Blut des Ozeans - M.J. Lightner - E-Book

Blut des Ozeans E-Book

M.J. Lightner

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Beschreibung

Von einem Augenblick auf den anderen wird das Leben der siebzehnjährigen Leo komplett auf den Kopf gestellt. Sie ist die Tochter eines griechischen Gottes und soll verhindern, dass ein abtrünniger Halbgott alle Götter vernichtet. Auf der gefährlichen Suche nach weiteren Verbündeten, muss Leo nicht nur eine Prophezeiung entschlüsseln und lernen, ihre göttlichen Kräfte zu beherrschen, sie kommt auch dem gut aussehenden Aydon näher als gedacht. Doch kann sie ihm und den anderen wirklich vertrauen? Was sind das für merkwürdige Träume, die sie quälen? Und was hat es mit den Schatten auf sich, die sie verfolgen? Eine Geschichte von Göttern und Halbgöttern und der Begegnung mit dem eigenen Schicksal …

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M. J. Lightner

Blut des Ozeans

 

 

Für alle Weltenbummler und Geschichtensammler.

Ihr seid unvergessen.

Prolog

Kassandra

Als ich an die Marmorsäule gelehnt in den nachtschwarzen Himmel blickte, überkam mich ein Frösteln. Ich kannte dieses Gefühl. Es war mir so vertraut wie das Blau meiner Augen, das Weiß des Marmors und die goldenen Fesseln, die ich mir selbst auferlegt hatte. Ich war so dumm gewesen.

Schluss damit, die Vergangenheit musste man ruhen lassen. Mit diesem Gedanken brachte ich die Erinnerung meist zum Schweigen, so auch heute. Trotzdem überlief mich ein erneutes Frösteln, als ob jemand über mein Grab ginge. Ich hüllte mich enger in meinen Umhang, den ich über der Tunika trug, um die Kälte abzuwehren. Noch einmal blickte ich in den Himmel zu Orion, dem Sternbild, dann wandte ich mich seufzend meinen Gemächern zu. Ich lebte in einem Palast, der dem Olymp nachempfunden war. Überall standen Statuen und Büsten der zwölf großen Götter. Die Säulen und Böden glänzten in feinstem Marmor. Wandteppiche aus Seide schmückten jeden Raum. Überall gab es kostbare Gegenstände aus Bronze, Silber und Gold, manche waren sogar mit kostbaren Juwelen verziert. Ohne Frage, mein Domizil war prachtvoll und beeindruckend. Dennoch lebte ich in einem Käfig. Ein goldener Käfig, der erschaffen worden war, um das Orakel gefangen zu halten. Das Orakel, ja. Das war ich, Kassandra.

Ich, die große Seherin, Dienerin des Apollon und Tochter der Moiren, die seit meinem vierzehnten Lebensjahr versteckt wurde. Auf meinen eigenen Wunsch hin, denn das Orakel konnte sich nur freiwillig dazu entschließen, die Gabe des Sehens anzunehmen. Es blieb das Orakel und am Leben, bis das nächste geboren wurde und sich dazu bereit erklärte, ihr die Gabe abzunehmen. Solange steckte ich in dem Körper einer vierzehnjährigen Jungfrau fest, und das schon seit sehr, sehr langer Zeit.

Ich ging den breiten Flur entlang, weg vom Balkon und den Erinnerungen, vorbei an den unzähligen Porträts der früheren Orakel. An manchen waren nicht nur der Name, das Geburts- und Sterbedatum auf der Unterseite des Bildes vermerkt, sondern auch ihre Heldentaten. Oder besser gesagt: Man hatte dort die Namen der Helden verewigt, denen meine Vorgänger geholfen oder denen sie große Weissagungen gemacht hatten. Doch es stand nie dabei, wie diese Weissagungen ausgegangen waren oder was mit den Helden passiert war.

Hastig eilte ich den Gang entlang, verfolgt von den starren Blicken der Orakel. Ein Pochen hatte sich in meinem Kopf breitgemacht, bald würde ich wieder einen Anfall bekommen. Pochende Kopfschmerzen, seltsames Frösteln und Schweißausbrüche waren zuverlässige Anzeichen dafür, dass ich bald wieder etwas vorhersehen würde.

Ich stieß die große Eichenflügeltür auf und betrat meinen Lieblingsraum, das Atelier. Sobald die Tür aufschwang, entzündeten sich die viele Kerzen, die in den Wand- und Bodenleuchtern steckten. Sie tauchten das Zimmer in ein warmes, angenehmes Licht. Es war unaufgeräumt und schmutzig und trotzdem oder gerade deswegen gemütlich und einladend. Auf der rechten Seite türmten sich unzählige bemalte und unbemalte Leinwände. Auf der linken Seite thronte ein ausladender, mit Ornamenten verzierter Schreibtisch aus dunklem Holz. Mahagoni, wie ich vermutete. In dem Schreibtisch verbargen sich viele Schubladen, die bis zum Rand mit Pinseln jeder Form und Größe gefüllt waren. Über die Jahre war eine beachtliche Anzahl davon in meinen Besitz gekommen. Farbtöpfe und Tuben in allen Farben ruhten auf dem Schreibtisch.

Den meisten Platz beanspruchte jedoch die stattliche Staffelei. Sie stand in der Mitte des geräumigen Ateliers und war auf die Fensterfront gerichtet, damit ich, wenn ich malte, auf das Meer hinausblicken konnte.

Im hinteren Bereich des Raums stand eine kleine dunkelgrüne Couch, die man auf den ersten Blick leicht übersah.

Mit ein paar großen Schritten überwand ich die Distanz zu dem Möbelstück und ließ mich seufzend auf ihm nieder. Das Pochen in meinem Schädel wurde schlimmer, also schloss ich die Augen. Gleichzeitig bemerkte ich jedoch, wie sich meine Nackenhaare aufstellten.

»Du kommst spät.« Ich linste durch meine dunklen Wimpern.

»Ich hatte noch etwas zu erledigen. Du glaubst ja gar nicht, wie schwierig es war, durch den ganzen Verkehr hierherzukommen!« Grinsend kam der junge, gut aussehende, schwarzhaarige Typ auf mich zu und setzte sich neben mich. Ich registrierte am Rande, dass er nur kurze braune Shorts trug. Beide Arme auf der Rückenlehne ausgebreitet, musterte er mich. Nichts ließ darauf schließen, dass er irgendetwas Übernatürliches an sich hätte. Na gut, seine wohldefinierten Muskeln waren wirklich nicht von dieser Welt, aber ansonsten wirkte er vollkommen normal und menschlich. Nur seine Augen verrieten ihn. Sie funkelten goldenen, golden wie die Sonne, wenn sie gerade ihren Zenit erreichte. Ja, Apollon hatte sich mal wieder selbst übertroffen.

Unvermittelt stöhnte ich auf. Das Pochen wurde immer heftiger und Schweißperlen bildeten sich auf meiner Stirn. »Es geht wieder los, aber … es tut so weh«, stieß ich hervor.

Apollon runzelte die Stirn. »Glaubst du, dass es dieses Mal anders ist?«

Bei den Göttern, der konnte vielleicht Fragen stellen! »Woher soll ich das denn bitte wissen? Du bist doch hier der Gott.« Das war etwas zu schroff, aber jetzt gerade kümmerte es mich nicht. Die Schmerzen wurden unerträglich. Ein Ruck fuhr durch meinen Körper, mein Kopf sackte nach vorne, und ich spürte die unheimliche Macht, die mich immer ergriff, wenn ich eine Prophezeiung verkündete.

Apollon war inzwischen aufgesprungen und kniete vor mir. »Großes Orakel, bitte teile deine Weisheit mit mir«, flüsterte er zu meinen Knien.

Schlagartig steigerte sich der Schmerz, und mein Mund öffnete sich, ohne dass ich etwas dagegen hätte tun können. Die Parzen ergriffen Besitz von meinem Körper und erfüllten ihn mit jenen unheimlichen Worten, die ich mein Leben lang nie wieder vergessen würde.

 

»Den großen Göttern werden zwölf geboren.

 

Sechs, als Krieger auserwählt, große Macht ihnen zugezählt.

 

Eines, unterm Unglücksstern geboren, ist zum Helden auserkoren.

 

Eines sieht des Wahren Lüge, trägt in sich die Herzensgüte.

 

Eines Heros Macht in ihm verschlungen, bringt neue Hoffnung, wenn Ängste bezwungen.

 

Ein Heros, dessen Kräfte sich kaum zeigen, vor ihm sich wird der rechte Weg verneigen.

 

Eines wendet sich zum dunklen Pfad, geführt durch des Vaters Tat.

 

Eines, das die Rettung bringt, mit der wahren Macht es alles bezwingt …«

 

Ich sackte zusammen und fiel seitlich auf die Couch. Müdigkeit und Erschöpfung übermannten mich. Diese Prophezeiung hatte mich viel Kraft gekostet. Langsam öffnete ich die Augen und sah Apollon an. Er starrte mich mit weit aufgerissenen Augen an und versuchte etwas zu sagen.

»W-was … hat das zu be-bedeuten?«, war alles, was aus seinem entzückenden Mund kam. Anscheinend hatte der Gott der Sonne in Sekundenbruchteilen verlernt, sein Hirn zu benutzen.

»Ich bin zwar keine Expertin«, witzelte ich mit schwacher Stimme, »aber ich glaube, das war eine Prophezeiung.«

Apollon blitzte mich wütend an. »Das weiß ich selbst«, giftete er. Seine Augen schienen Funken zu sprühen. »Aber worüber? Den großen Göttern werden zwölf geboren?« Langsam stand er auf und marschierte in meinem Atelier auf und ab, während er immer wieder diese eine Zeile wiederholte.

Unterdessen versuchte ich, mich aufzusetzen und den Schwindel zu unterdrücken, der mich dabei überkam.

»Halbgötter … Das kann doch nicht sein. Soweit ich weiß, gibt es aktuell nur fünf von ihnen. Können Halbgötter uns tatsächlich schaden oder gar vernichten?« Er blickte mich an, ohne mich wirklich zu sehen.

Es war nicht nötig, auf seine Frage zu antworten, denn Apollon war ein Meister darin, mit sich selbst zu reden. Außerdem wurden meine Lider träge, die Müdigkeit begann, meinen Körper zu überfluten.

»Ich muss Zeus warnen. Es könnte sein, dass du die nächste große Prophezeiung ausgesprochen hast, Kassandra.«

Noch bevor er zu Ende gesprochen hatte, war er auch schon in einem gleißend weißen Licht verschwunden. Im Atelier war es jetzt dunkel und kalt. Ich beschloss, mir noch schnell etwas zu essen aus der Küche zu holen und dann gleich schlafen zu gehen. Dieser Kräfteverlust war neu für mich. Als ich aufstand, schüttelte es mich jedoch erneut. Bevor ich verstand, was los war, hatten die Parzen ein weiteres Mal von mir Besitz ergriffen. Meine Augen verdrehten sich, und der Schmerz in meinem Kopf nahm wieder zu, als die Worte meinem Mund verließen.

 

»Eines verschwunden, wo alles begann, Kräfte unbezwungen, glaubt nur daran.«

 

Das war zu viel für meinen Körper. Ich fiel rücklings auf etwas Weiches, und alles wurde dunkel.

Kapitel 1

 

Als ich die Augen aufschlug, war ich schweißgebadet.

Zu meiner Erleichterung lag ich jedoch in meinem Zimmer, im Bett. Es war noch dunkel.

Seit Längerem hatte ich diese Träume. Träume, in denen ich ruhelos durch einen prachtvollen Palast wanderte und immer wieder vor einer unbemalten Leinwand stehen blieb. Oder Träume, in denen ich Monstern in die Augen blickte und ein kleines Mädchen sah, das sich vor Schmerzen zu meinen Füßen krümmte. Und immer wieder war da dieses hohe, bittere Lachen, das ich einfach nicht vergessen konnte.

Ich setzte mich auf und sah auf die Uhr. Es war noch früh, aber es war wieder so weit. Heute war mein Geburtstag, ich wurde siebzehn. Bei Gott, wie ich sie hasste, diese dämliche Frage »Wie fühlt man sich so, jetzt, wo man ein Jahr älter ist?« Mann, ich hatte doch selbst keine Ahnung. Ich fühlte mich immer noch wie das tollpatschige, Fantasybücher lesende, komische sechzehnjährige Mädchen, das ich gestern Abend noch gewesen war.

Es war nicht so, dass ich es nicht mochte, Geburtstag zu haben, nein, so war das ganz und gar nicht. Ich hasste es nur, an meinem Geburtstag zu Hause zu sein, wegen Mom.

Seit meiner Geburt litt sie unter schweren Depressionen, die manchmal tagelang andauerten. Dazu kamen Wahnvorstellungen, die sie und auch mich völlig verrückt machten. An meinem Geburtstag war es immer besonders schlimm. Ich wusste genau, was mich erwartete: Sie würde sich frühmorgens auf unser abgewetztes rotes Sofa setzen, ein altes Fotoalbum von mir aufschlagen und es durchblättern. Irgendwann würde sie zu weinen anfangen und erst aufhören, wenn die Sonne untergegangen wäre.

Diesem Drama versuchte ich jedes Jahr aus dem Weg zu gehen, indem ich einfach schon etwas früher aufstand und mich aus dem Haus schlich, bevor sie wach wurde.

Mit einem weiteren Blick auf die Uhr schwang ich die Beine aus dem Bett und stand auf. Mein Zimmer war dafür, dass unser Haus eher klein war, sehr groß, und es war alles in hellen Blau-, Lila- und Weißtönen gehalten. Wenn man den Raum betrat, sah man gleich mein riesiges weißes, mit Ornamenten verziertes Bett. Es war ein Doppelbett, ich brauchte einfach Platz zum Schlafen, und am Fußende stand ein Fernseher. Da die komplette rechte Seite meines Zimmers aus einem Fenster und einer Lesenische bestand, hatte mein Schreibtisch in die Ecke hinter den Fernseher ziehen müssen. Neben meinem Bett stand noch der alte Kleiderschrank, aber mein ganzer Stolz war mein Bücherregal, das von einer Seite des Zimmers bis zur anderen reichte. Die komplette Türseite war voll mit Büchern. Sogar vor meinem Bett türmte sich ein riesiger Stapel mit Schätzen, die ich noch diese Woche lesen wollte. Ein paar lagen auch verstreut auf meinem flauschigen weißen Teppich. Bücher waren einfach was Tolles, denn mit ihnen konnte ich reisen, wohin ich wollte.

Auf dem Weg zum Kleiderschrank knipste ich mein Nachttischlämpchen an, das auf dem Boden stand. Immer noch über den Traum nachgrübelnd, öffnete ich eine Flügeltür meines Schrankes und kramte ein schwarzes enges Top mit V-Ausschnitt und dazu passende Shorts heraus. Man konnte nicht gerade behaupten, dass ich der Oberbringer in Sachen Mode gewesen wäre, doch das war mir vollkommen egal.

An der Innenseite der Schranktür hing ein großer Spiegel, und ein ovales, schmales Gesicht, umrahmt von goldbraunen Haaren, die mir bis zum Schulterblatt reichten, sah mich daraus an. Ich war nicht hässlich, aber auch nicht schön. Keine hohen Wangenknochen, und meine etwas zu große Unterlippe war alles andere als perfekt. Das einzig Besondere an mir waren meine Augen. Sie hatten eine ganz besondere Farbe, nämlich Türkis. Manche sagten, es sei Eisblau oder Himmelblau, aber für mich war diese Farbe schon immer Türkis gewesen und würde es auch bleiben.

Ich schloss die Flügeltür und wandte mich zu meinem Schreibtisch um, wo meine heiß geliebte Sporttasche lag. Sie war schwarz mit dunkelblauen Streifen darauf. Schnell stopfte ich Wechselsachen, Schwimmsachen, Taucherbrille und ein Handtuch hinein. Meine Haare ließ ich offen, da sie nachher eh wieder nass werden würden. Auf dem Weg nach unten in die Küche konnte ich das merkwürdige Gefühl, dass der Traum hinterlassen hatte, noch immer nicht abschütteln.

Barfuß stapfte ich auf die Küchentheke zu und legte meine Sporttasche auf einen der roten Barhocker. Auf der Marmorplatte lagen zwei kleine Päckchen und ein Cupcake mit blauem Frosting und einer Geburtstagskerze darauf. Dad musste gewusst haben, dass ich vor dem Abend nicht wieder nach Hause kommen würde, also hatte er mir meine Geschenke schon bereitgelegt.

Mit einem kleinen Lächeln schnappte ich mir das erste Päckchen. Silbernes Geschenkpapier und eine nicht dazu passende orange Schleife zierten das größere der beiden. Unachtsam riss ich das Papier ab, und zum Vorschein kam ein Buch. Griechische Götter von A bis Z prangte in goldenen Lettern auf dem Cover, genau mein Geschmack.

Ich stopfte das Buch in meine Tasche, fest entschlossen, es heute noch zu lesen, und nahm das zweite, kleinere Päckchen in die Hand. Das dunkelblaue Papier wurde nur durch ein zartes, silbernes Band an seinem Platz gehalten. Es sah so zerbrechlich aus, dass ich das Band ganz vorsichtig zwischen Daumen und Zeigefinger nahm und nur ganz leicht daran zog. Eine weitere kleine Schachtel kam zum Vorschein, auf der ein Zettel befestigt war:

Für Leona – möge dein Leben voller Magie sein.

Es stand kein Absender darunter.

Mit einem Achselzucken legte ich den Zettel beiseite und öffnete den Deckel der Schachtel. Darin lag, auf weißen Samt gebettet, ein daumennagelgroßer, tränenförmiger Edelstein, der an einer Silberkette befestigt war. Der Edelstein funkelte wie die Tiefen des Ozeans. Ich kannte mich nicht wirklich mit Schmuck aus, aber ich vermutete, dass dieser Stein entweder ein blauer Diamant oder ein Saphir war.

Sekunde: Wer würde mir so ein teures Geschenk machen?

Trotzdem konnte ich nicht widerstehen und legte mir die Kette um. Der Stein schmiegte sich perfekt in die Kuhle an meinem Hals. Das Schmuckstück war wie für mich gemacht. Dennoch war es auch irgendwie unheimlich, denn sobald der Stein meine Haut berührte, verstärkte sich das ungute Gefühl meines Traumes.

Unsinn! Ich schüttelte den Kopf. Die Kette konnte nur von meinem Dad stammen, und daran war gar nichts Gruseliges. Ich nahm mir vor, mich heute Abend bei ihm für das tolle Geschenk zu bedanken, schnappte mir den Cupcake und biss einmal herzhaft hinein. Der süße Geschmack köstlicher Schokolade breitete sich in meinem Mund aus und ließ die letzten Zweifel verschwinden.

Auf dem Weg in den Flur überlegte ich, was ich heute unternehmen sollte, um nicht so früh nach Hause kommen zu müssen. Es kamen nur zwei Möglichkeiten infrage. Entweder ich ritt mit Kalypso aus, oder ich schleifte Miranda, meine beste und einzige Freundin, in das neu eröffnete Café und erbettelte mir zu meinem Geburtstag einen Spezial Smoothie. Beide Möglichkeiten hatten ihren Reiz. Ich beschloss, die Entscheidung auf später zu verschieben.

Ich schlüpfte in meine geliebten blauen Sandalen und wollte gerade meine Tasche holen, als mir einfiel, dass meine Schultasche noch in meinem Zimmer lag. Schnell spurtete ich die Treppe hoch, zurück in mein Zimmer, blickte mich um und entdeckte meine braune Schultasche vor dem Fernsehschrank. Ich schnappte sie mir gerade, als ich einen leisen, aber deutlich hörbaren Schluchzer vernahm. Er kam direkt aus dem Schlafzimmer meiner Eltern.

Schnell wandte ich mich ab und sauste die Treppe hinunter. Im Vorbeigehen griff ich nach meiner Sporttasche und war schon zur Tür hinaus. Zum Glück, bevor ich mitansehen musste, wie meine Mutter weinend die Treppe herunterwanken würde.

So wie fast jeden Morgen nahm ich den gewohnten Weg. Drei Schritte, um die Veranda zu überqueren, vier Stufen hinunter auf den mit Steinen gepflasterten Weg und knapp siebeneinhalb Schritte nach rechts. Dort um die Ecke stand mein Fahrrad. Es war alt und der rote Lack schon verblichen, aber es fuhr sich großartig. Außerdem hatte es einen so großen Korb auf dem Gepäckträger, dass sowohl meine Sporttasche als auch meine Schultasche hineinpassten.

Es dämmerte bereits, ich musste mich beeilen. Schnell schob ich mein Fahrrad auf das weiße hölzerne Gartentor zu. Noch einmal drehte ich mich zu unserem Haus um. Meine Mutter stand am Küchenfenster, die Gardine in der Hand. Tränen liefen ihr über die Wangen, während sie mich anstarrte. Ich schluckte. Genau das wollte ich nicht sehen, doch ich zwang mich zu einem Lächeln und winkte ihr zum Abschied. Sie zeigte keine Reaktion. Ich drehte mich um und öffnete das kleine Tor, schob mein Fahrrad hindurch und schloss es wieder. Noch einmal linste ich zum Küchenfenster hin, doch meine Mutter war nicht mehr zu sehen. Seufzend schwang ich mich auf den alten, abgewetzten Ledersattel und fuhr los. Nicht nach rechts, wo es zu meiner Schule ging. Nein, ich wollte nach links, zu dem einzigen Ort, an dem ich mich genauso wohlfühlte wie bei Kalypso und in meinen Büchern. Ein Ort, an dem ich frei war: dem Meer.

 

Die kleine Bucht war nicht weit vom Haus meiner Eltern entfernt. Man brauchte nur zehn Minuten zu Fuß oder fünf Minuten mit dem Fahrrad, und schon war man da. Ich hatte diese Bucht ganz zufällig entdeckt, als ich acht Jahre alt gewesen war … Meine Eltern hatten sich mal wieder gestritten. Mom hatte einen ihrer Anfälle gehabt, und Dad hatte sie zu beruhigen versucht und mich fortgeschickt, damit ich Mom nicht so sehen musste. Also war ich spazieren gegangen … und irgendetwas hatte mich zu dieser Bucht gezogen. Und als ich sie gesehen hatte, hatte ich gewusst, dass ich niemandem je etwas darüber erzählen würde, nicht einmal Miranda.

Die Bucht zierte ein kleiner feinkörniger Sandstrand. Sie war komplett von Felswänden umgeben und lag so geschützt da, dass ich mich irgendwie geborgen dort fühlte. Es gab außerdem eine winzige Hütte, die aus morschem alten Holz bestand. Eigentlich war es mehr ein Schuppen, der am Ende des Strands stand, ganz nah bei den Felswänden, und er war gerade groß genug, um Essen und Trinken dort zu lagern und ein altes Surfbrett. Irgendwann würde ich es reparieren und damit auf den Wellen reiten.

Doch am schönsten war zweifellos der Blick aufs Meer. Einfach atemberaubend. Das Wasser war türkisblau, klar und sauber, und wenn man hineinging, spürte man das leichte Gefälle, das einen in tiefere Gefilde führte. Meine Bucht war ein wahr gewordener Traum, den ich hütete wie einen Schatz …

Der Weg zum Strand hinunter war schmal und sehr steil, er führte erst durch ein kleines Wäldchen und lag so versteckt, dass man ihn leicht übersehen konnte.

Als ich endlich unten war, lehnte ich mein Fahrrad an die Felswand, die dem Ausgang am nächsten war. Ich nahm meine Sporttasche vom Gepäckträger und ging zum Schuppen, um mich darin umzuziehen. Schnell streifte ich meine Sachen ab und schlüpfte in den dunkelblauen Bikini, der mit weißen Sternen verziert war. Die Kette legte ich nicht ab, obwohl es vielleicht besser gewesen wäre, aber irgendwie konnte ich mich nicht von ihr trennen.

Als ich zum Wasser lief, seufzte ich erleichtert auf. Ich hatte es gerade noch rechtzeitig geschafft. Die Sonne ging bereits auf und tauchte das Meer in Rosa-, Orange- und Rottöne. Es schien beinahe zu leuchten, und je höher sie stieg, desto goldener erstrahlte das Wasser. Gierig sog ich die Luft durch die Nase ein. Es roch nach Meer, Salz und Freiheit. Das Meer war nicht kalt, aber auch nicht wirklich warm – so wie das Wetter, denn der Herbst nahte. Trotzdem fackelte ich nicht lang und tauchte mit einem Hechtsprung in das golden schimmernde Wasser ein.

Ich liebte dieses Gefühl. Wenn das kristallklare Wasser meinen Körper ganz umschloss, fühlte ich mich wie elektrisiert. Alle meine Sinne erwachten und wurden ein wenig schärfer, und meine Haare waren endlich mal nicht so struppig, sondern glatt und glänzten. Ich sah auf den Grund des Meeres und entdeckte Muscheln, kleinere Fische und Schnecken. Ich sah alles ganz deutlich und brauchte nicht einmal zu blinzeln. Obwohl ich kein Bedürfnis nach Sauerstoff verspürte, tauchte ich auf und sah zum Himmel, der nun lila schimmerte und allmählich in Blau überging.

Entspannt ließ ich mich auf dem Rücken treiben, immer darauf bedacht, nicht zu weit auf das offene Meer hinauszudriften, und hing meinen Gedanken nach. Ich hatte nicht mehr viel Zeit, denn bald würde die Schule beginnen. Dann musste ich mich wieder durch acht Stunden Algebra, Englisch, Biologie und Chemie quälen, worauf ich genauso wenig Lust hatte wie darauf, einen ganzen Monat lang auf Bücher zu verzichten. Aber ich musste mich zusammenreißen, schon allein Mirandas wegen, die total für unseren Biolehrer schwärmte. Es war echt verstörend, aber sie war nun mal meine beste Freundin, und deswegen hörte ich mir immer tapfer ihre endlosen Tiraden darüber an, wie toll und sexy unser Lehrer war.

Ich selbst war noch nie so wirklich verliebt gewesen. Klar, es gab schon den ein oder anderen Typen in meiner Schule, den ich heiß fand. So wie Cole Thompson, den Quarterback der Football-Schulmannschaft. Mit seinen aschblonden Haaren und den verträumten grünen Augen und ja, auch wegen seines Sixpacks, war er schon sehr attraktiv, aber verknallt war ich nicht in ihn. Verdammt, ich hatte ja noch nicht mal meinen ersten Kuss gehabt. Es würde sich aber auch keiner freiwillig in den größten Nerd der Sunnyvale High verlieben. Wenn deine Mutter eine anerkannte Depression hatte, machte dich das nicht unbedingt zur beliebtesten Schülerin oder zu einem Jungenschwarm.

Der durchdringende Schrei eines Vogels riss mich aus meinen unangenehmen Gedanken, und im gleichen Moment hatte ich das Gefühl, beobachtet zu werden, und spürte ein seltsames Ziehen im Magen. Ich drehte mich zum Strand, doch da war niemand. Mein Blick huschte nervös umher, und dann entdeckte ich am Rand der oberen Klippen eine Gestalt mit wehenden blonden Haaren, die zu mir heruntersah. Für einen winzigen Augenblick musste ich die Augen schließen, und als ich wieder hinauf zu den Felsvorsprüngen sah, war sie verschwunden.

Hatte ich mir das Ganze etwa nur eingebildet? Aber wenn nicht, was hatte die Fremde dann hier zu suchen?

Irgendwie hatte ich ein mulmiges Gefühl, als ich zurück zum Ufer schwamm. Es wurde auch nicht besser, als meine nassen Füße den trockenen Sand berührten und ich dort Fußspuren entdeckte, die eindeutig nicht von mir stammten. Ängstlich sah ich mich immer wieder um, während ich zu der kleinen Hütte rannte, um mich umzuziehen. Hektisch knöpfte ich meine Shorts zu und verstaute, so schnell ich konnte, die nassen Badesachen und das Handtuch in meiner Sporttasche. Als ich kurz darauf mein Fahrrad erreichte, warf ich die Tasche in den Korb und zog mein Handy aus der kleinen Seitentasche meiner Schultasche, um nach der Uhrzeit zu sehen.

Was? Es konnte doch noch nicht so spät sein.

Genervt schnappte ich mir mein Fahrrad und schob es eilig den schmalen Waldweg hinauf, der zur Hauptstraße führte. Ich brauchte von unserem Haus fünfzehn Minuten bis zur Schule, von der Bucht aus zwanzig, das würde eng werden. Trotz meiner Eile wurde ich jedoch das mulmige Gefühl in meinem Bauch nicht los. Noch immer fühlte ich mich beobachtet und spürte das unangenehme Ziehen im Magen. Unsicher blickte ich über die Schulter zurück und hätte schwören können, dass ich kurz jemanden, einen großen Jemand, im Wald gesehen hätte. Doch es war nicht mehr als ein dunkler Umriss, und einen Lidschlag später war die Erscheinung verschwunden.

Auf der Hauptstraße angelangt, sprang ich auf mein Rad und trat so kräftig in die Pedale, dass das alte Ding ächzte. Doch das mulmige Gefühl, beobachtet zu werden, ließ sich nicht abschütteln. Erst als ich beinahe an der Schule war, ließ das Ziehen in meinem Bauch endlich nach.

»Ich schätze mal, dass ich jetzt schon genau so verrückt werde wie Mom«, murmelte ich genervt vor mich hin.

Keuchend erreichte ich den Parkplatz der Sunnyvale High und kam mit quietschenden Reifen vor dem Fahrradständer zum Stehen. Das ausladende Schulgebäude warf seinen Schatten auf mich, was mir einen Schauer über den Rücken rieseln ließ, ebenso wie der Blick meiner besten Freundin. Verschränkte Arme, blitzende grüne Augen und eine wallende rote Mähne, so stand sie vor mir und wirkte nicht gerade gut gelaunt. Sie sah aus wie Arielle, die Meerjungfrau. Selbst ihre Stimme ähnelte Arielle, was ich ziemlich cool fand. Wer konnte schon sagen, dass seine beste Freundin wie eine Disney-Prinzessin aussah und auch so sprach?

»Du bist zu spät. Schon wieder!« Sie klang nicht wirklich sauer, nur ein wenig verstimmt, was mir zeigte, dass sie mit meiner Verspätung schon gerechnet hatte.

Schnell nahm ich mein Handy und sah auf die Uhr. »Miranda«, seufzte ich gespielt, »es ist erst fünf vor, also bin ich sogar überpünktlich.«

Ihre Augen zogen sich zu schmalen Schlitzen zusammen.

Ich hasste es, wenn sie mich so ansah. »Es tut mir leid,«, lenkte ich ein, »ich hab einfach die Zeit vergessen. Kommt nicht wieder vor.«

Ein wenig besänftigt erwiderte sie: »Du weißt genauso gut wie ich, dass du dich, wahrscheinlich schon morgen, wieder verspäten wirst.« Sie kicherte. »Aber dir sei verziehen, Geburtstagskind. Übrigens Happy Birthday!« Sie umarmte mich. »Mein Geschenk kommt nachher, jetzt lass uns erst mal los. Wir müssen noch unsere Bücher holen. Ach, und deine Haare sind ganz nass? Hat es einen Sinn, dich zu fragen, wo du dich dieses Mal rumgetrieben hast?«

»Nein, hat es nicht.« Ich schloss mein Fahrrad an den dafür vorgesehenen Ständer an, schnappte mir meine Taschen und lief hinter Miranda her, die sich schon der Schule zugewandt hatte. »Das weißt du doch.«

Sie rollte mit den Augen, betrachtete mich aber mit einem breiten Lächeln. »Ja, stimmt, aber ich werde es immer wieder versuchen.« Mit diesen Worten hakte sie sich bei mir unter.

So gingen wir durch die Flügeltür des Haupteingangs. Der dunkle Schulflur wirkte wenig einladend mit seinem graugrünen Vinylboden, den schmutzig orangefarbenen Wänden und den verblichenen blauen Schließfächern. Mit ein paar Postern und Motivationssprüchen, die vereinzelt an den Wänden hingen, hatte man vergeblich versucht, die triste Stimmung etwas aufzulockern. Vom Hauptflur gingen vier kleinere Flure ab, zwei davon führten in die oberen Stockwerke, einer zum Lehrerzimmer und dem Sekretariat, und der letzte brachte einen in die kleine Schulbibliothek. Der Hauptgang endete an einer weiteren Flügeltür, die in den Innenhof führte. Daneben gingen die Türen zur Cafeteria und zu den Umkleiden der Turnhalle ab.

Mirandas Schließfach war direkt neben meinem, außerdem hatten wir die perfekte Lage an der Ecke zum Bibliotheksflur und gegenüber dem Mädchenklo. Ja, besser ging es wirklich nicht.

Da es schon einmal geklingelt hatte, mussten wir uns sputen und eilten zu unseren Schränken. Ich riss meine Schließfachtür auf, zog das Algebrabuch hervor, stopfte es in meine Tasche und warf die Tür mit solchem Schwung zu, dass das Geräusch von den Wänden widerhallte. Kein einziger Schüler trieb sich mehr auf den Fluren herum, irgendwie beklemmend.

»Was haben wir jetzt?«, fragte Miranda sichtlich angespannt.

»Algebra bei Mr Jefferson im Raum 1.17«, seufzte ich, und wir spurteten den Hauptflur entlang, nur um gleich um die Ecke zu biegen, da wir in den ersten Stock mussten. Leichtfüßige Schritte verrieten mir, dass meine beste Freundin mir auf dem Fuß folgte. Wir nahmen die Treppe und rannten dann den Flur entlang. Schlitternd kamen wir vor Raum 1.17 zum Stehen. Es hatte noch nicht zur Stunde geläutet und dennoch waren die Flure auch hier oben wie ausgestorben.

Miranda öffnete die Tür und linste in den Raum hinein. Über die Schulter grinste sie mir zu. »Er ist noch nicht da!« Mit einem gekonnten Schwung stieß sie die Tür auf und betrat den Unterrichtsraum mit einem koketten Hüftschwung. Ja, sie hatte einfach das gewisse Etwas. Modebewusstsein, ein wunderschönes Gesicht, eine perfekte Figur und eine Ausstrahlung, der sich niemand entziehen konnte.

Als auch ich den Raum betreten wollte, hatte ich erneut das seltsame Gefühl, von jemandem beobachtet zu werden. Ich drehte mich um, und sah zur Treppe und dann zum Ende des Flurs. Niemand war dort, nicht einmal ein knutschendes Pärchen, das sich nicht voneinander trennen wollte.

»Haben wir etwas Interessantes entdeckt, Miss Kaiin?«

Ich schluckte. Diese bösartige und kalte Stimme würde ich immer und überall wiedererkennen. Ich drehte mich um und sah in das fahle, blasse Gesicht meines Algebralehrers. Er hatte kaum noch Haare, eine Hornbrille und war ziemlich klein, doch er war doppelt so bösartig, wie er groß war.

»Nein, Mr Jefferson, überhaupt nichts.«

»Dann frage ich mich, wieso Sie immer noch vor meinem Klassenzimmer herumlungern.«

Schnell wandte ich mich ab und schlüpfte ins Klassenzimmer, Mr Jefferson direkt hinter mir. Mathe war ja schon schlimm, aber Algebra war noch um einiges übler, und Mr Jefferson liebte es, uns zu quälen.

Es folgten also neunzig Minuten Qual, in denen ich versuchte, den vielen Zahlen und Gleichungen einen Sinn zu verleihen, was jedoch nicht einmal ansatzweise klappte. Meine Gedanken schweiften ständig ab zu meiner Bucht, dem Meer und dieser blonden Fremden auf den Klippen. Wer das wohl gewesen war? Und sofort war es wieder da: das Ziehen in meinem Bauch und das Gefühl, dass mich jemand beobachtete. Ich sah zur Tür und erstarrte. Eine schlanke, große Gestalt mit langen blonden Haaren wandte sich gerade zum Gehen und schloss ohne ein Geräusch die Tür.

Ich hatte am ganzen Körper Gänsehaut, denn ich hätte schwören können, dass dies dieselbe Person gewesen war, die heute Morgen auf den Klippen gestanden hatte.

»Tut mir leid, wenn ich Sie langweile, Miss Kaiin«, donnerte eine Stimme.

Ich zuckte zusammen und fuhr herum, um gleich darauf nochmals erschrocken zurückzuzucken. Mr Jeffersons bebende Nasenflügel schwebten direkt vor meinen Augen. Ich biss mir auf die Lippen, um das Zittern zu stoppen, und starrte in diese bösartigen, grauen, leblosen Augen.

»Sollte das alles nur Wiederholung für Sie sein …«, zischte Mr Jefferson, während er sich auf meinem Tisch abstützte, und zwar so, dass sein Gesicht nur noch Zentimeter von meinem entfernt war.

Er sollte sich dringend ein Pfefferminz besorgen, so wie der aus dem Mund stank. »Nein, Mr Jefferson, es tut mir leid, ich habe nur … Es kommt nicht wieder vor«, unterbrach ich ihn zaghaft. Schließlich konnte ich ihm ja nicht sagen, dass ich ein Phantommädchen an der Tür gesehen hatte.

Er richtete sich wieder auf. »… freue ich mich schon darauf, die Aufgaben dreizehn, vierzehn, fünfzehn und sechzehn von Ihnen zu benoten, die Sie und Ihre Mitschüler jetzt lösen werden. Legen Sie sie mir bis zum Ende der Stunde auf meinen Schreibtisch«, verlangte er kalt, bevor er sich abwandte. »Ach, und wehe, ich sehe auch nur einen Fehler!«

Jemand fing an zu kichern: Angelina Fogner. Erst jetzt bemerkte ich, dass mich alle anstarrten.

Corry Saltmint, die Oberzicke aus meinem Jahrgang und beste Freundin Angelinas, grinste mir hämisch ins Gesicht. »Echt schöne Haare, Leona, gab es die in der Fischbude gratis zum Essen dazu?«, säuselte sie mit ihrer engelsgleichen hellen Stimme.

Wieder kicherte Angelina.

Beide Mädchen waren groß, blond und vollbusig. Ihre Eltern waren stinkreich und hatten überall in der Stadt Einfluss, deswegen konnten Corry und Angelina auch tun und lassen, was immer sie wollten. Sogar bei Mr Jefferson. Und natürlich trugen die beiden Tussen auch immer die neuesten Designerklamotten und nie ein Outfit zweimal. Ich war mir sicher, das wäre ihre persönliche Hölle gewesen.

Verwirrt über die eigenartige Bemerkung, griff ich mir in die Haare und ertastete fast sofort etwas Glitschig-Nasses. Es war eine Alge, die sich in meinen Haaren verfangen hatte. Mit hochrotem Kopf zog ich die Wasserpflanze heraus, stand auf und warf sie in den Mülleimer, der nur wenige Reihen vor mir stand. Corry und Angelina kugelten sich vor Lachen, was mich noch mehr erröten ließ. Wie konnte ich das nur übersehen haben? Und wieso hatte sie Miranda nicht entdeckt?

»Haltet den Mund, ihr beiden! Außerdem hängt dir, Angelina, schon seit Stundenbeginn was zwischen den Zähnen. Sieht nicht gerade hübsch aus«, zischte meine beste Freundin den beiden Zimtzicken zu, während sie mir ihre Bürste reichte, damit ich mir meine Haare machen konnte.

Ich lächelte Miranda dankbar an. Sie zwinkerte zurück und vertiefte sich wieder in die Aufgaben, die Mr Jefferson uns gestellt hatte.

Unser Lehrer hatte offensichtlich beschlossen, das ganze Theater einfach zu ignorieren, und kritzelte lieber in irgendwelchen Papieren auf seinem Tisch herum.

Schnell zog ich die Bürste durch meine Haare und beobachtete, wie Angelina in ihrer Tasche nach einem Minispiegel kramte und Corry Miranda böse anstarrte. Als sie zu mir sah, legte ich die Bürste auf den Tisch und tat, als würde ich die Aufgaben studieren. In Wahrheit jedoch waren meine Gedanken wieder bei der merkwürdigen Gestalt. Wieso tauchte sie ständig in meiner Nähe auf, und warum schien sie niemand außer mir zu sehen? War sie ein Geist? Oder wurde ich wirklich verrückt?

 

Kurz vor Stundenende tippte Miranda mir auf die Schulter und reichte mir unauffällig ihre gelösten Aufgaben, damit ich sie abschreiben konnte.

»Vielen Dank, du bist die Beste«, flüsterte ich ihr zu.

Sie zuckte nur mit den Achseln und widmete sich schon den Hausaufgaben.

Miranda war einfach ein verdammtes Genie.

Die Aufgaben waren schnell abgeschrieben, und als es endlich zur Pause klingelte, konnte ich Mr Jefferson zu seinem Verdruss die komplett gelösten Aufgaben vorlegen.

Beim Rausgehen bedankte ich mich noch einmal bei meiner Freundin.

Sie winkte nur ab und lachte. »Nimm es als weiteres Geburtstagsgeschenk, aber das andere kommt noch, versprochen! Apropos: Deine Kette ist auch ein Geschenk, nicht? Sie ist wunderschön.«

Sofort legte ich meine Hand wie zum Schutz um den kleinen Edelstein. »Danke, ja, die habe ich heute Morgen bekommen. Leider stand kein Name auf dem Geschenk. Aber ich wette, dass mein Dad mir eine Freude machen wollte.« Breit grinsend folgte ich Miranda Richtung Schließfächer ins Erdgeschoss.

Da Pause war, tummelten sich auf den Gängen viele Schüler. Ein fast schon penetranter Schweißgeruch wehte durch die Flure, was bedeutete, dass das Footballteam mit dem Morgentraining fertig war.

Am Fuß der Treppe stoppte mich Miranda dann auch prompt. »Sieh mal, wer da kommt«, murmelte sie nervös und kicherte.

Ich brauchte nicht hinzusehen, um zu erraten, wer da gerade in den Nebengang einbog, um in die oberen Stockwerke zu gelangen. Mit seinen Footballfreunden im Schlepptau schritt Cole Thompson auf uns zu. Seine blonden Haare klebten noch an seiner Stirn. Er war bestimmt nach dem Training duschen gewesen, denn die feinen kleinen Wassertropfen flossen an der Seite seines Gesichtes zu seinem Kinn, nur um dann auf sein Trikot zu tropfen.

Verflixt, er kam direkt auf uns zu. Ich verzog mich an den Rand der Treppe und zerrte Miranda mit mir, um den Jungs Platz zu machen.

Der Junge, der rechts neben Cole lief, ich glaubte, er hieß Trevor, stupste seinen Freund an und deutete mit seinem Kinn in unsere Richtung.

Zu meiner Überraschung sah Cole mich an und … lächelte. »Hey, wie gehts?«

Ohne eine Antwort abzuwarten, stieg er mit seinen Freunden die Stufen hinauf. Man hörte sie noch weiter oben auf der Treppe herumblödeln, während ich wie versteinert dastand.

»Oh mein Gott, Leona! Cole Thompson hat dich gerade gegrüßt.« Miranda packte mich am Arm und riss mich aus meiner Erstarrung. Mir fiel auf, dass alle Mädchen im Flur stehen geblieben waren, nur um Cole und seiner Truppe hinterherzuschauen. Einige starrten nun auch mich an. Vermutlich fragten sie sich, wer ich war und was Cole Thompson bloß an mir fand.

»Na und?« Ich zuckte so lässig wie möglich die Achseln. »Soll er doch. Ich habe noch nie ein Wort mit ihm gewechselt und habe nicht vor, jetzt damit anzufangen. Lass uns endlich gehen, ich sterbe gleich vor Hunger.« Genervt zog ich sie Richtung Hauptflur. »Und übrigens, seit wann wirst du denn so hibbelig bei Coles Anblick?« Ich musterte sie skeptisch aus dem Augenwinkel, weshalb mir ihr Augenrollen nicht entging.

»Er ist halt süß, aber Jerry ist natürlich um einiges heißer.« Sie grinste breit.

»Bitte nenn ihn Mr Johnson und nicht Jerry, das ist irgendwie gruselig.«

Mr Johnson nahm es mit den Regeln nicht so genau, deshalb durften wir ihn auch tatsächlich Jerry nennen, was ich aber nicht tat. Es war mir unangenehm, einen so vertraulichen Umgang mit einem Lehrer zu pflegen, auch wenn Mr Johnson – zugegeben – der coolste aller Lehrer war.

Bei den Schließfächern angekommen, hatte sich der Trubel im Hauptgang etwas gelegt, sodass man sein Gegenüber wieder verstehen konnte. »Magst du noch schnell mit in die Cafeteria kommen? Ich wollte mir noch vor der nächsten Stunde was zu essen holen.«

Meine beste Freundin nickte.

Ich zog mein Englischbuch aus meinem Fach und legte dafür das Algebrabuch hinein. Außerdem versuchte ich verzweifelt, meine Sporttasche in das kleine Fach zu quetschen, während Miranda in der Mädchentoilette verschwand. Ich hatte keine Lust, die schwere Tasche noch länger mit mir herumzuschleppen, und nach längerem Hin und Her bekam ich endlich die Schließfachtür zu.

Mit einem Seufzer wandte ich mich der Toilette zu und erstarrte. Das Ziehen in meiner Magengegend war ganz plötzlich gekommen. Es zog mich automatisch zum Hofeingang, vor dem einige Schüler standen. Doch meine Augen fanden sofort das, wonach ich gesucht hatte. Das Mädchen mit den langen blonden Haaren stand lässig an die Seitenwand gelehnt da und beobachtete mich. Mit ihren engen blauen Jeans, dem weißen Fransenoberteil und den braunen Sandalen sah sie atemberaubend schön aus. Ungeniert starrte sie mich an, und ich starrte zurück, jedoch mehr schockiert als interessiert, während sie die Ruhe selbst war. Mit einer flüssigen Bewegung und einem eleganten Hüftschwung, der Miranda alle Ehre gemacht hätte, drehte sie sich um und verschwand durch die geöffnete Tür.

Ohne nachzudenken, nahm ich die Verfolgung auf. Im Gegensatz zu der blonden Schönheit besaß ich jedoch leider weder Anmut noch Grazie und stieß deswegen auch mit so gut wie jedem Schüler auf diesem verdammten Flur zusammen. Als ich dann endlich am Hofausgang ankam, war das Mädchen verschwunden. Nur ein Duft von Flieder und Orangenblüten lag in der Luft, der mir einen wohligen Schauer über den Rücken rieseln ließ, während das Ziehen in meiner Magengegend nachließ.

»Leona? Ich dachte, du wartest auf mich.« Miranda stand hinter mir, die Lippen zu einer Schmollschnute verzogen und die Hände in die Hüften gestemmt.

Ich blinzelte, um die Verwirrtheit abzuschütteln. »Ja … ich meine … nein, ich dachte … Ach, nicht so wichtig.«

Meine beste Freundin sah mich mit zusammengekniffenen Augen an. »Bist du okay? Ich meine, du bist ganz schön blass, und deine Hände zittern. Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

»Es ist alles gut, wirklich. Lass uns was zu essen holen, sonst verhungere ich noch.« Hastig wandte ich mich von der Tür ab und dem Gang zu, der zur Cafeteria führte. Im Gehen stopfte ich die Hände in die Taschen meiner Shorts, um das Zittern, das einfach nicht verschwinden wollte, vor Miranda zu verbergen. Verdammt, wer bist du nur, Blondie?

 

Wir stellten uns in die Schlange in der Schulkantine, in der nur drei weitere Schüler vor uns standen. Ich lächelte Miranda an. Das schien sie ein wenig zu beruhigen, denn die Sorgenfalten auf ihrer Stirn glätteten sich, und sie fing wieder an, von Mr Johnson zu schwärmen. Das gab mir die Gelegenheit, ein wenig abzuschalten. Allerdings wollte mir das fremde Mädchen einfach nicht aus dem Kopf gehen.

Als ich an der Reihe war, kaufte ich mir ein Sandwich mit Tomate und Schinken und eine Limo zum Runterspülen. Da wir noch etwas Zeit vor der Englischstunde hatten, machten wir uns auf den Weg zu unserem Lieblingsplatz, um den Spätsommertag ein wenig zu genießen. Die knorrige Eiche stand am Rand des Hofes und bot eine gute Sicht auf alles. Im Sommer spendete sie genug Schatten, und jetzt strahlte das bunte Laub in den schönsten Orange- und Rottönen. Sie war einfach perfekt.

An unserem Baum angekommen, begann ich mein Sandwich zu verspeisen, während Miranda einen kleinen Schokokuchen aus ihrer Tasche zauberte.

»Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, liebe Leona, happy birthday to you«, sang sie so lieb, dass mir vor Rührung die Tränen kamen. Ich schloss Miranda in die Arme. »Vielen, vielen Dank, du bist einfach die allerbeste Freundin auf der ganzen weiten Welt!«

»Irgendwas muss ich dir ja zum Geburtstag schenken, und da du bei deinen Büchern immer so wählerisch bist, dachte ich mir, ich back dir einen schönen Kuchen.«

»Du hast mich doch schon abschreiben lassen, das war Geschenk genug, aber trotzdem noch mal danke.«

Zufrieden grinsend machten wir uns gemeinsam über den Schokokuchen her. Er schmeckte köstlich und hatte innen sogar einen Kern aus flüssiger weißer Schokolade, die hellblau gefärbt war.

Da Miranda meine einzige wahre Freundin war, bedeutete mir ihr Geschenk viel mehr, als ich jemals hätte sagen können. Ich war immer allein gewesen, hatte weder Geschwister noch Freunde gehabt, bis ich Miranda getroffen hatte. Wir waren sofort beste Freundinnen geworden, und ich war so glücklich gewesen wie schon lange nicht mehr.

Nachdem wir den Kuchen komplett verputzt hatten, klebten meine Hände von der Schokolade. »Ich muss noch mal schnell für kleine Wasserratten. Geh ruhig schon vor.«

Wir schlenderten noch gemeinsam in die Schule hinein, dann trennten sich unsere Wege. Miranda bog in den Bibliotheksflur ein, und ich machte einen Abstecher zur Toilette. Die Waschräume in der Sunnyvale High waren nicht gerade ein Wohlfühlort. Es gab selten genug Toilettenpapier, nur einen intakten Spiegel und so gut wie nie Papierhandtücher. Die schmutziggrauen Fliesen an den Wänden, die früher einmal weiß gewesen sein mussten, sagten schon alles, was man über die Toilettenräume zu wissen brauchte.

Ich schloss gerade die Kabinentür, die Sprüche, Telefonnummern und anderes Gekritzel zierte, als die Tür zum Waschraum aufgestoßen wurde. Zwei gackernde Mädchen machten sich am Wasserhahn zu schaffen und unterhielten sich lautstark. Ich erkannte die Stimmen sofort.

»Hast du gehört, dass schon wieder ein Kind verschwunden ist?« Das war Angelina mit ihrer etwas tieferen Stimme.

Man konnte sie gut von Corrys glockenheller unterscheiden, die ihr antwortete: »Ja, wie war doch noch gleich ihr Name? Liv, oder?«

Ich wusste, wovon die beiden da sprachen. Die Polizei hatte alle Nachbarn, also auch uns, nach ihr befragt. Doch niemand hatte sie gesehen oder konnte sagen, wo sie sich aufhielt.

Das Wasser wurde abgedreht, und ich hörte ein Rascheln. Wahrscheinlich suchte eine von beiden in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.

»Genau. Liv Baker. Sie ist gerade mal neun. Wusstest du, dass sie direkt neben den Kaiins wohnt? Du weißt schon, neben Leona. Sie ist vorgestern nach der Schule nicht nach Hause gekommen. Ihre Mutter und ihre ältere Schwester sind immer noch außer sich. Nur ihren Stiefvater kümmert es nicht. Na ja, der ist ja auch ein Schwein«, schloss Angelina ihren Bericht, der sich am Ende etwas undeutlich anhörte.

Vermutlich zog sie sich die Lippen nach.

»Neben den Kaiins, sagst du?« Corry klang nachdenklich.

»Ja, wieso?«

»Findest du es nicht komisch? Das ist schon das dritte Kind, das verschwunden ist, und das in unmittelbarer Umgebung unserer Schule. Vielleicht haben ja die Kaiins etwas mit dem Verschwinden der Kinder zu tun. Du weißt ja, dass Leonas Mutter verrückt ist.« Corry schnurrte die letzten Worte förmlich.

»Ja, das stimmt schon, aber ob sie deswegen gleich Kinder entführt? Ich weiß nicht. Aber ich würde schon gern sehen, ob Leona auch mal so verrückt wie ihre Mutter wird.« Schon war die angespannte Stimmung der beiden verflogen, und es wurde wieder gekichert.

»Ja, oder? Hast du ihre Klamotten gesehen? Total von gestern!«

Ich konnte Corrys dämliches Grinsen förmlich sehen, als sie mit der Zunge schnalzte. »Sie hat einfach so gar keinen Sinn für Mode und ist, ob verrückt oder nicht, ein totaler Freak. Na ja, kein Wunder bei der Mutter.« Beide lachten und zogen noch mehr über mich her.

Bei jedem neuen Wort brandeten Scham, Angst und Verzweiflung über mich hinweg und sammelten sich in meiner Brust. Mit einem dumpfen Schmerz im Herzen starrte ich auf die Toilettentür mit den sinnlosen Sprüchen darauf, ohne sie wirklich wahrzunehmen. Ich fühlte nur noch unbändigen Zorn. Das werdet ihr mir büßen!

Noch bevor ich die Worte zu Ende gedacht hatte, geschah es. Ein Gurgeln und ein Zittern rumorten in den Wänden, als ob sich etwas aus den Rohren herauswinden wollte, und dann geschah alles gleichzeitig. Ich hörte die gellenden Schreie der beiden Mädchen, ein ohrenbetäubendes Krachen und Platschen und spürte, wie meine Füße nass wurden. Wasser schoss unter der Toilettentür hindurch, und ich stand bereits bis zu den Knöcheln drin. Draußen waren noch immer panisches Schreien und Kreischen zu hören, Schritte klatschten durch Wasser, und dann wurde eine Tür aufgerissen und zugeknallt.

Ganz langsam öffnete ich die Kabinentür und wagte einen Blick hinaus. Doch was ich sah, verschlug mir fast den Atem. Überall schwamm Wasser, zwei Waschbecken waren komplett zerschmettert, die Überreste des Porzellans lagen überall auf dem Boden verteilt. Rohre ragten aus der Wand, und der einzige Spiegel hing zersprungen über dem Waschbecken. Mein eigenes entsetztes Gesicht starrte mich aus einer der Scherben an. Was zur Hölle war hier passiert?

Da ich keinen Schimmer hatte, wie ich das Chaos erklären sollte, wenn mich jemand in dem völlig zerstörten Waschraum antraf, flüchtete ich schnellstens in Richtung meines Klassenzimmers, wo ich jetzt Englisch hatte.

Mit einer gemurmelten Entschuldigung für mein Zuspätkommen setzte ich mich auf meinen Platz vor Miranda und begann, mich so unauffällig wie möglich von meinen nassen Schuhen zu befreien.

Während die Lehrerin anfing, uns das Projekt zu erklären, das uns ab heute drei Wochen lang beschäftigen würde, ging ich die Szene im Waschraum immer und immer wieder durch, aber ich kam einfach nicht dahinter, was der Auslöser für diese eigenartige Wasserexplosion gewesen sein mochte.

 

Als Miranda und ich nach Englisch zum Biologielabor liefen, bekamen wir das Gerücht mit, dass das Mädchenklo im Erdgeschoss durch einen Rohrbruch verwüstet worden sei und deshalb für die nächsten Wochen wegen Renovierungsarbeiten gesperrt sein würde.

»Was machst du heute eigentlich noch? Es ist ja dein Geburtstag. Bitte sag mir, dass du ’ne Party geplant hast.« Sie sah mich erwartungsvoll an, was mich zum Schmunzeln brachte.

»Na ja, ich werde nach der Schule wahrscheinlich zu den Godweathers fahren und mit Kalypso ausreiten. Erst wenn es dunkel wird, fahre ich nach Hause. Du weißt ja, meine Mom …« Mehr brauchte ich nicht zu sagen. Miranda verstand sofort, was mir viel bedeutete.

Als wir das Biologielabor betraten, war Mr Johnson bereits anwesend. Er war groß, dunkelhaarig, durchtrainiert und eindeutig der beliebteste Lehrer. Noch bevor die Stunde offiziell begonnen hatte, klebten die Blicke beinahe aller Mädchen einschließlich Mirandas förmlich an ihm. Doch meine Gedanken wanderten sofort zurück zu der Explosion in den Toiletten und dem blonden Mädchen. Was für ein Horrortag!

Als es klingelte und der Biounterricht offiziell begann, wanderte mein Blick automatisch zu der riesigen Fensterfront. Ich versuchte, mich abzulenken, indem ich einen riesigen Raubvogel beobachtete, der majestätisch am blauen Himmel seine Kreise zog.

Würde ich auch irgendwann so frei sein können wie er?

Vor den Fenstern des Biologielabors lag der Parkplatz, und als der Vogel meinen Blicken entschwand, wandte ich meine Aufmerksamkeit dem wunderschönen Ausblick auf Autos und Asphalt zu. Ein weißer Porsche parkte gerade mitten in der Ausfahrt und ein groß gewachsener Typ mit Sonnenbrille stieg aus. Seine Brust- und Bauchmuskeln zeichneten sich mehr als deutlich unter dem engen schwarzen T-Shirt ab, über dem er, trotz des warmen Wetters, eine schwarze Lederjacke und sogar passende Handschuhe trug.

Als er sich die ebenfalls schwarzen Haare aus dem Gesicht strich, vergaß ich kurz zu atmen. Er sah echt heiß aus und konnte nicht viel älter sein als ich. Man hätte ihn für einen Goth halten können, so ganz in Schwarz gekleidet und mit dem Kreuz an der Silberkette, das auf seiner Brust glitzerte, als er sich lässig an den Wagen lehnte. Er drehte den Kopf Richtung Schule, und als ich seinem Blick folgte, sah ich ebenfalls, wer sich auf das Auto zubewegte: Es war das Mädchen mit den langen blonden Haaren, die mit wiegenden Hüften und zwei Taschen in der Hand auf den attraktiven Typen zuspazierte.

Der Junge machte irgendeine Bemerkung, die ich natürlich nicht hören konnte. Die unbekannte Schönheit antwortete, indem sie ihm eine der Taschen mit voller Wucht zuwarf. Er fing sie jedoch mit Leichtigkeit und einem verschmitzten Grinsen auf. Lässig öffnete er den Kofferraum und verstaute die Tasche. Das Mädchen reichte ihm auch die andere Tasche, und ihre Lippen bewegten sich die ganze Zeit über.

Ich hätte zu gern gewusst, was sie ihm erzählte.

Während sie weiterredete, glitt ihr Blick über das Schulgelände, blieb am Gebäude hängen, und ich hätte meine ganze, na ja, okay, meine halbe Büchersammlung darauf verwettet, dass sie mich direkt ansah.

Ich schnappte erschrocken nach Luft, denn eigentlich war das doch unmöglich. Woher sollte sie wissen, wo ich mich gerade aufhielt?

Doch da hatte sie sich auch schon wieder zu dem hübschen Typen umgedreht. Wieder sagte sie etwas, dann ging sie mit ihrem aufregenden Hüftschwung um den Porsche herum und nahm elegant auf dem Beifahrersitz Platz.

Zu meiner Verblüffung blickte jetzt auch der Goth zur Schule und … ebenfalls direkt zu mir. Ein wölfisches Grinsen umspielte seine Lippen, bevor er den Kofferraumdeckel zuklappte und ebenfalls ins Auto einstieg. Mit einem röhrenden Brummen erwachte das Auto zum Leben, wendete und steuerte auf den Ausgang zu. Noch bevor es um die Ecke bog, gab das Gefährt zwei kurze Huptöne von sich, die mich zusammenzucken ließen. Verdutzt starrte ich dem Porsche hinterher, ehe ich mich zwang, nach vorne zu Mr Johnson zu sehen. Niemand außer mir hatte die Szene auf dem Parkplatz anscheinend verfolgt. Alle Mädchen himmelten immer noch unseren Biolehrer an, als würde er gerade erklären, wie man sich am besten stylte. Die Jungen dagegen sahen gelangweilt aus oder waren mit etwas anderem beschäftigt.

Mir war alles andere als langweilig. Ich war aufgewühlt, und mir war übel. Erst jetzt wurde mir bewusst, dass die ganze Zeit dieses Ziehen in meinem Magen gewesen und erst verschwunden war, als der Porsche das Schulgelände verlassen hatte.

Ich brauchte eine Auszeit. Dringend!

Unauffällig schlüpfte ich in meine patschnassen Schuhe und hob die Hand, um Mr Johnson auf mich aufmerksam zu machen.

Unser Lehrer schien sich ernsthaft Sorgen um meine Gesundheit machen, als ich noch schlimmere Magenkrämpfe vortäuschte, als ich eigentlich schon hatte, und fast hatte ich deswegen Schuldgefühle, aber nur fast. Mit einem entschuldigenden Blick in Richtung meiner Freundin verließ ich den Klassenraum und macht mich zu meinem Schließfach auf. Nachdem ich meine Sporttasche mühevoll aus dem Schrank befreit hatte, wandte ich mich dem Haupteingang zu, um so schnell wie möglich zu verschwinden. Doch vor dem Eingang erlebte ich eine weitere Überraschung: Ein großer weißer Hund, nein, kein Hund, ein Wolf hockte da. Er blinzelte mich aus seinen hellvioletten Augen an.

Was für ein Tier hatte denn bitte violette Augen?

Wir waren gut zwanzig Meter voneinander entfernt, und dennoch kam mir die Distanz winzig vor. Der Wolf sah mich nur an und bewegte sich auch nicht, als ich einen Schritt zurück machte. Ich tat das nicht aus Angst, sondern um eine Reaktion von ihm zu provozieren. Es war verrückt, aber irgendetwas sagte mir, dass mir der schneeweiße Wolf nichts tun würde. Das Tier legte tatsächlich nur den Kopf schief und sah mich durchdringend an. Die Sekunden verstrichen, ohne dass sich einer von uns rührte. Nach einer gefühlten Ewigkeit drehte sich der Wolf um und verschwand durch die offene Flügeltür Richtung Parkplatz.

Langsam setzte auch ich mich in Bewegung, um ihm zu folgen. Vor der Tür ließ ich den Blick suchend über den Parkplatz schweifen. Da war er. Er saß am Parkplatzeingang und schien auf etwas zu warten. Als er mich sah, schnüffelte er kurz in die Luft und verschwand um die Ecke.

Was zur Hölle …? Erst jetzt wurde mir klar, wie irre auch das hier gewesen war. Ein Wolf, ein verdammter Wolf, in der Schule? Und niemand hatte ihn bemerkt? Nur ich? Ebenso wie das seltsame Geistermädchen? Und dann noch die Sache auf der Toilette. Ich war wütend gewesen, und dann war alles explodiert! Fuck, verdammt … Das konnte doch nicht sein! Schnappte ich etwa über? Verzweifelt schüttelte ich den Kopf. Genau, ich bildete mir das alles nur ein. Für die Explosion gab es eine ganz einfache Erklärung, es war nur ein gewöhnlicher Wasserrohrbruch, das hatten ja alle gesagt. Und das Mädchen und der Wolf waren nicht wirklich da gewesen.

Sie waren gar nicht da.Sie waren gar nicht da. Diese Worte betete ich mir immer und immer wieder vor, während ich das Schloss an meinem Fahrrad aufsperrte und meine Taschen im Korb verstaute. Schnell schwang ich mich auf den Sattel und fuhr los.

Während der Fahrt zu Kalypso wurde mein Kopf wieder klarer, und meine Gedanken beruhigten sich. Der Wind strich durch meine Haare, was sich anfühlte wie ein sanftes Streicheln.

Die Farm, auf der Kalypso ihr Zuhause hatte, war gut dreißig Minuten von der Schule entfernt. Der Innenhof war gepflastert, und in der Mitte ragte ein kleiner Springbrunnen aus weißem Stein in den Himmel. Auf der rechten und linken Seite waren die Stallgebäude angeordnet, die aus dicken Holzbalken und Ziegelsteinen bestanden, das Dach lief spitz zu. Zwischen ihnen stand das Farmhaus, das man in der gleichen Bauart errichtet hatte.

Die Besitzer der kleinen Farm waren Mr und Mrs Godweather, ein älteres Ehepaar, das die Ställe vermietete, um die Farm abbezahlen zu können. Ein riesiger Pluspunkt des Anwesens waren die großzügig angelegten Koppeln für die Pferde, auf denen sie Auslauf hatten und grasen konnten. Aber auch die Besitzer der Farm waren so liebevoll und großherzig, dass man sich hier einfach zu Hause fühlen musste. Mrs Godweather machte zudem den besten Apfelkuchen der Stadt.

Ich stellte mein Fahrrad am Hauseingang ab, nahm meine Taschen und wollte gerade zu dem Stallgebäude, als Mrs Godweather einen der grün bemalten Holzläden aufklappte und aus dem dahinterliegenden geöffneten Fenster sah.

»Ah, ich wusste doch, dass ich jemanden gehört habe. Hallo, Leona, du bist aber heute früh dran.« Ihr runzliges alterndes Omagesicht blickte mir freundlich entgegen, doch es konnte nicht von ihren wachsamen Augen ablenken. Helle, grün leuchtende Augen, in denen sich mehr als nur Altersweisheit spiegelte, standen irgendwie in einem seltsamen Kontrast zu ihren fluffig gelockten weißen Haaren, der Lesebrille und der geblümten Schürze.

»Hallo, Mrs Godweather, ja, wir hatten heute schon eher Schluss,« schwindelte ich. Sie musste ja nicht unbedingt wissen, dass ich schwänzte.

»Schön, schön. Ich wette, du willst zu Kalypso. Dann halte ich dich mal nicht auf. Aber vergiss nicht, dass der Stall noch ausgemistet werden muss.«

»Natürlich nicht, bis später.« Ich wollte mich schon abwenden, als mich ihre Stimme erneut aufhielt.

»Ach, Leona, Liebes, du hast doch heute Geburtstag, nicht? Dann gebe ich dir für den Ausritt noch etwas mit. Da haben du und Kalypso was zu kauen.« Lächelnd verschwand sie in der Küche, die hinter dem Fenster lag.

Ich trottete zum Haus und wartete. Als sie wieder in der Öffnung erschien, hatte sie einen kleinen Beutel in der Hand, aus dem es herrlich duftete.

»Da sind frisch gebackener Apfelkuchen, Apfelsaft und ein paar Äpfel für Kalypso drin. Damit sie nicht elendig verhungern muss.« Sie wollte den Fensterladen schon zumachen, als ihr noch etwas einfiel. »Ach, natürlich … herzlichen Glückwunsch, Leona.« Mit blitzenden Augen und einem breiten Lächeln schloss sie den Fensterladen entdgültig, ehe ich mich bedanken konnte.

Neugierig inspizierte ich den Beutel. Oh ja, das sah echt gut aus.

Mit dem Proviant in der einen und den Taschen in der anderen Hand schlenderte ich auf den linken Stall zu. Das Gebäude war groß und bot neben den zwanzig Pferdeboxen auch noch genug Platz für zwei Pflegestationen, Spinde, zwei Umkleidekabinen und Toiletten. Trotz der Größe war die Stallgasse immer sauber und ordentlich, was vielleicht auch an den süßen Stalljungen lag, die die Godweathers beschäftigten. Sie fütterten die Pferde und kümmerten sich auch um das Ausmisten der meisten Boxen. Ich war eine der wenigen, die das selbst übernahmen. Allerdings hatte das Zeit, erst wollte ich ausreiten.

Ich ging zu meinem Spind mit der Nummer 17, direkt neben den Sätteln. Der Spind war so geräumig, dass sowohl meine Sporttasche als auch meine Schultasche bequem Platz fanden. Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es gerade einmal halb drei war und ich somit genug Zeit für einen ausgedehnten Ritt hatte. Ich schnappte mir meine Sachen und zog mich in die Umkleide zurück, in der jemand das Radio hatte laufen lassen. Mit geübten Handgriffen schlüpfte ich in meine Reitkleidung, während der Nachrichtensprecher über einen verheerenden Tsunami in Asien berichtete.

Keine fünf Minuten später stand ich in schwarzen Reitstiefeln, brauner Hose und blau-schwarzer Reitjacke vor dem leicht erblindeten Spiegel, der in der Ecke des Raums hing. In diesen Sachen fühlte ich mich einfach wohl, sie passten wie angegossen. Zufrieden wandte ich mich ab, verließ die Umkleide und ging den Gang entlang, bis ich zur letzten Box auf der rechten Seite kam.

Kalypso war eine Schimmelstute mit ungewöhnlichen Augen. Sie waren so tiefblau, dass ich geschworen hätte, sie sei direkt vom Grund des Ozeans gekommen. Aber nicht nur ihre Augen waren außergewöhnlich, auch ihr Fell. Meine Stute war so schneeweiß, dass ich sie nach einer Pause bei einem Ausritt im Winter einmal fast nicht wiedergefunden hatte. Der einzige Farbtupfer war ein tiefschwarzer, karoförmiger Stern auf ihrer Stirn. Wie die Krone einer Prinzessin, hatte Miranda einmal festgestellt.

Kalypso hatte mich offenbar gehört, denn sie wartete bereits an der Boxentür. Langsam streckte ich ihr meine Finger entgegen und strich ihr sacht über die hellen, weichen Nüstern. »Hallo, meine Schöne, ich hatte heute einen ziemlich verrückten Tag. Hast du Lust, mit mir auszureiten?«, flüsterte ich ihr zu.

Wir hatten eine besondere Beziehung zueinander. Sie verstand mich und hörte mir zu, und meine Probleme waren weniger schlimm, wenn ich sie ihr anvertraute. Auch jetzt zuckten ihre Ohren, während sie mir aufmerksam zu lauschen schien und mich mit ihren klugen, schönen Augen beobachtete. Schließlich senkte sie den Kopf, um mich leicht anzustupsen.

Ich führte sie aus ihrer Box. In der Stallgasse waren inzwischen andere Reiter, die ihre Pferde fertig machten, und so wählte ich einen noch freien Putzplatz im Innenhof. Kein Wunder, dass hier meist viel Betrieb herrschte, denn die Boxenmiete war erschwinglich, und es gab sonst nur eine weitere Farm in der näheren Umgebung, bei der man jedoch keine Pferde einstellen konnte.

Ich hatte Glück gehabt, als meine Eltern mich hergebracht hatten, damit ich mir zu meinem zwölften Geburtstag ein Pferd aussuchen durfte. Damals hatten die Godweathers noch eine Pferdezucht betrieben. Ohne lange zu überlegen, hatte ich Kalypso gewählt. Ich hatte sofort gespürt, dass sie die Richtige war, obwohl ich mich anfangs auch ein wenig vor diesem riesigen Tier gefürchtet hatte, besonders bei unserem ersten Ausritt. Meine Eltern hatten den Godweathers Kalypso abgekauft und gleichzeitig die Box gemietet, damit sie hierbleiben konnte. Seitdem kam ich mindestens fünfmal die Woche her, um mich um sie zu kümmern.

Nachdem Kalypso gestriegelt und herausgeputzt war, sattelte ich sie und verstaute unser Essen in den Satteltaschen. Ich führte sie an den Rand des Innenhofs, setzte meinen Fuß in den Steigbügel und schwang mich auf ihren Rücken. Mit einem leichten Druck meiner Schenkel gab ich ihr zu verstehen, dass es losgehen konnte. Gemächlich schritt meine Stute Richtung Ausgang. Bei einem kurzen Blick über die Schulter bemerkte ich, dass Mr Godweather mich aus einem Fenster heraus beobachtete. Sein Blick wirkte heute irgendwie anders als sonst, starr und unheimlich.

Ich zuckte die Schulter. Es passte irgendwie zu diesem eigenartigen Tag.

Mit gewohnter Präzision übte ich wieder sanften Druck auf Kalypsos Flanken aus, und wir verfielen in einen leichten Trab. Unsere übliche Strecke verlief durch den Wald, der knapp eine halbe Meile hinter der Farm begann, bis wir den Fluss erreichten. Dem folgten wir ein gutes Stück bis zu einem großen Feld, und zum Schluss ging es an einem einsamen Strand entlang.

Als wir im Wald ankamen, nahm ich aus reiner Gewohnheit sachte die Zügel an. Mein Schimmel verstand sofort, was ich wollte, und verfiel in Schritt.

Ich liebte diesen Wald. Die Bäume standen so dicht, dass kaum Sonne durch die Wipfel drang und der Waldboden von dem Moos und dem Laub ganz weich war. Die Bäume sahen aus, als wären sie schon über hundert Jahre alt, wirkten irgendwie erhaben. Dicke Baumstämme reihten sich aneinander, als ob sie sich gegenseitig beschützen wollten, und nicht selten lief mir auch ein Eichhörnchen über den Weg. Wenn der Wind durch die Äste rauschte und das Laub zu rascheln begann, hätte ich schwören können, Mädchengeflüster zu hören. Lachende, helle Stimmen, die sich gegenseitig neckten und kicherten. Ja, dieser Wald hatte etwas Magisches, etwas Schönes an sich.