Geständnis eines Hochbegabten - Thomas Einsingbach - E-Book

Geständnis eines Hochbegabten E-Book

Thomas Einsingbach

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Beschreibung

Ein spannendes Verwirrspiel um Lüge und Wahrheit // Oktober 2001. Im thailändischen Küstenstädtchen Hua Hin wird ein prominentes Politikerehepaar ermordet. Schnell fällt der Verdacht auf Suzan, die Tochter der Opfer, und ihren Freund, den deutschen Diplomatensohn Sven Luring. Der Achtzehnjährige gesteht das Verbrechen, widerruft sein Geständnis bei Prozessbeginn und wird dennoch zum Tod verurteilt. Dann bietet er dem Journalisten Max Weiden die Rechte an seinen Tagebüchern an. Weidens Recherchen verstärken seine Zweifel an Lurings Schuld. Dabei verliert er die professionelle Distanz und fällt im Geflecht der Intrigen, mörderischen Obsessionen und enttäuschten Hoffnungen ins Nichts – Lurings Schicksal im Todestrakt des berüchtigten „Bangkok Hilton“ scheint besiegelt … In seinem neuen Roman entführt der Autor der LaRouche-Asian-Crime-Romane in die Zeit, als Thailand sich zu einem der beliebtesten Urlaubsziele entwickelt, die Regierung den Drogen den Krieg erklärt, Todesurteile am Fließband verhängt werden und schließlich das Militär die Macht an sich reißt.

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Thomas Einsingbach, geboren 1957 in Mainz, ist ursprünglich Physiotherapeut, war als Berater für Sportrehabilitation in Asien tätig und ist Verfasser von mehreren medizinischen Standardwerken. Seit 2011 lebt er in Karlsruhe und Bangkok. Seinem Romandebüt „City Hearts“ (2014) folgten im Mitteldeutschen Verlag die Asian-Crime-Thriller „Bangkok Rhapsody“ (2016), „Asian Princess“ (2017) und „Siam Affairs“ (2019).

© 2022 mdv Mitteldeutscher Verlag GmbH, Halle (Saale)

www.mitteldeutscherverlag.de

Originalausgabe

Alle Rechte vorbehalten

Gesamtherstellung: Mitteldeutscher Verlag, Halle (Saale)

Umschlagabbildung: Tithi Luadthong / Na_Studio – shutterstock.com

ISBN 978-3-96311-653-7

„Was aus Liebe getan wird,geschieht immer jenseits von Gut und Böse.“Friedrich Nietzsche, 1886

Die passende Playlist zum Roman finden Sie hier:

Inhalt

Prolog

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Vierter Teil

Nachwort

Prolog

Das kalte Neonlicht, das den Gang ausleuchtet, verträgt sich nur widerwillig mit der bleiernen Schwüle, die auch diesen trostlosen Flecken Thailands Tag und Nacht belastet. Die beiden Sergeanten der Nachtschicht nehmen den Häftling in ihre Mitte. Ihre Absätze schlagen im Gleichklang auf die blitzblanken Bodenfliesen. Der Gefangene trägt Leinenschuhe mit Gummisohlen und kann die Morgendämmerung bereits riechen. Die weit geschnittenen, knielangen Sporthosen aus grober Baumwolle lassen ihn schmächtiger wirken, als er es tatsächlich ist. Sein Name ist Lim und in einem früheren Leben war er ein gefürchteter Muay-Thai-Boxer gewesen. Jetzt sind seine Hände gefesselt, der Körper von Krätze gezeichnet, das Gebiss von Skorbut befallen und die verblassten Tätowierungen, Erinnerungen an jene besseren Tage, heben sich kaum mehr von der schmutzig graubraunen Tönung seiner Haut ab. Er hat Mühe, dem Tempo seiner Begleiter zu folgen. Klirrend schlägt die Kette der Fußeisen bei jedem seiner kurzen Schritte auf den Boden und die Metallfesseln reißen neue Wunden an seinen Knöcheln.

Lim taumelt in einen fensterlosen Raum. Die „Kammer der Erlösung“. Sein Blick streift ein mit Blumengirlanden geschmücktes Bambusgestell. Menschen christlichen Glaubens könnte dabei ein Altar in den Sinn kommen. Lim ist Buddhist und auf dem Altar ruht ein Neun-Millimeter-Maschinengewehr. Nicht weit davon entfernt – es mögen sechs, sieben Meter sein – reckt sich ein frei stehendes, grob gezimmertes Holzkreuz in die Höhe, das mit Winkeleisen im Betonboden und mit Drahtseilen an den Wänden verankert ist. Zwei Dutzend ausnahmslos männliche Augenpaare richten sich auf Lim. Kaum eines davon ist ihm bekannt. Eine Kamera wird in Aufnahmebereitschaft versetzt. Ein Ausländer, dessen Gesicht im künstlichen Licht geisterhaft bleich erscheint, klammert sich an seinen Schreibblock. Für einen Moment begegnen sich ihre Blicke, dann wendet sich der Fremde ab.

Lim ballt die Hände zu Fäusten, um sie gleich darauf wieder zu öffnen. So geht es, seit er diesen Ort betreten hat. Er betet dafür, dass die so erzeugte Körperspannung ihm in den letzten Minuten seines Lebens einen Hauch von Würde verleiht. Ein Polizeileutnant trägt noch einmal das im Namen des Königs und des Volkes ergangene Urteil vor. In der Stimme des Offiziers liegt etwas Feierliches und die Deckenscheinwerfer lassen die Schweißperlen auf Lims nackter Haut wie Kristalle funkeln. Es wird gefragt, ob der Häftling noch etwas mitzuteilen habe, was man seiner Familie weitergeben könne. Lim schüttelt den Kopf und der Kameramann beginnt mit der Aufzeichnung.

Ein Mönch tritt aus dem Hintergrund, richtet sein safrangelbes Ordensgewand und fährt sich über den kahlen Schädel. Lim hebt die gefesselten Hände zum Wai und deutet eine Verbeugung an. Der Mönch murmelt ein Gebet, legt Lim ein Baumwollbändchen um das Handgelenk und reicht ihm drei langstielige, noch geschlossene Lotusblüten – Symbole der geistigen Reinigung und des Neubeginns. Dann bindet man Lim an das Holzkreuz, den schweißnassen Rücken dem Publikum zugewandt. Sein Herz schlägt mit einer Geschwindigkeit und Wucht, dass er beinahe das Bewusstsein verliert. Eine blickdichte Haube wird über seinen Kopf gestülpt. Eisige Kälte kriecht durch seinen Körper, der sich auf seine Art gegen das Ende wehrt. Es ist die Panik der Materie: Die Muskulatur jeder zentralen Kontrolle entzogen; die Nervenbahnen zum Zerreißen gespannt; Blut sickert durch rissige Lippen; Urin rinnt die Oberschenkel hinab. Und die Lotusblüten in Lims Händen vibrieren im Rhythmus seiner Herzfrequenz.

Ein Sergeant schiebt eine mannshohe Leinwand zwischen das Holzkreuz und das aufgebockte Maschinengewehr. Auf der Bespannung wird eine Markierung angebracht. Dann tritt ein weiterer Beamter durch eine unscheinbare Seitentür. Die Augen hinter einer Sonnenbrille verborgen, nähert er sich dem Bambusgestell, ohne auch nur einen der Anwesenden zu beachten. Seine linke Hand legt sich über die Dioptertrommel, die rechte berührt den Schaft der automatischen Waffe. Ein deutsches Qualitätsprodukt, das noch nie Anlass zur Klage bot. Der Mann schiebt seine Uniformmütze auf eine Ablage unter dem Maschinengewehr, verstaut die Sonnenbrille in der Brusttasche und schließt für einen Moment die Augen. Als er sie wieder öffnet, verschränkt er die Finger beider Hände und lässt die Gelenke knacken. Er visiert die Markierung auf der Leinwand an. Dabei nimmt er den Geruch des Waffenöls wahr, mit dem er sein Arbeitsgerät am Vortag sorgfältig gereinigt hat. Das linke Bein leicht angewinkelt, das rechte fast gestreckt, wartet er auf das Signal. Als der Assistent langsam die rote Fahne hebt, legt sich sein rechter Zeigefinger sanft auf das kühle Metall des Abzugssystems.

Plötzlich ein Schrei! Alle Empfindungen, die Lim überfluten, scheinen in diesem Schrei gebündelt: Wut, Verzweiflung, das Flehen um Gnade und Erlösung. Für den Mann an der Waffe keine Überraschung. Jeder Mensch stirbt auf seine Weise. Das einzig Verbindende dabei ist die Einsamkeit. Auf ein Zeichen des Gefängnisdirektors senkt sich die Signalflagge. Die erste Geschossserie durchschlägt die Markierung auf dem Sichtschutz. Lims Geheul setzt für Sekundenbruchteile aus, um sofort wieder in die Höhe zu schnellen. Zwei weitere Feuerstöße folgen. Dann ist es totenstill. Wie es die Dienstanweisung vorsieht, wurde das komplette Magazin abgefeuert. Drei Serien. Zusammen fünfzehn Patronen.

Police Captain Jaruboon richtet sich auf und zieht die Uniformjacke glatt. Dabei sieht er, wie blutige Rinnsale sich den Weg zum Abfluss im Boden bahnen. Er greift nach der Uniformmütze, schiebt die Sonnenbrille vor die Augen und verlässt den Raum, wie er gekommen ist. Es hat ihn noch nie interessiert, wie es hinter der Leinwand aussieht.

Erster Teil

1

8. Oktober 2001. Seit Lims Hinrichtung sind fünf Monate ins Land gegangen. Unbeeindruckt von etlichen weiteren Todesurteilen, die in der „Kammer der Erlösung“ vollstreckt wurden, rollt die Brandung auf die Sandstrände von Hua Hin, einem gemütlichen Seebad, gute zwei Autostunden südlich von Bangkok gelegen.

Am Horizont kriecht die Sonne empor und begrüßt frühe Strandläufer und ein paar halbwilde Hunde, während Amarit und Phim mit ihrem Motorroller die Uferstraße entlangknattern. Noch ist Monsunsaison und ein heftiger Regenschauer hatte ihre Abfahrt verzögert. Nun wabert verdunstender Niederschlag über dem noch vom Vortag aufgeheizten Asphalt. Der Motorroller passiert den königlichen Sommerpalast, vor dem Nationalflaggen und die goldgelben Standarten der seit mehr als zweihundert Jahren herrschenden Chakri-Dynastie flattern. An den Rücken ihres Mannes gelehnt, gibt Phim sich angenehmen Erinnerungen hin. Ihre Arbeitgeber, das Ehepaar Thammakul, hatten sich großzügig gezeigt und ihnen ein freies Wochenende gegönnt; der erste Urlaub seit Jahren, den sie in einem nicht weit entfernten Nationalpark genossen hatten. Keinen halben Kilometer weiter biegt Amarit in die Soi 37 ab und das Zweirad holpert die verschlafene Sackgasse hinunter, an deren Ende das Anwesen der Thammakuls liegt.

Zehn vor sieben, zwanzig Minuten später als üblich, erreichen sie das Tor zum Grundstück. Da es unverschlossen ist, was höchst ungewöhnlich ist, rollt Amarit vor das Hauptportal der Villa. Er deutet auf die ebenfalls geöffnete Garage, in der die Fahrzeuge der Familie vollzählig untergestellt sind. Auch das ist merkwürdig, legt doch der Hausherr Wert darauf, dass mit Einbruch der Dunkelheit die Einfahrt und die Nebengebäude verriegelt sind.

Und wo ist Jessy? Die Schäferhündin ist jeden Morgen die Erste, die sie begrüßt. Nicht mit lautem Gebell, es ist vielmehr ein verspieltes Quietschen und Brummen in Erwartung von Gesellschaft, wenn Jessy sie hinter der Haustür erwartet. Phims erste Handgriffe gelten dann auch regelmäßig der morgendlichen Fütterung, ehe sie die Hündin in den Garten entlässt. Der Tag der Thammakuls beginnt dagegen selten vor neun Uhr, nachdem der Salon und das Speisezimmer aufgeräumt sind, Ventilatoren für eine angenehme Luftzirkulation sorgen, das Frühstück gerichtet ist und die Tageszeitungen bereitliegen.

Die Hausbediensteten betreten die Eingangshalle, wo sie ein unangenehmer Geruch empfängt – eine Mischung aus tabakgeschwängerter Luft und einem metallischen Beigeschmack. Jessy ist noch immer nicht zu sehen und im Salon spielt die Stereoanlage Musik. Amarit kennt die Melodie. Es ist einer dieser amerikanischen Hits, die im Radio gerade rauf und runter gespielt werden und dessen Refrain sich nachhaltig im Gehirn festbeißt.

Die geöffneten Tore. Die verschwundene Jessy. Die Musik. In ihrer Abwesenheit muss etwas Unvorhergesehenes geschehen sein. Amarit öffnet die Terrassentüren des Salons und tritt hinaus ins Freie. Vor ihm liegt die grünblaue Weite der Bucht von Thailand. Auf der Brandung tanzen Schaumkrönchen. Weiter draußen schaukeln die letzten Fischerboote der nächtlichen Fangfahrt. Amarits Blick streift eine Sonnenliege, auf der vergessene Strandtücher die Nacht verbracht haben. Auf einem Beistelltisch sieht er einen prallvollen Aschenbecher, benutzte Gläser und zwei leere Wodkaflaschen. Das war es also: Die Thammakuls hatten Besuch gehabt und es war feuchtfröhlich zugegangen. Ungewöhnlich, aber nicht unmöglich, denkt Amarit, obwohl man ihn und seine Frau bisher zuverlässig über zu erwarteten Besuch informiert hatte. Sicher gibt es für alles eine Erklärung, sobald die Herrschaften aufgewacht sind. Amarit atmet tief durch und hofft, dass die Morgenbrise den unbehaglichen Geruch im Inneren der Villa zügig vertreibt. Dabei fällt sein Blick hinter den Strandkorb, das schwergewichtige Souvenir einer Urlaubsreise der Thammakuls an die deutsche Nordseeküste. Dort liegt, halb verdeckt von dem Ungetüm, Jessy. Er beugt sich zu dem regungslosen, äußerlich unversehrten Tier hinab und sucht nach dem Herzschlag. Vergeblich. Die Hündin ist tot und Amarit fällt ein, an was ihn die metallische Note in der abgestandenen Luft in der Villa erinnert. Es hatte schon einmal einen toten Hund im Haus der Thammakuls gegeben. Jemand hatte dem Tier die Kehle durchtrennt und von der Blutlache war damals ein ganz ähnlicher Geruch aufgestiegen. Als Amarit die tote Jessy mit einem der Strandtücher von der Terrasse bedeckt, hört er den Schrei seiner Frau – einen Schrei, wie er ihn in den langen Jahren ihrer Ehe noch nie zuvor vernommen hat.

Der Notruf geht kurz nach sieben im Polizeirevier von Hua Hin ein, wo gerade die erste Tagesschicht begonnen hat. Polizeichef Captain Patwarin verdonnert die Kollegen der Nachtschicht zu Überstunden und erreicht mit den darüber hinaus verfügbaren Kräften wenige Minuten später die Villa. Dort trifft er auf die ihm persönlich bekannten Hausangestellten. Amarit wirkt gefasst, wiederholt aber immer wieder, dass er nicht glauben will, was er gesehen hat. Seine Frau krault stumm die tote Jessy und starrt auf die offene See.

Patwarin weist seine Männer an, die Außenanlagen des Grundstücks und die Treppenabgänge zum, dem Anwesen vorgelagerten, öffentlich zugänglichen Strandabschnitt abzusperren. Dann wählt er die Nummer des Hauptquartiers der Royal Thai Police in Bangkok, wo man ihn sofort weiterverbindet. Zwei Stunden später, es ist inzwischen halb zehn, erreicht ein Transporthubschrauber den Landeplatz des königlichen Sommerpalastes. Kurz darauf trifft Major General Sirikul, der Direktor der Nationalen Ermittlungsbehörde für außerordentliche Verbrechen, mit seinen Experten in der Villa der Thammakuls ein.

„Sie sind Captain Patwarin, der örtliche Polizeichef?“

„Jawohl. Wir haben den Tatort im Erdgeschoss bereits gesichert und das Grundstück abgesperrt. Sie können jederzeit über mich und meine Mitarbeiter verfügen. Ich selbst und jeder Einzelne meiner Beamten würde sich glücklich schätzen, an der Aufklärung dieses Verbrechens mitwirken zu dürfen.“

„Ich denke, das wird nicht nötig sein. Ich habe bereits eine Sonderkommission zusammengestellt. Meine Leute wissen, was zu tun ist.“

„Wir könnten beispielsweise …“

„Sie wollen also unbedingt dabeibleiben?“ Sirikul blickt auf sein Mobiltelefon, das den Empfang einer Textnachricht meldet. „Nun gut. Dann übernehmen Sie mit Ihrer Truppe bis auf Weiteres die Überwachung der Außenanlagen und der Zufahrt. Und besorgen Sie Getränke und Fingerfood. Sie wissen ja, hungrige Polizisten und Soldaten sind das Ende einer Nation.“

Um 10.15 Uhr legen sich die Ermittler Schutzkleidung an. Auch die zweite Etage mit den getrennten Schlafzimmern der Thammakuls und den Jugendzimmern der erwachsenden Kinder wird zur Sperrzone erklärt. Zeitgleich schlagen andere Beamte vor der Hofeinfahrt ein Zelt auf, das als Einsatzzentrale dient. Das Verwalterehepaar wird, nachdem man die Fingerabdrücke genommen hat, nach Hause entlassen, wo sie sich zur Verfügung zu halten haben.

2

Der dichte Baumbestand der Privatgärten, die sich in der ruhigen Sackgasse aneinanderreihen, wirft im Schein der nächtlichen Straßenbeleuchtung tiefschwarze Schatten und die Zikadenchöre im Geäst geben ihr übliches Nachtkonzert. Im Zelt der Einsatzleitung sitzen Sirikul, sein Chefermittler Colonel Thirada und Patwarin, den man als lokalen Polizeichef und Zaungast der Ermittlungen eingeladen hat. Die Männer trinken Cola aus Dosen. Vor ihnen stehen Plastikschalen und Pappteller mit den Resten eines späten Abendessens. Als kurz vor Mitternacht das Telefon klingelt, nimmt Sirikul das Gespräch an. Am anderen Ende der Leitung meldet sich der Innenminister.

„Wie kommen Sie voran? Der Premier macht mächtig Druck. Sie müssen die Mörder so schnell wie möglich finden. Ich verlasse mich auf Sie.“

Natürlich ist Sirikul bekannt, dass den Regierungschef eine langjährige Freundschaft mit der Familie Thammakul verbindet. Aber wie soll er dem Minister in Bangkok erklären, welches Grauen ihn und seine Mitarbeiter am Tatort empfangen hat?

„Exzellenz, erinnern Sie sich an die Tate-LaBianca-Morde Ende der Sechzigerjahre in Kalifornien?“

„Ging es da nicht um die Frau von Roman Polanski? Das waren Drogenjunkies! Durchgeknallte Perverse. Wie war noch gleich der Name des Anführers?“

„Gut möglich, dass die Täter unter Drogeneinfluss standen. Auf jeden Fall gehörten sie einer Art Sekte an, deren Chef ein gewisser Charles Manson war. Sie haben zuerst die hochschwangere Sharon Tate und vier weitere Personen in der Polanski-Villa ermordet und sich am Tag darauf die LaBiancas vorgenommen. Das Unternehmerehepaar wurde regelrecht abgeschlachtet. In der durchtrennten Kehle von Mr. LaBianca steckte noch die Tatwaffe, ein Brotmesser. In seinen Unterbauch hatten die Mörder eine Gabel gerammt und Mrs. LaBianca …“

„Sirikul, was hat das mit unserem Fall zu tun?“

„Exzellenz, ich will es mal so sagen: Was wir im Moment untersuchen, muss sich hinter den Abscheulichkeiten der Manson-Family nicht verstecken.“

3

Jeden Winkel des Tatorts haben Colonel Thirada und seine Mitarbeiter in den vergangenen vierundzwanzig Stunden unter die Lupe genommen und dabei eine Flut von Spuren und Hinweisen dokumentiert. Ihr Chef war im Morgengrauen nach Bangkok geeilt, um dem Premierminister persönlich Bericht zu erstatten. Zurück bei der Truppe, lädt Sirikul seine Offiziere zum Lunch in einen Besprechungsraum seines Hotels. Auf dem Tisch stapeln sich Fotografien, Notizblätter und Lageskizzen, dazwischen locken Platten mit gegrilltem Seebarsch, gebratenem Tofu auf Ingwerstiften und allerlei gedämpftem Gemüse. Zum Nachtisch lässt Sirikul eine Flasche Whiskey bringen, dazu Sodawasser und reichlich Eiswürfel.

„Das Verbrechen hat sich in der Nacht von Sonntag auf Montag abgespielt“, fasst Thirada zusammen. „So wie es aussieht, trat der Tod der Opfer zwischen Mitternacht und zwei Uhr morgens ein. Die Leichen wurden bereits in die Gerichtsmedizin nach Bangkok überführt. Auch die von uns sichergestellten Blutspuren, die Zigarettenreste aus dem Aschenbecher auf der Terrasse und eine Probe des Spermas aus der Küche wurden ins Zentrallabor geschickt.“

Sirikul blickt auf.

„Sperma in der Küche?“

„Nun ja, immerhin gibt uns das die Möglichkeit …“

„Thirada, wie oft hatten Sie schon Sex in der Küche?“

„Also, um ehrlich zu sein, meine Frau und ich …“

„Schon gut. Ich will es gar nicht wissen. Haben wir die Tatwaffe?“

„Nein. Aber die Verletzungen lassen auf die Verwendung von Stichwaffen mit einer Klingenbreite von zwei bis drei Zentimetern schließen. Die Einstichtiefe werden wir in Kürze von der Gerichtsmedizin erfahren.“

„Wie haben sich die Täter Zugang zur Villa verschafft?“, fragt Sirikul weiter.

„Ein gewaltsames Eindringen können wir ausschließen. Bei der Überprüfung der Außentüren und der Fenster haben wir keine Einbruchsspuren festgestellt. Das Verwalterehepaar hat uns allerdings darauf hingewiesen, dass weder die Haustür noch die Verbindungstür von der Küche zur offenen Garage abgeschlossen waren, als sie am Montagmorgen in der Villa eintrafen.“

Sirikul nippt an seinem Whiskey. „Keine Einbruchspuren. Die Haustür unverschlossen. Die Hofeinfahrt und die Garage womöglich die ganze Nacht sperrangelweit geöffnet. Haben die Hausangestellten etwas über die Wochenendpläne der Thammakuls berichtet? War Besuch angekündigt? Sie selbst hatten, wenn ich mich recht erinnere, ein paar Tage frei.“

Endlich sieht Captain Patwarin eine Gelegenheit, sich am Gespräch zu beteiligen, schließlich war er es gewesen, der Amarit und Phim als Erster befragt hatte.

„Die Leute haben berichtet, dass die Thammakuls schon seit längerer Zeit zurückgezogen leben und nur selten Besuch empfangen. Auch ihre Kinder machen sich rar. Die gemeinsame Tochter Suzan hat ihre Besuche bei den Eltern reduziert, seit sie in Bangkok studiert und einen festen Freund hat. Und Sunny, der Sohn aus Professor Thammakuls erster Ehe, lässt sich so gut wie nie blicken …“

„Wir alle wissen, wer Sunny ist“, unterbricht Sirikul. „Aber diese Familieninterna bringen uns nicht weiter. Meine Frage war, ob die Hausangestellten von der Wochenendgestaltung ihrer Arbeitgeber unterrichtet waren.“

„Es waren keine Gäste für das Wochenende angemeldet. Wäre das der Fall gewesen, hätte man den Angestellten nicht freigegeben.“

„Aber es steht fest, dass die Thammakuls Besuch empfangen haben. Die Gläser und die Wodkaflaschen auf der Terrasse lassen keinen anderen Schluss zu“, unterbricht Sirikul noch einmal den lokalen Polizeichef.

„Das ist natürlich nicht ausgeschlossen. Ich kannte Mrs. Thammakul allerdings persönlich. Sie mochte keine spontanen Besuche. Ich nehme an, sie scheute sich davor, ohne Make-up und womöglich in unpassender Garderobe überrascht zu werden.“

„Mrs. Thammakul trug einen Morgenmantel mit nichts anderem als einem Slip darunter“, stellt Sirikul fest. „Da keine Anzeichen für ein gewaltsames Eindringen gefunden wurden, müssen wir davon ausgehen, dass diese Gäste – die wohl auch die Täter sind – den Thammakuls zumindest soweit bekannt waren, dass man sie nicht abweisen konnte und ihnen, wenn auch nicht begeistert, Eintritt gewährte.“

„Es gibt noch eine Besonderheit, die Amarit aufgefallen ist“, meldet sich Patwarin noch einmal.

„Amarit? Wer ist das?“, fragt Sirikul.

„Der Hausverwalter. Er ist auch für den Garten verantwortlich und bei Bedarf Chauffeur. Ich kenne ihn, seit er mit seiner Frau für die Thammakuls arbeitet.“

„Aha. Und was ist dem Mann aufgefallen?“

„Als er am Montagmorgen die Villa betrat, spielte im Salon Musik. Als er den CD-Player ausschalten wollte, bemerkte er, dass die Repeat-Taste gedrückt war. Programmiert war ein einziger Musiktitel, ein Song von Alicia Keys.“

„Alicia Keys? Das war Fallin’, stimmt’s? Das Stück läuft den ganzen Tag im Radio.“

„Genauso ist es.“

„Rhythm and Blues? Ist das der Musikgeschmack der Thammakuls?“ Sirikul blickt in die Runde.

„Das ist der Grund, weshalb Amarit diese Sache erwähnte. Er behauptet, die Thammakuls hätten ausschließlich klassische europäische Musik gehört – Mozart, Beethoven und solche Sachen.“

4

Zweiunddreißig Stunden nach der Entdeckung des Verbrechens trifft der Innenminister in Hua Hin ein. Im Kongresszentrum stellt sich der Politiker zusammen mit Major General Sirikul den Medienvertretern.

„Die Brutalität dieses Verbrechens macht uns fassungslos. Aber ich verspreche, wir werden die Täter aufspüren und zur Rechenschaft ziehen. Die Mörder werden mit der ganzen Härte, die unsere Gesetze zulassen, bestraft. Wer eine solche Tat begeht, kann keine Gnade erwarten …“, der Minister blickt über das Auditorium, „… und hat sein Lebensrecht verwirkt.“

Der Minister ist nicht alleine gekommen. In der ersten Reihe haben die Kinder der Opfer, die Halbgeschwister Sunny und Suzan, und deren engste Verwandten in Trauerkleidung Platz genommen.

„In aufrichtiger Anteilnahme wünscht der Premierminister im Namen der Regierung und der königlichen Familie den Hinterbliebenen alle Kraft und Zuversicht, die für die Bewältigung dieser unbegreiflichen Tat nun gefordert ist. Nicht nur die Führung unseres Landes ist bestürzt. Das gesamte thailändische Volk trauert um zwei Persönlichkeiten, die sich zeitlebens in den Dienst des Vaterlandes gestellt haben. Seine Exzellenz Peerapat Thammakul trug als Hochschullehrer zur Ausbildung unserer nationalen Wirtschaftselite bei. Als Unternehmer trieb er die Modernisierung der Kommunikationssysteme voran. Und als Wirtschaftsminister wirkte er mit, Thailand in eine moderne Industrienation und zu einer der weltweit beliebtesten Touristikdestinationen zu entwickeln. Dass Professor Thammakul im Alter von erst vierundsechzig Jahren aus dem Leben gerissen wurde, ist eine unfassbare Tragödie.“ Der Minister tupft sich den Schweiß von der Oberlippe. „Gleichermaßen uneigennützig hat sich seine Ehefrau Jaradee, die Tochter eines der Helden von Chumphon, um die Benachteiligten in unserer Gesellschaft bemüht. Ihre Mitarbeit in den verschiedensten Wohltätigkeitsorganisationen wurde, wie Sie alle wissen, vielfach mit hochrangigen Auszeichnungen gewürdigt. Madam Jaradee wäre in wenigen Wochen fünfundvierzig Jahre alt geworden.“

Als der Minister seine Rede beendet hat, nimmt er einen Platz im Kreis der Familie der Opfer ein. Der Raum wird abgedunkelt, eine Leinwand herabgelassen und Major General Sirikul greift zum Mikrofon.

„Meine Mitarbeiter haben den Tatort, das Anwesen der Thammakuls, sowie dessen Umgebung ermittlungstechnisch auf das Sorgfältigste untersucht. Auch wenn die Bewertung der sichergestellten Spuren noch nicht abgeschlossen ist und die Vernehmung einiger Zeugen noch aussteht, lässt sich Folgendes mit Sicherheit sagen: Das Ehepaar Thammakul wurde in der Nacht von Sonntag auf Montag getötet. Als wir am Montagvormittag am Tatort eintrafen, stießen wir zuerst auf den Leichnam von Professor Thammakul. Wir fanden ihn im Durchgang zwischen der Küche und dem Speisezimmer.“

Das erste Foto erscheint auf der Leinwand und zeigt einen Mann mit gepflegtem Clark-Gable-Bärtchen in gekrümmter Seitenlage auf blutverschmierten Steinfliesen. Er trägt eine graue Strickjacke, weit geschnittene Leinenhosen und Sandalen. Die geöffnete Jacke gewährt den Blick auf ein blutdurchtränktes, zerfetztes Unterhemd. Auf den folgenden Detailaufnahmen ist zu erkennen, dass er mit Kabelbindern gefesselt ist.

„Im Bereich des Unterleibs haben wir achtundvierzig Stichverletzungen gezählt. Die Schleifspuren auf dem Boden lassen vermuten, dass man ihn erst nach seiner Ermordung im Esszimmer in Richtung Küche geschleppt hat.“

Ein hemmungsloses Schluchzen durchbricht die stumme Ergriffenheit. Es ist Suzan, die Tochter der Opfer. Eine Verwandte nimmt sie in den Arm und verlässt mit ihr den Saal.

„Mrs. Thammakul wurde dagegen in der Küche getötet“, fährt Sirikul fort. Ein Foto zeigt eine übel zugerichtete Frau inmitten einer Landschaft geronnenen Blutes. Ihr Rücken lehnt am Kühlschrank. Die Plastikfesseln an den Händen und Füßen schneiden scharf ins Gewebe und über ihrem Mund liegen mehrere Lagen Klebeband. Der Gürtel ihres Morgenmantels hat sich gelöst. Man sieht nackte Haut und blutige Unterwäsche.

„Madam Jaradees Körper weist siebzehn Stichwunden, ihr Gesicht fünf Schnittverletzungen auf. Möglicherweise wurde sie vor ihrer Ermordung misshandelt.“ Sirikul lässt die Aufnahme quälende Sekunden auf der Leinwand stehen. „Während dieser Tortur wurden Mrs. Thammakul beide Augen ausgestochen. Nach Einschätzung unserer Mediziner trat der Tod ein, als der Versuch unternommen wurde, ihren Kopf abzutrennen, was nur unvollständig gelang. Dabei wurde die linke Halsschlagader verletzt, was dann den tödlichen Blutverlust ausgelöst hat.“

Das Foto zeigt Mrs. Thammakuls unnatürlich zur Seite abgekipptes Haupt. Trotz der Blutverkrustungen um die weit offene Kehle ist die Schnittführung des Enthauptungsversuchs erkennbar. Eine weitere Detailaufnahme folgt. Sie zeigt ein Gesicht, dem alles menschlich Vertraute genommen ist. Die Journalisten starren auf ein planlos zerschnittenes Antlitz und in leere Augenhöhlen.

Captain Patwarin war das Ehepaar Thammakul gut bekannt und auch die zur Pressekonferenz erschienenen Angehörigen sind für ihn keine Fremden. Er kann sich zudem noch lebhaft an seine erste Begegnung mit Peerapat Thammakul vor bald zwanzig Jahren erinnern. Der gerade zum Wirtschaftsminister berufene Ökonomieprofessor hatte seinerzeit dem jungen Streifenpolizisten Patwarin die damals vierjährige Suzan vorgestellt, die bald darauf eine Klassenkameradin von Patwarins eigener Tochter werden sollte. Aber es ist nicht alleine die persönliche Verbindung zur Familie Thammakul, die den lokalen Polizeichef antreibt. Er betrachtet sich inzwischen als Mitglied der Ermittlungskommission und skizziert deshalb während der Pressekonferenz Steckbriefe der anwesenden Thammakul-Verwandtschaft, die er Sirikul nach deren Ende übergibt.

Nach der Pressekonferenz schickt Sirikul seine übermüdeten Mitarbeiter in eine Pause. Auch er selbst zieht sich auf sein Hotelzimmer zurück. Dort entledigt er sich seiner Uniformjacke und der Schuhe und lässt sich aufs Bett fallen, wo sein Gehirn keine Ruhe finden will. Die Thammakul-Morde sind eine brisante Angelegenheit. Da gibt es zum einen die enge Verbindung der Opfer zum neuen Regierungschef Thaksin. Sollten die angemahnten Ergebnisse ausbleiben, könnte es gut passieren, dass sich der Premier, ein ehemaliger Polizeioffizier, höchstpersönlich in die Untersuchungen einmischt. Des Weiteren beginnen nicht nur die Medien, über die Hintergründe des Verbrechens zu spekulieren. Das Flaggschiff der Thammakul-Holding ist die Siam Electronics Company, eine Technologiemanufaktur, die seit Jahren die Überwachungs- und Kommunikationssysteme etlicher Ministerien, der Polizei und der königlichen Familie liefert und deren Funktionsfähigkeit sicherstellt. Sirikul weiß, dass ihm nur kurze Zeit bleibt, bis die schon ungeduldig scharrende Politische Polizei oder der Geheimdienst den Fall für sich reklamieren.

Um sich von den düsteren Gedanken des Scheiterns abzulenken, blättert Sirikul in den Steckbriefen Patwarins. Insbesondere der Sohn des Hauses scheint es dem Kollegen angetan zu haben. Dass Sunny sein Jurastudium zugunsten einer Karriere im Musik- und Showbusiness abgebrochen hat, ein skandalträchtiges Privatleben auf einem Hausboot führt und mitunter meint, sich über die Gesetze stellen zu können, wird in der Klatschpresse immer wieder ausführlich beleuchtet. Auch Sunnys gespanntes Verhältnis zu seiner Halbschwester Suzan und seiner Stiefmutter ist weder für die Medien noch für Sirikul ein Geheimnis. Er überfliegt die Kommentare, die Patwarin im Zusammenhang mit Tante Kimberley zu Papier gebracht hat – einem weiblichen Fixstern der Bangkoker High Society, die Sunnys Lebensstil stets verständnisvoll gegenüber ihrem nun toten Bruder verteidigt habe. Zudem soll sie auch Sympathien für Suzans Verhältnis zu einem jüngeren Kommilitonen hegen, das – wie Patwarin hervorhebt – ganz und gar nicht den Vorstellungen der Eltern entsprach, zumal es sich bei dem Jungen um einen Ausländer handeln soll. Auch der Steckbrief von General Chuntara, einem Bruder der ermordeten Madame Thammakul, enthält für Sirikul nichts Neues, außer dem Hinweis, dass seine Nichte Suzan gerne die Ferien auf der Ranch des Luftwaffengenerals verbringt.

Sirikul schiebt die Aufzeichnungen beiseite. Notizen eines übereifrigen Polizeibeamten, vollgepackt mit subjektiven Eindrücken und unerheblichen Details, fasst er im Stillen zusammen. Sirikul ist zum Erfolg verdammt. Mitarbeiter wie Patwarin sind da keine Unterstützung.

5

Inzwischen sind die Ermittlungen am Tatort abgeschlossen und Sirikul hat entschieden, Patwarin aus der Sonderkommission zu entfernen. Bevor er das dem örtlichen Polizeichef mitteilen will, gönnt er ihm einen Abschiedsauftritt. Es ist die Zusammenfassung der Zeugenaussagen, die in den letzten Tagen zusammengetragen wurden.

„An der Soi 37 liegen fünf Anwesen. Das größte davon ist das der Thammakuls, deren Grundstück auch das einzige mit direktem Strandzugang ist. Von den vier benachbarten Villen wird nur eine dauerhaft bewohnt. Es handelt sich dabei um einen Bankdirektor im Ruhestand und dessen Frau. Alle anderen werden von ihren Besitzern nur gelegentlich oder zur Ferienzeit genutzt und standen zur Tatzeit leer. Das erwähnte Ehepaar ist am Sonntagabend früh zu Bett gegangen, nachdem es sich einen Film im Fernsehen angeschaut hatte. Da sich ihre Villa in einem parkähnlichen Garten mit erheblichem Abstand zur Gasse befindet, haben sie nichts wahrgenommen, was uns hilft.“ Patwarin nimmt einen Schluck Wasser und räuspert sich. „Ergiebiger waren die Aussagen der Strandbesucher, die am Sonntag den Sonnenuntergang genossen und sich bei unseren Ermittlern gemeldet haben. Insbesondere die Beobachtung einer Gruppe französischer Touristen scheint interessant. Die Leute erinnern sich, gegen achtzehn Uhr zwei männliche Personen auf der Terrasse der Thammakuls gesehen zu haben. Die Entfernung vom öffentlichen Strand zur Terrasse beträgt ungefähr siebzig Meter. Gesichter sind auf diese Entfernung kaum im Detail zu erkennen. Außerdem stand zu diesem Zeitpunkt die Sonne ziemlich tief und blendete die Spaziergänger beim Blick in westliche Richtung, wo sich die Villa befindet. Die Franzosen glauben dennoch, dass es sich um einen älteren Herrn und einen jungen Mann gehandelt haben könnte.“

„Und die Jogger? Ist da etwas Brauchbares herausgekommen?“, fragt Chefermittler Thirada, der die Befragungen der Strandbesucher seinem Kollegen übertragen hatte.

„Vielleicht in Verbindung mit anderen Hinweisen“, schränkt Patwarin ein. „Die vierköpfige Familie, ein indonesischer Geschäftsmann mit seiner thailändischen Frau und zwei heranwachsenden Söhnen, hat das Thammakul-Grundstück gegen halb sieben, in nördliche Richtung laufend, passiert. Der Vater sagt aus, dass er auf dem Rückweg, etwa dreißig Minuten später, Schreie aus der inzwischen hell erleuchteten Villa gehört hat. Ob diese Schreie ängstlicher, wütender oder freudiger Natur waren, ob es Hilferufe waren oder vielleicht nur lauter Jubel, kann er nicht beurteilen. Die Frau bestätigt die Aussage ihres Mannes, will aber ebenfalls keine Bewertung vornehmen. Die Söhne hatten während des Joggens Kopfhörer auf den Ohren.“

Sirikul nickt und bemüht sich, seinem Gesichtsausdruck eine Note der Belobigung beizumischen.

„Dann ist die Beobachtung der Streetfood-Verkäuferin vorerst die einzige konkrete Spur“, stellt Thirada fest.

„So sieht es aus“, bestätigt Patwarin. „Bei der Zeugin handelt es sich um eine zweiunddreißigjährige Frau, die neben ihrer Hauptbeschäftigung als Versicherungsangestellte am Wochenende mit einem Streetfood-Karren unterwegs ist. Sie gibt an, am vergangenen Sonntag ein Fahrzeug beobachtet zu haben. Der Wagen sei von der Phetkasem Road schwungvoll in die Soi 37 abgebogen und habe vor einem Schlagloch, ein paar Meter von ihrem Verkaufsstand entfernt, scharf abgebremst. Anschließend habe der Wagen wieder beschleunigt und sei die schnurgerade Gasse bis hinunter zur Thammakul-Villa gefahren.“

„Wo genau war die Position der Zeugin?“, fragt Sirikul.

„Etwa fünfzig Meter vor der Einmündung der Gasse in die Phetkasem Road. Die Frau bietet dort regelmäßig am Sonntagnachmittag gegrillte Meeresfrüchte an. Ihre Kundschaft findet dort bessere Parkmöglichkeiten als auf der Hauptstraße. Sie gibt an, sich gemeinsam mit einem Kunden über die rücksichtslose Fahrweise erregt zu haben. Auf meine Frage nach der Uhrzeit meinte sie, dass es nach siebzehn Uhr gewesen sein müsste. Ganz sicher ist sie hingegen, dass der Wagen eine Bangkoker Zulassung hatte. Außerdem fiel ihr ein Lackschaden an der rechten vorderen Fahrzeugtür auf …“

„Ein Lackschaden?“, unterbricht Sirikul. „Erinnert sich die Frau an den Fahrzeugtyp? Kann sie uns den Fahrer beschreiben?“

„Es ging alles sehr schnell und sie war schließlich beschäftigt. Aber sie sagt, dass es ein Toyota Corolla war. Zum Fahrer konnte sie keine Angaben machen. Der Wagen sei einfach zu schnell unterwegs gewesen.“

„Hat die Zeugin gesehen, wie viele Leute in dem Fahrzeug saßen?“

„Nicht genau. Aber sie glaubt, dass sich mehrere Personen im Wagen befanden.“

„Aha“, nickt Sirikul. „Und welche Farbe hatte der Toyota?“

„Die Frau sagt, es könnte ein weißes, silbernes oder hellgraues Modell gewesen sein.“

„Den Lackschaden hat sie erkannt. Den Fahrzeugtyp und die Bangkoker Zulassung ebenfalls. Aber bei der Farbe ist sie unsicher. Sehr ungewöhnlich für eine Frau“, kommentiert Sirikul. „Kann sie sich entsinnen, wann der Wagen das Thammakul-Anwesen wieder verlassen hat? Auf dem Rückweg muss er doch ihren Standplatz erneut passiert haben?“

„Nein, leider nicht. Sie hat gegen sieben ihren Karren zu einem anderen Ort, drei Quergassen weiter nördlich, verlegt.“

6

Die Tage verrinnen ohne entscheidende Fortschritte. Immerhin kann eine Blutprobe vom Tatort nicht den Opfern zugeordnet werden – ein kleiner Lichtblick, wenn man der Annahme folgen will, dass einer der Täter während des blutigen Gemetzels selbst verletzt wurde. Auch die daktyloskopischen Abgleichungen bringen die Beamten nicht weiter. Wie nicht anders zu erwarten, stammen die meisten Fingerabdrücke entweder von den Thammakuls selbst oder von ihren Hausangestellten. In der Küche und auf etlichen Getränkeflaschen der Hausbar wurden Fingerabdrücke von Suzan gefunden, welche die Experten jedoch nicht in einen zeitlichen Zusammenhang mit dem Tatwochenende einordnen wollen. Bei den Fingerabdrücken auf der Musik-CD, die am Morgen nach dem Verbrechen spielte, sind sie sich dagegen sicher. Dem Vernehmen nach handelt es sich um deutlich jüngere Abdrücke, die von Sunny Thammakul stammen, was Sirikul veranlasst, den Musiker zu einem Gespräch in sein Büro zu bitten.

Obwohl Sirikul betont hatte, dass sich hinter seiner Einladung keineswegs ein Verhör verbirgt, wird Sunny von seinem Anwalt begleitet. Der sechsundzwanzigjährige Popsänger mit blondierter, schulterlanger Mähne eröffnet die Unterhaltung mit einer Erläuterung der gestörten Beziehung zu seinem Vater, dessen Tod ihn augenscheinlich nicht sonderlich mitgenommen hat. Anschließend kritisiert Sunny die Drogenpolitik der neuen Regierung, spricht von einem Polizeistaat und äußert sich wenig respektvoll über die Rolle des Königs in dieser Angelegenheit. Sirikul erinnert Sunny, dass Majestätsbeleidigung mit Freiheitsentzug bis zu fünfzehn Jahren geahndet werden kann, und nachdem Sunny sich mithilfe seines Anwalts wieder gefangen hat, kommt Sirikul endlich zum Thema.

„Mr. Thammakul, mögen Sie Alicia Keys?“

„Na klar. Sie nicht?“

„Ich höre ab und zu gerne Rhythm and Blues.“

„Dann empfehle ich Ihnen meine neue CD.“

Sunny fängt an, eine Melodie zu summen. Dann folgt der Refrain: „I keep on fallin’, lovin’ you makes me so confused …“

„Als die Hausangestellten am Morgen nach dem Verbrechen die Villa betraten, spielte die Musikanlage im Salon diesen Song. Jemand hat das Stück auf Endlosschleife gelegt.“

„Das muss ein Jemand mit verdammt gutem Geschmack gewesen sein.“

„Auf der CD haben wir Ihre Fingerabdrücke entdeckt.“

„Die CD gehört mir.“

„Die Hausangestellten haben behauptet, dass diese Art von Musik von Ihren Eltern nicht sonderlich geschätzt wurde.“

„Mein Vater mochte sie nicht. Meine Stiefmutter schon. Das ist aber auch das Einzige, was uns verband. Sie hat mich bei meinem letzten Besuch vor ein paar Wochen gefragt, ob ich ihr die CD für eine Weile überlassen könnte.“ Sunny breitet die Arme aus. „Ich hatte Mitleid mit der armen Frau. Sie hatte echt kein leichtes Leben.“

„Mr. Thammakul, waren Sie in der Mordnacht in der Villa Ihrer Eltern?“

„Ziemlich krasse Frage! Sie wollen also tatsächlich wissen, wo ich in der Mordnacht gewesen bin?“ Sunny scheint zu überlegen. Die Theatralik, die er dabei auf sein Gesicht zaubert, ist noch aufgesetzter als die gespielte Nachdenklichkeit der Akteure in den Seifenopern des thailändischen Fernsehens. „Jetzt fällt es mir wieder ein! Da ich gerade nichts Besseres zu tun hatte, habe ich meinen Vater und meine Stiefmutter ermordet. Herr Kommissar, gratuliere! Sie haben den Fall gelöst!“

Sunnys Rechtsanwalt tätschelt die Schulter seines Mandanten, der sich daraufhin mit angriffslustigem Blick auf Sirikul zurücklehnt und die Arme vor der Brust verschränkt. Der Anwalt entnimmt seiner Aktentasche Fotos einer Musikveranstaltung, einen bebilderten Presseartikel und Kopien von Flugtickets und Hotelrechnungen.

„Major General, mein Mandant hatte an dem Wochenende, als seine Eltern einem entsetzlichen Verbrechen zum Opfer fielen, in Chiang Mai einen Konzertauftritt – neunhundert Kilometer vom Tatort entfernt.“

7

Endlich kommt Bewegung in den Fall. Sirikul erhält einen Anruf seines Chefermittlers, der berichtet, man habe einen silbergrauen Toyota Corolla mit einer Bangkoker Zulassung aufgespürt, auf den der von der Streetfood-Verkäuferin beschriebene Lackschaden zutreffe. Sirikul presst den Hörer ans Ohr und hört von Thirada, dass die Spurenermittlung sich das Fahrzeug bereits vorgenommen habe.

„Der Wagen gehört einer Autovermietung. Er war vom sechsten Oktober, das war der Samstag vor der Tat, bis zum darauffolgenden Dienstag verliehen. Bei der Rückgabe des Fahrzeugs haben sich die Kunden für die Lackbeschädigungen entschuldigt und gebeten, die Reparaturkosten der hinterlegten Kreditkarte zu belasten. Die jungen Leute – es soll sich um einen Ausländer und eine Thailänderin handeln – haben behauptet, sie wären mit Freunden in den Khao-Yai-Bergen unterwegs gewesen. Man habe schon auf der Fahrt dorthin ordentlich gefeiert und dabei den Innenraum des Fahrzeugs stark verschmutzt, aber sie …“

„Dann gibt es jede Menge Spuren“, unterbricht Sirikul.

„Nein, der Wagen wurde praktisch keimfrei abgegeben. Meine Leute konnten nichts Verwertbares finden.“

„Und Sie meinen, es ist der Wagen, den wir suchen?“

„Darauf verwette ich meine Pension.“

„Sie sind ein mutiger Mann. Was macht Sie so sicher?“

„Die Mietgebühr wurde mit einer Kreditkarte bezahlt, die auf Mrs. Jaradee Thammakul ausgestellt ist.“

„Mit der Kreditkarte der Ermordeten?“, ruft Sirikul ins Telefon. „Verflucht noch mal! Sagten Sie nicht, dass ein junges Paar den Toyota gemietet hat? Suzan Thammakul soll doch mit einem Ausländer befreundet sein! Schaffen Sie mir das Mädchen noch heute in mein Büro.“

„Das wird so schnell nicht klappen. Suzan ist mit ihrem Freund spurlos verschwunden.“

„Es ist nicht zu fassen! Da haben wir zum ersten Mal …“ Eine kurze Störung der Telefonverbindung verhindert die weitere Übertragung von Sirikuls Enttäuschung. Dann ist er wieder zu hören: „Finden Sie heraus, wer dieser Bursche ist!“

„Schon erledigt. Suzan und ihr Freund studieren an der Royal Academy of Business Administration …“

„Ha! Das hätte ich mir denken können! Ein Biotop für den High-Society-Nachwuchs.“

„Das mag für Suzan Thammakul gelten. Der Direktor teilte mir allerdings mit, dass ihr Freund aus normalen Mittelklasseverhältnissen stammt. Sein Vater ist Diplomat und arbeitet derzeit in der deutschen Botschaft in Bangkok. Auf meine Bitte wurden mir die persönlichen Daten von dem Jungen und ein paar Fotografien ausgehändigt. Sobald ich wieder im Präsidium bin, lege ich Ihnen die Unterlagen vor. Suzan und ihr Freund haben übrigens zwei Tage nach dem Verbrechen einen Antrag auf ein Urlaubssemester gestellt, dem die Leitung der Akademie aus verständlichen Gründen zugestimmt hat.“

„Gut gemacht, aber beeilen Sie sich“, brummt Sirikul.

Eine Stunde später betrachten die Beamten die Porträtauswahl eines jungen Mannes, dessen Angesicht von der noch nicht gänzlich überwundenen Pubertät gekennzeichnet ist.

„Sieht so ein Killer aus, der versucht, seinen Opfern den Kopf abzuschneiden, und wie ein Irrer auf sie einsticht? Der Kerl ist gerade mal achtzehn!“

„Für Kapitalverbrechen gibt es kein Mindestalter“, antwortet Thirada.

„Stellen Sie sich vor, das ist sogar mir bekannt! Aber wir halten den Ball flach. Also keine Details gegenüber der Presse. Auch die Eltern des Deutschen werden vorerst nicht kontaktiert.“

Am Nachmittag telefoniert Thirada mit Suzans Verwandten, die bestätigen, dass die Vollwaise eine Auszeit genommen hat, um sich nach den schrecklichen Ereignissen zu sortieren. Ihre Lieblingstante Kimberley und General Chuntara geben übereinstimmend an, seit zwei Wochen weder Kontakt zu ihrer Nichte gehabt zu haben, noch Kenntnisse über deren Aufenthaltsort zu besitzen. Am darauffolgenden Morgen wird ein Fahndungsauftrag nach dem abgetauchten Paar an sämtliche Polizeistationen und Grenzposten Thailands übermittelt.

Der Beginn der Suchaktion verläuft enttäuschend. Erst nach geschlagenen acht Tagen meldet sich der Vorsteher eines Grenzpostens am äußersten nordwestlichen Zipfel Thailands. Er gibt an, dass die Gesuchten vier Tage nach dem Verbrechen an seinem Grenzübergang ins benachbarte Myanmar ausgereist sind. In der Erinnerung des Beamten hatte das Pärchen sich einer Gruppe von Backpackern angeschlossen. Sirikul ordnet daraufhin die Überprüfung der Einreisedokumentation sämtlicher Grenzübergänge, der Flughäfen und der Hafenterminals für den Fährverkehr an. Eine Rückkehr des jungen Paares nach Thailand ist bis jetzt nirgendwo registriert worden. Unterdessen nehmen die Spekulationen im Zusammenhang mit dem Thammakul-Verbrechen abenteuerliche Formen an. Die seriöseste davon ist eine aus dem Ruder gelaufene Spionageaktion eines ausländischen Geheimdienstes, der es auf die Siam Electronics Company abgesehen habe. Und natürlich werden auch immer wieder burmesische Gangster angeführt, denen man in Thailand seit Jahrhunderten schlichtweg jedes Verbrechen zutraut.

Weitere Wochen verstreichen, ohne dass es Hinweise auf den Verbleib des flüchtigen Paares gibt, was Sirikul veranlasst, den Direktor des staatlichen Fernsehkanals NBT zu bitten, die Polizei bei der Suche nach den Studenten zu unterstützen. Während das Fernsehen sich mit Anschuldigungen zurückhält, überschlagen sich die Printmedien infolge der öffentlichen Fahndung mit Mutmaßungen, die überwiegend um den deutschen Begleiter von Suzan Thammakul kreisen. Sirikul gibt Anweisung, sämtliche Anfragen in dieser Sache zu ignorieren. Kontaktversuche der deutschen Botschaft werden ans Außenministerium weitergeleitet, wo man sie im Gestrüpp der Bürokratie umherirren lässt.

8

Sechs Wochen nach dem Verbrechen checkt ein Backpacker-Paar zweihundertfünfzig Kilometer südöstlich von Bangkok in ein Low-Budget-Hotel in der historischen Altstadt von Chantaburi ein. Es ist noch keine acht Uhr morgens. Die jungen Leute erzählen dem Manager, sie kämen von einer Trekkingtour im kambodschanischen Dschungel und wollten in dem Provinzstädtchen für ein paar Tage die Seele baumeln lassen. Der Hotelangestellte, ein ehemaliger Polizeibeamter, erkennt die gefälschten Reisepässe und alarmiert seine früheren Kollegen, die kurz darauf im Hotel eintreffen. Die Rucksacktouristen, ein hoch aufgeschossener Ausländer mit einer auffällig großen Brille und seine thailändische Freundin, werden gebeten, die Beamten auf das Polizeirevier zu begleiten.

„Soll ich Ihnen verraten, wen Sie vor sich haben?“ Der lange Ausländer spricht Thai und fixiert den Polizeioffizier herausfordernd.

„Da Sie mit gefälschten Papieren unterwegs sind, bitte ich darum.“

Der Mann deutet auf seine Begleiterin. „Sie wissen, wer das ist?“ Der Polizist mustert die junge Frau und der Ausländer kann die Antwort des Beamten nicht abwarten.

„Der Doppelmord von Hua Hin vor ein paar Wochen. Daran müssen Sie sich doch erinnern.“

Der Polizist wechselt einen Blick mit seinem Kollegen und der Ausländer legt nach: „Das ist die Tochter der Opfer, Suzan Thammakul.“

„Mister, Chantaburi liegt nicht hinter dem Mond. Natürlich habe ich Miss Thammakul erkannt. Und ich nehme an, Sie sind ihr deutscher Freund.“

„Korrekt. Dann verstehen Sie jetzt?“

„Was soll ich verstehen? Sie werden seit Wochen gesucht und verwenden gefälschte Ausweise.“

„Wir hatten unsere Gründe.“

„Die Verwendung falscher Pässe ist eine Straftat.“

„Aber kein Kapitalverbrechen. Wenn Sie unsere Lage nicht verstehen wollen, verhängen Sie meinetwegen eine Geldstrafe. Suzans Eltern wurden ermordet. Sie braucht Zeit und Ruhe, um diesen Schicksalsschlag zu verarbeiten. Dabei kann sie keine Pressegeier und andere Sensationsjäger gebrauchen. Können Sie sich vorstellen, wie aufdringlich Journalisten sind?“

„Meine Familie gehört nicht zur High Society.“

„Dachte ich mir“, antwortet der Deutsche und seine Freundin hat noch immer kein Wort gesprochen. „Also noch einmal: Die Sache mit den Pässen war meine Idee. Damit wollte ich Suzan schützen und ihr die Möglichkeit geben, wieder Boden unter die Füße zu bekommen. Ist das so schwer zu verstehen?“

„Ihr Thai ist ausgezeichnet. Sie sind der Diplomatensohn, nicht wahr? Können wir Ihnen etwas anbieten? Wir haben sogar ausländischen Pulverkaffee.“

„Na also, geht doch. Ein Kaffee wäre nicht schlecht.“

Der lange Backpacker streichelt über Suzans Schulter, deren Blick am Boden zu kleben scheint. „Mein Name ist übrigens Sven Luring. Mein Vater ist Kulturattaché in der deutschen Botschaft in Bangkok. Ich würde jetzt gerne mit ihm telefonieren. Ich denke, wir können auf die Klärung der Angelegenheit durch die Rechtsabteilung der Botschaft verzichten, da ich sehe, dass Sie unsere Situation nun doch begriffen haben.“

„Miss Thammakul, für Sie auch einen Kaffee?“ Der Revierleiter wirft Suzan einen freundlichen Blick zu.

„Ein Glas Wasser wäre mir lieber, wenn es Ihnen keine Umstände macht.“

„Mein Kollege bringt die Getränke. Und dann entspannen Sie sich erst einmal. Mr. Luring, Ihr Telefonat hat bestimmt noch etwas Zeit. Bitte entschuldigen Sie mich für einen Augenblick. Ich bin sofort wieder bei Ihnen.“ Der Polizeioffizier verlässt den Raum, wählt die Nummer der Nationalen Ermittlungsbehörde in Bangkok, wo man ihn mit Major General Sirikul verbindet.

9

Gegen Mittag erreicht der Hubschrauber das Hauptquartier der Royal Thai Police in Bangkok. Sirikul lässt es sich nicht nehmen, das gesuchte Paar persönlich in Empfang zu nehmen und die erkennungsdienstliche Behandlung inklusive der Entnahme von Blutproben zu überwachen. Anschließend werden die beiden getrennt. Sirikul will zuerst dem deutschen Teenager auf den Zahn fühlen. Dafür zieht er seinen engsten Mitarbeiter Thirada hinzu, einen erfahrenen Verhörspezialisten.

Der Vernehmungsraum besitzt keine Klimaanlage und das vergitterte Oberlicht lässt sich nicht öffnen. Ein altersschwacher Ventilator bemüht sich, die überhitzte Luft in der engen Kammer in Bewegung zu halten. Man sitzt auf unbequemen Plastikstühlen um einen verbeulten Metalltisch, auf dem ein museumsreifes Diktiergerät sein Gnadenbrot gefunden hat. Die Deckenbeleuchtung zuckt in unregelmäßigen Abständen nervös und Sven Luring eröffnet das Gespräch mit der Forderung, nun endlich seinen Vater sprechen zu wollen, und beklagt, dass man ihm in Chantaburi diesen Wunsch verweigert habe.

„Kein Problem. Telefonieren Sie mit Ihrem Vater.“ Thirada reicht Luring sein Mobiltelefon. Lurings Anruf wird von einer Mailbox angenommen. Er lächelt verlegen und erklärt, sein Vater sei wahrscheinlich in einer Besprechung. Thirada nickt verständnisvoll. Lurings zweites Telefonat ist erfolgreicher. Man verbindet ihn in der deutschen Botschaft mit einem Mitarbeiter der Rechts- und Konsularabteilung, dem Luring berichtet, dass er Schwierigkeiten mit seinen Ausweisdokumenten habe und die Polizei ihn deswegen festhalte. Der Diplomat verkneift sich, den Sohn seines Kollegen auf die landesweite Fahndung anzusprechen, und verspricht, so schnell wie möglich einen Rechtsbeistand ins Polizeihauptquartier zu schicken.

„Mr. Luring, haben Sie heute schon etwas gegessen?“, fragt Thirada. „Ich könnte Ihnen ein paar Sandwichs bringen lassen.“

„Wäre es möglich, dass ich dazu einen starken Kaffee und eine Cola bekomme?“

Es dauert nicht lange und ein Sergeant bringt ein Tablett mit der Bestellung. Auch für die Polizeioffiziere wird Kaffee geliefert. Sirikul zieht sich in den Hintergrund zurück und überlässt seinem besten Mann das Feld. Thirada schaltet die Aufnahmefunktion des Diktiergerätes ein.

„Wie schmeckt Ihnen das Pastrami-Sandwich? Ist mein Favorit, wenn’s mal schnell gehen muss.“

Luring betrachtet das Sandwich eingehend, ehe er hineinbeißt.

„Ich schlage vor, dass wir die Geschichte mit den falschen Pässen zunächst einmal vergessen. Sie sind achtzehn Jahre jung. Ich kann mich noch gut erinnern, welche verrückten Dinge wir uns geleistet haben, als ich in diesem Alter war – was nicht heißen soll, dass ich Fake-Ausweise für eine coole Nummer halte. Aber wir möchten uns mit Ihnen lieber über einen silbergrauen Toyota Corolla unterhalten.“ Thirada steckt sich eine Zigarette an. „Es stört Sie doch nicht, wenn ich rauche?“

„Es stört mich. Aber tun Sie, was Sie nicht lassen können. Jede Zigarette verkürzt Ihr Leben um sieben Minuten. Ein silbergrauer Toyota? Keine Ahnung, was Sie meinen?“

„Der Wagen wurde am Samstag vor der Ermordung der Eltern Ihrer Freundin ausgeliehen und am Dienstag danach zurückgebracht. Das Fahrzeug wurde an ein junges Paar übergeben, an eine Thailänderin und einen groß gewachsenen Ausländer. Streiten Sie ab, dass Sie und Miss Thammakul dieses Paar waren?“

„Ach so, Sie sprechen über den Mietwagen. Suzan und ich wollten das Wochenende in den Bergen verbringen. Aber der Trip ist ausgefallen.“

„Haben Sie bei der Rückgabe des Wagens dem Mitarbeiter der Autovermietung nicht erzählt, dass Sie mit Freunden in den Khao-Yai-Bergen gewesen sind, auf der Fahrt im Wagen gefeiert und zu guter Letzt eine der Fahrzeugtüren beschädigt haben?“

„Das war nur Gerede. Es hat keinen Ausflug gegeben.“

„Wo waren Sie dann unterwegs?“

„Am Samstagabend waren Suzan und ich in Samut Prakan. Wir haben am Strand gegessen und sind dann wieder nach Bangkok zurückgekehrt. Danach haben wir den Wagen nicht mehr benutzt.“

Luring öffnet eine Portion Kaffeesahne.

„Sie sind also nach Samut Prakan an den Strand gefahren? Ist Ihnen dort das Missgeschick mit dem Kratzer an der Tür passiert?“

„Richtig geraten!“ Luring lässt das Milchpulver mit ruhiger Hand in seinen Pappbecher rieseln. „Hören Sie, Sie haben kein Recht, mich zu verhören, ohne dass ich mit einem Anwalt gesprochen habe. Machen Sie das Gerät aus.“

„Sie scheinen sich nicht nur hinsichtlich der lebensverkürzenden Wirkung von Tabakgenuss auszukennen.“ Thirada schaltet das Aufnahmegerät ab. „Nun gut, nennen wir unsere Veranstaltung also Unterhaltung. Wie wär’s mit einem weiteren Sandwich?“

„Nein, danke.“ Luring schaut auf seine Armbanduhr. Weshalb lässt sich der Anwalt so viel Zeit?

„Sie haben den Mietwagen für drei Tage gemietet und ihn lediglich für den Abstecher nach Samut Prakan benutzt?“

„Hören Sie mir eigentlich zu, wenn ich etwas sage?“

„Ich bemühe mich“, antwortet Thirada. „Die Entfernung von Bangkok, gerechnet von der Geschäftsstelle der Autovermietung, zum Strand von Samut Prakan beträgt ungefähr fünfunddreißig, höchstens vierzig Kilometer. Hin und zurück sind das achtzig Kilometer.“

„Na und? Ist doch unsere Sache, ob wir einen Mietwagen benutzen oder nicht.“

„Selbstverständlich. Zumal Sie ihn nicht mit eigenem Geld bezahlt haben, sondern mit einer Firmenkreditkarte, die auf den Namen von Mrs. Jaradee Thammakul ausgestellt ist.“

„Suzan hat mir die Kreditkarte gegeben. Ich hatte keine Ahnung, wem sie gehört.“

Thirada gibt dem Protokollführer ein Zeichen, der daraufhin den überforderten Ventilator abschaltet.

„Sagen Sie dem Mann, er soll aufhören mitzuschreiben, bevor ich nicht meinen Anwalt gesprochen habe.“

Thirada weist den Beamten an, den Schreibblock beiseitezulegen.

„Mr. Luring, von Bangkok nach Samut Prakan und wieder zurück sind es achtzig Kilometer. Der Kilometerstand bei Rückgabe des Wagens belegt allerdings, dass die Mietkunden insgesamt sechshundertvierundsiebzig Kilometer zurückgelegt haben. Zudem gibt es eine Zeugin, die einen Toyota Corolla mit Bangkoker Zulassung und einem identischen Lackschaden beobachtet hat, der am Sonntagnachmittag zur Strandvilla der Thammakuls …“

In dem Kabuff steht die sauerstoffarme Luft. Auf Thiradas Stirn zeigen sich erste Schweißperlen. Luring hingegen schwitzt, seit er den Raum betreten hat, und schiebt seine Brille immer wieder auf der Nase zurecht.

„Die Frau irrt sich.“

„Mr. Luring, noch einen Kaffee?“ Es ist das erste Mal, dass sich Sirikul zu Wort meldet.

„Ja. Und erkundigen Sie sich, wo mein Anwalt bleibt. Ich habe keine Lust, hier zu übernachten.“

„Entspannen Sie sich. Wir sind in Bangkok, der Mann wird im Verkehr feststecken“, beruhigt Sirikul und geht hinaus. Er verschwindet in einem Toilettenraum, wo er sich ein paar Ladungen Wasser ins Gesicht wirft und seine Achseln mit einem Deodorant behandelt. Dann betritt er in Begleitung eines weiblichen Polizeioffiziers die Zelle, in die man Suzan geführt hatte.

„Miss Thammakul, wie geht es Ihnen?“

Suzan blickt kurz auf. Dann schließt sie die Augen. Sirikul bewundert das beharrliche Schweigen der jungen Frau, die in einer Art Meditation versunken zu sein scheint. Seit ihrer Ankunft hat sie nur ein einziges Mal gesprochen und um ein Aspirin gebeten.

„Möchten Sie uns bei der Aufklärung der Morde an Ihren Eltern unterstützen?“

Sirikul wartet geduldig. Die Minuten verstreichen.

„Erinnern Sie sich an die Pressekonferenz, die der Innenminister nach dem Tod Ihrer Eltern in Hua Hin abgehalten hat? Ich habe Ihnen einige der dort gezeigten Fotografien mitgebracht. Entsinnen Sie sich noch, wie erschüttert Sie damals waren und Ihre Tante sich rührend um Sie gekümmert hat?“

Sirikul breitet eine Auswahl der abstoßendsten Abbildungen der Opfer aus. „Miss Thammakul, ich verspreche Ihnen, dass ich die Mörder Ihrer Eltern finde, und dann wird nicht einmal mehr der Himmel ihnen helfen können.“

Endlich öffnet Suzan die Augen und Sirikul beobachtet, wie ihr Blick ohne erkennbare Regung über das fotografisch dokumentierte Grauen streift. Nach einer Weile lehnt sich Suzan zurück und haucht: „Ist es nicht fürchterlich, was man diesen armen Menschen angetan hat?“

10

„Sorry, dass ich Sie so lange habe warten lassen“, entschuldigt sich Sirikul, als er in die Verhörkammer zurückkehrt. „Unsere Kaffeemaschine hat so ihre Macken.“

„Sie haben die Milch vergessen.“