Blood Romance (Band 4) - Ruf der Ewigkeit - Alice Moon - E-Book

Blood Romance (Band 4) - Ruf der Ewigkeit E-Book

Alice Moon

4,3

Beschreibung

Nach Dustins fehlgeschlagener Rückverwandlung spitzt sich die Situation dramatisch zu: Emilia hat Sarah in ihre Gewalt gebracht und erpresst Jonathan: Er soll ihr Dustin ausliefern, sonst wird sie Sarah töten! Während Jonathan sich darüber klar werden muss, wem seine Loyalität gilt, macht Dustin sich bereit zum Kampf gegen Emilia. Ein alles entscheidender Kampf, der Opfer fordern wird. Findet Dustin endlich Erlösung? Und gibt es ein Happy End für ihn und Sarah? Das packende Finale! Nur die wahre Liebe bringt Erlösung für einen Vampir, sodass er sich zurück in einen Menschen verwandeln kann! Aber Vorsicht: Sind die Gefühle nicht absolut echt, bedeutet das ewige Verdammnis für beide! Alice Moon zeigt in der vierteiligen Reihe Blood Romance ein völlig neues Vampirsetting mit viel Gefühl für Mädchen ab 14 Jahren. "Ruf der Ewigkeit" ist der letzte von vier Bänden der Blood Romance-Reihe. Die drei Vorgängertitel lauten "Kuss der Unsterblichkeit", "Dunkles Versprechen" und "Bittersüße Erinnerung".

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Die Zeit, die ist ein sonderbar Ding. Wenn man so hinlebt, ist sie rein gar nichts. Aber dann auf einmal, da spürt man nichts als sie: Sie ist um uns herum, sie ist auch in uns drinnen. In den Gesichtern rieselt sie, im Spiegel da rieselt sie, in meinen Schläfen fließt sie. Und zwischen dir und

Eins

Landsitz in der Nähe von London, 1877

»Vorsicht, Henry, sonst tust du ihm weh.«

Der Junge hielt inne und drehte sich unsicher zu der besorgten Stimme unter sich um. Er schwankte, als ihm bewusst wurde, wie weit er bereits vom Boden entfernt war. Schweißperlen traten ihm auf die Stirn und er musste sich darauf konzentrieren, seine locker geschlossenen Finger nicht vor Anspannung zu einer Faust zu ballen und den kostbaren Inhalt, den sie bargen, zu zerquetschen. Er holte tief Luft und bemühte sich um ein Lächeln.

Das Mädchen mit dem langen goldrot schimmernden Haar und dem hellen Leinenkleid stand auf einer Wiese, inmitten von lauter Blumen. In der Abendsonne wirkte es wie ein flimmerndes Bild aus lauter hellen Farbtupfern, beinahe durchsichtig. Sie wischte sich die Augen und blinzelte zu ihm empor. Henry konnte ihre Tränen sogar aus dieser Entfernung in den langen Wimpern glitzern sehen. Wie Tautropfen, dachte er voller Faszination.

»Bitte, Henry«, schluchzte das Mädchen und der flehende Klang in seiner Stimme versetzte Henrys Herz einen Stich. Er durfte sie nicht enttäuschen, er musste seine zerbrechliche Fracht in Sicherheit bringen. Vorsichtig öffnete er seine Hand einen winzigen Spaltbreit und lugte zu dem kleinen Rotkehlchen, das aus dem Nest gefallen war. Seine flaumigen Federn waren warm und feucht von Henrys schweißnasser Hand. Es hatte sein jämmerliches Piepsen eingestellt, aber sein kleines Herz klopfte nach wie vor heftig.

Nein, Henry durfte nicht kehrtmachen, sosehr er es auch wollte. Er musste weiter, noch weiter hinauf in diese unheimliche, nicht zu enden scheinende Höhe. Er wollte es schaffen – nicht nur für diesen kleinen dummen Vogel, der beim nächsten Sturm vielleicht erneut aus seinem Nest purzeln würde, sondern vor allem für sie, für Emilia. Er konnte es nicht ertragen, sie so traurig und verzweifelt zu sehen. Es war ihm dann jedes Mal, als würde alle Freude, aller Lebenssinn aus seinem eigenen Herzen gesaugt und als hätte es keine Berechtigung mehr, weiterzuschlagen, bis es ihr endlich wieder gut ging.

Während er sich nur mit seiner freien Hand festhielt, arbeitete sich Henry Stufe um Stufe weiter nach oben. Die ausladenden schweren Äste des Ahornbaumes streckten sich ihm wie riesige Arme entgegen. Jeder seiner Schritte ließ die alte Holzleiter ächzen, die an dem dicken Stamm lehnte.

»Henry, lieber, lieber Henry! Gleich hast du es geschafft. Nur noch ein paar Stufen! Vorsichtig!«

Der Junge blieb auf der vorletzten Sprosse stehen und streckte die Hand nach dem Nest aus. Er lockerte seine verkrampften Finger und ließ das kleine Federknäuel frei. Augenblicklich ertönte ein aufgeregtes mehrstimmiges Piepsen aus dem Innern des Nestes und Henry atmete erleichtert auf. Aber erst der glockenklare Jubelruf, der nun zu ihm heraufschallte, erfüllte ihn mit einem Glücksgefühl. Jetzt, wo er sich endlich mit beiden Händen festhalten konnte, machte Henry die Höhe kaum noch etwas aus. Beschwingt von seinem Erfolg, wenn auch noch immer mit wackligen Knien, kletterte er die Leiter hinab. Unten angelangt wurde er von dem Mädchen in Empfang genommen, das ihn vor lauter Freude von der untersten Sprosse zog und ihm um den Hals fiel. Alle Traurigkeit war aus Emilias Gesicht gewichen und ihr Strahlen war die größte Belohnung für den Jungen.

»Danke, Henry, vielen, vielen Dank!«

Ihre Stimme und ihr warmer Atem an seinem Ohr jagten ihm einen wohligen Schauer über den Rücken und er schloss die Augen. Ihr seidenes Haar roch nach Lavendel und ihre bloßen Arme schmiegten sich weich um seinen Nacken.

»Ich hab dich lieb«, flüsterte Emilia. Ihre Lippen berührten für einen kurzen Augenblick seine glühende Wange. »Wenn du bei mir bist, fühle ich mich so sicher. Ich habe dann vor nichts mehr Angst. Bitte bleib immer bei mir, ja? Du darfst mich niemals wieder verlassen.«

Henry blinzelte und blickte in ihre grünen Augen, die ihn erwartungsvoll und voller Ernst ansahen. Sein gesamter Körper kribbelte in einer ihm bisher unbekannten, aber vielversprechenden Aufregung. Er öffnete die Lippen.

»Kinder, kommt endlich rein und wascht euch die Hände! Es gibt gleich Abendessen!«, schallte die Stimme seiner Mutter zu ihnen herüber. Seit mehr als sieben Jahren war sie schon als Dienstmädchen bei dem Londoner Geschäftsmann Edward Wellington und seiner Familie angestellt.

Emilia klammerte sich an Henrys Hemd.

»Bitte, Henry, versprich es mir. Versprich, dass du immer bei mir bleiben wirst, damit ich nie wieder Angst vor etwas haben muss.«

Die Eindringlichkeit in Emilias Stimme verwirrte den Jungen. Ihre geflüsterten Worte erschienen ihm wie ein verzweifeltes Flehen, wie eine dringende Bitte, deren Antwort keinerlei Aufschub gewährte. Trotz seines überhitzten Körpers fröstelte Henry plötzlich.

»Emilia, Henry, muss man euch immer zweimal bitten? Wo steckt ihr denn bloß wieder? Nun kommt doch endlich!«

»Versprich es, Henry!«

»Ich verspreche es«, flüsterte er benommen und wollte bereits einen ersten Schritt auf den kleinen Kiesweg zu machen, der zum Haus führte. Da hielt ihn Emilia erneut zurück.

»Was, Henry? Bitte, sprich es aus! Was genau versprichst du mir? Ich muss es hören! Jetzt!«

Henrys Kehle war trocken. Er schluckte und legte, überfordert von Emilias seltsamem Anliegen, verständnislos die Stirn in Falten. Was verlangte sie da von ihm? Warum hier, warum ausgerechnet jetzt? Er wollte nachfragen, wollte wissen, was in ihr vorging. Stattdessen nahm er behutsam ihr Gesicht in beide Hände. Seine Lippen formten die Worte ganz von allein. »Ich verspreche, dass ich für immer bei dir bleiben werde«, sagte er, wobei er jede einzelne Silbe betonte, als leistete er einen Schwur vor Gericht. »Du sollst niemals Angst haben müssen oder Leid erfahren. Ich passe auf dich auf, Emilia, solange ich lebe!«

Die Luft um sie herum schien mit einem Mal zu knistern, zu vibrieren, obwohl nicht der leiseste Wind ging. Einen Moment lang sah Emilia ihn so durchdringend an, als wollte sie seine Worte auf ihren Wahrheitsgehalt hin prüfen. Doch dann lächelte sie und legte mit einem erleichterten Seufzer ihren Kopf an seine Brust, dorthin, wo sein Herz schlug. Henry schloss die Arme um ihren schlanken Körper und starrte in die Ferne. Er fühlte sich wie im Fieber. Sie kannten sich, seit sie fünf waren, also beinahe ihr ganzes bisheriges Leben lang. Sie waren wie Geschwister nebeneinander aufgewachsen, hatten Geheimnisse ausgetauscht, sich gestritten, wieder versöhnt und die Sommermonate gemeinsam hier, abseits der Stadt, auf dem herrlichen Landsitz der Familie Wellington, verbracht.

Und dennoch war Henry, als hätte sie erst dieser seltsame Augenblick, das Hier und Jetzt, wahrhaft aneinandergekettet und ihrer Beziehung eine ganz besondere Bedeutung verliehen. Beinahe so, als hätte er Emilia soeben ein Versprechen gegeben, das ihn von jetzt an unwiderruflich an sie band und sie beide auf ewig unzertrennlich machte. Und obgleich sich Henry nichts sehnlicher wünschte, als tatsächlich für immer an Emilias Seite zu bleiben, mischte sich ein eigenartiges Gefühl in seine Zuneigung zu ihr, das sein Innerstes in Unruhe versetzte. Henry versuchte, dieses Gefühl zu benennen, es einzuordnen und zu verstehen. Und als ihm schlagartig bewusst wurde, worum es sich handelte, schwor er sich mit einem Anflug von schlechtem Gewissen, es für immer aus seinem Herzen zu verbannen. Er wusste nicht, was dieses Gefühl ihm mitteilen wollte, wo es doch nichts dort verloren hatte. Nicht an jenem Ort, der einzig und allein Emilia vorbehalten war. Und er würde höllisch aufpassen, dass sich dieses Gefühl auch niemals mehr Platz verschaffen und an seiner Liebe zu ihr rütteln konnte.

Er würde sie ganz einfach aussperren und ihr kein Gehör schenken, dieser leise warnenden, zweifellos unbegründeten und dennoch verwirrenden Stimme der Angst.

Zwei

»Sag endlich, was passiert ist! Wo steckt er, Henry? Willst du mir weismachen, er wäre schon wieder entkommen? Du bist entweder ein Verräter oder ein elender Versager! Allmählich habe ich genug von deinen fadenscheinigen Entschuldigungen! Ich hatte dich neulich schon gewarnt, weißt du noch? Und damals meintest du, ich bräuchte mir keine Sorgen mehr zu machen, du hättest alles im Griff. Ha, dass ich nicht lache!«

Ihr wutverzerrtes Gesicht war keinen Zentimeter von seinem eigenen entfernt und ihre Augen blitzten ihn zornig an.

»Emilia, wenn ich es dir doch sage«, versuchte Jonathan sie zu besänftigen, obwohl er mehr als nervös war. »Ich hatte ihn hier, in diesem Zimmer, eingesperrt. Aber als ich ihn für ein paar Minuten allein gelassen habe, um nach Sarah zu suchen, muss er aus dem Fenster geflüchtet sein.«

Emilia fasste sich an den Kopf. »Pah, kein Wunder. Du Idiot! Selbst ein ganz normaler Mensch könnte die paar lächerlichen Meter nehmen. Wie konntest du ihn kurz vor knapp entwischen lassen? Hast du denn gar nichts gelernt? Und warum hast du mich nicht sofort informiert? Stattdessen wartest du hier noch stundenlang untätig! Es gibt schließlich so etwas wie Mobiltelefone. Was ist bloß los mit dir?«

Hässlich sieht sie aus, dachte Jonathan zum wiederholten Male in den letzten Wochen. Emilia war seit ihrem sechzehnten Lebensjahr kein bisschen gealtert. Dennoch hatten Hass und Rachlust über die Jahrzehnte allen Liebreiz aus ihrem Gesicht gefressen und nichts als harte, verbitterte Züge hinterlassen. Selbst das perfekte Make-up konnte sie nicht ganz überdecken. Jonathan schluckte schwer und wieder einmal überkam ihn dieses beklemmende Schuldgefühl, das ihn seit mehr als einem Jahrhundert begleitete. Du brauchst dich gar nicht zu wundern, gab es ihm zu verstehen. Schließlich trägst du Mitverantwortung an dem Schicksal, das Emilia zu dem gemacht hat, was sie heute ist – eine grauenhafte, gefühllose Bestie …

Jonathans Gewissen hatte recht. Er hatte damals nicht gut genug auf Emilia aufgepasst, war in der entscheidenden Stunde nicht bei ihr gewesen. Er hatte zu lange gezögert, obwohl er die Gefahr bereits Tage zuvor hatte lauern sehen.

Die Erinnerung an das Mädchen, dem er einst nahegestanden hatte, war in Jonathan mittlerweile so verblasst wie ein altes Foto, das ganz nach hinten in eine Schublade gerutscht war und immer mehr in Vergessenheit geriet. Nur ab und zu kam es zufällig wieder zum Vorschein und weckte Gedanken an heile und sorglose Zeiten. Dann spürte er jedes Mal einen sehnsuchtsvollen Stich in seiner Brust.

In der Vergangenheit war viel Schreckliches geschehen, aber das Böse würde noch weiter wachsen. Weil er es nicht geschafft hatte, das Unheil von Emilia fernzuhalten, hatte es sich in ihr festsetzen, keimen und gedeihen können, sodass es mittlerweile kaum mehr zu bändigen schien. Und nun bedrohte es auch eine Person, die es als Allerletzte verdient hatte, ins Unglück gestürzt zu werden. Bei allem, was Jonathan falsch gemacht hatte, war er es wenigstens ihr schuldig, gegen alle Hindernisse anzukämpfen und sie vor Emilias blinder Wut und Rachgier zu beschützen. Selbst, wenn dies einem Verrat an Emilia gleichkam. Selbst, wenn es all das infrage stellte, was bisher sein Lebensinhalt und Sinn seiner Existenz gewesen war.

Sarah war jede Mühe wert. Für sie wollte er seine einstigen Ideale, seine vor Urzeiten geleisteten Versprechen über den Haufen werfen und noch einmal von vorne beginnen. Ganz von vorne … Sarah durfte nichts geschehen, koste es, was es wolle. Sie war unverschuldet in diese verworrene Geschichte geraten. Ein wenig erinnerte sie Jonathan in ihrer sanften und gleichzeitig unerschrockenen Art sogar an das Mädchen, dem er einst, vor vielen, vielen Jahren sein Herz geschenkt hatte. Und sein Leben … damals, in England …

»Und wo steckt sie?«, zischte Emilia, als hätte sie seine Gedanken gelesen. Obwohl er auf Anhieb wusste, von wem sie sprach, zog er fragend die Augenbrauen hoch. Vielleicht konnte er so etwas Zeit schinden.

»Tu nicht so! Sarah natürlich. Deine süße kleine Sarah, die dich leider, leider verschmäht, weil sie immer noch blind vor Verliebtheit diesem Verräter hinterherrennt.« Emilia lächelte boshaft. »Ist sie etwa bei ihm? Sind sie gemeinsam geflüchtet?«

Jonathan schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht. Ich habe Sarah schon seit einigen Tagen nicht mehr gesehen. Vielleicht ist sie mit ihrer Mutter unterwegs.« Er legte Emilia eine Hand auf die Schulter. »Ich bin nicht in Sarah verliebt, das bildest du dir nur ein, Emilia. Ja, ich gebe zu, ich habe mich eine Zeit lang zu ihr hingezogen gefühlt, wir haben miteinander geflirtet und uns ein, zwei Mal getroffen, aber das war auch schon alles.« Jonathan wusste, dass das nicht besonders glaubwürdig klang. Emilia kannte ihn länger als jeder andere und sie zu belügen war ebenso überflüssig wie gefährlich. Sie hasste nichts mehr als das Gefühl, dass man sie nicht für voll nahm.

Prompt verdrehte Emilia genervt die Augen. »Du kannst deine albernen Lügengeschichten jemand anderem erzählen«, erwiderte sie gereizt und schüttelte seine Hand ab. »Ich traue dir nicht mehr über den Weg, Henry. Nicht, nachdem du es schon wieder vermasselt hast. Wer weiß, was sich in deinem Hirn abspielt, du warst ja schon immer ziemlich eigenartig.«

Jonathan senkte den Blick.

»Es wird höchste Zeit, dass wir die Spielregeln ändern«, fuhr Emilia fort. »Ich werde mir das Ganze noch einmal durch den Kopf gehen lassen. Aber ich kann dir jetzt schon sagen: Alles, was ab heute zählt, sind Fakten. Spekulationen, Wenn und Aber interessieren mich nicht mehr. Fakt ist erstens, dass ich meinem Ziel noch nie so nahe war wie in den letzten Tagen. Zweitens bist du mir schon seit einiger Zeit keine besondere Hilfe mehr. Um genau zu sein, seit du den albernen Entschluss gefasst hast, in dieses Kaff zu ziehen. Drittens«, Emilia umschlich Jonathan wie eine Katze und fuhr mit ihren langen Fingernägeln über seinen Rücken, »bin ich äußerst enttäuscht, um nicht zu sagen, erbost über diese unerfreuliche Entwicklung und überlege, ob ich dir nicht eine kleine Lektion erteilen sollte. Beispielsweise, indem ich dich für einige Tage an einem hübschen, verlassenen Ort deinem Schicksal und deinem Hunger überlasse, damit du in dich gehen und darüber nachdenken kannst, auf wessen Seite du in Zukunft stehen willst.«

Jonathan schüttelte energisch den Kopf. »Auf wessen Seite ich stehe, weiß ich, Emilia. Daran wird sich auch nie etwas ändern!« Schweißperlen traten auf seine Stirn. Er wusste, wie skrupellos Emilia sein konnte. Auch ihm gegenüber, ihrem langjährigen und verständnisvollen Begleiter, würde sie keine Ausnahme mehr machen. Jonathan hatte längst seine Trümpfe verspielt. Er war Emilia in den letzten Jahren gleichgültig geworden, so wie alles andere aus ihrer Vergangenheit.

»Also, wenn das tatsächlich so ist, was schlägst du vor, um deine Treue zu beweisen?«, hakte Emilia nach. Sie blickte ihn forschend an.

»Gib mir nur … ein paar Tage Zeit, um seine … seine Spur wieder aufzunehmen«, stammelte Jonathan. »Ich werde Dustin wiederfinden, ganz bestimmt.«

»Und dann?«

»Dann serviere ich ihn dir auf einem Silbertablett.« Jonathan war sich vollkommen bewusst, dass sein Versprechen nichts als eine momentane Flucht aus dieser unangenehmen Situation war. Ein kleiner Aufschub, mehr nicht. Früher oder später würde er sein blaues Wunder erleben.

»Schön. Du bekommst deine Chance. Wieder einmal. Aber lass es dir gesagt sein: Diese … ist tatsächlich deine letzte.« Emilia blickte ihm scharf in die Augen. »Und während du dich ab jetzt ganz allein um den Hauptgang kümmerst«, flötete sie, »beschäftige ich mich mit der dazugehörigen Beilage.«

Jonathan zuckte zusammen. Sarah …

»Ich weiß zwar noch nicht genau, was ich mit ihr anstelle«, fuhr Emilia gedehnt fort, »aber ich denke, sie verleiht unserem Menü die perfekte Würze. Es kommt nur auf die richtige Art der Zubereitung an. Wobei du, lieber Henry, ja leider schon den Geschmack an ihr verloren hast, wie du behauptest.« Sie lächelte ihr messerscharfes, ironisches Lächeln.

Jonathan konnte nur hoffen, dass Sarah inzwischen geflohen war, so wie er es ihr geraten hatte. So weit weg, dass es Emilia zu unbequem werden würde, ihre Spur aufzunehmen. Und doch so nah, dass er sie wiederfand, wenn die Dinge endlich geklärt waren. Es musste doch eine Möglichkeit für ihn geben, sich von Emilia zu trennen, um irgendwo von Neuem zu beginnen. Mit ihr, mit Sarah.

»Drei Tage«, zischte Emilia.

»Was?«

»Du bekommst drei Tage, Henry. Na gut, von mir aus vier, ich will nicht unfair sein. Ab jetzt spielt Zeit wieder eine Rolle für dich, also trödle nicht herum. Heute ist Samstag. Dienstag um Mitternacht ist meine Geduld am Ende und du wirst aus deinem Dienst entlassen, wenn du mir keine Ergebnisse lieferst. Also, mach dich auf die Suche und fang am besten im Canyon Forest an. Wie ich Dustin einschätze, hängt er noch immer dort herum. Er ist nicht sehr einfallsreich. Ich persönlich habe die Schnauze voll von dem Herumgestreune im Wald. Das ist allmählich unter meiner Würde. Rehe und Wölfe langweilen mich, ich werde mich zukünftig auf andere Nahrung konzentrieren.« Emilia fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und Jonathan schauderte. »Da fällt mir ein – ich habe Hunger. Mal sehen, was sich dagegen unternehmen lässt.« Emilia drehte sich um. »Du weißt ja, wo du mich findest, wenn es Neuigkeiten gibt«, rief sie ihm zu, während sie sich in Richtung seines Fensters bewegte. »Und ich werde dich ebenfalls aufspüren«, fügte sie hinzu. »Egal, wo du steckst, vergiss das nicht.«

Damit verschwand sie im Morgengrauen und ließ Jonathan fröstelnd vor Unbehagen in seinem Wohnheimzimmer zurück. Er ließ sich auf seinen Schreibtischstuhl fallen und schlug müde die Hände vors Gesicht. Vier Tage … Wo sollte er anfangen? Wie sollte er vorgehen? Alles war so verworren, so kompliziert. Schließlich fischte er einen kleinen silbernen Schlüssel aus seiner Hosentasche und öffnete die Schreibtischschublade. Er zog einen Bogen Papier und einen Füller hervor. Hoffentlich würde sein Brief denjenigen erreichen, der ihm jetzt als Einziger noch weiterhelfen konnte. Und hoffentlich würde seine Antwort nicht zu spät kommen.

Mein lieber Freund!

Es ist lange her, seit ich Dir das letzte Mal geschrieben habe …

Sarah legte ihre Hand auf Dustins Knie. Er saß am Steuer ihres hellblauen Beetle. Sie waren mitten in der Nacht in Rapids aufgebrochen und fuhren nun seit gut einer Stunde den Highway entlang. Die ganze Zeit über hatten sie kein Wort miteinander gewechselt. Sarah schielte zu Dustin hinüber, doch er hielt seinen Blick starr geradeaus gerichtet. Er schien in Gedanken versunken, ebenso wie sie selbst. Als er schließlich bemerkte, dass Sarah ihn ansah, wandte er sich ihr kurz zu. Sie lächelte, doch sein Ausdruck blieb ernst.

Sarah seufzte und zog ihre Hand fort. »Bist du immer noch sauer auf mich?«, fragte sie leise.

Dustin schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin nicht sauer«, erklärte er. »Ich halte es nur für keine gute Idee, dich gerade mal bis in den nächsten Bundesstaat zu bringen. So hatte ich mir das nicht vorgestellt. Du müsstest viel weiter weg, Sarah – zu deiner eigenen Sicherheit.«

Sarah senkte den Blick. Es hatte sie einige Mühe gekostet, Dustin dazu zu bewegen, sie nicht zum Flughafen zu bringen. »Aber meinst du wirklich, ein paar Meilen mehr würden etwas an unserer Lage ändern? Warum sollte Emilia ausgerechnet auf die Idee kommen, in Michigan nach mir zu suchen?«, fragte sie. »Und dann noch in einem so kleinen Nest wie Harbor Springs. Ich könnte theoretisch überall sein. Und ich will Mom einfach nicht im Ungewissen lassen, das musst du doch verstehen. Stell dir vor, sie kommt nach Hause und ich bin spurlos verschwunden. Keine Nachricht, kein Hinweis … Sie würde durchdrehen und alle Hebel in Bewegung setzen, mich zu finden. Das würde für schrecklich viel Aufsehen sorgen.«

»Ich weiß, aber ich habe trotzdem ein ungutes Gefühl. Es wäre besser, du kämst gar nicht auf die Idee, nach Wisconsin zurückzukehren, weißt du? Du musst mir versprechen, dass du deine Mutter überredest, für einige Zeit mit dir in Urlaub zu fahren oder zu irgendwelchen Verwandten. Fahrt keinesfalls in den nächsten Tagen nach Hause. Denk dir irgendetwas aus, sag, du kannst erst einmal nicht zurück nach Rapids, weil du die Lehrer und Schüler an der Canyon High nicht mehr erträgst. Erzähl ihr am besten, dass du mehr Zeit brauchst als gedacht, um die Sache mit deinem Dad zu verarbeiten, dass dir alles zu viel wird und du dich im Moment völlig überfordert fühlst.«

Dustins Worte versetzten Sarah einen Stich und sie öffnete die Lippen, um zu protestieren. Doch dann schwieg sie. Sie wollte die Trauer um ihren Vater eigentlich nicht als Ausrede benutzen. Das erschien ihr zum einen unfair ihrer Mutter gegenüber und zum anderen wie ein Verrat an ihrem Vater. Aber sie musste zugeben, dass Dustins Vorschlag gar nicht so schlecht war. Auf eine Begründung dieser Art würden Laura Eastwoods Sensoren zumindest anspringen und sie würde alles tun, um ihrer Tochter beizustehen. An die Maßnahmen wollte Sarah allerdings lieber gar nicht denken. Am Ende ließ ihre Mom sie vielleicht nie wieder zurück an die Canyon High und sie musste die Schule wechseln. Außerdem würde sie bestimmt nicht um eine Therapie herumkommen. Ihre Mom hatte sie letztes Jahr schon öfter damit genervt und versucht, sie zu einem Psychologen zu schleppen. Dieses Mal würde sich Sarah ihr nicht mehr widersetzen können.

Es war kurz vor zehn, als sie Harbor Springs erreichten und Dustin in die Einfahrt des kleinen Hotels am Lake Michigan einbog. Sarahs Mom machte dort mit ihrer Kollegin ein paar Tage Urlaub. Sie hatte Sarah die Adresse per SMS geschickt, falls irgendetwas Wichtiges passieren sollte. Dabei hatte sie sich jedoch bestimmt nicht ausgemalt, dass Sarah vor einer rachsüchtigen, blutrünstigen Bestie und ihrem als Highschool-Schüler getarnten Handlanger fliehen musste.

Sarah schüttelte den Kopf. Sie konnte selbst kaum fassen, was in den letzten Wochen geschehen war, aber die Geschichte einem Unbeteiligten zu erzählen – noch dazu einer so pragmatischen Person wie ihrer Mom – war völlig undenkbar. Sie würde Sarah allerhöchstens für verrückt erklären und in die Klapse stecken, was man ihr noch nicht einmal verübeln konnte. Nein, Sarah musste da allein durch. Und sosehr es ihr auch missfiel, sie hatte keine andere Wahl, als ihrer Mom eine bombensichere Lügengeschichte aufzutischen.

Dustin schaltete den Motor aus und wandte sich Sarah zu. Sie hatten beschlossen, ihren Abschied möglichst kurz zu halten. Dustin wollte den nächstbesten Zug zurück nach Wisconsin nehmen. In Rapids würde er sich Emilia und Jonathan – oder besser gesagt, Henry – stellen, um diesen ewigen Kampf zu beenden. Keine Abschiedsworte hätten das zum Ausdruck bringen können, was sie beide wirklich bewegte und verband. Sarah hatte den Gedanken, von Dustin getrennt zu werden und ihn vielleicht nie wieder zu sehen, in den letzten Stunden so gut es ging verdrängt. Aber nun, wo sie das Hotel erreicht hatten, traf die Realität sie wie ein Schlag.

Dustin streichelte zärtlich ihre Wange und beugte sich dann vor, um sie auf beide Augen, die Nase und schließlich den Mund zu küssen. Sarah schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. Sie hatte sich vorgenommen, tapfer zu sein und Dustin dadurch Mut zu machen, aber nun fiel es ihr schwer, die Tränen zurückzuhalten. Sie wollte das alles nicht, sie wollte Dustin nicht gehen und ihn im Stich lassen. Verzweiflung stieg in ihr auf und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als dass er einfach wieder den Motor starten und mir ihr davonfahren möge, ganz egal wohin.

»Dustin, bitte verlass mich nicht, ich kann nicht mehr ohne dich sein. Nicht nach letzter Nacht und nachdem wir uns so nahe waren, ich –«

Dustin legte Sarah einen Finger auf die Lippen und sie verstummte. »Ich weiß, was du sagen willst und mir geht es genauso«, sagte er leise. »Glaub mir, ich würde nichts lieber tun, als bei dir zu bleiben, aber es hat keinen Sinn. Wir wären für immer auf der Flucht und solch ein Leben kann und will ich dir nicht zumuten. Wir sind nirgends mehr sicher, das weißt du inzwischen so gut wie ich. Weder als Menschen noch als Unsterbliche könnten wir in Frieden leben. Wir haben keine andere Wahl, als uns für die nächste Zeit zu trennen. Aber ich glaube fest daran, dass wir uns wiedersehen werden. Und dass dann alles gut wird.«

Sarah wusste keine Antwort darauf. Wie konnte sich Dustin nur so sicher sein, dass er Emilia besiegen würde? Woher nahm er diese Zuversicht, während sie nichts als Verzweiflung und Angst empfand?

»Ich … ich weiß, dass es dir schwerfallen muss, mir zu glauben – vor allem jetzt, wo ich wieder unsterblich bin«, fuhr Dustin fort, als könnte er ihre Gedanken lesen, »aber auch wenn mein Herz nicht mehr schlägt, weiß ich, dass ich dich liebe, Sarah. Ich durfte noch nie jemandem so nahe sein wie dir, du hast dein Leben mit mir geteilt. Und dieses Wissen und die Erinnerung daran geben mir Kraft und Mut. Du wirst immer bei mir sein, auch wenn wir uns nicht sehen und berühren können.«

»Aber woher weiß ich denn, dass es dir gut geht, Dustin?«, fragte Sarah ängstlich. »Rufst du mich an oder gibst du mir ein Zeichen? Und wie kann ich dir mitteilen, wo ich gerade stecke?«

Dustin schwieg einen Moment lang, dann schüttelte er den Kopf. »Ich weiß, das hört sich hart an, aber es wäre das Beste, wenn wir in der nächsten Zeit gar keinen Kontakt hätten. Alles andere könnte zu gefährlich sein. Sobald die ganze Sache … überstanden ist, werde ich bestimmt einen Weg finden, es dir mitzuteilen. Vertrau mir.«

Sarah nickte tapfer. »Okay. Kannst du … ich meine, würdest du mir vielleicht noch einen letzten Gefallen tun?«, fragte sie schüchtern.

»Welchen?«

»Bitte lächle mich noch einmal an. Ich liebe dein Lächeln, es ist so … kostbar. Es war das größte Geschenk, das du mir damals machen konntest, als wir uns auf Carols Party gegenüberstanden. Weißt du noch? Es kommt mir vor wie eine Ewigkeit, dabei sind seit dem Abend gerade einmal ein paar Wochen vergangen.«

Sarah sah die Traurigkeit in Dustins Blick und bemerkte, dass seine Lippen bebten, als müsste auch er die Tränen krampfhaft zurückhalten. Schließlich jedoch nahm er ihr Gesicht in beide Hände, blickte ihr in die Augen und lächelte.

Drei

May schreckte hoch, als Jonathan sie unsanft an der Schulter rüttelte. Sie musste irgendwann doch noch vor lauter Erschöpfung eingeschlafen sein, nachdem sie stundenlang ohne Erfolg versucht hatte, sich zu befreien. Benommen richtete sie sich auf dem Stuhl auf, an den Jonathan sie gefesselt hatte. All ihre Knochen schmerzten durch die unbequeme Haltung. Sie sah sich um. Fahles Licht drang durch ein schmales vergittertes Fenster in den kargen Kellerraum. Ihr Mund war trocken, ihr Kopf fühlte sich schwer an und ihre Arme und Hände waren durch die Fesseln taub geworden.

»Da.« Jonathan setzte ihr ein Glas Wasser an die Lippen und May trank in hastigen Zügen. »Mehr?« Sie nickte und Jonathan füllte das Glas erneut. Mit jedem Schluck kam May wieder etwas mehr zu sich. Unsicher schielte sie zu Jonathan, versuchte, irgendeine Regung, ein Zeichen in seinem Gesicht zu entdecken. Doch seine Augen starrten nur düster und ausdruckslos an ihr vorbei.

»Ich hab auch etwas zu essen mitgebracht«, murmelte Jonathan und ließ May von einer Scheibe Brot abbeißen. Sie aß, ohne einen Ton zu sagen, obwohl sich die Fragen nur so in ihr überschlugen. Was hatte Jonathan getan, nachdem er sie hier allein zurückgelassen hatte? Was war mit Dustin und Sarah geschehen? Wusste Emilia, wo sie steckten? Oder hatte Jonathan ihr die beiden am Ende sogar ausgeliefert? Und was sollte nun mit ihr selbst passieren? Er würde sie doch hoffentlich nicht –

»Sarah ist in Sicherheit«, ergriff Jonathan plötzlich das Wort, ohne May dabei anzusehen. Sie schwieg weiterhin, ließ Jonathan jedoch nicht aus den Augen.

»Das hoffe ich jedenfalls«, fügte Jonathan etwas leiser hinzu. »Ich habe sie gebeten, von hier zu verschwinden. Sie und vorsichtshalber auch … Dustin. Ich weiß nicht, wo sie jetzt sind. Jedenfalls nicht mehr im Wohnheim. Emilia hat sie verpasst.«

Jetzt erst hob Jonathan den Blick und sah May an. Sie spürte, wie sich Erleichterung in ihr ausbreitete. Nicht nur, weil Jonathan tatsächlich auf sie gehört hatte und Sarah und Dustin Emilia vorerst entkommen waren, sondern auch, weil sie glaubte, in Jonathans Augen etwas zu erkennen: Es lag ein Funke Sorge darin, Hilflosigkeit und … Angst.

May versuchte, ihre Tränen herunterzuschlucken, aber es gelang ihr nicht. Plötzlich löste sich die schreckliche Anspannung in ihr und sie begann zu weinen. Die Tränen liefen einfach ihre Wangen hinab. Da ihre Hände noch immer gefesselt waren, konnte sie sie noch nicht einmal fortwischen.

»Was denn?«, fuhr Jonathan sie an. »Was ist denn auf einmal los?«

»Ich weiß es nicht«, schluchzte May. »Tut mir leid, ich bin einfach nur … Ach, egal. Ich … ich muss mal auf die Toilette, Jonathan.«

Er starrte sie einen Moment lang düster an, dann trat er hinter sie und löste die Fesseln von ihren Handgelenken.

Sarah blieb noch ein paar Minuten im Auto sitzen, nachdem Dustin verschwunden war. Sie lehnte sich einfach in ihrem Sitz zurück, schloss die Augen und lauschte einem ihrer Lieblingssongs. Sie versuchte, in die Musik einzutauchen, sich von ihr einlullen zu lassen. Sie wollte wenigstens für einen kurzen Moment an nichts mehr denken und einfach alle Sorgen von sich schieben …

»… When you mean it on the inside you still can’t get to me.«

Der Song war zu Ende und Sarah blinzelte benommen. Dann sah sie auf ihre Uhr. Es war mittlerweile halb elf.

Sarah streckte sich und stieg aus. Es war ein kühler, diesiger Herbstvormittag und über dem gigantischen See, an dessen Ufer das kleine Hotel lag, hing noch der Nebel.

Er sieht jedes Mal anders aus, dachte Sarah fasziniert. Sie hatten früher oft an diesem Teil des Lake Michigan gecampt, hatten zusammen geangelt und gegrillt und waren abends noch ewig am Strand gesessen, um Steine ins Wasser zu werfen und zu beobachten, wie weit sich die Ringe über die Oberfläche erstreckten. Später, wenn es dunkel wurde, waren sie dann zu dritt ins Zelt gekrochen und ihr Dad hatte sich Gruselgeschichten ausgedacht, die so albern waren, dass Sarah und ihre Mom nur noch gelacht hatten. Sarah musste bei der Erinnerung an früher schmunzeln. Es waren unbeschwerte, glückliche Zeiten gewesen. Ganz anders als jetzt.

Sie seufzte, schnappte sich ihre Tasche mit Klamotten und Waschzeug, die sie in aller Eile zusammengepackt hatte, und lief auf das Hotel zu. Sarah hoffte, dass sie möglichst bald ungestört mit ihrer Mutter reden konnte. Es würde schwierig genug werden, ihr eine glaubhafte Geschichte aufzutischen. Je eher sie es hinter sich brachte, desto besser.

»Ja, Miss, was kann ich für Sie tun?« Der kleine ältere Mann hinter der Rezeption lächelte Sarah freundlich an.

»Ich möchte gerne zu Laura Eastwood«, erwiderte sie höflich, »sie ist schon seit Freitag hier zu Gast. Ich bin ihre Tochter.«

Der Mann nickte wissend. Er schien seine Gäste genau zu kennen. »Ja, sie müsste mit ihrer Begleitung im Frühstücksraum sitzen. Kommen Sie, ich bringe Sie zu ihrem Tisch. Erwartet sie Sie?«

Sarah schüttelte den Kopf. »Nein, das hier ist eher … ein Spontanbesuch.«

»Ach, da wird sie sich aber freuen. Eine Überraschung nach der anderen.«

Sarah runzelte verständnislos die Stirn und folgte ihm, während sie sich neugierig umsah. Das Hotel strahlte eine wohltuende Wärme und Freundlichkeit aus, so wie der Mann selbst. Ob er der Besitzer war? Vielleicht konnten sie und ihre Mom ja einfach noch eine Zeit lang hierbleiben. Schon jetzt, nach nur wenigen Minuten, merkte Sarah, wie sie sich in dieser ruhigen, heilen Umgebung entspannte.

»Bitte sehr, Miss, Ihre Mutter sitzt dort hinten an dem Fenstertisch.«

Sarahs Blick folgte der Richtung, in die der Mann deutete, und augenblicklich stockte ihr der Atem. Der Boden unter ihr begann zu schwanken.

Dort am Fenster saß ihre Mom an einem kleinen Tisch. Sie trug ein hellblaues Kleid, das Sarah noch nie zuvor an ihr gesehen hatte, strahlte über das ganze Gesicht und hielt die Hand ihrer »Begleitung«, wie sich der Hotelier vorhin ausgedrückt hatte. Einer männlichen Begleitung – Tom Keith. Sarah verließen alle Kräfte und sie ließ ihre Tasche zu Boden fallen.

»Ich kann Ihnen gerne einen Stuhl dazustellen«, bot der Hotelier an, aber seine Worte erreichten Sarah kaum. Alles um sie herum schien in weite Ferne zu rücken.

»Miss … Miss, was ist denn? Geht es Ihnen nicht gut?« Besorgt legte ihr der Mann eine Hand auf den Arm. »Sie sind auf einmal so blass. Kommen Sie, ich bringe Sie zu Ihrer Mutter. Vielleicht wollen Sie einen Kaffee oder Tee? Das regt den Kreislauf an.«

Sarah schaffte es gerade noch, den Kopf zu schütteln, bevor der Mann sie zu dem Tisch schieben konnte. »Nein, nein, vielen Dank«, presste sie hervor. »Ich glaube, ich sollte doch besser wieder fahren.« Sie machte auf der Stelle kehrt und rannte benommen den Korridor entlang ins Freie. Sie brauchte Luft, dringend, sonst würde sie ersticken. Sie wusste nicht mehr, wie sie in ihr Auto gestiegen, den Motor angelassen und losgebraust war. Aber bevor das Hotel aus ihrem Sichtfeld verschwand, erkannte sie im Rückspiegel gerade noch den Hotelier, der an die Tür stürzte und aufgeregt in ihre Richtung deutete, gefolgt von ihrer Mom mit Sarahs Tasche in der Hand.

May wusch sich an dem kleinen schmutzigen Waschbecken ihr Gesicht und kühlte unter dem fließenden Wasser ihre aufgescheuerten, pochenden Handgelenke. Wenigstens wusste sie jetzt, wo sie sich befand: im Keller des Verbindungsgangs zwischen Westtrakt und Neubau. Jonathan hatte sie allein in den engen Waschraum gelassen, aber erst, nachdem er sich vergewissert hatte, dass es keine Fluchtmöglichkeit für sie gab. Außerdem hatte er ihr das Handy abgenommen. Ausgerechnet vor der Tür des Waschraumes hatte es in ihrer Hosentasche gepiepst. Dabei hatte Jonathan auch die Briefe entdeckt, die May ihm entwendet hatte. Er hatte sie nur aus großen Augen angestarrt, aber kein weiteres Wort darüber verloren.

May konnte nach wie vor nicht genau einschätzen, wie wütend Jonathan auf sie war und was er jetzt mit ihr vorhatte. Doch irgendein Gefühl sagte ihr, dass sie sich zumindest nicht mehr in Lebensgefahr befand. Immerhin hatte Jonathan ihren Rat befolgt und Dustin mit Sarah entkommen lassen und allein diese Tatsache zeigte doch, dass er ihre Meinung schätzte und sie möglicherweise sogar … brauchte. Andernfalls hätte er längst kurzen Prozess mit ihr gemacht.

Trotzdem durfte sie sich nicht allzu sicher fühlen. Jonathan hatte in den letzten Tagen mehr als einmal bewiesen, wie unberechenbar er sein konnte. May nahm sich vor, möglichst sparsam mit Fragen und Äußerungen umzugehen, um ihn nicht zu verärgern oder in die Enge zu treiben und dadurch ihre zweifellos wackelige Position zu gefährden. Mit Druck konnte Jonathan nicht umgehen, das hatte sie inzwischen kapiert.

»He, wie lange brauchst du denn noch da drinnen? Ich hatte gesagt, fünf Minuten«, drang seine barsche Stimme zu ihr herein.

»Ich komme gleich.« May fuhr sich ein letztes Mal durch die blonden Locken und trat hinaus auf den Korridor. Sofort packte Jonathan sie wieder unsanft am Arm und führte sie zurück in die kleine Abstellkammer, in der sie die Nacht verbracht hatte. Aus den Augenwinkeln konnte May erkennen, dass kein Schlüssel im Türschloss steckte, weder von innen noch von außen. Jonathan verzichtete darauf, sie erneut zu fesseln. Aber nachdem er die Tür hinter sich geschlossen hatte, baute er sich davor auf, als hätte er Sorge, May könnte ihm entkommen. Nervös öffnete er ein paarmal die Lippen und schloss sie wieder, als wollte er etwas loswerden und wüsste nicht, wie.

Er sieht müde aus, dachte May. Müde, verzweifelt und … irgendwie alt. Ihr fiel es schwer, das Gespräch nicht selbst zu beginnen, aber es war sicher vernünftiger, abzuwarten, bis Jonathan etwas sagte. So würde sie auch besser einschätzen können, in welcher Stimmung er sich befand.

»Ich … habe einen neuen Brief an George geschrieben«, begann Jonathan schließlich. »Nachdem ich ja nicht dazu gekommen bin, den letzten abzuschicken.« Sein Ton war nicht gerade freundlich, aber auch nicht angriffslustig. Eher … distanziert. May sah ihn erwartungsvoll an.

»Ich … ich weiß nicht, ob dir George überhaupt ein Begriff war? Ich meine, bevor du deine Nase in meine Briefe und Angelegenheiten gesteckt hast.« Nun war doch ein gewisser Vorwurf in seiner Stimme zu erkennen, was May ihm aber schlecht verübeln konnte.

Sie ging nicht weiter darauf ein, sondern schüttelte nur den Kopf. »Ich weiß nicht, wer er ist. Ich habe seinen Namen bisher in keinem Zusammenhang gehört«, erwiderte sie.

Jonathan nickte bestätigend, als hätte er mit dieser Antwort gerechnet. Er machte eine längere Pause, bevor er erneut ansetzte: »George ist der älteste unter den Unsterblichen, der mir bekannt ist. Er war derjenige, der Emilias Blut getrunken und ihr das ewige Leben beschert hat.« Jonathan schien mit einem Mal zu vergessen, dass er eigentlich die Tür bewachen wollte, und lief gedankenverloren in dem kleinen Raum auf und ab. »Ein weiser Mann. Er … wollte Emilia zuerst töten, aber dann, als sein Herz zu schlagen begann, hatte er plötzlich Erbarmen mit ihr und saugte sie nicht ganz aus.« Jonathan schwieg abermals, so als müsste er sich erst selbst das Geschehene ins Gedächtnis rufen. Mays Herz klopfte heftig – vor Aufregung und Neugierde. Dustin hatte ihr damals, als sie noch ein Paar gewesen waren, nur sehr wenig von Emilia erzählt und es möglichst vermieden, ihren Namen zu nennen.

»Emilia und ich kennen uns schon sehr, sehr lange«, berichtete Jonathan. »Seit jener Zeit, als sie noch ein ganz normales Mädchen war – hübsch, aufgeweckt und mit einem großen Herzen. Wir sind miteinander aufgewachsen, waren ständig zusammen, haben uns alles anvertraut. Ich habe sie wirklich … geliebt.« In Jonathans Augen trat Wehmut und seine Stimme schwankte ein wenig. »George gab ihr damals, nachdem er sie angefallen hatte, ein paar Ratschläge mit auf ihren Weg in die Unendlichkeit. Aber natürlich war Emilia zu jenem Zeitpunkt völlig durcheinander und konnte sich später nicht mehr an alles erinnern. Zum Glück hatte ihr George eine Botschaft hinterlassen, bevor er ging. Eine Art Kurzanleitung für das Dasein, das sie fortan fristen würde. Du … kennst die Zeilen ja bereits.«