse des White-Tulip-Marktforschungsinstituts identifiziert allenfalls zweihundert Millionen Inder, die als Konsumenten von Blue-Dragon- Produkten infrage kommen. Dieses Potenzial zu heben, verlangt darüber hinaus Marketingmaßnahmen, deren finanzielles Volumen unsere derzeitigen Möglichkeiten übersteigt.“
Albrecht Karajan hatte geahnt, dass in dieser Besprechung seine Rolle als operativer Konzernchef diskutiert wird. Um die thailändischen Mehrheitseigentümer wohlwollend zu stimmen, hatte seine Public-Relations-Abteilung eine Präsentation vorbereitet, welche die Blue-Dragon-Vergangenheit in prächtigen Farben in Erinnerung ruft und immer wieder auf den genialen Mitgründer Wirat Vorayut verweist. Die Vorführung dieses Jubelwerks, mit der die Versammlung eröffnet wurde, schien durchaus den Geschmack der Vorayuts getroffen zu haben, ohne jedoch zu einer Besänftigung zu führen.
„Ich denke, Miss Ayong hat zu dem Melonendrink alles gesagt, was es zu sagen gibt“, fasst Kamada den Beitrag von Damrongs Nichte zusammen. „Mein lieber Albrecht, Sie und Mr. Oldman sollen den weiten Weg von Sankt Gilgen nach Bangkok nicht umsonst gemacht haben. Es geht schließlich um die Zukunft von Blue Dragon.“ Er lässt sich von Damrongs Sohn eine Mappe reichen. Es ist Nathapongs erster aktiver Beitrag in dieser Versammlung.
„Sehr gut gemacht, Nathapong“, bedankt sich Kamada und reicht die Mappe an Karajan weiter. „Wir haben hier für Sie und Ihre nicht mitgereisten Vorstandskollegen unsere Vorstellungen konkretisiert, wie Blue Dragon konzeptionell und personell auf die Anforderungen der Zukunft reagieren sollte. Ich denke, der Hinweis, dass die Familie Vorayut über die White Tulip Holding neunundvierzig Prozent der Gesellschafteranteile hält und Khun Damrong persönlich zwei zusätzliche Prozent besitzt, erübrigt sich. Studieren Sie den Inhalt in aller Ruhe, dann werden Sie verstehen, dass es keine Alternativen dazu gibt.“
Karajan öffnet die Mappe. Was er darin mit dem ersten flüchtigen Blick erkennt, übertrifft den Worstcase seiner Vorstellungen. Und Damrong kann es sich nicht verkneifen, noch einmal nachzulegen. „Mr. Karajan, zum Schluss unserer heutigen Sitzung möchte ich es nicht versäumen, Ihnen und Ihren Mitarbeitern für die Organisation der Trauerfeier für Friedrich Pusnik zu danken. Doch, das haben Sie ordentlich gemacht, und für die Wetterverhältnisse tragen Sie selbstverständlich keine Verantwortung. Auch Ihre Grabrede hat mir gefallen. Sie haben die richtigen Worte für einen großen Mann gefunden. Nun ruht Friedrich Pusnik in Frieden – das waren doch Ihre Worte, nicht wahr? Und wir Überlebende müssen uns auf die Gegenwart und die Zukunft konzentrieren. Ein weiteres Blue-Dragon-Jahr mit ähnlich enttäuschenden Resultaten kann meine Familie nicht akzeptieren.“
5
New York. Sonntag, 8. Januar
Bei Temperaturen um den Gefrierpunkt und romantischem Schneefall lassen Izzie Pazetti und William LaRouche es sich gut gehen. Zuerst stärkt man sich mit Zimtrollen und Punsch, einem ursprünglich hinduistischen Getränk, wie William nach dem Zuprosten noch nüchtern anmerkt. Dann zieht man innerlich aufgewärmt auf die berühmteste Eislaufanlage Amerikas weiter, den Rink am Rockefeller Center.
Das Arrangement war ein Weihnachtsgeschenk von William für Izzie. Die beiden sind inzwischen seit gut drei Jahren ein glückliches Paar. Dabei war der Beginn dieser Beziehung alles andere als gewöhnlich und ein erfolgreicher Verlauf nicht unbedingt vorgezeichnet. Kann es gut gehen, wenn ein ehemaliger FBI-Agent ohne nennenswerte Erfahrung mit verbindlichen Beziehungen zum weiblichen Geschlecht sich in eine Kellnerin des Katz’s Deli in der Lower East Side verliebt, die er nur von den flüchtigen Begegnungen während seiner Lunchpausen kennt? Und was kommt dabei heraus, wenn eine vom Leben gestählte Frau, die ihre Tätigkeit in der Gastronomie liebt, sich auf eine spontane Reise nach Thailand mit einem Stammgast einlässt, obwohl die Wortwechsel mit diesem Herrn bis dahin kaum mehr als Smalltalk-Niveau erreicht hatten? Man glaubt es kaum, aber gelegentlich geht gut, was man für unmöglich gehalten hat, und die Hoffnung ist nicht unbegründet, dass es mit Izzie und William noch viele weitere Jahre gut gehen wird. Wobei – das sollte nicht verschwiegen werden – Izzies Entscheidung für William erst gefallen ist, nachdem sie mit ihrer Freundin Emily das Für und Wider diskutiert und der Blick in Tarotkarten für Klarheit gesorgt hatte.
Seither ist eine Menge Wasser unter der Brücke hindurchgeflossen, wie man in Amerika sagt. Vor ziemlich genau einem Jahr hatte Izzie dem Katz’s Deli Adieu gesagt, um ihre Fähigkeiten uneingeschränkt in Williams Agentur für private Investigationen einbringen zu können. Als noch schwerwiegender muss man Izzies Entschluss bewerten, fortan mit ihren drei Katzen in Williams Loft in Manhattans ehemals berüchtigtem Stadtteil Hell’s Kitchen zu leben, nachdem sie zuvor jahrelang mit Emily in einem winzigen Apartment über einer Glückskeks-Bäckerei in Chinatown gehaust hatte.
Was William betrifft, sei erwähnt, dass sich seine einst lausige Einmanndetektei mittlerweile zu einer international gefragten Investigationsagentur mit zwei Dutzend Mitarbeitern gemausert hat. Noch bemerkenswerter ist, dass es ihm endlich gelungen ist, über seinen Schatten zu springen. William, dessen seelische Verletzungen der Vergangenheit ihn zu einem einsamen Wolf haben werden lassen, verwandelte sich in einen fürsorglichen Lebenspartner und zuverlässigen Versorger. Wobei es im Alltag natürlich so ausgeht, dass Izzie und ihre Tiger den Ton im Rudel angeben. Wie dem auch sei, William hat seine Agentur über Weihnachten und bis in den Januar hinein geschlossen, um das Leben mit Izzie zu genießen, die er im Stillen als den größten Jackpot aller Zeiten betrachtet.
„Billywilly, gibt’s was Schöneres als Eislaufen?“, ruft Izzie und saust an William vorbei, der sich bei seinem allerersten Ausflug aufs Glatteis nach einer harten Landung eine Pause gönnt und dabei Izzies Kufenfahrt bewundert. Dass sein Mädchen eine ganz Besondere ist, weiß er schon lange. Gleich beim ersten Rendezvous hatte Izzie ihm berichtet, dass sie als Waisenkind von Mafiosi adoptiert wurde und im Teenageralter in Wichita, Kansas, den Titel einer Miss Budweiser errungen hatte. Dass sie zur gleichen Zeit auch regionale Meisterin im Eistanz gewesen war, hatte William allerdings erst vor drei Wochen erfahren – immerhin rechtzeitig genug, um noch zwei Tickets für die Eisbahn am Rockefeller Center zu organisieren.
Izzie flitzt unterdessen zum x-ten Mal die Gegengerade entlang, wo sie in diesem Moment mit dem Rücken in Fahrtrichtung zu einem Sprung ansetzt, sich in die Höhe katapultiert und dabei entgegen dem Uhrzeigersinn um die eigene Körperachse rotiert, als wäre das die einfachste Übung der Welt. Es folgen weitere Runden mit akrobatischen Kunststücken, bis sie mit strahlenden Augen auf William zugleitet, der sie beindruckt in die Arme schließt.
„Mein Gott, wie lange habe ich nicht mehr auf Schlittschuhen gestanden! Ich fühle mich richtig eingerostet. Hast du den Toeloop gesehen?“, will Izzie kurzatmig wissen.
„Den Toeloop?“
„Genau! Rückwärts angleiten. Absprung mit links. Landung mit rechts. Das war mein coolster Sprung. Den konnte ich früher mit zwei Drehungen!“
„Unglaublich! Was darf man erwarten, wenn du wieder in Bestform bist? Holiday on Ice oder Olympia?“, fragt William und reibt sich sein geprelltes Gesäß.
Izzie streichelt über seine Schulter. „Ein paar blaue Flecken bringen einen ehemaligen FBI-Agenten nicht um.“
„Die Kufen sind einfach zu schmal. Man knickt ständig um. Und in den Kurven komme ich überhaupt nicht klar.“
„Und das Eis ist natürlich viel zu glatt“, ergänzt Izzie und greift nach Williams Hand. „Komm, wir laufen zusammen. Hand in Hand wird’s schon klappen.“
Tatsächlich durchmisst William nun die Kurven unfallfrei, übt das Ausweichen und das Abbremsen, die entscheidenden Techniken für Anfänger im Schlittschuhsport. Dabei kommt er ordentlich ins Schwitzen und ist erleichtert, als ein Telefonanruf ihm eine Pause verspricht.
„Hallo?“
„Auch hallo! Mit wem spreche ich?“, fragt William zurück.
„Ich bin’s. Erkennst du meine Stimme nicht?“
„Lieutenant General Vitikorn!“ William hat den Polizeichef von Bangkok am Ohr, den er wie gewöhnlich formell anspricht, obwohl sie sich seit vielen Jahren kennen und der Polizeigeneral ihn beharrlich beim Vornamen nennt. „Lieutenant General, danke für Ihre Weihnachtsgrüße. Sie sind hoffentlich gut ins neue Jahr gestartet.“
„Billywilly, schön wär’s! Mir geht’s nicht so gut wie euch. Ich kann meinen Laden nicht einfach mal wochenlang dichtmachen. You understand?“
„Verstehe!“, antwortet William. Vitikorn hatte vor ein paar Jahren sein William um das zufällig aufgeschnappte Billywilly ergänzt, das ursprünglich exklusiv für Izzie reserviert gewesen war.
„Also, mein bester amerikanischer Billywilly, machen wir es kurz. Ich rufe nicht zum Vergnügen und auch nicht aus Langeweile an …“
William blickt zu Izzie und flüstert: „Vitikorn!“, woraufhin Izzie sich weiteren Drehungen und Sprüngen auf dem Eis widmet.
„Was gibt’s denn, Lieutenant General?“
„Hab ich euch alles gemailt. Schaut es an und meldet euch bis spätestens heute Abend. Und ich will, dass Izzie dabei ist. Ich habe das Mädchen vermisst! You understand?“
„Verstehe“, antwortet William ein weiteres Mal. „Es gibt da nur ein kleines Problem. Im Moment haben wir Urlaub und sind unterwegs. Und wenn es in Bangkok Abend ist, wachen wir in New York gerade auf. Ich werde also tun, was ich kann.“
„Wo seid ihr gerade?“
„Auf der Eisbahn am Rockefeller Center“, antwortet William und verfolgt, wie Izzie sich anmutig wie eine Eisprinzessin durch eine Anfängergruppe schlängelt.
„Du liebe Zeit! Wer ist denn auf diese Idee gekommen? Ihr könnt euch jetzt keine Verletzungen erlauben. Die Sache eilt und du bist mein Mann für schwierige Fälle. Ich erwarte deinen Anruf heute Abend, Bangkok-Zeit. You understand?“
Als das Telefonat beendet ist, winkt William Izzie zu, die kurz darauf neben ihm steht und fragt: „Gibt’s ein Problem? Was will Vitikorn?“
„Es gibt ein Problem“, antwortet William. „Du wirst dich erinnern: Bei unserem letzten Auftrag in Thailand hat Vitikorn uns mit seinem You got it? nervös gemacht. Jetzt ist es ein You understand?“
6
„Ich liebe deine Pasta-Varianten“, antwortet William auf Izzies Frage, ob’s geschmeckt hat. Die Ricotta-Gnocchi in Salbei-Mohn-Butter waren erstklassig und hätten die volle Hingabe verdient. William wäre dazu auch bereit gewesen, aber Izzie war es, die ihn nach der Rückkehr vom Eislaufen gedrängt hatte, sich umgehend die Mail von Lieutenant General Vitikorn anzuschauen, deren Inhalt dann zum einzigen Thema während des Abendessens wurde.
Mit dem letzten Gnocco hatte William seinen Bericht beendet und blickt nun nachdenklich in die gusseiserne Pfanne, in der sich im Bodensatz der zerlassenen Butter die Reste des grob gehakten Knoblauchs, Mohnsamen und vereinzelte Salbeiblätter verlieren.
„Was wirst du Vitikorn antworten?“, fragt Izzie und erinnert William zugleich: „Über Weihnachten und Neujahr ist in der Agentur eine Menge liegen geblieben. Nur Adam und Patricia haben die Stellung gehalten und sich um das Nötigste gekümmert. Bestimmt sind auch neue Anfragen reingekommen. Du weißt doch noch, wie es im letzten Januar war? Wir können den Auftrag in Thailand nicht übernehmen.“
Natürlich hat Izzie recht. William kennt Izzie jedoch inzwischen ziemlich gut. Ihr Wir können den Auftrag nicht übernehmen bedeutet in Wahrheit: Lass uns darüber nachdenken. Er greift nach der Flasche Roséwein und schenkt zuerst Izzie dann sich selbst nach.
„Rosé geht immer. Weißt du noch?“
„Das werde ich nie vergessen. Unser erstes Rendezvous beim Italiener. Mit Kerzen, Stoffservietten und echten Rosen auf dem Tisch. Aber bleiben wir beim Thema“, antwortet Izzie, und William ist wieder einmal überrascht, wie schnell seine Lebensgefährtin ihre Leidenschaft für die Gastronomie abgelegt und sich in eine zielorientierte Privatermittlerin verwandelt hat. „Warum macht Vitikorn so ein Geheimnis um die Sache? Eine Entführung ist eine Entführung. Was spielt es da für eine Rolle, wie wohlhabend jemand ist?“
„In Vitikorns Mail steht nichts von einer Entführung“, widerspricht William. „Der Sohn eines Bangkoker Unternehmers ist verschwunden, und Vitikorn will Details nur im persönlichen Gespräch verraten. Das Einzige, was ich ihm entlocken konnte, ist der Name des Unternehmers. Es handelt sich um Damrong Vorayut. Seine Familie hält die Aktienmehrheit des Energiegetränkekonzerns Blue Dragon. Die Vorayuts besitzen darüber hinaus Pharmaunternehmen, eine Krankenhauskette und haben in der Hotellerie und der Immobilienbranche investiert. Das Sahnehäubchen ihrer geschäftlichen Aktivitäten ist die Exklusivlizenz für den Import und Vertrieb italienischer Sportwagen in Südostasien. Zusätzlich ist die Familie politisch bestens vernetzt und schickt immer wieder ihre Leute als Abgeordnete ins Parlament und in Regierungsämter.“
„Toll! Und wie behält man da den Überblick?“ Izzie verdreht die Augen. „Aber ich bleibe dabei: Der junge Mann – wie war noch gleich sein Name – Nathaping?“
„Nathapong“, verbessert William.