Blut und Wasser - Jurica Pavičič - E-Book

Blut und Wasser E-Book

Jurica Pavicic

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Beschreibung

Im Spätsommer 1989 verschwindet die siebzehnjährige Silva von einem Fischerfest in ihrem Heimatort an der kroatischen Adria. Es beginnt eine Ermittlung, die erst nach dreißig Jahren zu einem Ergebnis führt. In der Zwischenzeit zerbrechen eine Familie, eine Dorfgemeinschaft und ein ganzes Land. Jurica Pavicic gewährt uns einen tiefen Blick hinter die idyllische Kulisse von Sonne, Meer und Gastfreundschaft. Sein Kriminalroman ist eine Chronik des gesellschaftlichen Umbruchs in einem Land, das viele als Touristen kennen und lieben gelernt haben. Wie in einem Puzzle setzt Pavicic Erinnerungen verschiedener Charaktere zu einem Bild zusammen, bis das letzte überraschende Teil die Wahrheit sichtbar macht.

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Seitenzahl: 428

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Jurica Pavicic

Blut und Wasser

 

Übersetzt von Blanka Stipetic

   

Deutsche Erstausgabe © Schruf & Stipetic GbR, Berlin 2020 www.schruf-stipetic.de

Titel der Originalausgabe: Crvena voda (Profil Zagreb 2017) © 2017 Jurica Pavicic

ISBN: 978-3-944359-49-6

Covergestaltung: Kathrin Mock

Foto: Stevan Aksentijevic, pixabay

 

Das Buch erscheint mit finanzieller Unterstützung des Ministeriums für Kultur der Republik Kroatien.

 

Vervielfältigung und gewerbliche Nutzung nur nach ausdrücklicher Genehmigung der Schruf und Stipetic GbR.

Inhalt

Erster Teil: Silva ist verschwunden

1 Vesna (1989)

2 Mate (1989)

3 Jakob (1989)

4 Mate (1989)

5 Jakob (1990)

Zweiter Teil: Scheidewege

6 Vesna (1991)

7 Adrian (1995)

8 Mate (2001)

9 Gorki (2004)

10 Brane (2005)

11 Jakob (2007)

12 Elda (2008)

13 Mate (2012)

Dritter Teil: Silvas Rückkehr

14 Jakob (2015)

15 Gorki (2015)

16 Elda (2015)

17 Gorki (2015)

18 Vesna (2015)

Vierter Teil: Blut und Wasser

19 Gorki (2016)

20 Ursula (1989)

21 Gorki (2016)

22 Ursula (2016)

23 Mate (2017)

Erster Teil

Silva ist verschwunden

1 Vesna (1989)

Zuerst erinnert sich Vesna immer an das Wetter. Altweibersommer, als würde der Himmel sich ins Fäustchen lachen. Den ganzen Nachmittag über wehte vom Meer her ein leichter Mistral und erfrischte den warmen Septembertag. Als es dunkel wurde, kroch angenehme Kühle durch die Gassen, Küchen und Zimmer, ein erster Bote des Herbstes.

Doch Vesna erinnert sich nicht nur an das Wetter. Sie erinnert sich auch an die Umgebung.

Sie erinnert sich an das Haus auf der Anhöhe, in der Gasse hinter der Kirche, das Haus, in dem sie den größten Teil ihres Lebens verbracht hat. Wenn sie die Augen schließt, sieht Vesna ganz deutlich die Zimmer, Möbel und Einrichtungsgegenstände. Die Eingangstür oben an der Treppe, die verglaste Veranda, das Wohnzimmer, die Terrakottafliesen in der Küche. Im Wohnzimmer stand ein Tisch mit einem abgewetzten Sofa. Im Flur ein Garderobenständer aus Metall, daneben die Tür. Die Tür zu Silvas Zimmer, an der Silva ein Schild angebracht hatte: KEEP OUT.

Vesna erinnert sich, wie das Wohnzimmer an diesem Tag aussah. In einer Ecke stand der Fernseher, auf dem Sessel lag ein Haufen ungebügelter Wäsche. An der Wand hing ein Kalender mit kanadischen Landschaften und über der Küchentür eine Oleografie. Das Bild zeigte Jesus mit feuchten und verträumten Augen, mit gewelltem Barthaar, gesenktem Kopf und erhobenem Zeigefinger, als wollte er sie vor den kommenden Ereignissen warnen.

So sah ihr altes Haus an jenem 23. September 1989 aus.

Es war ein Samstag, und wie jeden Samstag aßen sie gemeinsam zu Abend. Alle vier saßen sie am Tisch. An der Stirnseite Jakob, ihm gegenüber Vesna und an der Längsseite zur Terrasse hin ihre beiden Kinder, die Zwillinge Silva und Mate.

Daran erinnert sich Vesna. Sie sind alle vier zu Hause und sitzen am Tisch. Vor ihnen steht das Essen, das sie gekocht hat. Es gibt gedünstete grüne Bohnen, frittierte Sardinen und dazu Brot. Zu viert sitzen sie am Tisch und essen, ein ganz gewöhnliches Abendessen wie viele zuvor.

Im Fernsehen laufen die Nachrichten. Es sind bewegte Zeiten: Chinesische Studenten demonstrieren auf dem Tiananmen-Platz, die Rumänen rebellieren, die slowenische Kommunistische Partei hat eine Verfassungsänderung durchgeführt und fordert eine Reform der jugoslawischen Föderation. Die Ereignisse erhitzen die Gemüter. Aber Jakob und Vesna interessieren sich nicht für Politik. Sie leben in dem festen Glauben, wenn sie sich nur von Schwierigkeiten fernhalten, werden sich die Schwierigkeiten auch von ihnen fernhalten.

Vesna erinnert sich an alles: Gerüche, Geschmäcker, Bilder. Sie erinnert sich an die weichen Innereien der Sardinen, die im Mund zergingen. An die Bohnen, die sie mit etwas Knoblauch zubereitet hatte. Sie erinnert sich an Jakob, der wie immer langsam und wenig aß. Daran, wie Silva gierig die kleinen Fische verschlang und Gräten aus dem Mund pulte. Natürlich erinnert sie sich auch an Mate. Wie er langsam und vorsichtig die Sardinen zerkaute, die großen Gräten ordentlich am Tellerrand nebeneinander ablegte, wie Leichen. Mate hat schon immer so gegessen. Langsam, methodisch zerlegt er sein Essen in kleine Stücke, als müsste er einen Liliputaner füttern.

Vier Gestalten, über den Tisch gebeugt, saugen an kleinen Fischen und pulen Gräten aus dem Mund. So erinnert sich Vesna an den Abend. Sie erinnert sich bis zum heutigen Tag.

Denn heute weiß sie, was sie damals nicht wusste.

Dies war der letzte Abend ihres normalen Lebens.

* * *

Im September 1989 waren Jakob und Vesna fast achtzehn Jahre verheiratet. An einem Samstag im Herbst 1971, drei Wochen vor Weihnachten, schlossen sie im Standesamt von Misto die Ehe. Die Feier fand im Saal des einzigen Hotels am Ort statt, und die Hochzeitsnacht verbrachten sie in einem feuchten und kalten Hotelzimmer.

Einen Tag nach der Hochzeit zogen sie zu Vesnas Tante Zlata in das Haus hinter der Kirche. Einen Monat später musste sich Vesna eines Morgens übergeben. Die Woche darauf sagte ihr Hausarzt, dass sie schwanger sei. Drei Tage später hatte ihr Gynäkologe in Split eine weitere frohe Botschaft: Sie erwartete Zwillinge.

Mate und Silva waren zweieiige Zwillinge. Wenn man sie genauer betrachtete, konnte man die Ähnlichkeit aber erkennen, die gleichen Augenbrauen, die gleiche Nase.

Tante Zlata lebte still und unsichtbar bei ihnen, bis sie 1978 eines Nachmittags reglos auf dem Küchenboden lag. Schlaganfall. Sie beerdigten Zlata, wie es sich gehörte, warteten eine Woche, räumten dann ihr Zimmer aus und Silva zog ein.

An jenem Nachmittag 1989 wohnte Silva noch immer in diesem Zimmer. Hier verwahrte sie ihre Kleidung, ihren Modeschmuck und ihre jugendlichen Geheimnisse.

Auch wenn Mate und Silva sich äußerlich ähnlich sahen, waren sie in ihrem Wesen ganz unterschiedlich. Mate war ein ruhiger, verantwortungsbewusster Junge, auf den man sich verlassen konnte und von dem Vesna sicher war, dass sie im Alter auf ihn würde zählen können. Silva jedoch war anders. Silva, hatte Tante Zlata immer gesagt, war eine Rebellin. Silva wird es weit bringen, sagte Jakob einmal. Weil sie es versteht, ihren Willen durchzusetzen.

Im September 1989 waren Silva und Mate fast volljährig. Mate sollte im Sommer darauf sein Fachabitur machen und sich dann an der Uni für Schiffsbau einschreiben. Silva besuchte eine Wirtschaftsschule. Doch auf die Frage nach ihren weiteren Plänen, wand sie sich und wechselte schnell das Thema. Beide gingen seit der neunten Klasse in Split zur Schule. Da Mate seit der neunten Klasse einen Job hatte, den er nicht verlieren wollte, blieb er in Misto wohnen. Er stand jeden Morgen um sechs Uhr auf und fuhr mit dem Überlandbus eine halbe Stunde lang die Küstenstraße entlang zur Schule. Silva hingegen wohnte im Schülerinnenwohnheim in der Kyrill-und-Method-Straße in Split. Nach Misto kam sie jeden Samstag. So war es auch an diesem Samstag, am letzten Sommerwochenende.

In diesem September 1989 war Jakob zweiundvierzig Jahre alt. Er bekam Geheimratsecken, war aber noch immer schlank, sein Bauch flach, und darauf war er besonders stolz.

In diesem September 1989 hatte er noch eine Stelle als Buchhalter in einer Kunststofffabrik. Die Fabrik befand sich in einer Halle aus Glas und Metall oberhalb der Küstenstraße, heute steht dort nur noch eine Ruine. Die Fabrik stellte alles Mögliche aus Kunststoff her – Bälle, Bootswände, aufblasbare Gummiboote. Jakob arbeitete in der Lohnbuchhaltung. Er erledigte seine Arbeit gewissenhaft, gründlich, aber ohne Ehrgeiz. Wenn er nach Hause kam und gegessen hatte, legte er sich auf das Sofa und las Zeitung. Dann ging er in den Schuppen und widmete sich der Tätigkeit, der seine ganze Leidenschaft galt: Amateurfunk. In jeder freien Minute lötete und schraubte Jakob, er baute Geräte, die Vesna geheimnisvoll und magisch erschienen. Und dann, wenn es dunkel wurde, arbeitete sich Jakob durch die Frequenzen und unterhielt sich stundenlang auf Englisch mit Menschen, die er nie treffen würde. Vesna hörte manchmal zu, wenn ihr Mann mit fremden Menschen auf der anderen Seite des Globus sprach. Den Sinn dahinter hat sie nie verstanden. Aber das hatte sie Jakob nie gesagt, denn Männer brauchen schließlich eine Spinnerei.

1989 war Vesna achtunddreißig Jahre alt. Seit vierzehn Jahren unterrichtete sie Erdkunde in der Grundschule. Von Montag bis Freitag brachte Vesna den Kindern im Ort bei, was der Golfstrom ist, welche Länder Erdöl exportieren und welche Flüsse durch Jugoslawien fließen. Da der Ort klein war, traf sie ihre Schüler auf der Straße und im Supermarkt und die Eltern nickten ihr sonntags in der Kirche zu. Als sie angefangen hatte zu unterrichten, war sie überzeugt gewesen, die Schule und Kinder zu lieben. Mit der Zeit war sie sich da nicht mehr so sicher. Immer öfter ging sie mit unterdrückter Ungeduld in den Unterricht und die Ungezogenheiten der Kinder machten sie schrecklich wütend. Nach vierzehn Jahren hatte Vesna immer öfter den Eindruck, dass Kinder in ihrem Wesen nicht gut sind.

Im Jahr darauf würde Vesna vierzig werden. Manchmal dachte sie an diese hässliche Ziffer vier, mit der in Zukunft ihr Alter beginnen würde. Sie dachte daran, dass sie in den letzten Jahren zugenommen hatte, wie sie sich in ihrer Arbeit und in ihrer ruhigen, aber auch langweiligen Ehe eingerichtet hatte. Damals dachte Vesna, wenn auch nur selten, dass sie noch Vieles aus ihrem Leben machen könnte. Sie konnte den Job wechseln oder den Wohnort. Sie konnte abnehmen, Chinesisch lernen oder die Frisur ändern. Doch diese Gedanken beschäftigten sie nicht lange. Vesna wollte eigentlich keine Veränderungen, und das galt auch für Jakob. Sie führten ein gutes Leben. Von Montag bis Freitag arbeiteten sie in ihren langweiligen, aber sicheren Jobs. Nachmittags saßen sie auf dem Sofa, wenn es nicht zu kalt war, auf der Veranda, sie mit einem Buch, er mit der Zeitung, und im Sommer gingen sie an den Strand. Samstags kauften sie unten am Hafen frischen Fisch. Sonntags machten sie Feuer und grillten Fisch, Bratwürste oder Koteletts. Jakob hantierte gerne am Feuer. Wenn er es entzündete, wurde seine Stirn bald ganz rot und über den Augenbrauen sammelten sich dicke Schweißtropfen. Er grillte das Fleisch zu lange und verdarb den Fisch, aber Vesna ließ ihn machen, solange es ihm Freude machte.

Wenn der Tag zu Ende ging, setzten sie sich zusammen auf das Sofa und öffneten eine Flasche Wein. Gegen zehn fielen Vesna die Augen zu. Jakob machte den Fernseher aus und brachte sie ins Bett. Damals, im September 1989, schliefen sie noch miteinander. Nicht oft, aber bedächtig, routiniert, als wäre der Körper des anderen ein vertrautes, oft verwendetes Instrument.

In diesem Moment, an diesem Tag im September 1989, war Vesna noch immer eine glückliche Frau.

An all das erinnert sich Vesna. Sie erinnert sich an die vier Menschen am Küchentisch unter dem verträumten Jesus und dem Kalender mit kanadischen Landschaften. Die Dämmerung legt sich auf Misto und vom Hafen hört man den Soundcheck für das Fischerfest. Sie erinnert sich an vier Schatten, die essen, schlürfen, Wein einschenken, sich unterhalten. Gleich wird Jakob aufstehen, die Teller in die Küche tragen und den Wein in den Schrank stellen. Silva wird aufstehen, sich wohlig strecken und in ihr Zimmer verdrücken.

Was dann folgt, spult sich immer und immer wieder wie ein Film in Vesnas Kopf ab. Sie erinnert sich, wie sie selbst in der Küche Teller spült. An Mate, der die Tischdecke ausschüttelt und Krümel vom Boden aufhebt. An Jakob, der sich über ein Kreuzworträtsel in der Slobodna Dalmacija beugt. Währenddessen kommt Silva in Ausgehgarderobe aus ihrem Zimmer zurück. Vesna sieht noch genau, was sie trägt: ein viel zu kurzes geblümtes Kleid, halbhohe Converse, eine sackartige Tasche und unter dem Arm einen roten Anorak. Es ist zwar Altweibersommer, doch abends kann es am Meer frisch werden.

Das ist der Moment. Silva steht an der Wohnzimmertür, in einem geblümten Kleid und Turnschuhen, als erwartete sie Beifall. Und dann sagt sie: Ich gehe jetzt.

»Mit wem triffst du dich?«, fragt Jakob. »Mit Brane?«

»Heute nicht«, antwortet Silva. »Er ist in Rijeka, um sich an der Uni einzuschreiben. Er kommt erst morgen zurück.«

»Und wohin gehst du dann?«, fragt ihr Vater.

»Ich gehe runter zum Fest«, antwortet sie. »Wartet nicht auf mich. Es wird bestimmt spät.«

»Pass auf dich auf«, sagt Jakob.

Vesna fragt sich bis heute, warum er das gesagt hat.

Silva richtet ihren Träger, nimmt ihre Tasche und sagt: »Tschüss dann!« Schnell und lautlos wie ein Windhauch schlüpft sie zur Tür hinaus.

Jakob achtet nicht mehr auf seine Tochter. Als sie das Haus verlässt, sitzt er am Tisch und ist wieder mit seinem Kreuzworträtsel beschäftigt. Er hebt nicht einmal den Kopf. Als ihre Tochter das Haus verlässt, trocknet Vesna Teller ab. Bis heute weiß sie nicht, ob sie Silva überhaupt angeschaut hat. Sie ist sich aber sicher, dass sie nichts auf das Tschüss ihrer Tochter geantwortet hat.

Denn damals konnte sie es nicht wissen. Aber heute weiß sie es. Dieser Moment, als Silva sagte: Tschüss dann! und mit wehendem Kleid zur Haustür ging, das war das letzte Mal, dass sie Silva sahen.

2 Mate (1989)

Mate erwachte mit einem Kater. Die Zimmerdecke über ihm schwankte und von seinen Schläfen zog sich ein dumpfer Alkoholschmerz zur Stirn.

Er öffnete die Augen und schloss sie gleich wieder, weil seine Kopfschmerzen von dem grellen Morgenlicht noch schlimmer wurden. Mit geschlossenen Augen blieb er liegen und versuchte, noch einmal einzuschlafen, in der Hoffnung, dass seine Kopfschmerzen dann nachlassen würden. Aber dafür war es zu spät. Das Licht und die Geräusche vertrieben den Schlaf, und so lag er mit geschlossenen Augen im Bett und lauschte auf die Geräusche der Außenwelt.

Gegen sieben hörte er im Flur die Schritte seines Vaters. Dann lief das Wasser in der Dusche, dann wieder Schritte. Sein Vater unterhielt sich leise mit seiner Mutter. Aus der Küche wehte der verführerische Duft von Kaffee herüber.

Er hörte Schritte auf der Treppe, dann, wie sein Vater den Schuppen öffnete. Von dort kamen schon bald Arbeitsgeräusche. Wie jeden Sonntagmorgen klebte und lötete sein Vater.

Um Viertel nach acht rief die Glocke von St. Spyridon zur Morgenmesse. Wieder hörte Mate Schritte auf der Treppe. Vesna ging zur Messe. Vesna kam von der Messe zurück. Sie hustete im Flur und klapperte mit Geschirr. Dann öffnete sie die Tür zu Silvas Zimmer, wieder Schritte auf der Treppe und das Knarren der Tür des Schuppens.

Dann, es war kurz vor zehn, hörte Mate aus dem Garten den Satz, mit dem das Unglück seinen Lauf nahm. Klar und deutlich hörte Mate, wie Vesna sagte: Silva ist weg. Sie ist nicht in ihrem Zimmer.

Es war Sonntag, der 24. September, morgens um zehn vor zehn.

Sie waren nicht wirklich besorgt. Wenn Mate später daran zurückdenkt, findet er das schrecklich, aber so war es. Weder sein Vater noch seine Mutter, noch er selbst machten sich Sorgen.

Silva ist am Abend zuvor irgendwo hängengeblieben, hat bei jemandem übernachtet oder ist früh aus dem Haus. Sie wird schon wiederkommen. Es kann nichts Schlimmes passieren. Sie leben ja nicht in einer amerikanischen Großstadt, hier gibt es keine Entführungen, Überfälle oder Serienmörder. Das hier ist Misto – und in Misto ist noch nie jemandem etwas passiert.

Als Mate aufgestanden ist und geduscht hat, fragt seine Mutter ihn besorgt, ob er wisse, wo seine Schwester sei. Mate erzählt, was er weiß. Silva war auf dem Fischerfest, so wie er. Auf dem Fest hat eine Band gespielt, und nach dem Konzert hat DJ Robi Musik aufgelegt. Silva hat getanzt. Da hat er sie das letzte Mal gesehen: als sie gegen elf Uhr tanzte.

Aber Mate erzählt seiner Mutter nicht alles. Er sagt nicht, dass er und seine Clique das Fest gegen elf verlassen haben, weil sie ein paar Flaschen Brandy und gutes Gras hatten. Er sagt nicht, dass er den Rest der Nacht am Strand in der Travna-Bucht verbracht und versucht hat, ein Mädchen aus Novi Sad mit sexy vojvodinischem Akzent rumzukriegen. Er sagt seiner Mutter nicht, dass er zum Joint fast einen Liter italienischen Brandy getrunken hat und jetzt tierische Kopfschmerzen hat.

Er sagt seiner Mutter auch nicht, dass um elf, als er das Fest verlassen hat, Silva gerade mit Adrian tanzte, dem Sohn des Bäckers. Auch nicht, dass der DJ für Silva erst einmal und dann noch einmal Red Red Wine von UB40 auflegte und dass Silva sich in Adrians Armen im langsamen Reggae-Rhythmus wand. Auch Silva würde gegenüber den Eltern nichts von seinen Dummheiten verraten. Deshalb hält er dicht.

Seine Mutter nickt tadelnd und geht zurück in die Küche, um die Kartoffeln zu schälen. »Wahrscheinlich ist sie bei Brane. Sie wird schon auftauchen«, sagt Jakob und geht zurück in seine Werkstatt, gelassen und unbesorgt.

Eine Stunde und fünfzig Minuten verbringt Jakob im Schuppen, konzentriert auf seine Amateurfunkerei. Vesna schiebt Kartoffeln und Hähnchen in den Ofen, setzt sich dann an den Küchentisch und liest die Samstagsausgabe der Zeitung. Mate nimmt heimlich eine Kopfschmerztablette und zieht sich in sein abgedunkeltes Zimmer zurück, wo er einschläft. Beim Aufwachen sind seine Kopfschmerzen weg. Er schaut auf die Uhr: Viertel nach eins.

Um halb zwei betritt er die Küche. Teller, Salat und eine Flasche Weißwein stehen auf dem Tisch. Aus dem Ofen kommt der verlockende Duft von gebratenem Hähnchen. Aber Silva ist noch immer nicht zu Hause. Mate erinnert sich an den Moment. Denn jetzt ist er das erste Mal ein bisschen, nur ein kleines bisschen, beunruhigt.

Um Viertel nach zwei ist sie immer noch nicht da. Vesna lehnt am Kühlschrank und man sieht ihr an, wie wütend sie ist. Mates Vater steht am gedeckten Tisch und schaut auf die Wanduhr, deren großer Zeiger sich der Vier nähert. Schließlich, um zwanzig nach zwei, sagt er: »Mate, lauf mal hinunter ins Dorf und such nach ihr. Irgendwo muss sie ja stecken.«

»Such nach ihr«, sagt sein Vater um zwanzig nach zwei, am 24. September 1989.

Damals wusste Mate es noch nicht. Aber heute weiß er es. An diesem Tag, in dieser Minute, begann seine Suche.

* * *

Um zwanzig nach zwei schlüpft Mate in seine Turnschuhe und verlässt das Haus, um seine Schwester zu suchen. Er läuft zum Kirchplatz, dann die steile Gasse hinter der Bäckerei der Lekajs hinunter, wo der Genossenschaftslaster steht. Am Fischerhafen schlägt er den Uferweg zum Dorfausgang ein, wo die Kaimauer endet und nur noch wenige Häuser stehen. Aus dem asphaltierten Weg wird ein Schotter und schließlich ein Trampelpfad.

Im Mai 1989 waren Brane Rokkov und Silva ein Paar geworden. Eines Abends nach einer Party mit Wein und Gras verschwanden Brane und Silva in der Dunkelheit. Eng umschlungen kamen sie wieder und Brane strahlte vor Glück. »Ich und deine Schwester sind jetzt zusammen«, sagte er am nächsten Tag und Mate brachte vor Überraschung keinen Ton heraus.

Er wusste schon lange, dass Silva Brane gefiel. Aber Silva gefiel allen Männern in Misto. In der neunten Klasse waren sie einmal alle zusammen zum Muscheltauchen in die Travna-Bucht gefahren. Fünfzehn Leute mit drei Booten, Einheimische und Touristen. Als sie genügend Muscheln geerntet hatten, machten sie die Boote fest und entzündeten in der Bucht ein Feuer. Ein paar Jungs aus Zagreb spielten Gitarre, und eine Flasche Wein kreiste ums Feuer. Irgendwann bemerkte Mate, wie Brane Silva anschaute, so als wollte er sie mit Blicken verschlingen. Doch an dem Abend hatte es Silva auf einen der Jungs aus Zagreb abgesehen. Sie ließ sich von ihm umarmen, und gegen zehn begannen sie, sich zu küssen, und die Hand des Jungen steckte irgendwo weit unter Silvas Taille. Mate schaute vor lauter Verlegenheit weg und sein Blick fiel auf Brane. Brane stand grimmig und verzweifelt am Feuer.

Im September ging Silva wieder nach Split zur Schule und Brane hatte sich wieder beruhigt, wie es schien. Doch seine Geduld zahlte sich aus. Im Mai des folgenden Jahres kamen Brane und Silva endlich zusammen, und diese Beziehung hielt trotz Silvas Abwesenheiten und Aufenthalten in der Stadt. Von Montag bis Freitag war Silva in Split und führte ihr eigenes Leben. An den Wochenenden kam sie nach Misto, und dann waren sie und Brane zusammen. Brane holte sie zu Hause ab und sie gingen in eins der zweieinhalb Cafés, aus denen das Nachtleben des Ortes bestand. Brane hatte zwar den Wunsch, möglichst die ganze Zeit alleine mit Silva zu verbringen. Doch Silva hatte andere Pläne. Sie schleppte ihn dorthin, wo es Gesellschaft, Alkohol und Spaß gab und wo Mate war. Mate schien es manchmal, dass das Brane nicht gefiel. Doch schnell begriff er, dass bei diesem Paar Silva die Anführerin war und Brane der ergebene Gefolgsmann.

Nach kurzer Zeit erreicht Mate eine kleine Kapelle und damit die Spitze der Halbinsel, die Stelle, an der das Land am weitesten ins Meer ragt. Nach Süden hin ist die Bucht offen und die grauen, nackten, von Salz angefressenen Felsen schieben sich hoch ins Land. Früher hatte es geheißen, diese Landspitze sei gefährlich für Seeleute. Deshalb hatten sie hier wohl die Kapelle errichtet, die der Beschützerin der Seeleute geweiht ist. Die Kapelle ist klein, gerade mal so groß wie eine Hundehütte oder ein gemauerter Grill. Sie kauert an der Landspitze über den scharfen Felsen. Auf dem spitzen Dach thront ein rostiges Kreuz. Unter dem Giebel steht in schnörkeliger Schrift: STELLA MARIS. In der vergitterten Öffnung steht eine hölzerne Marienfigur, und für Mate sieht es so aus, als sitze die heilige Muttergottes in ihrem eigenen kleinen Gefängnis.

Hinter der Kapelle läuft Mate zwischen Felsen und einer hohen Trockenmauer weiter. Auf der einen Seite graue, von der Brandung geschliffene Felsen. Auf der anderen Seite, hinter der Mauer, ein riesiges brachliegendes Gelände voller Dornengestrüpp und wild wuchernder Olivenbäume. Dieses Gebiet ist nach Branes Familie benannt: Rokkovs Land. Mate läuft über Rokkovs Land, bis er Branes Elternhaus erreicht.

Das Haus der Rokkovs stand einsam auf einer Ebene am Meer. Vor dem Haus führte eine Bootsrampe ins Wasser, eine schräge Betonfläche mit Schienen in der Mitte. Branes Vater Tonko hatte Rampe und Handwerk von seinen Vorfahren geerbt. Er reparierte Boote, flickte Kunststoffboote wieder zusammen, verstärkte die Wände und sanierte die Oberfläche. Das war eine laute, schmutzige Arbeit, oft mit giftigen Stoffen, die er nur an einem Ort weitab von anderen Wohnhäusern und anderen Menschen verrichten konnte.

Als Mate sich dem Haus nähert, hört er die Schleifmaschine. Er geht näher und ruft einen Gruß. Die Schleifmaschine verstummt und hinter einem der Boote taucht Tonkos Kopf auf. Haare und Bart sind weiß von feinem Staub, als wäre er ein schlecht verkleideter Nikolaus. Er bedeutet Mate mit einem Nicken, ins Haus zu gehen.

Das Haus der Familie Rokkov war nicht einfach ein Haus. Als Kind hielt Mate es für ein Schloss. Es war groß, mit einem Hof, der von einer Mauer eingefasst wurde. Den Hof betrat man durch einen Torbogen. Oben am Bogen hatte ein Vorfahr eine Inschrift eingeritzt: ROCCO ROCCOV I GNEGOVA DJECA 1812 – Rokko Rokkov und seine Kinder 1812. Die Buchstaben waren ungelenk, als hätte jemand sie geschrieben, der des Schreibens kaum mächtig war.

Doch auch wenn das Haus von außen wie ein Schloss wirkte, verflüchtigte sich dieser Eindruck, sobald man drinnen war. Mate war an Vesnas Ordnung gewöhnt, die manchmal an Pingeligkeit grenzte. Deshalb war er jedes Mal von Neuem irritiert von der allumfassenden Unordnung in Branes Haus. Auf dem Hof lagen überall Bretter, Nägel, Metallteile und Schrauben herum, daneben Außenbordmotoren ohne Abdeckung. Hier fanden sich auch geöffnete Spachteltuben und Rollen eines weißen, filzigen Materials, das Tonko zum Ausbessern von Kunststoffbooten benutzte. Der Eindruck einer Hexenhöhle wurde durch volle Einmachgläser verstärkt. Ursula Rokkov legte Zwiebeln, Kapern, Silberzwiebeln, Oliven und Meerfenchel ein. Die vollen Einmachgläser standen überall – auf dem Boden, der Treppe und der Veranda, der Inhalt war grün, braun und dunkelrot.

Mate betritt den Hof, horcht, ob er Silvas und Branes Stimmen hört, und schaut sich nach ihnen um. Doch der Hof ist leer. Da er nicht weiß, was er sonst tun soll, ruft er nach Brane.

Eine schlanke Frau in den Vierzigern mit langen schwarzen Haaren erscheint auf der Veranda im ersten Stock, Ursula, Branes Mutter. Als sie Mate erkennt, lächelt sie freundlich.

»Brane schläft noch«, sagt sie. »Er ist heute Morgen aus Rijeka zurückgekommen. Er war an der Uni, um sich einzuschreiben. Ist es wichtig?«

»Vielleicht«, antwortet Mate. »Wir wissen nicht, wo Silva steckt.«

»Bei uns ist sie nicht«, erwidert Ursula. »Brane ist heute Morgen angekommen und hat sich gleich hingelegt. Warte, ich wecke ihn.«

Ursula geht ins Haus und Mate schämt sich auf einmal. Brane war gestern nicht in Misto. Er hat die ganze Nacht im Bus gesessen. Und seine Freundin, Mates Schwester, hat sich mit Whiskey-Cola volllaufen lassen und zu Red Red Wine mit Adrian rumgemacht. Mate will Brane fragen, wo Silva steckt, dabei ist er es, der vor Brane ein hässliches Geheimnis hütet.

»Er kommt gleich«, sagt Ursula, die jetzt wieder auf der Veranda steht. »Er ist noch schnell im Bad.« Sie kommt nicht hinunter in den Hof und bittet ihn auch nicht herein. Sie sieht ihn nur mit ihren hellen, graublauen Augen an, die sie immer noch zu einer attraktiven Frau machen.

Vor dreißig Jahren war Ursula das hübscheste Mädchen in Misto, behauptete Mates Vater. Das sagte er vor Vesna, aber Mate hatte nie den Eindruck, dass Vesna deswegen eifersüchtig war. Man bewunderte Ursulas Schönheit so, wie man eine griechische Vase bewunderte oder ein archäologisches Artefakt: etwas Schönes, dessen Zeit längst und unwiederbringlich vergangen ist. Wer hätte gedacht, dass sie einmal dort landen würde, am Ende des Dorfes, antwortete Vesna dann immer. Wir dachten alle, die wird es weit bringen, und jetzt? Jetzt ist sie auf Rokkovs Land, mit Tonko, in einem schmuddeligen Haus, bedeckt von einer Schicht aus Plastikstaub.

So reden Mates Eltern über Ursula. Und während Mate auf Brane wartet, sieht er seine Umgebung durch die Augen seiner Eltern. Überall Unordnung, Rost und Schmutz. Ein Haus, das zerfällt und die Dachziegel verliert. Und mittendrin sie: eine Frau, die sich trotz ihres Alters stolz und aufrecht hält, deren blaugraue Augen ihre einstige Schönheit verraten.

So bleiben sie stehen, Ursula oben auf der Treppe und Mate unten, bis aus dem Haus Schritte ertönen, dann Wasserrauschen. Schließlich kommt Brane raus, frisch gekämmt und mit feuchtem Gesicht. Als er sieht, wer auf ihn wartet, wird er ganz rot im Gesicht. Bei Silvas Bruder will Brane immer einen guten Eindruck hinterlassen.

»Ich suche Silva«, sagt Mate. »Weißt du, wo sie ist?«

»Nein«, antwortet Brane. »Ich bin heute Morgen aus Rijeka gekommen. Ich wollte sie anrufen, wenn ich ausgeschlafen habe.«

»Wann hast du das letzte Mal mit ihr gesprochen?«

»Vorgestern.«

»Weißt du vielleicht, wo sie gestern war?«

»Sie wollte am Abend zu Hause bleiben.«

Das hat sie aber nicht gemacht, denkt Mate, aber er sagt nichts.

»Hoffentlich ist nichts passiert«, sagt Brane.

»Bestimmt nicht«, antwortet Mate und verabschiedet sich.

An der Kapelle dreht er sich um. Ursula steht immer noch auf der Veranda und sieht ihm nach.

Vom Haus der Rokkovs läuft Mate bis zur Kirche, die jedoch verschlossen ist. Er klappert alle Cafés ab. Es ist ein warmer Sonntag und viele Dorfbewohner sitzen draußen. Seeleute auf Urlaub, Studenten, die Ferien haben, die örtlichen Looser mit Ray-Bans. Die Dorfbewohner aalen sich in der Sonne wie Geckos, palavern über Politik, schlürfen Kaffee. Nur Silva ist nicht unter ihnen.

Schließlich geht Mate an den einzigen Ort, an dem er noch nicht gewesen ist, zur Bäckerei von Adrians Vater. Es ist Nachmittag und die Bäckerei ist geschlossen. Er betritt den Garten von der Hinterseite und findet Adrians Vater, der nach der nächtlichen Arbeit in der Backstube unter dem Feigenbaum ein Nickerchen macht. Mate grüßt und der alte Lekaj antwortet mit einem verschlafenen Murmeln. Mate geht weiter ins Haus.

Sobald er Adrian sieht, weiß er, dass Silva nicht mehr bei ihm ist.

Adrian liegt in kurzer Adidas-Sporthose und mit nacktem Oberkörper auf dem Sofa und schaut Fußball. Er ist überrascht.

Es ist ihm unangenehm, dass Mate nach Silva fragt.

Adrian weiß nichts. Zugegeben, sie sind am Abend zuvor zusammen gewesen. Ja, sie haben bis elf getanzt. Gegen elf habe Silva vorgeschlagen, irgendwohin zu gehen, wo sie alleine wären. So drückt Adrian es aus, wo sie alleine wären, und es ist ihm deutlich anzusehen, wie peinlich ihm das Gespräch ist. Bis ungefähr zwei seien sie zusammen gewesen, auf Krizev Rat. Beim großen Kreuz, oben auf dem Hügel.

Sie sind also am Aussichtspunkt beim Kreuz gewesen. Dem Ort, den Generationen von Dorfbewohnern für Sex und Intimitäten genutzt haben. Sobald Adrian das ausgesprochen hat, schämt Mate sich. Manchmal versteht er seine Schwester nicht. An dieses Gefühl kann er sich heute noch erinnern.

»Wann seid ihr auseinandergegangen?«, fragt er und bemüht sich, sachlich zu bleiben.

»Vielleicht halb zwei oder zwei. Silva hat gesagt, sie habe es eilig und müsse los.«

»Nach Hause?«

»Sie musste früh raus, weil sie irgendwohin fahren wollte.«

»Eine Reise?«, fragt Mate. »Wohin?«

»Keine Ahnung«, sagt Adrian. »Du und deine Eltern, ihr müsstet das doch wissen.«

In diesem Moment hat Mate zum ersten Mal das Gefühl, dass sich etwas zusammenbraut. Während im Fernseher der AC Florenz Inter Mailand angreift oder Inter Lazio Rom, fühlt er zum ersten Mal in seinem Magen dieses neue, bleischwere Gewicht. Das Gefühl eines bevorstehenden Unheils.

Eilends verlässt er das Haus der Lekajs, rennt an der Kirche vorbei und nach Hause. Seine Eltern sitzen erwartungsvoll am Tisch. Mate sagt kein Wort. Er geht sofort in Silvas Zimmer und zieht die Schreibtischschublade auf. Sie ist leer. Kein Geldbeutel, kein Adressbuch, kein Pass.

Silva hat ein geheimes Versteck. Dort hortet sie ihre Ersparnisse. Er beugt sich hinunter und greift unter den Schrank in einen doppelten Boden. Er holt eine Holzkiste heraus. Das ist die Kiste für Silvas Geheimnisse. Sie ist leer, kein Geld und auch sonst nichts.

Mate geht zurück in die Küche und setzt sich an den Tisch. Dann sagt er es. Er versucht dabei so ruhig wie möglich zu bleiben.

Wir müssen die Polizei rufen.

* * *

Die Polizei kommt am Nachmittag. Sie sind zu dritt. Zwei tragen Uniform, einer ist in Zivil und offensichtlich der Chef, ein Mann Ende zwanzig mit ein paar überschüssigen Pfunden. Er stellt sich als Inspektor Gorki Schain vor. Mate hat noch nie gehört, dass jemand Gorki heißt.

Die beiden Uniformierten besichtigen Garten und Hof und durchsuchen dann lustlos Silvas Zimmer, als würden sie eine unwichtige Aufgabe abarbeiten. Währenddessen setzt sich der Mann namens Schain an den Küchentisch und öffnet ein Notizbuch mit Kunstledereinband. Er stellt einige allgemeine Fragen, hört zu und macht sich Notizen. Am Ende bittet er Mate, ihm Silvas Geheimversteck zu zeigen.

Gorki mustert die Schublade und Silvas Zimmer mit unbekümmerter Lässigkeit, als wäre alles, was er sieht, nichts weiter als ein Teenager-Klischee.

Gorki setzt sich wieder an den Küchentisch und notiert etwas in sein Buch. Dann schlägt er es zu, steht auf und geht zur Tür. Er sagt, sie sollten sich keine Sorgen machen. »Wenn Teenager verschwinden«, sagt er, »kommen sie in achtzig Prozent der Fälle von ganz alleine wieder nach Hause. Sie tauchen innerhalb von vierundzwanzig Stunden wieder auf, genauso überraschend, wie sie verschwunden sind.«

Dann schreibt Schain seinen Namen und seine Nummer auf einen Zettel. Den Zettel gibt er Jakob und sagt, sie sollten am nächsten Tag anrufen, wenn Silva bis dahin nicht wieder aufgetaucht ist.

Als die Polizei weg ist, setzt Vesna sich an den Tisch und vergräbt das Gesicht in den Händen. Jakob geht auf den Balkon, als wäre der Balkon ein Aussichtsturm, von dem aus er seine Tochter früher sehen wird, wenn sie kommt. Er lässt keine Nervosität erkennen. Aber Mate kennt ihn. Er weiß, dass die Unruhe an ihm nagt.

Auf dem Küchentisch steht noch immer das unberührte Mittagessen. In der Backform liegt ein kaltes Brathähnchen umgeben von ebenso kalten Kartoffeln in erstarrtem Fett. Die Küche riecht noch nach knuspriger Hühnerhaut und nach Bratfett. Der Anblick des unberührten Essens ist unerträglich.

Mate steht auf, stellt die Weinflasche in den Kühlschrank. Salat und Kartoffeln kippt er in den Müll. Das Hähnchen zerteilt er und legt es auf einen Teller, den er in den Kühlschrank stellt. Zum Schluss scheuert er die Backform, bis sie sauber ist.

Als er fertig ist, stellt er sich vor seine Eltern an den Tisch. Vesna ist noch immer wie erstarrt, als würde nichts zu ihr durchdringen. Mate wartet auf irgendeine Reaktion, und als keine kommt, stapelt er die sauberen, ungenutzten Teller aufeinander und räumt sie in den Küchenschrank.

* * *

Punkt acht am nächsten Morgen rief Jakob bei der Polizei an und teilte mit, Silva sei immer noch nicht aufgetaucht.

Bis zum Mittag waren Haus und Dorf voller Polizei. Noch am gleichen Tag wurde Silva offiziell als vermisst erklärt.

Die Polizisten schwärmen aus, durchsuchen von Trockenmauern eingefasste Terrassen und Olivenhaine oberhalb des Dorfs. Sie suchen den Meeresgrund am Hafen ab und das Gebüsch am Ufer. Eine Gruppe ist für das Gelände jenseits von Krizev Rat zuständig, sie suchen das Gelände um die Kaserne und die alten Marinetunnel ab. Eine andere Gruppe steigt auf den Hügel und durchkämmt das Gebiet an der Wasserzisterne und am Steinkreuz.

Die Familie sitzt derweil im Haus und wartet. Jakob läuft wie ein Getriebener im Hof herum. Vesna liegt mit Tabletten ruhiggestellt auf dem Sofa mit dem Arm über den blutunterlaufenen Augen.

Irgendwann am Nachmittag kommt Schain vorbei und lässt sie alle am Tisch Platz nehmen. Er erläutert ihnen, was sie herausgefunden haben. Silva sei auf dem Fischerfest gewesen. Zahlreiche Zeugen hätten sie dort gesehen. Sie habe den ganzen Abend getanzt und sich beim DJ drei Mal Red Red Wine von UB40 gewünscht. Sie habe eng umschlungen mit Adrian Lekaj getanzt. Mindestens vier Zeugen hätten gesehen, wie die beiden das Fest gegen elf verließen. Lekaj behauptete, sie seien bis zwei zusammen gewesen. Dann habe Silva gesagt, sie müsse heim, weil sie am nächsten Morgen verreise. Sie hätten sich an der alten Zisterne unterhalb des Steinkreuzes voneinander verabschiedet. Dann sei Silva den Pfad hinunter zu den ersten Häusern gelaufen. Da habe Lekaj sie das letzte Mal gesehen. Und er sei der Letzte, der sie gesehen hat.

»Wir haben ihn überprüft«, sagt Gorki, als wollte er ihre Zweifel beseitigen. »Wir haben seine Fingerabdrücke überprüft, Spuren unter den Nägeln gesichert. Wir haben einen Lügendetektortest mit ihm gemacht. Wie es aussieht, sagt er die Wahrheit.«

Nach einer kurzen Pause spricht er weiter: »Denken Sie nach. Wohin hätte Silva so dringend verreisen müssen?«

»Sie wollte nicht verreisen«, sagt Jakob. »Heute hätte sie doch zurück nach Split und in die Schule gemusst.«

»Sind Sie sicher?«, fragt der Inspektor.

»Wir sind sicher«, antwortet Vesna.

»Wirklich? Wir haben einen anderen Eindruck.«

Ich auch, denkt Mate. Er schweigt, aber er weiß genau, welchen Eindruck der Inspektor hat. Er glaubt an eine geplante Flucht. Silva hat das Geld, ihre Dokumente und den Pass mitgenommen. Sie muss das alles geplant haben.

Während Mate noch darüber nachdenkt, kommt ein Polizist herein und bittet den Inspektor nach draußen.

Vor dem Haus flüstern Schain und der Polizist miteinander, dann steigen sie am Haus entlang in den oberen Garten, zur Regenrinne hinter den Kakteen. Sie bücken sich. Der Polizist stochert mit einem Stock im Regenabflussrohr herum, bis er gefunden hat, was er sucht. Er steckt seinen Arm tief in das Rohr und zieht eine Plastiktüte heraus. Gorki und der Polizist schauen in die Tüte. Dann wickelt Schain sie wieder zusammen, und mit dem Bündel unter dem Arm kommt er in die Küche, doch jetzt schaut er grimmig und angespannt. Er wirft die Tüte auf den Tisch.

»Können Sie mir dazu etwas sagen?«, fragt er.

Er öffnet die Tüte und holt ein bräunliches, mit Tesafilm umwickeltes Päckchen heraus. Noch bevor Schain das Päckchen öffnet, weiß Mate, was es enthält. Er weiß es und gegen seine Schläfen branden Wogen des Entsetzens.

Gorki schneidet das Klebeband durch und braunes Pulver rieselt auf den Tisch. Jakob erkennt offensichtlich, um was es sich handelt. Und Vesna auch, was Mate an ihren entsetzten und beschämten Blicken merkt. Vesna starrt auf das Päckchen wie auf einen giftigen, hässlichen Käfer.

»Das ist Heroin«, sagt Gorki. »Aber das wissen Sie ja schon. Gehört es Ihrer Tochter? Was wissen Sie darüber?«

Jakob schweigt. Und auch Vesna, doch sie schaut zu Mate. Ihr zorniger Blick ist ein einziger Vorwurf. Dieser Blick sagt: Du musst davon gewusst haben.

Mate senkt beschähmt den Blick. Er schaut starr auf den Tisch und auf das Päckchen, aus dem noch immer wie in Zeitlupe braunes Pulver rieselt.

Als es dunkel wird, sind die Polizisten weg. Eine Suche bei Dunkelheit sei zwecklos, hat Schain gesagt und gegen neun seinen Männern den Abzug befohlen. Zehn Minuten später liegt wieder Ruhe über dem Dorf. In der Bucht leuchten die Straßenlaternen, hinter den Fensterläden flimmern Fernseher. Die Straßen sind leer. Aber Mate weiß: Hinter all diesen Fensterläden, Fliegengittern und Jalousien ist seine Schwester das einzige Thema. Während im Hintergrund der Fernseher läuft, während sie Tee kochen oder Geschirr spülen, sprechen die Dorfbewohner einzig und allein über Silvas Verschwinden.

Mate und seine Eltern sind wieder allein im Haus. Vesna ist in einem schrecklichen Zustand. Sie hat sich wie ein Embryo auf dem Sofa zusammengerollt und schluchzt. Irgendwann nickt Jakob Mate zu, gemeinsam bringen sie Vesna ins Schlafzimmer und legen sie aufs Bett, wo sie sich wieder zusammenrollt.

Jakob geht danach auf den Balkon, wo er nun schon den zweiten Tag in Folge verbringt. Auf das Geländer gestützt starrt er in die Dunkelheit, als glaubte er, er müsste nur lange genug schauen, um seine Tochter zu finden. Mate stellt sich neben ihn und Jakob legt ihm die Hand auf die Schulter.

»Sei ihr nicht böse«, sagt Jakob.

»Wem?«

»Du weißt schon«, sagt Jakob. »Es ist für uns alle schwer.«

Eine Weile schweigen sie. Dann fragt Jakob:

»Das in der Regenrinne. Hast du davon gewusst?«

»Nein.«

»Du hast nicht gewusst, dass sie Drogen versteckt?«

»Ich wusste, dass sie Gras raucht. Ziemlich viel.«

»Das war aber kein Gras, oder?«

»Nein, Papa. Das war etwas viel Schlimmeres.«

»Warum hast du uns nichts gesagt?«

»Hättest du das an meiner Stelle gemacht?«

»Nein.«

»Dann weißt du, wieso.«

Schweigend stehen sie nebeneinander, als würde die Nachtluft sie beide beruhigen. Mate beginnt zu frieren. »Ich lege mich hin«, sagt er.

»Ich bleibe noch«, antwortet Jakob und starrt weiter ins Dunkel. Mate geht ins Haus, wo es noch immer nach Brathähnchen riecht. Bevor er sich ins Bett legt, öffnet er die Schlafzimmertür. Vesna liegt noch immer zusammengerollt auf dem Bett. Aber sie schluchzt nicht mehr. Die Beruhigungstabletten wirken.

In seinem Zimmer wirft sich Mate angezogen auf das Bett und starrt an die Decke. Sein Körper braucht Schlaf, aber genauso wenig wie seine Eltern wird er heute einschlafen.

* * *

In den folgenden Tagen wurde Silvas Verschwinden zu einer Nachricht. Damals waren die Medien noch anders als heute. Vor dem Haus der Velas standen keine Übertragungswagen und keine Reporterhorde mit Mikrofonen. Doch in allen Zeitungen erschien Silvas Bild, und in der Nachrichtensendung des staatlichen Fernsehens wurde ebenfalls Silvas Bild gezeigt und die Bevölkerung zur Mithilfe aufgerufen. Nach einer Woche wussten alle von Silvas Verschwinden.

In dieser Woche durchkämmte die Polizei den Ort und die Umgebung. Mit Spürhunden suchten sie den Hügel ab, wo Silva mit Adrian die letzte Nacht verbracht hatte. Sie durchkämmten Rokkovs Land, die Berghänge und die Prosika-Schlucht, wo früher einmal Freiheitskämpfer im Hinterhalt gelegen hatten, um türkische Karawanen zu überfallen. Inspektor Schain ging von Straße zu Straße. Er saß in jedem Haus in Misto und befragte die Bewohner, jeden einzelnen. Er fragte, wo sie in der Nacht gewesen seien, ob sie etwas gehört oder gesehen hätten. Alle Informationen schrieb er in das schwarze Buch mit Kunstledereinband, das Mate am ersten Abend bei ihm gesehen hatte.

Nach einer Woche zog sich die Polizei aus Misto zurück. Am siebten Abend teilte Schain ihnen mit, in Misto gebe es für die Polizei nichts mehr zu tun – sie hätten alles durchsucht und alle Zeugen befragt. Er, Schain, glaube, dass Silva wirklich abgereist sei, so wie sie es Lekaj gegenüber angekündigt habe. Entweder sei sie entführt worden oder ausgerissen, und er würde versuchen herauszufinden, wo sie sei.

Die folgenden Tage meldete Inspektor Schain sich nur noch telefonisch. Er teilte ihnen mit, dass sie auf Bus und Zugbahnhöfen ermitteln würden, in Motels und an Grenzübergängen. Sie befragten Busfahrer, Fahrkartenverkäuferinnen, Schaffner und Grenzbeamte. Sie kümmerten sich auch um die Videoüberwachung, aber es gebe so viele VHS-Kassetten, dass sie damit nur langsam vorankämen.

Nach zwölf Tagen hatte die Polizei noch nichts gefunden und Schains Berichte wurden von Mal zu Mal formeller und kürzer.

Bereits am fünften Tag hatte Jakob sich in Silvas Zimmer zurückgezogen und angefangen, ihre Sachen zu durchwühlen. Er verließ das Zimmer mit dem besten Foto von Silva, das er hatte finden können. Es war ein relativ neues Bild. Silva schaute direkt in die Kamera – eingebildet und frech – mit einer Haarsträhne über dem linken Auge. Keiner von ihnen wusste, wer das Bild gemacht hatte und wann. Auf einmal erschien ihnen Silvas Leben voller Geheimnisse, und das Foto war nur eins davon.

An diesem Morgen klebte Jakob das Foto auf ein Blatt DIN-A4-Papier und schrieb in ordentlicher Druckschrift darunter: VERMISSTE PERSON GESUCHT.

Im Copyshop neben der Post machte er achthundert Kopien. Am nächsten Morgen schlug Mate ihm vor, die Zettel gemeinsam in der Gegend aufzuhängen.

Jeden Morgen setzten sie sich ins Auto und fuhren stundenlang durch die Gegend. Die Zettel brachten sie an Bushaltestellen an, vor Postfilialen, an Schaufenstern, in Touristenbüros und öffentlichen Gebäuden. Zuerst hielten sie sich an Ortschaften entlang der Küstenstraße in der Umgebung von Misto. Dann weiteten sie den Radius aus. Am Ende der zweiten Woche hatten sie die Straßen nach Vrgorac, Imotski und in die Herzegowina ausgestattet. Die folgenden zehn Tage fuhren sie auf der Küstenstraße Richtung Norden, nach Zadar und Rijeka, dann das Tal der Neretva entlang in Richtung Sarajevo. Sie beklebten Imotski, Kardeljevo, Listica und Duvno. Eines Morgens setzte Jakob sich allein ins Auto und fuhr Richtung Bosnien. Er kam am späten Abend wieder nach Hause und verkündete, er habe die Zettel an der Straße quer durch Bosnien aufgehängt, von Kupres über Jajce bis nach Banja Luka.

Mate übernahm Split. An einem verlängerten Wochenende hängte er dreihundert Zettel in der Stadt auf. Er streifte durch die Plattenbausiedlungen aus sozialistischen Zeiten, durch Shoppingmalls und Gewerbegebiete, Hotelrezeptionen und Schulhöfe. Er entdeckte Ecken, die er noch nicht gekannt hatte: unendlich groß erscheinende Neubauviertel, Baustoffhandlungen, reihenweise Vulkaniseure und Ziegeleien am unorganisierten Stadtrand. Als er fertig war, hing Silvas Bild in allen Schuleingängen, an allen touristisch interessanten Orten, an den Pforten von Werft, Hafen und Zementfabrik.

Bis zum darauffolgenden Wochenende kopierte Jakob weitere dreihundert Suchmeldungen. Er fuhr alleine weg und kam erst am nächsten Tag wieder. Er habe Ljubljana und Zagreb ausgestattet.

Von der Polizei sahen und hörten sie eine Zeit lang nichts. Dann rief Schain eines Nachmittags an. Er hatte nichts Konkretes. Er deutete nur geheimnisvoll an, es hätten sich neue Umstände ergeben und er müsse sie, alle drei und einzeln, in Split erneut vernehmen. Das klang in Mates Ohren nicht gut.

Jakob fuhr als Erster. Still und noch bedrückter kehrte er am Abend zurück. Er verriet Mate nicht, was in Split geschehen war. Stattdessen zog er sich mit Vesna ins Schlafzimmer zurück, wo sie miteinander flüsterten. Als Vesna herauskam, hatte sie ganz rote Augen.

Mate spürte, dass etwas nicht in Ordnung war, doch hatte er nicht den Mut zu fragen, was. Am nächsten Tag fuhr Jakob erneut nach Split, und als Mate anbot mitzufahren, lehnte Jakob das entschieden ab. Er blieb den ganzen Tag weg und als er zurückkam, war seine Stimmung noch weiter gesunken.

Schweigend aßen sie zu Abend. Nach dem Essen warf Mate die Reste von gedünstetem Kraut in den Müll, er spülte und trocknete die Gläser ab. Dann bat Jakob ihn, sich noch einmal an den Tisch zu setzen.

»Hast du den Namen Cvitkovic schon einmal gehört?«, fragte er. Oder ob Silva je den Namen Cvitko erwähnt oder ob er den Mann je in Silvas Gesellschaft gesehen habe.

»Nein«, antwortete Mate und das war die Wahrheit. Aber Jakob sah ihn so eindringlich an, dass Mate sich nicht sicher war, ob er ihm glaubte.

»Wenn du irgendetwas darüber hörst«, sagte er, »gib Bescheid.«

Dann wiederholte er: »Sag es zuerst mir. Mir und niemandem sonst. Hast du gehört? Und ich sage es dann Mama und der Polizei.«

* * *

Zwei Tage später bestellt Schain Mate zum Gespräch ein. In dieser Woche hat Mate vormittags Schule und so geht er nach dem Unterricht zum Präsidium. Er ist schon um Viertel nach eins an der Pforte, obwohl Schain ihn erst um zwei einbestellt hat. Er drückt sich am Eingang herum, bis der uniformierte Polizist an der Pforte auf ihn aufmerksam wird. Er fordert Mate auf, ins Gebäude zu kommen oder sich zu entfernen und später wiederzukommen.

Mate gibt an der Pforte seinen Ausweis ab und geht in den ersten Stock. Das ganze Gebäude besteht aus gleich aussehenden Gängen mit hellem Holzfußboden und Türen aus hellem Sperrholz. Entlang der Gänge reiht sich ein Büro an das nächste und über jeder Tür befindet sich eine Glasscheibe. Mate ist enttäuscht. Das Polizeipräsidium ist nichts weiter als ein langweiliges Verwaltungsgebäude.

Er irrt durch die Gänge und liest die Namen an den Türen. Schließlich findet er die Tür, an der Gorki Schains Name steht. Er klopft und Schains Stimme fordert ihn auf einzutreten

Im Raum sitzen zwei Polizisten: Schain sowie ein unbekannter, korpulenter älterer Mann, der sich als Tenzer vorstellt. Die beiden sitzen zwischen Schränken aus Sperrholz und Papierstapeln. Vor jedem steht eine Olympia-Schreibmaschine. Hinter Schain hängt ein überdimensioniertes Porträt von Tito an der Wand. Mate kennt dieses oder ähnliche Bilder aus seiner Schule. Man sieht Tito im Halbprofil, und egal wo man steht, hat man das Gefühl, Tito würde einen anschauen.

Schain und Tenzer befragen ihn lange und ausführlich. Mate hat erwartet, sie würden ihn zu der Nacht von Silvas Verschwinden und Leuten aus Misto befragen. Doch das interessiert die beiden gar nicht. In den zwei Stunden, die sie ihn vernehmen, erwähnen sie Misto kein einziges Mal. Sie interessieren sich ausschließlich für Silvas Leben in Split. Sie fragen, ob er sie im Schülerinnenwohnheim besucht habe. Ob er ihre Mitbewohnerinnen und Freundinnen kenne. Sie wollen wissen, ob er nach der Schule lange in der Stadt bleibe, oder ob er gleich nach Hause fahre. Er soll alle Leute nennen, mit denen Silva sich in Split trifft. Sie stellen eine Reihe sehr detaillierter Fragen zu Silvas Leben in Split. Ob Silvas Mitbewohnerinnen Drogen nehmen. Ob er wisse, wo Silva an einem bestimmten Dienstag oder Mittwoch gewesen sei. Mate ist selbst überrascht, wie wenig er ihnen sagen kann. Silvas Leben in Split ist auch für ihn ein Geheimnis gewesen.

Dann fragt Schain ihn nach dem gleichen Namen wie Jakob. Cvitko, Mario Cvitkovic. Als Schain seine Frage stellt, beobachtet er Mate ganz genau, als suchte er nach dem kleinsten Hinweis auf eine Lüge.

Mate schüttelt den Kopf. Nein, Silva habe nie einen Cvitko erwähnt und wer das überhaupt sei. Schain antwortet nicht. Der andere, Tenzer, nickt nur bedächtig und meint, das sei nicht wichtig.

Mate verlässt das Präsidium um fünf und ist verängstigt. Er hat keine Lust nach Hause zu fahren. Lange streift er durch die Stadt. Er sieht Straßen, Häuser, vertraute Plätze. Aber plötzlich scheinen sie eine neue Bedeutung zu haben. Der vertraute Raum hat nun etwas Bedrohliches.

Als er schließlich nach Hause kommt, schlagen ihm Jakobs Unruhe und Neugier entgegen. Jakob macht ihm ein Sandwich und schenkt ihm ein Glas Milch ein. Er fragt nach dem Besuch bei der Polizei und Mate berichtet ausführlich.

Er beißt in sein Sandwich und fragt: »Wer ist dieser Cvitkovic?«

Jakob steht schweigend auf und beginnt, das Geschirr vom Abendessen zu spülen. Er dreht Mate den Rücken zu und Mate kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass er das nur tut, um Mate nicht ins Gesicht lügen zu müssen.

»Weißt du es?«, fragt er noch einmal. »Weißt du, wer dieser Cvitkovic ist?«

»Nein«, antwortet sein Vater. »Ich weiß es nicht.« Er dreht den Wasserhahn zu und verlässt die Küche.

3 Jakob (1989)

Es ist ein drückender Tag, an dem Jakob zur Befragung aufs Revier fährt. Den Himmel bedecken bleigraue Wolken und Wind aus Südosten bringt warme, schwüle Luft nach Split. In der Schalterhalle im Erdgeschoss des Polizeipräsidiums warten viele auf Reisepässe und Führerscheine. Der Wind macht sie nervös. An allen klebt der Schweiß, sie sind schnippisch, aufbrausend, sie hassen einander und sich selbst.

Bis zu jenem 23. September dachte Jakob, ihr Leben wäre normal, sie wären eine normale Familie mit zu vernachlässigenden Problemen. Die ganzen Jahre über hatte er geglaubt, eine dickköpfige, außergewöhnliche und rebellische Tochter zu haben. Manches Mal hatte er sich gewünscht, dass Silva gehorsamer, weniger rebellisch, zahmer wäre. Aber er hatte das als Symptom des Erwachsenwerdens gewertet. Jetzt wusste er, dass er falsch lag.

Denn Silva hatte größere Probleme. Wenn er das bis jetzt auch nicht begriffen hatte, an diesem Morgen wird es ihm klar.

Er verbringt drei Stunden bei der Polizei. Zwei Polizisten – Schain und Tenzer – befragen ihn über jedes Detail in Silvas Leben: ihre Freunde und Bekannten, Telefongespräche, nächtliche Unternehmungen. Sie fragen nicht nach Misto und auch nicht nach jenem Abend. Sie wollen mehr über Silvas Leben in Split erfahren und mit wem sie hier Kontakt hatte. Sie fragen nach dem Päckchen, das sie in der Regenrinne gefunden haben, nach dem Päckchen, das weiß Gott wie lange vor ihrer Nase gelegen hat und von dem er die ganze Zeit nichts gewusst hat.

»Hatte sie Besuch aus Split?«, will Schain wissen. »Hatte sie Kontakt zu jemandem? Haben Sie bemerkt, dass sie mehr Geld als sonst hatte? Hat sich irgendeine andere Person an der Regenrinne zu schaffen gemacht?«

Die Fragen prasseln auf ihn nieder und Jakob hat auf keine eine Antwort.

Irgendwann verzieht Tenzer mürrisch das Gesicht. »Sie müssen verstehen, dass das hier kein Spaß ist«, sagt er. »Wissen Sie eigentlich, wie viele Drogen in Ihrer Regenrinne lagen? Das Paket«, sagt er, »hat den Wert Ihres Jahresgehalts. Das ist harter Stoff, nicht etwas, das einem Teenie zufällig in die Hände fällt.«

Nein, so etwas kann einen den Kopf kosten, denkt Jakob. Aber er sagt keinen Ton.

Dann fällt irgendwann dieser Name. Cvitkovic. Cvitko. Sie fragen, ob Jakob ihn kenne oder von ihm gehört habe. Ob Silva das Café besuchte, in dem dieser Cvitko verkehrt. Das Café heißt Butterfly und liegt im Viertel Manus. Jakob weiß gerade mal so ungefähr, wo Manus liegt. Von einem Café Butterfly hat er noch nie gehört.

Schließlich zeigen sie ihm ein Foto. Cvitko hat kurz geschnittene Haare und trägt einen Ohrring im Ohr. Auf dem Bild sieht er aus wie ein sympathisches Schlitzohr. Jakob zuckt nur die Achseln und der Polizist nimmt frustriert das Bild wieder an sich. Jakob hat den Mann nie gesehen, weder in Misto noch in Split.

Zermürbt verlässt er das Präsidium. Auf dem Weg zum Parkplatz wird ihm klar, dass er jetzt einfach noch nicht nach Hause kann. Er schlägt den Weg ins Zentrum ein und taucht in das Gassengewirr mit Studentenkneipen hinter dem Theater ein. Er kommt am Franziskanerkloster vorbei und am Kaufhaus. Schließlich steht er vor dem Schülerinnenwohnheim. Er hat das nicht geplant, der Gedanke ist ihm spontan gekommen.

Jakob ist nur ein Mal hier gewesen: vor drei Jahren, als Silva eingezogen ist. Wenn sie Silva in Split besuchten, haben sie sich nie hier getroffen, sondern in der Schulaula oder in einer Kneipe, was Jakob im Nachhinein seltsam und verdächtig erscheint.

Er zögert und geht dann hinein. Auf einmal hat er den überwältigenden Wunsch, ihr Zimmer zu sehen und ihre Sachen zu berühren, sie unter seinen Fingern zu spüren.

Im zweiten Stock bleibt er vor einer weiß gestrichenen Tür stehen. Von innen hört man leise Popmusik. Da drinnen herrscht offensichtlich keine Trauer.

Er klopft und öffnet die Tür. In dem Zimmer stehen vier Betten. Eines ist leer und nicht bezogen. Auf zweien lümmeln zwei Teenagerinnen herum. Eine ist blond und hat Sommersprossen, die andere ist dunkelhaarig und trägt eine Zahnspange. Aus Silvas Erzählungen weiß er, dass sie Mirna und Nina heißen, aber er kommt nicht darauf, welche Mirna und welche Nina ist.