Blumen von der Himmelswiese - Steffen Mohr - E-Book

Blumen von der Himmelswiese E-Book

Steffen Mohr

4,7

Beschreibung

„Raum ist in der kleinsten Hütte..." Wird sich dieses alte Dichterwort im Leben bewahrheiten - im Leben der Krankenschwester Roswitha mit ihrem Freund Norbert zum Beispiel? Als er nach dem tödlichen Unfall seiner Frau Brigitte zu ihr ins Schwesterninternat zog, empfand Roswitha ihr Dasein wie ein Inselparadies. Aber man kann nichts voreinander verbergen auf so engem Raum. Und wenn, wie hier, unerwartete Eigenschaften hervortreten, erscheint Vergangenes in einem anderen Licht. Die Frage, ob Brigitte wirklich bei einem Unfall verstarb, mehr noch, welche Rolle Norbert ihr selbst zugedacht hat, stellt sich Roswitha immer quälender. Sie findet die Antwort. Aber um welchen Preis! Der spannende Kriminalroman erschien erstmals 1983 im Verlag Das Neue Berlin in der DIE-Reihe (Delikte, Indizien, Ermittlungen). LESEPROBE: "Kommen Sie herein, Frau... Fräulein...?" Sie folgte ihm in die offensichtlich nur aus Zimmer, Küche und dem Klo (eine halbe Treppe höher) bestehende Wohnung. Die so genannte Wohnstube Meißners erwies ihn als den die Hausgemeinschaft beglückenden Kakteenzüchter. Roswitha sah zu, dass sie sich auf keines der überall aufgestellten wertvollen Exemplare setzte. Kakteen, ein Bett, ein Tisch, ein Stuhl. Und ein altmodisches Stubenbüfett, das ebenfalls als Kakteenbank diente. Durch das zum Hof gelegene Fenster fielen die mageren Strahlen einer gedämpften Nachmittagssonne. Sie beschienen wie ein auf das Wesentliche der Szene gerichteter Bühnenscheinwerfer den abgeschabten Klubtisch. Dort freute sich eine halbvolle Wodkaflasche still vor sich hin. Sie schien der eigentliche Mittelpunkt des Lebens in diesem Zimmer zu sein. Meißners Griff zur Flasche blieb im Ansatz stecken. Er holte zwei Gläser aus dem Büfett und goss sich ein. Erst als er den Flaschenhals über dem anderen Glas in der Schwebe hielt, fragte er Rosi: "Sie trinken doch einen mit?" Offenbar verkehrte er nur mit durstigen Seelen. Roswitha nahm den Schnaps. Sie hatte ihn, wenn auch aus einem anderen Grunde als Meißner, nötig. Dann klärte sie den gastfreundlichen Junggesellen über ihre Person auf. Das war in wenigen Sätzen getan, während denen sich Meißners gerötetes Erzengelgesicht allerdings zunehmend verfinsterte. "Sie sind also seine Geliebte", stellte er mehr für sich fest. Dabei starrte er dumpf und mit ausdrücklichem Verlangen nach einem neuen Schluck auf die Flasche. Er erzählte ein wenig umständlich, dass er seit "diesem Unfall" auf keinen Zug mehr gestiegen sei.

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Impressum

Steffen Mohr

Blumen von der Himmelswiese

ISBN 978-3-86394-664-7 (E-Book)

Das Buch erschien erstmals 1983 beim Verlag Das Neue Berlin.

Gestaltung des Titelbildes: Ernst Franta

© 2012 EDITION digital®Pekrul & Sohn GbR Alte Dorfstraße 2 b 19065 Godern Tel.: 03860-505 788 E-Mail: [email protected] Internet: http://www.ddrautoren.de

1. Kapitel

Mitten in der Stadt, in einer Idylle immergrüner Parkanlagen, die den Straßenlärm mildem, ragt sieben Stockwerke hoch ein hässliches gelbes Gebäude. Das Haus erweckt von weitem den Eindruck einer gewaltigen Tafel Ersatzschokolade mit gleichmäßig eingestanzten Riefen. Doch wird diese Gleichförmigkeit von mehreren Reihen hoher Fenster mit breiten Simsen unterbrochen.

Jeder der Simse bietet einer Legion Tauben bequem Platz für ihre tägliche Frühgymnastik. Der Koloss wirkt aus der Ferne etwa so anheimelnd romantisch wie eine Maschinenfabrik aus den Gründerjahren.

Beim Näherkommen deutet ein typischer Geruch, der die Erinnerung an Schmerzen und untätiges Herumliegen, an die Farbe Weiß und die verschiedenen Klänge von Glas weckt, auf seinen Zweck. Ein Schild am Eingang bestätigt schließlich die Vermutung. Man steht vor dem Städtischen Krankenhaus.

Durch die Hauptpforte trat ein schlaksiger junger Mann, der einen für die frühe Vormittagsstunde grotesk wirkenden Gesellschaftsanzug trug. Ruhig, vielleicht etwas zu lässig, hob er die Hand. Dabei schaute er dem Invaliden, der hinter dem Schalter auf Posten saß, nicht ins Gesicht. Der hatte, als die Tür ging, seinen Schmöker unter dem Kniestumpf versteckt. Als er in dem Besucher jedoch einen Bekannten erblickte, knurrte er bloß und holte die zerlesene Broschüre wieder hervor. Aber er las nicht sofort weiter. Mit dem geübten Blick seines Berufs musterte er den an ihm vorbeigeisternden Typ.

Freilich handelte es sich um niemand anderen als Norbert Schadendorf. Also um den Freund der kleinen Schwester Rosi seit etwa einem Jahr. Das war ganz richtig. Nur: Wie sah der Knabe heute aus?

Noch als Schadendorf längst im Hause verschwunden war, beugte sich der Pförtner aus seinem in Steißhöhe der Vorübergehenden angebrachten Schalter und dachte nach. Weder der liederlich gebundene Schlips noch die von Schmutz verkrusteten Schuhe waren seiner Aufmerksamkeit entgangen. Der junge Mann musste die halbe Nacht durch Pfützen gewatet sein. Denn schon vor Stunden hatte eine ungewöhnlich durstige Julisonne jeden Tropfen von den Trottoirs aufgesogen. Nach einer total verregneten Nacht war der letzte Guss zu Beginn der Frühschicht gefallen, gegen sechs. Hellmeier, so hieß der einbeinige Zerberus, fischte unter einem Stapel von Rätselzeitungen den Schichtplan der Schwestern heraus. Daraus ersah er, dass Schwester Roswitha in dieser Woche Nachtdienst hatte. Die Information befriedigte ihn. So wusste er genau, dass Norbert Schadendorfs Ziel nur das siebente Stockwerk sein konnte, exakt Appartement Nummer vierundzwanzig. Dort würde Schadendorf das Mädchen gerade im ersten süßen Schlaf stören.

Wahrscheinlich hatte der Bursche bis in die Morgenstunden in einer Bar herumgehockt. Wahrscheinlich war er zu Hause nicht hereingekommen, weil seine Frau den Schlüssel von innen steckengelassen hatte. Wahrscheinlich war er dann eine Zeitlang wütend durch den Stadtpark gestapft. Ebenso wahrscheinlich war, dass er einen zweiten Versuch unternommen hatte, in die eheliche Wohnung zu gelangen. Sonst wäre er früher erschienen als erst jetzt. Der altertümliche Wecker auf dem Rollschrank zeigte neun. Ebenso die elektrische Wanduhr. Da brauchte Hellmeier nicht erst hochzublicken. Nun hatte der schöne Norbert sicherlich nichts Schlimmeres vor, als an der zarten Schulter seiner Geliebten einzuschlafen, nichts weiter als einzuschlafen.

O unsere jungen Schwestern, seufzte Hellmeier in Gedanken. O diese kaputten Ehen. Daraufhin rückte er seine Brille zurecht. Er schlug den Schmöker an der Stelle auf, die er vorsorglich durch ein Eselsohr markiert hatte. Die wenigsten der im Haus untergebrachten Patienten wussten, dass das oberste Stockwerk in keiner Weise ihrer eigenen Station ähnelte. Da fanden sich nicht die Säle mit ihren in Reih und Glied gestellten Betten. Auch Untersuchungs-, Verband- oder Arztzimmer fehlten unter dem Dach völlig. Hier, Tür an Tür, in märchenhaft winzigen Behausungen von zehn Quadratmetern Größe, verbrachten die jungen Krankenschwestern die freie Zeit zwischen den Diensten. Freilich sahen die meisten zu, so oft wie möglich ihren Taubenschlägen zu entfliehen: in den Trubel der Warenhäuser und Cafés oder in eine der zahlreichen Nachtbars der Stadt. Blieb eine der Schwestern öfters daheim, so hatte sie einen festen Freund. Der gesamte Flur wusste dann, um welchen Mann es sich handelte, was der Auserwählte verdiente, ob er ein Auto fuhr, wenn ja, welchen Typ, und wie er in der Liebe war. Roswitha Fuhrmann, mit ihren siebenundzwanzig Lenzen eine der ältesten Bewohnerinnen des Schwesternflurs, gehörte zu den Mädchen, die selten in die Stadt ausschwärmten. Zu einem von den Nachbarinnen geplanten und verheißungsvoll ausgemalten Bartrip sagte sie vielleicht zunächst ja, dann aber immer entschieden nein.

Sie war ein kleines, etwas fülliges Mädchen mit einem wie aus weißrosa Porzellan modellierten Engelsgesicht. Für ihr unumstößliches Nein zu Vergnügungstouren, die bei den anderen zum normalen Lebensstil gehörten, hatte Roswitha verschiedene Gründe. Einer mochte ihr Vorleben sein. Da gab es zwei Verlobungen und zwei Aufenthalte auf einer Station, die nicht zu ihrem Arbeitsbereich gehörte. Jedes Mal hatte sie das Kind gewollt. Doch jedes Mal war kurz danach die Verlobung in die Brüche gegangen. So wollte sie dann auch das Kind nicht mehr.

Schwester Rosi, wie sie gerufen wurde, arbeitete in einem besonderen Sektor der Krankenpflege. Ihr Dienst an den Betten der Frauen, die manchmal kaum älter, manchmal sogar jünger waren als sie selbst, war leider nicht selten der Geburtshilfe genau entgegengesetzt. Im Jargon der Schwestern nannte man ihre Abteilung Krebsstation. Das mochte ein weiterer Grund für eine nach dem Dienst nicht gerade spontan aufbrechende Lust zum Ausschwärmen sein. Dennoch spielten die Härte des Dienstes und das ausgelassene Vorleben Schwester Rosis nur eine untergeordnete Rolle für ihre Zurückgezogenheit. Die entscheidende Tatsache war, dass ihr Freund zu jener Sorte von Männern gehörte, die sowohl verheiratet als auch verliebt sind, und das in zwei verschiedene Frauen. Weder wusste sie, wann er sich scheiden lassen, noch, wie es dann mit ihnen weitergehen würde. Auf einen kurzen Nenner gebracht: Sie blieb daheim, weil Norbert kam, wann er konnte oder wollte. Eben diesen Unterschied zwischen verhindertem Können oder mangelndem Wollen wusste sie bei Norbert nicht genau abzuschätzen. Anfangs empfand sie das reizvoll. Später quälte sie sich nur.

Manchmal wohnte Norbert mehrere Nächte bei ihr. Andere Male ließ er sich zwei Wochen lang nicht sehen. Roswitha wartete geduldig. Die Stunden des Wartens verkürzten das Radio, der Plattenspieler oder ein Besuch ihrer Türnachbarin Gesine. Von allen Mädchen hatte sie seit jeher Gesine am wenigsten gemocht. Die bildete sich einfach zuviel auf zu vieles ein - auf ihr Aussehen, ihren Fachschwesternabschluss und auf ihre eingebildete Art selbst. Rosi verachtete dieses Ich-bin-zu-schade-für-irgendeinen-Mann-Gebaren. Vor einigen Tagen erst hatte Gesine ihr in den Ohren gelegen, sich doch zur Fachschwester zu qualifizieren. Gesine bohrte damit in einer offenen Wunde. Denn zu den notwendigen Abend- und Nachmittagskursen hatte sich Roswitha mit Rücksicht auf Norberts unberechenbare Besuche nie recht entschließen können. In der Hitze des Disputs verpasste Rosi der vor Eigenlob fast dahinschmelzenden Nachbarin einfach eine Ohrfeige.

Der direkte Anlass war unerheblich.

Gesine hatte (mit ausgesuchter Freundlichkeit!) lediglich angefragt, ob Roswithas Bemühen um Norbert Schadendorf nicht ein paar deutliche Zeichen von Torschlusspanik trage?

Dem bösen Wort, kaum dass es ausgesprochen war, folgte die schallende Tat auf dem Fuße.

Die Mädchen versöhnten sich zwar noch am selben Abend. Aber ein unbestimmtes Misstrauen gegenüber den Schwestern, die mit ihr den Flur teilten, setzte sich seitdem stärker in Rosi fest.

 Hellmeier hatte sich mit der Annahme, dass Rosi nach der Nachtschicht schlafen würde, gründlich geirrt. Irgendein Teufel ritt sie. Immerzu spürte sie an diesem Morgen, als sie in ihrem Zimmer dies und jenes umräumte, eine unerklärliche Unruhe. Müdigkeit stellte sich gar nicht erst ein. Ob er kommt? dachte sie und öffnete bei jedem Geräusch die Tür. "Er kommt. Bestimmt: Er kommt!", sprach sie laut vor sich hin. Sie jonglierte das Radio in eine, den Plattenspieler in die andere Ecke, schob die Liege dahin zurück, wo sie sie eben hergezogen hatte. Schließlich fiel ihr ein, dass sie mit dem Putzen der Flurfenster an der Reihe war, und sie rannte, immer noch in ihrem Schwesternkittel, kurzärmelig, bloßbeinig, mit klappernden Holzsandalen, zur Besenkammer nach dem Lappen, anschließend zum Bad, um Wasser in den Putzeimer einzulassen. Dann begann sie unverzüglich damit, ihre Unruhe in hektische Tätigkeit umzusetzen.

Gewandt kletterte sie auf den breiten inneren Fenstersims, der auf ihrer Station einen makabren Spitznamen trug: "die Himmelswiese". Hierhin stellten die Schwestern nämlich die Blumen, die die Patientinnen von ihren Familienmitgliedern - den so genannten Erbschleichern - erhielten. In den Krankensälen durften Blumen aus hygienischen Gründen nicht lange stehen. Die meisten Patientenabgänge gab es in den Nächten nach den Besuchstagen, wenn die Zierde der Gärten das erste Mal ihren Platz fand auf dem Sims. Genau darum hieß die besonders an Sonntagabenden mit Blumen voll gepfropfte Fensterbank in deutlichem Bezug auf die krebskranken Frauen schlicht und radikal: Himmelswiese.

Eben daran dachte Schwester Rosi, als sie sich auf das Fensterbrett des siebenten Stockwerks hinaufzog, obwohl ein Blumenstrauß hier, im Schwesternflur, eine Seltenheit war. Sie blickte kurz auf die Straße hinab, eine ruhige Nebenstraße im Zentrum der Stadt, auf der mit der Häufigkeit, in der sich ein verlorener Wolkenfetzen auf der blanken Sonnenscheibe verirrte, ein Auto vorüberfuhr. Unten, in schwindelnder Tiefe, befand sich das Tor zum Wirtschaftshof. Zwei Männer luden leere Metallkästen in einen grünen Kleinkraftwagen. Der Krach drang bis obenhin, die beiden Arbeiter aber erschienen unwirklich winzig.

Einen Augenblick lang, sie hatte schon die erste große Scheibe von innen blank gerieben und öffnete nun das durch den Luftzug gleich kräftig auf sie zurückende Fenster - diesen Augenblick, als ihre Linke den oberen Fensterrahmen fasste und sie hinaustrat auf den schmalen Außenbord, dachte Rosi: Wenn einer hier hinunterstürzte! Ob der Knall lauter war als der von den Kästen? Ob es weh tat? Oder ob man vorher, in der Sekunde des Fallens, bereits das Bewusstsein verlor? Da hörte sie, dass vorn, am entgegengesetzten Ende des Flurs, die Tür schlug. Wer konnte zu dieser Zeit zu ihnen hinauf wollen? Die Schwestern hatten entweder Dienst oder schliefen sich aus. Zwei Mädchen, die heute zur Spätschicht mussten, waren vor einer Stunde in die Stadt abgeschwirrt. Vielleicht kam da eine, die nur auf den Sprung in ihr Zimmer wollte, weil sie ihr Schminkkästchen vergessen hatte oder das Frühstücksbrot?

Alles Unsinn, sagte sich Rosi.

Ihr aschblonder Pagenkopf ragte unter der Fensterleiste hervor in den Flur. Nur der Kopf. Mit einiger Fantasie konnte man wirklich annehmen, ein Engelsgesicht schwebe herein: vom Himmel hoch durch das spaltbreit geöffnete Fenster. Manchmal haben Engel braune Augen. Braun wie Bernstein mit gelben und grünen Spuren.

Sie musste warten, denn die Eingangstür lag hinter dem Knick, den der Korridor beschrieb. Die unvermutete Person, deren Schritte sie bereits hallen hörte, hatte noch ein Stück zu laufen, bis man sie sehen konnte. Aber ihr Gang war langsam, schleppend fast. Nun blieb der merkwürdige Besuch gar stehen. Es hörte sich an, als ob jemand ein Streichholz anriss. Roswitha glaubte den Zigarettenrauch zu riechen. Er, wusste sie auf einmal sicher - er!

Drei Tage hatte sie Norbert nicht gesehen. Er war gegangen, um, wie er sagte, "die Sache mit dieser Frau endlich in Ordnung zu bringen". Wann er zurückkommen wollte, hatte er wie üblich nicht gesagt. Doch warum kam er heute so früh? Musste er nicht zur Arbeit?

Egal sagte sie sich, ich werde ihm einen Schreck einjagen. Der Schalk trat ihr in die Augen. Sie wand sich rasch auf den Innensims. Entdeckte drei Schritt entfernt - Zufall! - eine billige Glasvase, natürlich von Station gestohlen. Chrysanthemen, die, nach dem Standort der Vase gegenüber Appartement 25 zu urteilen, nur dieser Hexe Gesine gehören konnten. Um die war es nicht schade, genauso wenig wie um die Vase! Sie drückte Vase und Blumen an sich. Schaffte es gerade noch, den Strauß umzustellen und auf ihren vorherigen Beobachtungsposten zu gelangen. Denn schon setzte sich dieser zigarettenrauchende Jemand, der natürlich niemand anderes als Norbert sein konnte, wieder in Bewegung, Er würde sie nicht gleich entdecken, wenn sie hier draußen stand. / Roswitha fasste mit beiden Händen die Leiste, die sich in Höhe ihres Gesichts hinzog. Stieß sich mit den Füßen vom Fensterbrett ab. Baumelte wie an einer Reckstange und versetzte der Vase einen kräftigen Tritt, dass diese mit unheimlichem Scheppern auf dem Boden des Flurs zerschellte. Ihr darauf folgender lang gezogener Hilfeschrei hätte jeder Filmindianerin Ehre gemacht.

Fast im gleichen Moment erblickte sie sein blasses Gesicht. Sie spürte, wie Norberts Arme ein Zittern durchlief, als er sie um den Leib fasste und herabhob, wirklich im Glauben, er habe sie vor dem Sturz in die Tiefe gerettet. Er verstand nicht, warum sie loslachte. Seine Zigarette, eben erst angeraucht, flog aus dem Fenster.

Hell, geschmeidig, auch etwas ordinär klang Rosis Lachen. Norbert begriff nicht, weshalb sie seinen Kopf herabzog und ihn küsste, als hätten sie sich ein paar Jahre nicht gesehen.

Schon gar keinen Reim wusste er auf ihr höchst seltsames Gebaren: Sie kniete hin, fast mit dem nackten Knie in die Scherben, und raffte die bei dem Sturz unversehrt gebliebenen gelben Blüten zusammen. Die überreichte sie ihm feierlich und zelebrierte einen Knicks. Mit dem Gesichtsausdruck eines Menschen, der nach einem Gruselfilm wieder ins Freie tritt, fasste er nach den drei Stielen.

Sie lachte und sagte: "Zum Willkommen, mein Herr: Blumen von der Himmelswiese!"

"Du hast wohl eine aufregende Nacht hinter dir?", fragte er. Seiner Stimme war anzumerken, dass er sich Sorgen um sie machte.

Sie antwortete nicht, sondern nahm ihn bei der Hand. Zog ihn in ihr Zimmer. Hier, als sie ihn umarmen wollte, fühlte Roswitha, dass irgendetwas mit ihm geschehen sein musste. Etwas Unerhörtes. Sein Blick wich ihr aus, oder er sah ihr starr nach, wie sie sich eilig im Zimmer umtat, die Gardine vorzog, das Radio anstellte. Aber als sie sich umwandte und ihm zulächelte, schaute er wieder zur Seite. Jetzt erst bemerkte sie, dass er den dunkelblauen Anzug trug und den weinroten Schlips.

"Setz dich doch - setz dich" Sie ließ sich seinem Lieblingsplatz, dem Fußende der Liege, gegenüber nieder. Hockte sich auf das für den schmalen Raum offenbar extra zurechtgetischlerte blaue Sesselchen.

"Magst du?" Sie zog aus ihrem Kittel eine Schachtel und ihr goldpatiniertes Feuerzeug. Brannte ihm die Zigarette an. "Rauch nur, rauch", sagte sie und wurde mit einem Schlag ernst, beinahe traurig.

Irgendwo, tief auf dem Boden dieser Traurigkeit, spürte sie freilich eine Hoffnung, irre und seltsam genug, eine Hoffnung auf ein plötzlich, jetzt gleich beginnendes Glück. Es kam ihr vor, als könnte sich ihr bisheriges Leben mit ein paar Worten, einem einzigen Satz aus seinem Mund eben jetzt ändern.

2. Kapitel

Norberts Atem ging unruhig. Er hielt das Gesicht zur Wand gedreht. Die Decke hatte er über den Kopf gezogen, so dass sie von ihm nur eine strubblige schwarze Haarsträhne sah. Vor etwa einer Viertelstunde hatte sie sich ausgezogen und nackt neben ihn gelegt. Aber dann war sie wieder aufgestanden. Von einer zu nahen Berührung hatte er nichts wissen wollen. Er war auch gleich eingeschlafen, als sie neben ihn kam.

Einen Satz hatte er vor dem Einschlafen gesagt, mit geschlossenen Augen: Jetzt sind wir beide, du und ich, voll aufeinander angewiesen - abhängig einer vom andern..."

Der verrückte Satz ließ sie nicht los. Immer wieder klang er ihr im Ohr, während sein leises Schnarchen das einzige Geräusch im Zimmer war. Zweimal hatte er das gesagt, mit ganz denselben Worten, das erste Mal am Ende seines langen Berichts über den vergangenen Tag und das, was in der Nacht und der Frühe des heutigen Morgens geschehen war. Und das zweite Mal kurz vor dem Einschlafen.

"...voll aufeinander angewiesen - abhängig einer vom andern."

Sie saß mit gegeneinandergepressten Knien auf dem blauen Sessel. Bald sah sie auf die Haarsträhne, bald auf die Übergardine, diese umgenähte Tischdecke mit Sonnenblumenmuster, die zum Vorhängen des kleinen Fensters vollauf reichte. Draußen bemühte sich eine an Größenwahn erkrankte Vormittagssonne, auf ihre dreitausend Lux zu kommen. Doch den Raum erfüllte ein Licht wie unter Tage. Das breitete über jeden Gegenstand den unwirklichen orangenen Schimmer, den die Sonnenblumendrucke herein filterten. Sie rauchte nicht, und überhaupt lagen ihre Hände steif im Schoß. Auch ihre Kleidung, ein weißer, kurzärmeliger Pulli und der braune Rock, trug den apfelsinenfarbigen Schein. So hockte sie starr und suchte das Durcheinander von Gefühlen, freudigen und erschauernden, die eins das andere jagten, zur Ordnung zu bringen. Sie beschloss, sich seinen Bericht noch einmal zu erzählen, von Anfang an. Nicht in laut gesprochenen Worten, aber doch in der gleichen Abfolge der Sätze, wie er sie gebraucht hatte. Wort für Wort möglichst, ohne ihre eigenen Meinungen und Zweifel.

Ganz so wollte sie es wiederholen, wie es Norbert stockend und dann immer fließender, am Ende kaum noch des sich überschlagenden Redetempos mächtig, von sich gegeben hatte.

Brigitte ist tödlich verunglückt. So hatte Norbert angefangen, nachdem er aus der Zigarette einen langen Zug getan hatte. Sie ist überfahren worden. Vier Uhr neunzehn, vom Triebwagen der ersten Schnellbahn. Ja, auf dem Bahnhof, fünf Minuten entfernt von unserer Wohnung.

Wir kamen von zu Hause, und wir hatten den ganzen Abend und die Nacht über Streit gehabt. Seit ich von Arbeit gekommen bin, so gegen sechs, haben wir uns gestritten. Erst nur ein bisschen, hin und her. Schlagabtausch von spitzen Worten, mit längeren Schweigepausen dazwischen. In der Küche. Brigitte hat die Steaks gebrutzelt. Im Wohnzimmer haben wir dann gegessen. Ganz manierlich, mit Besteck und Servietten neben den Tellern und einer Zierkerze auf dem Tisch, echt Bienenwachs. Haucht alle Augenblicke ihr dürftiges Licht aus, ist aber stilgemäß. Du kennst doch Brigitte...

Tödlich verunglückt, heute früh, meine Frau, meine Brigitte. Aber das ist ja nicht wahr. Sie hat sich das Leben genommen. Jaja Selbstmord. So, wie ich's sage. Hat sich vor den einfahrenden Triebwagen... Ich konnte sie nicht mehr zurückhalten. Du, wir haben Abendbrot gegessen und dazu Tokayer Furmint getrunken. Brigitte brachte den Wein extra aus der Speisekammer. Von ganz hinten holte sie die Flasche, wo wir sie versteckt hatten hinter Einweckgläsern. Wir wollten sie erst zu unserem dritten Hochzeitstag... Sie drehte den Korken selbst 'raus, er saß ziemlich fest. Ich rührte keinen Finger, war noch vergnatzt. Schließlich schaffte sie es. Roch an dem Korken, setzte zum Eingießen an. Ich wartete nur darauf, dass sie mir ein Schlückchen einträufelte, damit ich kosten solle, wie in einem piekfeinen Restaurant. Da wollte ich eigentlich rausgehen.

Ich aß schnell, damit ich möglichst viel von dem Steak im Magen hätte, wenn ich rausginge. Denn ich hatte einen Bärenhunger nach der Arbeit. Außenmontage, weißt du, Fernsprechanlage mit vier Anschlüssen, eine Einsvierer. Für die LPG Prätschen.

Nun, sie hat mir den Kostetropfen eingegossen und wartete. In der Hand die Flasche, den nackten Arm erhoben wie eine professionelle Barmixerin. Mondänes Lächeln und die Lippen gespitzt, als schmecke nicht ich, sondern sie den Furmint vor. Sie trug das Ärmellose mit dem Schlitz an der Seite. Ich blickte auf ihren linken Schenkel, der sich mir bis zum Gesäßansatz präsentierte. Dabei horchte ich in mich hinein, ob mir nicht bald das von ihr so offenkundig geforderte Gefühl für häuslichen Sex kam. Ihre Beine wurden schließlich von vielen Männern gelobt.

Wie ihre Haare. Wahrscheinlich hatte sie eine Stunde vor Feierabend keinen Kunden mehr angenommen. Hatte sich selbst frisieren lassen von einer Kollegin. Die Tönung war diesmal mehr rötlich als blond.

Was hat sie bloß vor?

Ich stellte mir diese naive Frage, obwohl ich sie mir mindestens schon hundertmal in dieser Ehe gestellt hatte. Wieder überkam mich dieses Wahnsinnsgefühl, gegen das ich mich nicht wehren kann. Für sie ein kleiner Matz sein. Gebraucht, missbraucht zu werden von dieser Dame. Ich erzählte dir schon manchmal davon.

Wie das hochstieg in mir, dieses Gefühl, da war ich bereits schwach geworden. Ich nippte an dem Furmint und nickte und schaffte sogar ein verkrampftes Lächeln, wie man einer Serviererin zulächelt. Brigitte lächelte zufrieden zurück. Während sie die Gläser füllte, hatte ich die Freude, ihr blitzendweißes Mardergebiss zu bewundern, das in diesem zufriedenen Lächeln erstarrt war. Sie hat - hatte! - ein Gebiss wie ein kleines Raubtier, wie ein kleines nur, aber eben wie ein...

Nach dem Abendbrot bin ich mit ihr für eine Weile ins Bett gegangen. Kannst du das verstehen? Ich glaube: du, ja. Dann, gegen acht, fingen unsere Spannungen von neuem an. Das Fernsehprogramm war der Grund, wie üblich. Du kennst meine Meinung...

Nein, sagte sich Roswitha, so komme ich nicht weiter. Es ging einfach nicht.

Heiß wurde ihr. Sie rollte den unteren Rand des Pullovers ein, dass sie den Bauch frei hatte. Fächelte sich mit einer dieser gelben Röntgenkarten, die auf dem Tischchen vor ihr lag, und aus der sie Notizzettel schneiden wollte, Luft zu. Führte mit kräftigem Druck die Hand über die Augen, dann über die Nasenwurzel und massierte derb ihre Wangen. Danach ließ sie ihre rechte Hand wieder zu der anderen in den Schoß sinken. Einem unbestimmten Drang aufzustehen und wegen der Schwüle im Zimmer die Decke von seinem Gesicht zu ziehen, gab sie nicht nach. Sie wusste: Wenn sie zu ihm ging, würde sie nicht mehr ruhig nachdenken können.

Ich will nicht einfach seinen Bericht wiederholen. Daraus wird weder was Halbes noch was Ganzes. Seine Frau ist tot. Schlimm. Seine Frau hat sich umgebracht. Auch schlimm. Oder nicht?

Aber wie konnte es so weit kommen? Von dem einen Abend, dem einen Streit doch nicht! Ich muss meine Überlegungen anders beginnen.

Nun brannte sie doch eine Zigarette an. Während sie die wachsende Asche auf der Spitze betrachtete, bildeten sich auf ihrer glatten Stirn kleine Falten. Jetzt erst sah sie aus wie siebenundzwanzig. Ein Engelsgesicht ist keine Naturbegabung, es muss täglich neu erworben werden. Doch stand ihr kein Spiegel gegenüber. Von niemandem fühlte sie sich beobachtet. Auch nicht von sich selbst

Also anders anfangen! Etwa so: Wer war deine Frau? Und vor allem: Was fesselte dich an sie? - Diese Zweideutigkeit der Worte: Du fesselst mich... Ich bin von dir gefesselt...

Einmal war sie Brigitte über den Weg gelaufen. Ein einziges Mal hatte sie Norberts Frau gesehen. Mehr noch: ihn als Ehegatten.

Der Nachmittag war ein typischer Sonntagnachmittag gewesen. Sonntagnachmittage bedeuten für Kinder, die beim Spaziergang die Eltern auf einmal für sich allein haben, das herrlichste Erlebnis der Woche. Für werktätige Liebespaare sind sie das eine Woche lang ersehnte ungestörte Erlebnis des Betts. Alleinstehenden Personen kann schon der Gedanke an die so genannte Sonntagsruhe zum Alptraum geraten. Grau in grau erscheint ihnen an jedem siebenten Nachmittag die Welt, selbst wenn die Blüten sprießen und die Sonne aufs Pflaster knallt.

An jenem Sonntagnachmittag überwand Gesine ihre Abneigung gegen Rosi. Sie schlich die zweimal drei Schritte von ihrem Appartement über den Korridor zur Nachbarin hinüber und klopfte an.

Weltuntergangsstimmung bei Gesine.

Sie selber hatte Schlaftabletten genommen. Das tat sie an freien Wochenenden nur. Ein verheirateter Norbert konnte zwar jederzeit auftauchen. Jederzeit, doch kaum am Wochenende. Da war die Flucht in die Barbiturate schon das Beste.

Nun aber, als Gesine sie aus dem Dusel riss und sich bei ihr ausheulen wollte, hatte sie ins Fach gegriffen und zwei Muntermacher mit dem Löffelstiel zerdrückt und geschluckt und im Vorraum mit einem halben Glas Wasser nachgespült. Sie war augenblicklich wach geworden, wie jemand, der in einem Lift eingenickt ist, und das Ding hält mit einem Ruck. Dann hatte sie gesagt: "Das Gescheiteste, was wir heute tun können, Gesine, ist, einen saufen."

Das Krankenhaus und damit das Wohnheim lag eben verführerisch zentral, in leicht erlaufbarer Nähe der zahlreichen Cafés und Bars. Das machte den Vorsatz, einen saufen zu gehen, zur alltäglichen Möglichkeit. Aus dem Taubenschlag auszufliegen, in der Stadt zu flanieren zu jeder vom Schichtdienst freien Tageszeit, sich ein paar Gläschen in den Kopf zu drehen und danach viel lockeren Schritts wieder heimzukehren, hatte hier nicht mal den Hauch eines besonderen Vorkommnisses.

Allerdings, Rosi erinnerte sich, gab es damals noch einen anderen Grund, als den, einer in Weltschmerz schwimmenden Mitschwester Gesellschaft zu leisten. An diesem Sonntag wusste sie, was sie selten von Norbert wusste. Von ihm selbst hatte sie es gehört, dass er auf keinen Fall zu Besuch kommen würde. Dass ihn, wie er das ausdrückte, "unausweichliche, familiäre Verpflichtungen" abhielten. Irgendein langweiliges Paar - sprach er nicht von einer Kollegin seiner Frau und deren Mann? - hatte sich bei ihnen angemeldet. Da, in der von eislöffelnden Familien überfüllten Milchbar, spielte ihr der Zufall das erste und einzige Mal die Gelegenheit zu, Norberts Familienleben zu betrachten. Life sozusagen. In Farbe und Stereo und allem, was dazu gehört. Und diese Frau aus der Nähe zu sehen, mit der er in einer Ehe lebte, die weder vorwärts noch rückwärts ging. In der es keine Kinder gab, weil Norbert kein Kind mit Brigitte wollte. Jeden Abend passte er auf, dass seine Frau die Pille nahm. Er fürchtete sich einfach davor, dass es in diesem geputzten und geschniegelten Haushalt noch ordentlicher zugehen würde, wenn ein Kind da war.

Gesine erzählte eine schiefgelaufene Männergeschichte. Sie hatten sich irischen Kaffee kommen lassen und nahmen sich unter den kinderreichen Familien ebenso seltsam aus wie die beiden steifen Ehepaare, die eine Viertelstunde später an der Tür des Lokals stehen blieben und von denen mindestens eins kein gutes Eheleben mehr führte. Das musste Rosi schließlich am besten wissen.

Sie half der Mitschwester seufzen und die Männer verfluchen und freute sich doch manchmal im Stillen. Denn Gesine war es gewesen, die Norbert als erste gefallen hatte. Die hatte mit aller Gewalt versucht, sich den gutgebauten, freundlichen Monteur zu angeln, der ihnen die Haustelefone reparierte. Direkt auf dem Flur angesprochen hatte ihn Gesine und zu einer Party auf ihr Zimmer geladen, bei der die lieben Nachbarinnen natürlich Gast sein durften, zumindest zu Beginn der Festivität und unter der stillschweigenden Verpflichtung, sich später diskret zurückzuziehen.

Was konnte sie denn dafür, dass Norbert nicht auf Gesine ansprang? War sie nicht etwa, als letzte freilich und erst nach einigen unmissverständlichen Blicken Gesines, auf Nummer vierundzwanzig gegangen? Und sollte sie vielleicht, als es in der Nacht an ihrer Tür klopfte und Norbert davorstand und seine Größe den ganzen Rahmen füllte, erst lange mit ihm diskutieren?

Es war alles klar, als sie sich das erste Mal sahen. Ein Wort in der Nacht, auf dem Flur, wäre Ziererei gewesen. Er hatte sich, nachdem sie zur Seite getreten war, um ihn einzulassen, gleich ausgezogen. Dann erst hatte er ihr das Hemd über den Kopf gestreift. Er zitterte vor Neugierde auf sie, sein Zittern übertrug sich auf ihren Körper. Er hatte sie hochgehoben - das war in dem engen Vorraum neben dem Waschbecken geschehen. So hatte er sie in ihr Zimmer auf die noch warme Liege getragen.

Alles, was Norbert und Gesine und sie selbst betraf, war also von Anfang an für sie richtig gelaufen. Trotzdem verzieh sie es der Nachbarin nie, dass sie sich damals als erste an Norbert herangemacht hatte. Dieses kleine Rachegefühl gab dem Vierzigprozentigen, genannt Irish Coffee, und dem langatmigen Sonntagnachmittag-Wehwehchen, das ihr Gesine in jener Milchbar beichtete, die Würze und ihr selbst die Beherrschung, der Nachbarin mit geradezu christlicher Langmut zuzuhören.

Also zwei Frauen und ein Mann, bieder kostümierte Sonntagsausgehbürger, waren an der Tür stehen geblieben und hielten Ausschau nach freien Plätzen. Norbert sah sie noch nicht dabei, sicher lieferte er die Garderobe ab. Trotzdem waren Rosi diese drei sofort weniger gleichgültig als alle anderen im Lokal. Besonders die große, auf den ersten Blick etwas fade wirkende Blondine fiel ihr auf.

Norberts Frau machte auf sie zunächst den Eindruck eines ins Kraut geschossenen Kindes, das etwas unsicher die erste Kaltwelle seines Lebens spazieren führt. Auf den zweiten Blick fand Roswitha die große blonde Dame schön. Hatte sie nicht gleich gedacht: So könnte seine Frau aussehen? Ein Foto, wie es viele Ehemänner in der Brieftasche herumtragen, besaß Norbert nicht. Sie hatte ihn auch nie nach einem Bild von Brigitte gefragt. Doch Norbert konnte gut, ausgesprochen plastisch erzählen.

Nun standen die Bürger zu viert dort vorn, und so wusste sie endgültig Bescheid. Am Nebentisch, dem nächsten zur Tür, schaufelte eine Großmutter mit Schlagsahnefigur Torte ein. Man brauchte sich nur ein wenig über sein Glas zu bücken, schon war man hinter den ansehnlichen Schulterblättern der Tortendame verschwunden. Er durfte sie nicht sehen. Jedenfalls nicht gleich.

Der Tisch, an dem die vier Platz fanden, stand hinter ihrem Rücken. Ungünstig fürs Auge, aber man konnte beinah alles mithören. Es traf sich auch gut, dass ihre mitteilungsbedürftige Nachbarin mit dem Irish-Coffee-Glas geistesabwesende Balanceakte vollführte und außerdem ein langes Erlebnis loswerden musste. Weder hatte Gesine Norberts Hereinkommen bemerkt, noch hatte Norbert sie beide gesehen. So kam es, dass Gesines Worte an ihr vorbei tropften wie das Geräusch eines defekten Wasserhahns und dass sie ihre Aufmerksamkeit ganz auf den Tisch schräg hinter ihrem Rücken konzentrieren konnte.

Der Mann dieser Kollegin redete laut und fast ohne Pausen. Er hatte ein Begrünungsproblem. Sie hörte immer dieses eigenartige Wort "Begrünung". Es klang nach grünem Tisch, und da saß der vierschrötige Typ sicherlich die meisten Stunden seines armseligen Tages.

Ein zweites Wort, das der Laute ständig im Munde führte, hieß "objektive Probleme". Eigentlich waren das ja zwei Worte, aber er sprach sie wie eins aus und schob darauf allen Arger, den ihm seine Sträucher, Baumschößlinge und Rasensamen beim Begrünen machten. Er schien viel Ärger zu haben und diesen Ärger zu lieben.

Seine Frau, von der zunächst nicht mehr zu erblicken war als der mit einer schwarzen Seidenbluse bedeckte schmale Rücken und der dazu passende zierliche Hals, gab ihm recht. Sie tat das auf eine Art, aus der man ihre Verstimmung heraushörte. Ihr Köpfchen hielt sie ständig geduckt, als erwarte sie jederzeit einen plötzlich einsetzenden Hagel von Ziegelsteinen.

Sicher verwand diese Frau es nie, dass ihr Begrüner an irgendeiner der unteren Ecken des grünen Tisches saß, anstatt obenan zu residieren. Wie es ihrer Seidenbluse und der täglich auf Hochglanz zu bringenden Frisur zukam.

Norberts Frau schien von dieser Kollegin abzuhängen. Sie äußerte ihr Interesse für die objektiven Probleme der Begrünung durch eine erstaunliche Häufung von "Achs" mit doppelt unterstrichenem Fragezeichen und "Ohs" mit dreifachen Ausrufbalken dahinter. Man konnte wirklich glauben, es gäbe für Brigitte nichts Bedeutenderes auf dieser Welt als Bäume auf Millimeterpapier.

Sie wartete darauf, wie lange Norbert das Gewäsch aushalten würde, wann ihm der Kragen platzen und er dazwischenfahren musste. Auch hätte sie sonst was dafür gegeben, sein Gesicht zu sehen.

Was er dann sagte, nach minutenlangem Stummsein, klang nicht viel anders als die Achs seiner Frau. Nur sein Stimmfall hörte sich ehrlicher an. Das rührte aber vielleicht daher, dass ihr der Ton seiner Stimme vertraut war.

Norbert sagte: "Sie tragen eine entzückende Bluse, Frau Glöckner. Entschuldigen Sie - und vor allem muss ich mich natürlich bei Ihrem Gatten entschuldigen -, dass ich nichts Passendes zum Thema beisteuere. Aber Ihre Bluse, Frau Glöckner..."

Gesine hatte Norbert entdeckt. Duckte sich und prustete leise: "Du, sieh mal hinter dich."

Sie merkte, wie es Gesine erleichterte, dass nicht nur sie von Liebeskummer geplagt war, sondern auch eine andere gleich in derselben Patsche saß, wenn sie sich nur umdrehen würde und ihren Freund mit Ehefrau friedlich beim Kaffee erblicken. Gesine zupfte sie wie wild am Ärmel. Jetzt fand sie nicht mehr die Kraft, das Spiel fortzusetzen. Nickte und zischte Gesine zu: "Ich habe doch keinen Sand in den Augen, verdammt noch mal."

Sie hatten rasch gezahlt. Später, als sie Norbert vorsichtig von ihren Beobachtungen erzählte, wollte er es einfach nicht glauben, dass sie ihn an jenem Sonntag in der Milchbar gesehen hatte.