Blut ist dicker als Glühwein -  - E-Book

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Beschreibung

Das beste Geschenk für die bucklige Verwandtschaft? Geschichten über die bucklige Verwandtschaft! Denn mit schwarzem Humor kommt man besser durch die Feiertage. Die Familie wird immer anspruchsvoller: Oma lehnt den fair gehandelten Seitanbraten ab. Die papierdünne Cousine akzeptiert die Mousse au Chocolat nur zuckerfrei. Und der Schwager schmeckt tatsächlich das Frostschutzmittel aus dem Glühwein. Währenddessen übertrifft der Onkel mit seinen Gaben den Schrecklichkeitsrekord vom Vorjahr. Schwiegermutter mäkelt über das Preisschild vom Ein-Euro-Shop. Und Opa kippt diesmal schon beim zweiten Glas geschmeidig ins Buffet. Immerhin: Der Hund freut sich am Baum. Da hilft nur Glühwein – mit Schuss …

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Seitenzahl: 285

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Dietmar Bittrich (Hg.)

Blut ist dicker als Glühwein

Schon wieder Weihnachten mit der buckligen Verwandtschaft

Ihr Verlagsname

Über dieses Buch

Das beste Geschenk für die bucklige Verwandtschaft? Geschichten über die bucklige Verwandtschaft! Denn mit schwarzem Humor kommt man besser durch die Feiertage.

 

Die Familie wird immer anspruchsvoller: Oma lehnt den fair gehandelten Seitanbraten ab. Die papierdünne Cousine akzeptiert die Mousse au Chocolat nur zuckerfrei. Und der Schwager schmeckt tatsächlich das Frostschutzmittel aus dem Glühwein. Währenddessen übertrifft der Onkel mit seinen Gaben den Schrecklichkeitsrekord vom Vorjahr. Schwiegermutter mäkelt über das Preisschild vom Ein-Euro-Shop. Und Opa kippt diesmal schon beim zweiten Glas geschmeidig ins Buffet. Immerhin: Der Hund freut sich am Baum. Da hilft nur Glühwein – mit Schuss …

Über Dietmar Bittrich

Dietmar Bittrich, Jahrgang 1958, lebt in Hamburg. Er gewann den Hamburger Satirikerpreis und den Preis des Hamburger Senats. Für Rowohlt gibt er seit 2012 die Weihnachtsanthologie mit Geschichten rund um die bucklige Verwandtschaft heraus.

Inhaltsübersicht

Helene Bockhorst · Wir üben nochTobias Haberl · Der Weg nach HauseLiefka Würdemann · Die Zufriedenheit aller BeteiligtenAndré Herrmann · FirewarMarlene Hellene · Wie lange noch?Christopher Quadt · Für immer Rückbank rechtsLena Hach · Die WeihnachtstherapeutinPaul Bokowski · Bokowskis und der stille GastSandra Girod · Die UmschulungMatthias Gretzschel · Im Licht des SchwibbogensJulia Hackober · Dreizehn Sätze, die ich nicht mehr hören willStefan Stutz · NachfüllpackJohanna Wack · Patchwork mit veganen AllergikernMichael Schweer-de Bailly · RakfiskGeorg Weisfeld · Das KrimidinnerSören Sieg · KryptofestBernhard Lassahn · Im Piraten-ParadiesEmily Philippi · Das Fest bleibt weiblichSven Lepthin · GløgglichDietmar Bittrich · Ein göttlicher CoupDie Autoren

Helene Bockhorst

Wir üben noch

Als mein Mann, der damals noch nicht mein Mann, sondern eine anspruchsvolle Bekanntschaft unklarer Dauer war, mir anbot, Weihnachten zu nutzen, um mich seinen Eltern vorzustellen, war es mein erster Abstecher in die Rituale anderer Menschen. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich meine Kenntnisse über Weihnachten aus dem Film Hilfe, es weihnachtet bezogen – und aus meinen eigenen familiären Erfahrungen. Ich wusste: Am Ende brennt irgendetwas, und alle hassen sich, aber irgendwie ist man auch erleichtert, dass man es geschafft hat.

Wie ich Theos Schilderungen entnehmen konnte, lief es bei meinen Schwiegereltern ähnlich ab, mit dem Unterschied, dass man zwischendurch noch in die Kirche gehen musste.

Ich kaufte mir also ordentliche Anziehsachen und das Buch Katholisch für Dummies. Auf der Fahrt las ich die heißesten Insider-Infos über den Katholizismus und den Wikipedia-Eintrag über das Kaff, in dem meine Schwiegereltern leben.

Wie so häufig bin ich auch für diese Situation komplett überqualifiziert. Die ersten Stunden verbringt meine neue Familie damit, meine technischen Daten wie Alter, Ausbildung, beruflicher Werdegang, Vorhandensein eines Kinderwunschs und Hüftumfang abzufragen. Niemand stellt mir eine Frage zu meinen religiösen Überzeugungen, und ich bin kurz davor, mich zu ärgern, dass ich mich durch Katholisch für Dummies gequält habe, als die Familie beschließt, dass es Zeit wird, den Gottesdienst zu besuchen.

«Ziehst du dir bitte noch was Ordentliches an, Theodor!», mahnt meine Schwiegermutter. Theo sieht eigentlich okay aus, also wie immer, nicht besonders ordentlich, aber das ist halt sein Style.

«Kannst du bitte dafür sorgen, dass er sich mal ein paar flotte Hemden kauft?», wendet sie sich an mich. Nun, da eine Frau ins Leben ihres Sohnes getreten ist, scheint sie zu hoffen, die Sorge um sein äußeres Erscheinungsbild endlich abgeben zu können.

«Er ist erwachsen, er kann anziehen, was er will», sage ich. Diese Mitteilung überfordert sie merklich.

Auf der Autofahrt lassen sich meine Schwiegereltern ausführlich über all die kaputten, gottlosen Menschen aus, die nur an Weihnachten in die Kirche gehen – «aber dann aufgetakelt wie ein Zirkuspony!»

Ich mache mich ganz klein und hoffe, dass ich nicht dumm auffalle. Mein letzter Kirchenbesuch ist etwa dreizehn Jahre her und spielte sich in einer evangelischen Kirche ab. Katholische Kirchen kenne ich nur aus dem Fernsehen. Neben mir hört Theo mit Kopfhörern «God hates us all» von Slayer.

Ich versuche, unvoreingenommen an die Sache heranzugehen und die ganzen Kreuzzüge und Missbrauchsfälle auszublenden. Stattdessen stelle ich mir vor, ich wäre eine Forscherin und würde einen fremden Indianerstamm besuchen. Wenn meine Schwiegereltern vom Stamme der Weihrauchwedelindianer wären, würde ich ja auch versuchen, wertschätzend mit ihrer Religion umzugehen.

Es gelingt mir nur so halb. Übelriechendes Kraut wird abgefackelt. Ein Mann in einem Kleid singt mit hoher Stimme seltsame Dinge, und die Gemeinde antwortet, die verstrahlten Blicke auf den Altar gerichtet, absolut synchron «Uuund mit deinem Geiiiiisteeee!» oder «In Ewigkeit Aaaaaamen!» oder «A-ha-ha-ha-men!».

Was geht mit diesen Leuten ab? Ich fühle mich schon bevormundet, wenn bei einem Konzert gerufen wird: «Put your hands up in the air!» Nein, denke ich dann, danke für den Vorschlag, aber ich entscheide immer noch selbst, wann ich meine Hände wohin packe! Ich dachte eigentlich, wir lebten in einem individualistischen Zeitalter, aber hier stehen fünfzig Menschen und sagen auf die Millisekunde genau gleichzeitig «A-ha-ha-ha-men!».

Im Buch Katholisch für Dummies hatte es sich angehört, als wäre der Gottesdienst ein heiter-geselliges Get-together, und in den Spielfilmen wird ja immer abgeblendet, sobald der Priester sich mit dem Messdiener in die Sakristei zurückgezogen hat.

Natürlich verpasse ich prompt meinen Einsatz, falle nicht rechtzeitig auf die Knie und ernte tadelnde Blicke von den versammelten Profichristen.

Da ich nicht in der Lage bin zu erkennen, wann man «In Ewigkeit Aaaaamen!» und wann «A-ha-ha-ha-men!» sagen muss, bewege ich nur die Lippen. Die Hände lasse ich vorsichtshalber die ganze Zeit über gefaltet, denn mir ist unklar, welche Teile der Performance sich direkt an Gott richten und was Eigenwerbung der Veranstalter ist.

Die Menschen knien in den harten Bänken und singen etwas darüber, dass sie schlimme Sünder sind und es nicht verdient haben, aber Jesus sie trotzdem rettet, weil er so nett ist. Wow, endlich mal eine Aussage, mit der ich was anfangen kann. Hier wird einem vermittelt: Eigentlich bist du wertlos, aber ich gebe dir trotzdem was zu essen. Lass es dir schmecken, aber vergiss nicht, Schuldgefühle dabei zu haben! Das kenne ich von zu Hause; ich hatte achtzehn Jahre Zeit, mich daran zu gewöhnen, und kann deswegen einigermaßen damit umgehen.

Auf der Autofahrt zurück beschreiben meine Schwiegereltern sich gegenseitig, was aus ihrer Sicht die besten Stellen der Predigt waren. Gottesdienst Director’s Cut. «Helene kriegt gar nichts mit, die ist noch ganz versunken in der Zwiesprache mit Gott!», sagt meine Schwiegermutter beifällig und betrachtet mich im Rückspiegel. Ich schaue an mir hinunter und sehe, dass meine Hände immer noch gefaltet sind.

Tatsächlich kann ich dem Erlebnis eine gewisse wohltuende Wirkung nicht absprechen. Man kann über die Qualität der Show sagen, was man will – in den letzten 90 Minuten gab es wenigstens keine unangenehmen Fragen. Dieser Punkt wird viel zu selten erwähnt, wenn es um die Verdienste der Kirche geht: Der Gottesdienstbesuch verhindert zumindest temporär die familiäre Kommunikation, und das ist etwas Gutes.

Anschließend ist Bescherung angesagt. Die klassischen Rituale des Schenkens und Beschenktwerdens habe ich schon immer mit Skepsis beobachtet. In der Grundschule wurden wir Kinder angehalten, in der Adventszeit zu zeigen, was wir einander bedeuten. Jeder bekam den Namen eines anderen zugelost und sollte für dieses Kind ein Geschenk mitbringen. Ich verschenkte ein süßes Radiergummi in Form einer Kegelrobbe, außerdem Süßigkeiten und einen Stift mit Stifthalter. Beschenkt wurde ich mit einem angebissenen Lebkuchen, den jemand in eine herausgerissene Seite aus einem Rechenheft gewickelt hatte. Wer dafür verantwortlich war, ließ sich nie klären; es wären 23 andere Kinder in Frage gekommen. Nun könnte man vermuten, dass ich diese Transaktion durch das krasse Missverhältnis von Invest und Outcome rückblickend negativ beurteile, doch das Gegenteil ist der Fall. Heute weiß ich, dass ich durch das Wichteln in der vierten Klasse auch einiges gewonnen habe, nämlich die Erkenntnis, dass man sich unglaublich wenig Mühe geben und trotzdem damit durchkommen kann, solange es genug andere Verdächtige gibt.

Um so eine Verantwortungsdiffusion zu fördern, schenke ich grundsätzlich zusammen mit meinem Mann. Es könnte ja seine dumme Idee gewesen sein, denke ich dann immer, und dieser Gedanke gibt mir Sicherheit.

Meine Schwiegermutter beschenken wir mit einer kessen Strickjacke. «Toll, die ziehe ich sofort an!», sagt sie und zieht sie nicht an. In den folgenden sechs Jahren werde ich sie kein einziges Mal in dieser Strickjacke sehen.

Schwiegervater liegt inzwischen mit Bauchschmerzen im Bett und kann deswegen unser geschmackvolles Präsent nicht in Empfang nehmen, einen zwanzigteiligen Fresskorb mit regionalen Wurstspezialitäten.

Ich bekomme ein Kochbuch, in dem Rezepte für unterschiedliche Zubereitungsarten von Eiern aufgeführt sind. Jedem Rezept ist eine Doppelseite gewidmet.

Weiche Eier. Zutaten für vier Personen: Vier Eier. Kochendes Wasser. Salz nach Geschmack.

Hartgekochte Eier. Zutaten für vier Personen: Vier Eier. Kochendes Wasser. Salz nach Geschmack.

Eier im Glas. Zutaten für vier Personen: Vier Eier. Kochendes Wasser. Salz nach Geschmack. Vier Gläser.

«Ich kann es gar nicht erwarten, das auszuprobieren!», freue ich mich. In den folgenden Jahren versuchen wir bei jedem Flohmarkt, das Ei-Kochbuch loszuwerden.

 

Ein Jahr später. «Wie siehst du denn schon wieder aus?!», fragt meine Schwiegermutter meinen Mann noch auf der Auffahrt. «Ich hab dir doch extra Geld gegeben, damit du dir was Vernünftiges kaufst!»

«Fahren wir bald in die Kirche?», frage ich. Es ist eine Wohltat. Aufstehen, hinknien, «Ahahahamen» sagen – dieses Mal kann ich beim Workout viel besser mithalten, und ich genieße die Ruhe, die sich in mir ausbreitet.

Die Bescherung fällt in diesem Jahr kürzer aus, weil nicht alle Geschenke rechtzeitig geliefert worden sind. Okay, weil wir uns nicht rechtzeitig darum gekümmert haben. Für meinen Schwiegervater haben wir eine CD bestellt. Obwohl wir seit mehr als 24 Stunden wissen, dass sie nicht rechtzeitig zur Übergabe da sein wird, erzürnt dieser Umstand meinen Mann nun im Nachhinein so sehr, dass er seinen Laptop hervorholt und noch unterm Weihnachtsbaum eine Beschwerdemail an den Versandhändler schreibt. Vielleicht sucht er auch nur einen Vorwand, um sich nicht am Gespräch zu beteiligen.

«Wollt ihr mir eines versprechen?», fragt mein Schwiegervater schwer atmend. «Wollt ihr mir nächstes Jahr ein Enkelkind schenken?»

Ich möchte ihm nichts in der Richtung versprechen und mein Mann auch eher nicht. Eine unangenehme Pause entsteht, in der jeder diesen Umstand zur Kenntnis nimmt.

Ich bekomme eine kaputte Leselampe überreicht und trage es mit Fassung. Es ist schließlich nicht das erste Mal, dass ich etwas von meinen Schwiegereltern bekomme, das nicht funktioniert.

 

Noch ein Jahr später. «Du bist ja immer noch nicht schwanger!», begrüßt mich meine Schwiegermutter.

«Dir auch frohe Weihnachten», sage ich freundlich.

«Na, das sagt man aber erst ab morgen!»

Ganz vergessen: In dieser Familie gibt es Regeln. Es gibt einen bestimmten Zeitpunkt, an dem das Jesuskind in die Krippe gelegt wird; es gibt einen bestimmten Zeitpunkt, an dem man sich frohe Weihnachten wünscht, und ja, es gibt auch einen bestimmten Zeitpunkt, an dem es ratsam wäre, einen Erben in die Welt zu setzen, jedenfalls, wenn man sich nicht Vorwürfe anhören will über die pflichtvergessene Art, sein Leben zu verbringen.

Mein frommer Wunsch, in die Kirche zu gehen, wird nicht erhört. Den Schwiegereltern ist es inzwischen zu anstrengend. Wir sitzen herum, essen Kekse und versuchen, unsere Kinderlosigkeit zu rechtfertigen.

«In der Stadt hat jetzt eine Kinderwunschpraxis aufgemacht, vielleicht solltet ihr da mal hin», schlägt meine Schwiegermutter vor. «Wie lange versucht ihr es denn jetzt schon?» Ich habe schon mehrfach erklärt, dass wir gar nichts versuchen. Sie glaubt trotzdem, dass wir heimlich «üben», wie sie es nennt.

Theo und ich behaupten, dass wir uns alleine die Messe ansehen wollen, und fahren mit dem Auto der Eltern in die Dorfdisko. Der Laden ist brechend voll mit Weihnachtsgefrusteten. Mein Mann setzt sich an die Bar und genehmigt sich ein Bier nach dem anderen. Hinterher werde ich ihn im Auto meiner Schwiegereltern zurückfahren, und ich werde dabei einen Busch und eine Mülltonne touchieren, aber das wissen wir jetzt noch nicht. In diesem Moment wissen wir nur, dass wir gerade zu zweit etwas erleben, was einem perfekten Weihnachten sehr nahe kommt.

Wir beobachten die Söhne und Schwiegersöhne, Töchter und Schwiegertöchter, die die obersten Knöpfe ihrer flotten Hemden und Blusen geöffnet haben und versuchen, die elterlichen Ermahnungen der letzten Stunden und den Weihnachtsbraten wegzutanzen. Eine einsame Lavalampe taucht die Gesichter in weiches Licht. Ich glaube, ich kann ihn in diesem Moment spüren, den verbindenden Geist der Weihnacht.

 

Wenn ich das alles so Revue passieren lasse, denke ich: Es muss doch irgendwie anders gehen. Glücklicherweise habe ich häufig ausgezeichnete Geschäftsideen, vor allem im Vergleich mit anderen. Neulich habe ich im Fernsehen eine Sendung gesehen, in der Menschen ihre Geschäftsideen vorstellen. Da war eine Frau, deren Geschäftsidee war Brotaufstrich. Ich will keine Spaßbremse sein, aber ich glaube, Brotaufstrich gibt es schon. Mein Ziel ist es, Sachen zu erfinden, die es noch nicht gibt und bei denen sich jeder fragt: Warum gibt es das noch nicht?

Wenn es einen Zeitraum gibt, der ideal ist, um kurzlebige Produkte auf den Markt zu werfen, dann ist es die Weihnachtszeit – siehe Jesus. Jesus hat nicht besonders lange gehalten, aber seiner Popularität hat das keinen Abbruch getan.

Weihnachten ist das Fest des Konsums. Mein Problem ist allerdings, dass die meisten Dinge, die ich an Weihnachten gerne konsumieren würde, in Deutschland illegal sind. Und Alkohol ist in vielen Familien zwar das ganze Jahr über ein probates Mittel, um über die Runden zu kommen und niemanden versehentlich die Treppe hinunterzustoßen. Ausgerechnet in den besinnlichen Stunden am Heiligen Abend wird ein übermäßiger Konsum jedoch kritisch beäugt. Meine erste weihnachtliche Geschäftsidee waren daher mit Whiskey gefüllte Christbaumkugeln, die es Weihnachtsverdrossenen erlauben, ab und zu hinterm Baum einen kräftigen Schluck zu nehmen. Dann sah ich im Internet, dass es so etwas längst gibt.

Meine zweite Geschäftsidee geht einen Schritt weiter: Robo-Sohn, Robo-Schwiegertochter und Robo-Enkel ermöglichen es, die Interessen aller Familienmitglieder zu wahren und Konflikte zu vermeiden. Während sich die jüngere Generation einen entspannten Abend macht, absolvieren Roboter die Pflichtbesuche bei den betagten Verwandten. Robo-Enkel verfügt über 73 verschiedene höfliche Gesichtsausdrücke, bedankt sich artig für Geschenke, wechselt automatisch das Thema, sobald die Worte Abendland oder Autobahnen fallen, und beherrscht Antworten auf mehrere tausend Fragen. Er reagiert auf Reizworte, die in einem bestimmten Kontext auftreten.

Verwendet ein Eltern- oder Großelternteil beispielsweise das Wort geschafft, geht Robo-Enkel davon aus, dass es sich um eine erreichte Leistung handelt, und gratuliert freundlich.

«Hast du schon gehört, Großtante Gitti ist gestorben, na, sie hat sehr gelitten, aber jetzt hat sie es geschafft!»

Robo-Enkel: «Bwwwww, bwwwww, ich freue mich riesig, das zu hören!»

Interessant wird es, wenn sich irgendwann herausstellt, dass Oma und Opa auch längst keinen Bock mehr auf den ganzen Stress hatten und sich eine Kreuzfahrt gegönnt haben, während an ihrer Stelle Robo-Grannies die Besucher empfangen.

«Bwwww bwwww wir hatten ja nichts. Bwwww bwwww wie siehst du denn schon wieder aus? Bwwwww bwwwww hier hast du fünf Euro für ein paar flotte Hemden, aber nicht alles auf einmal ausgeben. Bwwww bwwwww!»

Und wer sich trotz dieser Ideen nicht in der Lage sieht, das Weihnachtsfest zu überstehen, könnte künftig einfach auf die Dienste einer Alibi-Agentur zurückgreifen. Es gibt ja bereits sogenannte Seitensprung-Agenturen, bei denen verheiratete Menschen sich mit Hilfe von fingierten Dienstreisen, imaginären Zahnarztterminen und langwierigen Krankenhausaufenthalten ein Alibi verschaffen können, um Zeit mit einer destruktiven Person ihrer Wahl zu verbringen. Ich wünsche mir eine Alibi-Agentur, die die Verwandten anruft: «Wir bedauern sehr, Ihnen mitteilen zu müssen, dass Ihr Sohn Schrägstrich Ihre Tochter Schrägstrich Ihre Schwiegertochter bei einem Flugzeugabsturz Schrägstrich Naturkatastrophe Schrägstrich Sexunfall mit einem Opossum ums Leben gekommen ist Schrägstrich sind.»

Ich würde derweil mit meinem Mann in irgendeiner schäbigen Dorfdisko ein Getränk einnehmen und alle wären glücklich. Ich denke, die Idee hat Potenzial.

Tobias Haberl

Der Weg nach Hause

Der Bayerische Wald ist herrlich und schrecklich. Herrlich, weil seine Wälder von glasklaren Bächen durchzogen sind, der Schweinebraten 7,50 Euro kostet und man den ganzen Tag auf Wiesen rumliegen und den Wolken zuschauen kann. Schrecklich, weil man das Gefühl hat, dass die Erde vielleicht doch eine Scheibe sein könnte und der Bayerische Wald das letzte Fleckchen vor dem Abgrund ins Nichts, weil die Menschen so viel schweigen und so wenig reden – manche sagen ihr ganzes Leben lang nur «Aha» und «So, so» – und man wenig anderes machen kann, als auf Wiesen rumzuliegen und den Wolken zuzuschauen.

Ich wurde vor etwas mehr als vierzig Jahren im Bayerischen Wald geboren, mit dem Hintern voran und drei Tage zu früh, sonst verlief alles reibungslos. Und obwohl ich seitdem in sieben verschiedenen Städten und zwei Jahre auf einer Insel gelebt habe, bin ich für Weihnachten jedes Jahr nach Hause zurückgekehrt; mal mit dem blauen Golf, dann wieder mit dem ICE oder der Lufthansa, oft hat es Stunden gedauert, meistens war irgendwas überfüllt, die A9, die Bordtoilette oder das Nichtraucherabteil, aber ich nahm alles in Kauf. Weihnachten in Berlin oder mit Freunden am Strand, das konnte ich mir nicht vorstellen. Meine Eltern, mein Kinderzimmer mit der Dschungelbuchtapete, Mamas Bratwürste mit Sauerkraut, unser Sofa mit Heizdecke, die alte Kirche mit dem Zwiebeltürmchen, die rot glänzenden Kugeln am Baum, die noch nie ausgetauscht wurden und mir gerade deshalb das Gefühl geben, dass es doch ein paar Dinge gibt, die sich nicht ändern und trotzdem schön und gut und richtig bleiben. Es war auch immer alles schön und gut und richtig, nur letztes Jahr kam mir die Kupplung dazwischen.

Natürlich lag es daran, dass ich mich auf die letzte Minute eingelassen hatte.

«Ich versteh dich nicht», sagt meine Mutter oft, «immer machst du alles auf den letzten Drücker. Was, wenn mal was dazwischenkommt?»

«Was soll denn dazwischenkommen?», frage ich dann immer zurück, genervt von ihren ständigen Bedenken und der Angewohnheit, lieber gar keine Pläne zu machen, weil doch irgendwas dazwischenkommen könnte.

«Ich bin 71», sagt sie dann, «ich habe tausend Dinge erlebt, die du dir nicht vorstellen kannst. Wirst schon sehen, irgendwann wirst du an mich denken.» Letztes Jahr Heiligabend kurz nach 18 Uhr dachte ich heftig an sie, aber der Reihe nach.

Ich lebe seit ein paar Jahren in München. So nah hatte ich seit 20 Jahren nicht an dem Ort meiner Kindheit gelebt. Und wenn man nur zwei Stunden nach Hause braucht, kann man sich den Heiligen Abend ja noch vollstopfen, bevor man Richtung Heimat aufbricht, um sich für ein paar Tage der Gewissheit hinzugeben, dass man wieder mal keinen Tag älter geworden ist. Ich machte also lauter Dinge, die Menschen, die in der Stadt leben, so machen: Ich schlief bis zehn, bestellte in einem Café ein «Norwegisches Frühstück» für 17,40 Euro, ließ mir von einer Thailänderin den Nacken massieren, schrieb eine Abwesenheitsnotiz für die nächsten zwei Wochen, lud mir vorsichtshalber ein paar Filme bei iTunes runter, kaufte einen drei Kilo schweren Bayern-München-Bildband für meinen Vater, eine beigefarbene Cashmere-Decke für meine Mutter, trank einen Espresso zwischendurch, und als ich auf die Uhr schaute, war es kurz vor vier.

Ich blickte nach oben in den Himmel, es war düster geworden. Erst jetzt merkte ich, wie wenig Menschen sich noch in der Fußgängerzone aufhielten. Keine Frage, ungefähr um diese Stunde mussten vor zweitausend Jahren die Wehen der Gottesmutter eingesetzt haben; der Heiligabend hatte begonnen, und ich stand auf der Kaufinger Straße zwischen einer Deichmann- und einer Vodafone-Filiale. Panisch lief ich nach Hause, warf ein paar Shorts, Strümpfe und Hemden in meine lederne Reisetasche, kramte ein dunkles Sakko für die Christmette aus dem Schrank, schmiss alles in den Golf, ein Geschenk meiner Eltern zum 18. Geburtstag, 380.000 Kilometer auf dem Tacho, rauf auf den Mittleren Ring, raus auf die Autobahn; im CD-Player lief «Master of Puppets» von Metallica. Die Musik trieb mich an. Der Golf schnurrte und jaulte. Seit Jahren schalte ich vom dritten direkt in den fünften Gang, weil mit dem vierten irgendwas nicht stimmt. Als ich von der A9 auf die A93 abbog, war ich guter Dinge und öffnete das Handschuhfach, wo immer eine Tafel Vollmilchschokolade und eine Plastikflasche Apfelschorle lagern, deponiert von meiner Mutter, «weil man nie weiß, was einem auf der Autobahn alles passieren kann».

Zu Abend gegessen wird bei uns traditionell um 18 Uhr. Meine Schwester war mit ihrer Familie schon tags zuvor mit dem Sharan aus Zürich angereist. Ich wusste, ach was, ich spürte, dass meine Mutter in diesen Sekunden die gestärkte Tischdecke ausbreitete, die Kerzen des Adventskranzes und das Räuchermännchen auf dem Fensterbrett anzündete und das Weihnachtsoratorium von Bach auf den Plattenteller legte.

18 Uhr war nicht zu schaffen, aber 18 Uhr 30 vielleicht, eine halbe Stunde war kein Problem, dafür würden sie Verständnis haben. Draußen wurde es dunkler, dann richtig finster, die Autos wurden weniger, um 17 Uhr 40 hatte ich den Pfaffenstein-Tunnel und Regensburg hinter mir gelassen und war Richtung Bayerischer Wald, also praktisch Richtung Russland, abgebogen. Um 18 Uhr 05 war ich nur noch 40 Kilometer von meinem Ziel entfernt und stand vor der Entscheidung: alte oder neue B16.

Die alte Bundesstraße 16 ist die Straße meiner Kindheit. In den achtziger Jahren fuhr ich sie mindestens einmal in der Woche, zum Kieferorthopäden, zum Einkaufen, zum Tennistraining. Es war die Straße, die aus dem Wald in die Stadt führte, aus der Provinz in die Zivilisation, aus dem Dorf meiner Kindheit in die größte Stadt, die ich mir vorstellen konnte, in der es sogar einen McDonald’s gab: Regensburg. Die Straße führte durch Wälder und bestand nur aus Kurven, in denen sich etliche Motorradfahrer zu Tode rasten; oft wurde mir schlecht, manchmal musste ich mich übergeben – natürlich hatte meine Mutter Kotztüten parat –, ständig rannten Rehe, Füchse, Wildschweine über die Straße, manchmal lösten sich Felsbrocken aus einem Steinbruch und krachten auf die Fahrbahn, aber ich habe sie geliebt, weil sie mir eine Ahnung davon vermittelte, wie groß die Welt ist, die mich später erwarten würde. Man kann schon sagen, dass diese Straße eine enorme Bedeutung für mich hatte; sie stand für vieles, was ich in meinem Leben gefühlt, gehofft und geahnt hatte.

Vor zehn Jahren hatten sie eine Alternative gebaut: die neue B16, schnurgerade, doppelspurig, mit Schallschutzmauern an den Seiten, eine Straße, die aussieht, als wäre sie von einem Algorithmus geplant worden, effizient, schnörkellos und langweilig. Und ich weiß nicht, was mich geritten hat, aber auf einmal sah ich vor mir diese Ausfahrt und schwenkte nach rechts auf die alte B16. Ein Reflex, eine kleine Sentimentalität, die mich fünfzehn Minuten kosten würde, aber irgendetwas in mir wollte an diesem Heiligen Abend zurück auf die Straße der Kindheit.

Es war jetzt stockfinster draußen, die Wälder wirkten bedrohlich, so was wie Mittelstreifen gibt es auf der alten B16 nicht; es begann zu schneien, erst wässrige, dann größer und dichter werdende Flocken. Ich schaltete den Scheibenwischer ein und wechselte von Metallica auf Bayern 1. Es lief Chris Rea, «Driving Home for Christmas». Und obwohl ich das Lied nicht mag, tröstete es mich. Man kann sich einsam fühlen, wenn man am 24. Dezember nach 18 Uhr Richtung Osteuropa fährt. Es dauerte nicht lange, da tauchten die ersten Haarnadelkurven auf, immer wieder musste ich abbremsen, weil Nebelfelder die Sicht versperrten. Ich drehte die Heizung höher, nahm noch einen Schluck Apfelschorle und ein Stück Schokolade, im Wagen breitete sich behagliche Wärme aus.

«Und für alle, die jetzt noch auf der Straße sind», tönte es aus dem Radio, «‹Santa Claus Is Coming To Town› von Michael Bublé. Kommen Sie sicher nach Hause zu Ihren Liebsten und übrigens: Fröhliche Weihnachten!» Ich passierte ein Dorf namens Mackenschleif, erinnerte mich an das Hexenhaus zur Linken, windschief und halb verfallen. Als Junge hatte ich immer Angst davor gehabt. Ob noch jemand darin hauste? Und wenn ja, ob derjenige wusste, dass heute Weihnachten war? Licht war keines zu sehen. Eine Fensterscheibe war eingeschlagen.

Dann endlich eine längere Gerade. Ich schaute auf die Uhr, es war 18 Uhr 19, und schaltete vom zweiten in den dritten Gang, aber der Gangknüppel flutschte zurück in die Mitte, ich kuppelte, probierte es noch mal, keine Chance, kuppelte wieder, aber das Pedal blieb stecken, schwang nicht zurück, blieb durchgedrückt. Mir blieb nichts anderes übrig, als den Wagen ausrollen zu lassen und rechts ranzufahren. Ich stellte den Warnblinker an, atmete durch, schloss die Augen. «Fuck!»

Ich habe nicht die geringste Ahnung von Keilriemen und Ansaugstutzen, aber dass mich mein Golf heute nicht mehr zu meinen Eltern bringen würde, war klar. Ohne Gangschaltung und ohne Kupplung würde es nicht klappen. Mein Golf hatte mich vor vielen Jahren ohne Zwischenfall von Rom bis an die Südküste von Wales gebracht, und jetzt ließ er mich dreizehn Kilometer vor dem festlich gedeckten Tisch meiner Eltern im Stich. Ich schaute mich um: Wald und Dunkelheit. Dann kramte ich mein Handy aus der Reisetasche und wählte die Nummer meiner Eltern.

«Hallo?! Tobi?! Wo bist du denn?! Wir warten alle auf dich. Alles ist fertig, nur du …»

«Ja, sorry, ich bin stehen geblieben. Der Golf, irgendwas stimmt mit der Kupplung nicht, ich glaube …»

«Na, das hätte ich dir gleich sagen können», meine Mutter klang auf einmal wie ein Roboter, der Empfang war miserabel, im Hintergrund hörte ich Gläserklirren und das Cembalo aus dem Weihnachtsoratorium. «Tausendmal hab ich es dir gesagt, aber du weißt ja alles besser. Jetzt haben wir den Salat. Im Kofferraum liegt eine alte Wolldecke, aber das weißt du, oder?! Ach ja, zieh die Warnweste an! Und vergiss den Warnblinker nicht! Wo bist du eigentlich genau?»

«Irgendwo zwischen …», dann machte es tut, tut, tut, gefolgt von Stille. Das Handy war tot, die Batterie leer, ich feuerte das Ding auf den Beifahrersitz. Bis zum Hexenhaus waren es knapp zwei Kilometer, aber wer wusste, ob überhaupt noch jemand darin lebte, und wenn ja, ob es ratsam war, Kontakt mit diesem Wesen aufzunehmen.

Zehn Minuten vergingen, in denen der Schneefall zu- und die Temperatur im Wagen rasant abnahm. Ein Film fiel mir ein, in dem New York von einer Eiszeit heimgesucht wird. Ich verscheuchte den Gedanken und stellte mir die Bratwürste meiner Mutter vor.

Okay, sagte ich mir, cool bleiben, nachdenken, systematisch vorgehen. Niemand weiß, wo du bist. Theoretisch konnte ich überall sein. Und selbst wenn sie losfuhren oder dem ADAC Bescheid sagten, würde es Stunden, vielleicht Tage dauern, weil kein Mensch auf die Idee käme, dass ich die alte Bundesstraße gefahren sein könnte. Kein Mensch fährt die alte Bundesstraße.

Ich holte die Decke aus dem Kofferraum, schlüpfte drunter, stellte die Rückenlehne des Sitzes nach hinten und schaute durch das gläserne Schiebedach in den Himmel. Ich wechselte auf BR-Klassik, es lief Bachs Weihnachtsoratorium. Ich schloss die Augen und dachte an früher, als meine Großeltern uns am Heiligen Abend besuchten. Ich dachte an meinen Goldfisch Karl, der nur vier Monate alt geworden war, bevor er an Bauchwassersucht starb, weil meine Mutter sein Wasserglas mit Pril saubergemacht machte. Ich dachte daran, wie meine Schwester in ihrer esoterischen Phase barfuß in die Christmette gegangen war, was unsere Eltern an den Rand eines Nervenzusammenbruchs beförderte und in der Regionalzeitung zu einer gar nicht mal unlustigen Glosse führte. Ich dachte daran, wie die Zeit vergeht und warum immer alles anders kommt, als man denkt und plant und hofft.

Ich fragte mich, ob meine Großeltern und Karl im Himmel waren, ob sich Mama gerade ans Klavier setzte, um «Stille Nacht, Heilige Nacht» zu spielen und ob ich nächstes Weihnachten vielleicht wieder mit einer Frau nach Hause fahren würde, und wenn ja, in welchem Auto. Die Musik wurde leiser und lauter, wie aus einer anderen Welt waberte sie zu mir herüber, das Cembalo, die Bläser, der Tenor «Frohe Hirten, eilt, ach eilet, Eh ihr euch zu lang verweilet, Eilt, das holde Kind zu sehn!». Ich wurde müde, vor meinen Augen tanzten Flocken, aber ich wusste nicht mehr, ob es echte oder geträumte waren, dann wurde es stiller und stiller und stiller.

«I dra durch, der Haberl, servas, du olde Wurschthaut!»

Ich erschrak, riss die Augen auf und erblickte einen riesigen roten Schädel, in dem zwei glasige Augen und eine fleischige Nase saßen. Das Hexenhaus, schoss es mir durch den Kopf, das muss der Typ aus dem Hexenhaus sein.

«Kennst mi ned, oder?», sagte der Schädel und grinste.

Er war jetzt ganz nah bei mir. Ich blinzelte, stellte den Blick scharf. Nach ein paar Sekunden hatte ich es: Das war nicht der Typ aus dem Hexenhaus, das war der Fick Mich junior, also eigentlich der Fick Michael, aber alle sagen nur Fick Mich junior, weil sein Vater jahrzehntelang der Fick Mich gewesen war, bevor er durch die Geburt seines Sohnes zum Fick Mich senior geworden war. Ich wischte mir den Schlaf aus den Augen und schaute auf die Uhr, es war 0 Uhr 23. Ich stieg aus und versank im Schnee, es musste stundenlang geschneit haben. Der Fick Mich junior trug einen gelben Overall vom ADAC, hinter ihm stand sein Abschleppwagen, auf dem sich ein orangefarbenes Signallicht drehte, das die Wälder ringsum in grelles Licht tauchte. Anscheinend war der Fick Mich junior doch kein Versicherungsvertreter wie sein Vater geworden, sondern ein Gelber Engel.

Ich kenne den Fick Mich junior seit 37 Jahren. In der ersten Klasse hatten wir nebeneinandergesessen, vier Jahre später war ich nach Regensburg aufs Gymnasium gewechselt und er in den Trachtenverein unseres Dorfes eingetreten. In den Jahren danach hatte ich Latein gelernt und er, wie man eine Maß Bier in einem Zug austrinkt, indem man den Kehlkopf überstreckt und den Schluckreflex außer Kraft setzt. Das letzte Mal hatte ich von ihm gehört, als er Torschützenkönig der Kreisliga Ost geworden war, das war vor 25 Jahren.

«Oh mei, an Golf hodda, der Haberl, na, des war ja klar, also schlepp mas hoam, des Baby, oder?!»

Er lallte. Sein Atem roch nach Glühwein, Weißbier und einem Hauch Obstler.

Ich sah zu, wie er das Abschleppseil befestigte, die Kurbel anschmiss und meinen alten Golf Zentimeter für Zentimeter auf seinen Abschleppwagen zog. Der Typ war stramm, ich tippte auf mindestens 2,5 Promille, aber jeder Handgriff saß.

«Also, setz die eina zu mir, dann fahr ma hoam, damit ma no an Glühwein kriagn, oder?»

Immer wieder klopfte er mir auf die Schulter. Ich hatte den Eindruck, dass er sich ehrlich freute, so unverhofft einen alten Bekannten getroffen zu haben. Ich stieg zu ihm ins Fahrerhäuschen, am Rückspiegel baumelte ein Duftbaum, der nach nichts roch, es lief Musik von Andreas Gabalier. Er zog eine Thermoskanne aus dem Handschuhfach und reichte sie mir. Ich nahm einen Schluck und musste husten. Es war Punsch, aber der schärfste, den ich je gekostet hatte, eine Art Schnaps mit einer Prise Zimt.

«Do huasta, der Haberl, so was Guads gibt’s in der Stodt ned, oder?!»

Er nahm ebenfalls einen kräftigen Schluck, startete den Motor, legte den Rückwärtsgang ein, und ich dachte mir noch, warum eigentlich den Rückwärtsgang, aber da war es schon zu spät. Mit einem lauten Krachen wurden wir in unsere Sitze gedrückt und zurück nach vorne geschleudert. Der Duftbaum schwang hin und her, der Fick Mich junior drückte wie verrückt aufs Gas, aber nichts passierte, und irgendwie fühlte sich auf einmal alles ganz schief an. Wir kletterten aus dem Wagen, betrachteten das Malheur, und da hockten wir nun, mein Golf kaputt, der Abschleppwagen im Graben und zum zweiten Mal an diesem Tag war mir klar: Mit diesem Ding würden wir heute nicht mehr nach Hause kommen. Wir stiegen wieder ein, was gar nicht so leicht war, reichten die Thermosflasche hin und her, Andreas Gabalier sang: «Happy hour, mitten in der Nacht / Sexy, alles tanzt, alles lacht / Vierzig Grad am Dancefloor / Hulapalu, sagst du in mei Ohr.»

Es war 1 Uhr 46, als wir entschieden aufzubrechen. Die Thermoskanne war leer, die Schokolade aufgegessen, es schneite heftig. Nach zehn Minuten waren meine Sneakers durchnässt, gegen 3 Uhr hörte ich auf, die Kälte zu spüren. Gegen 4 Uhr passierten wir ein Dorf namens Trasching, gegen 5.30 Uhr konnte ich im Schneetreiben das erste Mal den Zwiebelturm unseres Dorfes erkennen. Einmal sahen wir zwei Rehe über die Straße springen, einmal stolperte der Fick Mich junior, und ich half ihm wieder auf die Beine. Die letzten zwei Kilometer legten wir Arm in Arm zurück.

«Mei, der Haberl», sagte er immer wieder. «Des glaubt uns koana!»

Und ich antwortete: «Mei, der Fick Mich!»

Als wir um halb sieben das Ortsschild passierten, spürte ich meine Finger nicht mehr. Der Fick Mich hatte kleine Eiszapfen aus der Nase hängen. Ich setzte einfach nur einen Fuß vor den anderen und versuchte gegen den Drang zu kämpfen, mich in den Schnee zu legen und die Augen zuzumachen. Ein paar Minuten später fingen die Kirchenglocken zu läuten an.

«Ach, Haberl», sagte der Fick Mich junior, «I wünsch da frohe Weihnachten!»

«Frohe Weihnachten, Mich!», sagte ich, dann wankte ich nach links und er nach rechts. Bald würden wir zu Hause sein.

Liefka Würdemann

Die Zufriedenheit aller Beteiligten

Ich streite nicht gern. Als Scheidungskind mit depressiven Elternteilen liebe ich die Harmonie. Ich möchte, dass alle sich vertragen und einander lieb haben. Konflikte versuche ich zur Zufriedenheit aller Beteiligten zu lösen, so wie man das macht, als erwachsener Mensch. Sich aggressiv zu streiten, das liegt mir nicht. Das mag ich nicht. Das kann ich nicht.

Heiligabend. Christian und ich werden mit der Bahn nach Buchholz in der Nordheide fahren. Dort wohnt seine Schwester. Wir fahren Bahn, denn Christians gesamte Familie macht in diesem Monat Autofasten. Alle lassen das Auto stehen und nutzen öffentliche Verkehrsmittel, das Fahrrad oder die Füße. Die Idee fanden wir beide sofort gut, das Timing eher schlecht. Wenn man ein Auto braucht, dann doch wohl im Dezember! Für Geschenke, Tannenbäume und Besuche. Außerdem ist es kalt und matschig.

Aber Christian hatte darauf bestanden: «Wenn wir jetzt nicht mitmachen, machen wir das nie!»

Er kennt uns. Wir nehmen uns immer viele Dinge vor. In unseren Köpfen sind wir längst auf dem eigenen Hof uns selbstversorgende, keinen Müll produzierende, zuckerfrei und unmotorisiert in einem Haushalt ohne Plastik und ganz im Einklang mit der Natur und den eigenen Schafen, Ziegen, Hühnern und Kühen lebende Vegetarier. In Wirklichkeit wohnen wir mitten in der Stadt, schleppen etliche Kilos zu viel mit uns rum, horten Plastikdosen im Vorratsschrank und fahren gern mit dem Auto, weil es bequemer ist.

In Christians Familie dagegen sind alle durch und durch konsequent und politisch korrekt und ehrlich und konstruktiv und sportlich, und sowieso sind sie alle unglaublich gute und gut aussehende Menschen, neben denen ich mich körperlich und geistig wie eine Trockenpflaume fühle.

Jetzt sind wir also auch mal konsequent. Seit 24 Tagen steht das Auto auf demselben Parkplatz. Morgens betrachte ich es vom Frühstückstisch aus. Es sieht jeden Tag ein bisschen trauriger aus.