Blüte der Zeit - Sabine Weiß - E-Book

Blüte der Zeit E-Book

Sabine Weiß

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Beschreibung

Imposante Schlösser, bezaubernde Gärten und zukunftsweisende Entwicklungen - Sabine Weiß zeigt Amsterdam, Brandenburg und England in der Blüte der Zeit


1672. Weil Krieg droht, flieht der junge Landschaftsgärtner Max mit seiner Mutter und seinem Bruder aus den Niederlanden nach Brandenburg-Preußen. Dort setzt Kurfürst Friedrich Wilhelm nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges alles daran, sein Land wieder aufzubauen. Prachtvolle Schlösser und gewaltige Parkanlagen entstehen. Für Max, der die geheimen Bedürfnisse von Pflanzen und Menschen spüren kann und einen Sinn für die Schönheit der Gartengestaltung hat, bedeutet diese Landschaft Seelenbalsam und Zerstreuung. Doch es naht schon ein neuer Krieg, der ganz Europa in Mitleidenschaft ziehen wird und in den auch Max und die junge Heilkundige Elvina verwickelt werden ...

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Inhalt

Cover

Über das Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Zitat

Personenverzeichnis

Prolog

1

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Epilog

Glossar

Anmerkung und Dank

Über das Buch

Imposante Schlösser, bezaubernde Gärten und zukunftsweisende Entwicklungen – Sabine Weiß zeigt Amsterdam, Brandenburg und England in der Blüte der Zeit 1672. Weil Krieg droht, flieht der junge Landschaftsgärtner Max mit seiner Mutter und seinem Bruder aus den Niederlanden nach Brandenburg-Preußen. Dort setzt Kurfürst Friedrich Wilhelm nach den Verheerungen des Dreißigjährigen Krieges alles daran, sein Land wieder aufzubauen. Prachtvolle Schlösser und gewaltige Parkanlagen entstehen. Für Max, der die geheimen Bedürfnisse von Pflanzen und Menschen spüren kann und einen Sinn für die Schönheit der Gartengestaltung hat, bedeutet diese Landschaft Seelenbalsam und Zerstreuung. Doch es naht schon ein neuer Krieg, der ganz Europa in Mitleidenschaft ziehen wird und in den auch Max und die junge Heilkundige Elvina verwickelt werden …

Über die Autorin

Sabine Weiß, Jahrgang 1968, arbeitet nach ihrem Germanistik- und Geschichtsstudium als Journalistin. 2007 veröffentlichte sie ihren ersten Historischen Roman, der zu einem großen Erfolg wurde und dem viele weitere folgten. Im Sommer 2017 erscheint ihr erster Kriminalroman, »Schwarze Brandung«. Unabhängig davon, ob sie gerade einen Krimi oder einen Historischen Roman schreibt: Sabine Weiß liebt es, im Camper auf den Spuren ihrer Figuren zu reisen und direkt an den Schauplätzen zu recherchieren. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nordheide bei Hamburg.

Sabine Weiß

BLÜTE DER ZEIT

Historischer Roman

Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Originalausgabe

Copyright © 2023 by Bastei Lübbe AG, KölnLektorat: Dr. Stefanie HeinenTitelillustration: © adobestock.com: Spyross Arsenis | Depiano Kurakina; © shutterstock.com: leoks; © Alamy Stock PhotoVorsatzkarte: Christl Glatz & Markus Weber, Guter Punkt, MünchenUmschlaggestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign, MüncheneBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf

ISBN 978-3-7517-2817-1

luebbe.delesejury.de

Ach, wie selig ist’s, sich niederzulassenunter dem Orangenbaum.Am kristallklaren FlussbettGoldäpfel zu pflücken;den Geruch und die Luft zu riechendieser schönen Orangenfrucht!

Oranje May-Lied, Joost van den Vondel (1626)

Personenverzeichnis

Historische Personen sind mit einem * gekennzeichnet.

NIEDERLANDE

Paulus van Houtkerke, Freund von Prinz Wilhelm III. und Offizier

Egbert van Houtkerke, sein Vater

Zwanette van Houtkerke, seine Mutter

Prinz Wilhelm III.* von Oranien

Hans Willem Bentinck*, Wilhelms Kammerherr und Vertrauter

Johan de Witt, Politiker*

Prinzessin Amalia van Solms*

Grace van Aken, Servaes van Aken

Frederik van Nassau-Zuylestein*

Willem Adriaan van Nassau-Odijk*

Constantijn Huygens junior*

Max Tuinstra, Gärtner

Debora, seine Mutter

Floris, sein Bruder

BRANDENBURG-PREUSSEN

Hester Schöppen, Deboras Schwester und Kauffrau

Chim Schöppen, ihr Mann

Jerun Schöppen, ihr Sohn

Georg Huffretter, Apotheker

Petronella, seine Frau

Elvina und Rosa, zwei seiner Töchter

Annabelle von Dunker, Elvinas Cousine

Cunrat, Annabelles Bruder, Vater Adam, Mutter Ernestine

Kurfürst Friedrich Wilhelm*

Kurfürstin Dorothea*

Karl Emil*, Friedrich* (genannt: der schiefe Fritz) und Ludwig*, Friedrich Wilhelms Söhne aus erster Ehe

Michael Hanff*, Jan Oliva*, Dirk van Langelaer*, Lustgärtner

Johann Sigismund Elsholtz, Leibarzt, Botaniker und Chemiker*

Wynant, Gärtnergeselle

Oberdirektor und Ingenieur Joachim Ernst Blesendorf*

Dittrich Impen

Ursel, Deboras Freundin, Urban, ihr Großvater

Gerhild

Dictus

ENGLAND

König Charles II.*

James Scott, Herzog von Monmouth*

Eine Anmerkung zu den Daten: Die Länder auf dem europäischen Kontinent rechneten im 17. Jahrhundert nach dem gregorianischen Kalender, England folgte dem alten julianischen. Der Unterschied zwischen diesen beiden Kalendern beträgt zehn Tage. Ich habe meist das Datum im »neuen Stil« angegeben.

Prolog

Hof te Dieren, August 1667

Hoch spritzten die Erdbrocken, als Paulus und Wilhelm dem Keiler über die Wiese hinterherpreschten. In einer Staubwolke folgten ihnen die Jagdhunde. Kaum einen Blick hatte Paulus für die violetten Heideblüten, die mit Buchengrün und dem blaugrauen Himmel ein strahlendes Band bildeten. Seine Sinne waren gänzlich auf die Jagd ausgerichtet: die Rotte Wildschweine, auffliegende Schwarzkehlchen und Ziegenmelker, in der Ferne der Schemen eines fliehenden Rehbocks – und natürlich das Wildschwein, das ihnen geschickt entkommen war. Bis jetzt.

Das Blut brannte in seinen Adern, trieb Paulus an. Mal wieder hatten sein Gefährte und er sich über die Regeln der höfischen Jagd hinweggesetzt, waren ihrem eigenen Instinkt gefolgt, mochte es auch noch so gefährlich sein.

Sie näherten sich einem der ausgetrockneten Gräben, als sich die Bewegungen des Tieres veränderten. Gleich schlägt es einen Haken. Paulus drückte seinem Hengst die Hacke in die Flanke, zog sacht am Zügel. Ein vages Triumphgefühl durchströmte ihn, als er trotz des Richtungswechsels zu dem Eber aufschloss. Im Galopp setzte er über den Graben. Enten stoben aus dem Brackwasser auf. Auch sein Vorsprung zu Wilhelm war gewachsen. Kurz spielte Paulus mit dem Gedanken, dem Prinzen den Sieg zu überlassen. Wilhelm war zwei Jahre jünger, also sechzehn, und mit seiner schwächlichen Konstitution benachteiligt. Als Kind hatte der Prinz sich schonen müssen und außer Billard und Tanz keine Leibesertüchtigung treiben dürfen.

Dann gewann Paulus’ Ehrgeiz Oberhand. Ohnehin würde der Stolz es seinem Freund verbieten, eine derartige Gefälligkeit anzunehmen. Gleichauf war er nun mit dem Wild, trieb es in den Wald, wo sich eine Senke befand. Horrido! Die ersten Hatzhunde wetzten heran und halfen, den Eber einzukesseln. Paulus sprang von seinem Pferd. Wilhelm riss an den Zügeln, sodass sein Ross stieg. Erst als es ruhig stand, saß er ab. Der Eber keuchte, Schaum tropfte von seinem Gewaff.

»Ihr seid ein Teufelskerl! Beinahe hätte ich Euch geschlagen, Jonkheer!«, rief Wilhelm aus. Sein langes dunkelbraunes Haar war zerzaust, und er rieb sich lachend über die große huckelige Nase, die seinem fein geschnittenen Gesicht eine markante Note gab. Auch sonst war er nicht gerade ein Adonis, vor allem waren seine Beine kurz und ließen den Rumpf lang erscheinen. Paulus kam sich verglichen mit ihm mit seinem vom Reiten, Ringen und Fechten gestählten Körper, den dicken schwarzen Haaren und den glühenden Wangen beinahe martialisch vor.

»Um Haaresbreite, in der Tat, Hoheit! Und es wäre mehr als verdient gewesen!«, gab er zurück.

Es tat ihm gut, seinen Freund so glücklich zu sehen, denn das Schicksal hatte Wilhelm, dem dritten Prinzen von Oranien dieses Namens, von Anfang an übel mitgespielt. Der Tod des Vaters, noch ehe Wilhelm das Licht der Welt erblickt hatte. Das überraschende Sterben der Mutter wenige Jahre später. Der schleichende Verlust seiner Privilegien, seiner Macht, seines Besitzes. Viele Nackenschläge hatte Paulus miterlebt.

Die Jagdhunde umkläfften sie nun, und das Horn wurde geblasen. Hans Willem Bentinck war hochrot unter seinem orangenen Haarschopf, als er mit der Nachhut eintraf. Paulus sah ihm an, dass er sich ärgerte, schließlich kannten sie einander beinahe ihr ganzes Leben lang, waren als Kinder gemeinsam am Hof des Prinzen eingeführt worden und als dessen Pagen mit ihm aufgewachsen. Paulus ahnte, was seinen Freund so erzürnte: Noch immer musste Bentinck mit den lahmen Rössern vorliebnehmen, die seine älteren Geschwister ausgemustert hatten – und das, obgleich er derzeit Wilhelms Liebling war.

»Hast du einen kleinen Ausflug gemacht, um den Garten zu besichtigen, oder warum trabst du erst jetzt hier an?«, spottete Paulus freundschaftlich.

Bentinck konnte über die Stichelei nicht lachen. »Rede nicht, sondern bring lieber diese Bestie unter Kontrolle!«, brummte er, zog aus seinem Reitmantel ein Spitzentaschentuch und tupfte sich den Schweiß von der Stirn. Tatsächlich hatte der Eber gerade eine Dogge angegriffen und riss an deren leinenem Panzer. Die anderen Hunde kamen der Dogge sogleich zu Hilfe und verbissen sich im borstigen Fell des Keilers. Es war ein Schauspiel, wie es das Herz eines jeden Jägers höherschlagen ließ.

Eilends brachte ein Bursche die Saufeder. Paulus wandte sich zu Wilhelm und deutete eine Verneigung an: »Diese Ehre steht Euch zu.«

»Hoheit, wäre es nicht besser …«, mischte Bentinck sich ein, aber in den Augen des Prinzen funkelte es. Dieser Versuchung konnte er nicht widerstehen. Wie schon sein Vater liebte auch Wilhelm die Jagd, weshalb er sich am liebsten nach Dieren in der Provinz Gelderland zurückzog. Hier, inmitten der weiten Heideflächen und der wilden Wälder der Veluwe, gab es Raum genug für Beizjagd, Wildschweinhatz oder Parforcejagd. Wilhelm schätzte die Kameraderie und den freundschaftlichen Wettstreit auf seinem Jagdschloss. Entschlossen packte er den Spieß und stellte sich in Positur, die scharfe Lanze auf den rasenden Eber gerichtet.

»Denkt an die Gefahren, Hoheit«, setzte Bentinck noch einmal nach, aber Wilhelm ignorierte ihn.

Eine spürbare Unruhe senkte sich über die Gruppe, und auch zwischen Paulus’ Schulterblättern prickelte es. Auf Wilhelms Befehl hin lenkten die Jäger und der Saurüde die Aufmerksamkeit auf ihn, um dadurch das Tier in seine Richtung zu treiben. Kurz durchzuckte Paulus die Sorge, dass der Eber Wilhelms Schlagader aufreißen und der Prinz verbluten könnte. Wäre er dann schuld? Er packte einen weiteren Sauspieß, bereit, sich zwischen den Keiler und den Prinzen zu werfen. Das Blut rauschte in seinen Ohren.

Schnaubend stürmte der Eber auf Wilhelm zu. Alle schienen den Atem anzuhalten. Doch der Prinz trieb die Saufeder geschickt in den Brustkorb des Tieres. Sofort sackte es zusammen.

»Ein perfekter Stich ins Herz, Hoheit!«, jubelte Bentinck aus sicherer Entfernung.

Wilhelm wandte sich Paulus zu. Der nickte anerkennend, aber der Prinz legte ihm die Hand um den Nacken, lachte auf und zog ihn an sich, was für den sonst so reservierten jungen Mann ungewöhnlich war.

Die Jäger brachen das Wildschwein auf und schwarteten es ab. Als den Hunden das Curée bereitet wurde und der Eisengeruch des Blutes in der Augusthitze drückend wurde, ritten sie zurück.

Während Bentinck schwieg, ließen Paulus und der Prinz die Jagd noch einmal Revue passieren. »Ihr solltet Euch nicht über das Garteninteresse unseres Freundes lustig machen«, sagte Wilhelm schließlich zu Paulus. »Ich habe große Pläne, was Paläste, Lustgärten und Wasserkunst angeht. Wenn ich erst über meine Besitzungen verfügen kann, wird Bentinck mir eine große Hilfe sein.«

»Mit Verlaub: Was wollt Ihr mit Blumen, Wasserspeiern und Rabatten? Wenn Ihr Euch amüsieren wollt, braucht Ihr größere Wildgehege, Hoheit!«, wandte Paulus ein.

Bentinck unterbrach ihn: »Auch wenn ein fanatischer Reiter wie du es kaum glauben mag, gibt es auch angemessene Zerstreuungen jenseits der Jagd. Ein Lustgarten – «

»Oh, bitte nicht! Verschone uns – mich zumindest – mit deinen Vorträgen!«, fiel Paulus ihm ins Wort.

»Ich hörte von neuartigen Wasserspielen, die König Ludwig in Versailles anlegen lässt«, fuhr Bentinck unbeirrt fort.

»Ich hörte, ich las, mir wurde zugetragen – wen interessiert’s?«, rief Paulus.

»Ihr habt eben nichts für die verfeinerte Lebensart übrig, Jonkheer«, meinte Wilhelm mit einem Augenzwinkern.

Gleich bin ich wieder abgemeldet, dachte Paulus resigniert. Doch ihr Wortwechsel verebbte ohnehin, denn sie hatten die Kutsche im Hof des Jagdschlosses auf dem Rouwenberg entdeckt. »Schloss« war eine grandiose Übertreibung, denn der Hof te Dieren war ein ehemaliges Landgut des Deutschen Ordens, dessen Ausbau durch den Tod von Wilhelms Vater zum Erliegen gekommen war.

Prinz Wilhelm ließ sofort sein Ross zurückfallen. Paulus wandte sich zu ihm um, schluckte seine Entgegnung aber herunter. Das Gesicht seines Freundes hatte sich beim Anblick seines Gastes in eine abweisende Maske verwandelt.

*

Wilhelms Brust war schlagartig eng geworden. Es hatte nichts Gutes zu bedeuten, wenn Johan de Witt ihn im Jagdschloss aufsuchte, statt ihren nächsten Termin in ’s-Gravenhage abzuwarten. Mit einem Wink verabschiedete er sich von seinen Freunden und übergab sein Pferd einem Stallknecht.

»Hoheit, eine dringende Angelegenheit treibt mich hierher. Ich muss Euch um ein Gespräch bitten.« Der höchste Staatsmann der Republik der Sieben Vereinigten Niederlande begrüßte ihn formvollendet. Im Gegensatz zu seinem Bruder Cornelis, der ein Trampel in einem Samtanzug war und unter der Fuchtel seiner Frau stand, hatte Johan de Witt die klassischen Züge einer antiken Statue: ein Raubvogelgesicht, umrahmt von langen schwarzen Haaren. Seine tiefschwarze Kleidung – natürlich aus teuersten Stoffen – unterstrich diesen Eindruck noch.

Den Regeln der Höflichkeit gehorchend, bat Wilhelm den Ratspensionär in den Salon. Er kannte de Witt, seit er denken konnte. Er hatte bereitgestanden, nachdem die Pocken seinen Vater dahingerafft hatten, und nach dem Tod der Mutter, als er zehn Jahre alt gewesen war, hatte der Ratspensionär sich noch mehr in sein Schicksal eingemischt. Seither war Johan de Witt immer mächtiger geworden, nicht zuletzt, nachdem er in die reiche und bestens vernetzte Amsterdamer Regentenfamilie Bicker eingeheiratet hatte. Vor zwei Jahren hatte de Witt ihn sogar zum »Kind des Staates« erklärt und seine Erziehung ganz an sich gerissen.

Wilhelm musste sich mühen, sich den aufbrandenden Hass nicht ansehen zu lassen. Johan de Witt war einer der Männer, die versuchten, ihn kleinzuhalten, ihm seine ererbten Rechte zu entziehen. Gleichzeitig musste er das staatspolitische Geschick des Mannes anerkennen, dessen Tatkraft und seine mathematische Genialität.

Wilhelm ließ Erfrischungen auftragen, griff aber trotz seines Durstes nicht zu. Selbst die Melonen aus dem eigenen Garten, die er sonst liebte, ließ er stehen. Die selbstzufriedene Miene, die de Witt heute zur Schau trug, verhieß nichts Gutes. Seit dem Sieg über die Engländer, der Ende Juli im Frieden von Breda besiegelt worden war, war de Witt beinahe unangreifbar. Die Nervosität machte Wilhelms Kehle eng und ließ ihn spüren, wie das Stützkorsett seine Brust einschnürte. Er hüstelte. Seine Lunge war seine Schwachstelle, an ihr zeigte sich jegliche Angegriffenheit sofort.

Kaum hatte de Witt einen Schluck getrunken, ergriff er das Wort. »Mein Prinz, es sind wahrlich bewegte Zeiten. Diese erfordern besondere Maßnahmen, um die Harmonie in unserer Republik wiederherzustellen«, begann er gewichtig. »Ich möchte Euch in Kenntnis setzen, dass die Staaten von Holland die Abschaffung der Statthalterschaft beschlossen haben – und zwar für alle Zeiten. Die anderen Provinzen werden diesem Beispiel folgen. Zudem wird festgelegt, dass das Amt des Statthalters und des Generalkapitäns getrennt werden. Dieses Ewige Edikt sieht zudem vor, dass Ihr frühestens mit dreiundzwanzig Jahren den Posten des Generalkapitäns übernehmen könnt, und nicht mit neunzehn, wie Ihr es erhofft haben mögt.«

Wilhelms Gedanken überschlugen sich, während de Witt unbeirrt weitersprach. In ihm kochte es. Die Abschaffung der Statthalterschaft?! Sollte er alle Vorrechte verlieren, die seine Familie besessen hatte? Er hatte gehofft, sich in etwas über zwei Jahren an die Spitze von Staat und Armee setzen zu können, und nun musste er vier weitere Jahre warten – eine halbe Ewigkeit! Es spielte keine Rolle, dass der Statthalter für manche lediglich der höchste Beamte der Republik war. Die Oranier, seine Vorfahren, waren durch die Statthalterschaft fürstengleich gewesen, politische wie militärische Anführer. Seiner Familie gehörte das Fürstentum Orange im Süden Frankreichs. Er selbst war durch seine Geburt ein englischer Prinz und zugleich mit dem französischen Königshaus sowie den edelsten Höfen Deutschlands verbunden. Und jetzt? Nichts würden die anmaßenden Regenten der Republik, die reichsten und mächtigsten aller Bürger, ihm lassen! Obgleich er gewohnt war, seine Gefühle zu verbergen, ging sein Atem jetzt stockend; ein Warnsignal.

Satzfetzen flogen an ihm vorbei. »… dieses großartige Konzept für Harmonie sieht vor … müsst verstehen, dass … zum Wohle der Nation … jeder in den Staaten von Holland erwartet von Euch … Ihr eines Tages die Leitung der Armee übernehmen werdet …«

Wilhelm versuchte, wenigstens seine Atmung unter Kontrolle zu bekommen. Johan de Witt nestelte an seinem schneeweißen, perfekt gebügelten Hemdkragen. »Zugleich aber erschauern alle in Erinnerung daran, was Euer Vater, verführt durch den Ratschlag übelmeinender Männer, getan und womit er die Existenz des ganzen Staates bedroht hat …«

Am liebsten hätte Wilhelm den Mann vom Hof geprügelt. Wie oft hatte man ihm schon vorgehalten, dass sein Vater vor siebzehn Jahren die Provinz Holland angegriffen, Amsterdam belagert und ein paar Politiker in Schloss Loevestein eingekerkert hatte! Bedauerlich, dass ausgerechnet einer der Söhne dieser Loevesteiner, ebendieser Johan de Witt, anschließend Karriere gemacht hatte. Das Gefühl der Ohnmacht zerriss Wilhelm fast. Wer, bitte, trat für seine Rechte ein? Wo waren seine Verbündeten, um de Witt und dessen Spießgesellen für ihre Frechheit zur Rechenschaft zu ziehen? Wo blieben die treuen Oranier, wenn er sie brauchte?

Johan de Witt schien Wilhelms Aufruhr nicht zu bemerken. Sinnierend legte er die Fingerspitzen aneinander.

Wilhelm starrte auf die langen blassen Finger, die sonst unablässig Briefe schrieben. De Witt hat das Netz der Menschen geschaffen, die mich meiner Rechte berauben. Die sich Gott widersetzen. Denn Gott hat das Haus Oranien auf diesen Platz gestellt. Und Gott wird mir helfen, versuchte Wilhelm, sich zu beruhigen. Noch immer schwieg er.

»Wir – und ich möchte besonders unterstreichen, dass ich mich dazuzähle – sind von Eurem ausgezeichneten Charakter überzeugt, Hoheit. Aber ein guter Charakter kann durch schlechte Gesellschaft ruiniert werden«, dozierte de Witt weiter. »Wir müssen zum Wohle der Nation sicherstellen, dass Ihr Euch Eurer Verantwortung bewusst seid, ehe wir Euch eines Tages den Posten des Generalkapitäns übertragen. Deshalb werdet Ihr, wenn die übrigen Provinzen dem Eeuwig edict zustimmen, an Eurem achtzehnten Geburtstag Mitglied des Staatsrats. So könnt Ihr lernen, wie man der Republik dient.«

Wilhelm wusste, dass Johan de Witt die bittere Pille, die er zu schlucken hatte, mit derartigen Formulierungen leichter verträglich machen wollte. Er sollte mit diesen Brotkrumen hingehalten, ruhiggestellt werden. Ja, die Mitgliedschaft im Staatsrat bot einen tieferen Einblick in das politische Räderwerk der Republik, aber Stimmrecht würde er sicher nicht erhalten. Machtlos würde er sein, ein Nichts. Eine Marionette an den Fäden der reichen Regenten.

Wilhelm bemerkte, dass de Witts Blick an einem Blutfleck auf seinem Handrücken hängen geblieben war. Der Eber hatte eine letzte Spur hinterlassen, und er würde dieses Mal bis zum Ende des Gesprächs wie eine Trophäe tragen.

De Witt lächelte bemüht; er war noch immer nicht fertig. »Nie würden wir den Posten des Militärführers jemandem übertragen, der mit einer verdächtigen ausländischen Dynastie verbandelt ist. Es ist bekannt, dass die Verbindung zum englischen Königshaus der Stuarts Euren Vater zu seiner ruinösen Politik getrieben hat.«

De Witt redet mit mir, als wäre ich ein unverständiges Kind. Ganz so, als wäre mir nicht klar, dass ich selbst die Frucht dieser Verbindung bin. Ich bin halb Oranier, halb Stuart – und stolz darauf. Wilhelm spürte, wie Verachtung seine Oberlippe hochschnellen ließ und seine Augen schmal wurden; er mäßigte sich sogleich. Diese Blöße würde er sich nicht geben!

»Wenn Ihr selbst eines Tages in den Stand der Ehe tretet, müsste es jemand sein, dessen Religion akzeptabel ist, und es müsste jemand von ebenso edler Geburt sein«, führte Johan de Witt weiter aus.

Wilhelms Magen verkrampfte sich. Auch auf seine zukünftige Ehe würden diese Krämer sich also anmaßen, Einfluss zu nehmen. Als stünde er nicht haushoch über ihnen! Die Geduld verließ ihn. Er bemerkte, dass er die Hände zu Fäusten geballt hatte, und versuchte, die Verkrampfung zu lösen.

Johan de Witt sah ihn erwartungsvoll an. Am liebsten hätte Wilhelm ihn angeschrien. Stattdessen sagte er: »Ich verstehe Eure Ausführungen voll und ganz. Bitte sprecht dem Hohen Rat meinen Dank aus, dass er sich derart um meine Person und meine Interessen sorgt, mijn Heer.«

Kaum hatte de Witt den Saal verlassen, riss Wilhelm sich Wams und Hemd vom Leib und schnürte mit bebenden Fingern das Korsett auf. Luft, endlich Luft! Ein Hustenkrampf schüttelte ihn, pfeifend sog er den Atem ein.

Mit dem äußeren Halt schien auch seine Kraft zu schwinden, und von einem plötzlichen Schwächeanfall ergriffen ließ Wilhelm sich auf den kalten Steinboden sinken. Die Sauhatz mochte zwar seinen Körper ermüdet haben, doch viel mehr zehrten die politischen Grabenkämpfe an ihm. Es hatte schon viele finstere Stunden gegeben. Diese aber war ohne Zweifel der Tiefpunkt des Hauses Oranien und zugleich seines Lebens, denn nun bestand für ihn keine Hoffnung mehr, je seinen Vorvätern und seinem Volk Ehre zu machen. Er war wahrlich unter einem Unglücksstern geboren!

1

’s-Gravenhage, 10. Juni 1672

Stück für Stück fraß sich die Schnecke durch die Pracht, und obwohl nur winzige Bissen in ihrem Maul verschwanden, würde am Ende des Tages die ganze Blütenstaude vernichtet sein. Andächtig bewunderte Max die Weinbergschnecke in ihrer perfekt geschwungenen Schönheit. Er meinte sogar, das genüssliche Schmatzen des Tieres zu hören. Die Worte seines Vaters über die Schnecke als natürlicher Feind des Gärtners kamen ihm in den Sinn, aber Max brachte es nicht übers Herz, sie zu hassen. Seiner Beobachtung nach vernichteten Schnecken vieles, was ohnehin verging, und manchmal kam es ihm vor, als verfiele alles um ihn herum – war nicht ihr ganzes Leben dem Tod geweiht? Max spürte, wie Tränen seinen Blick verschleierten, als die Erinnerung in ihm aufstieg.

In einer grazilen Bewegung wandte die Schnecke ihre Fühler, dann das Haupt. Max folgte ihrer Blickrichtung. Nein, nicht den Rittersporn! Das ging zu weit! Entschlossen ergriff er mit zwei Fingern das Gehäuse und warf das Tier über die Mauer, die den Buitenhoftuin, den Garten hinter dem Binnenhof, einfasste.

Erstaunt stellte er fest, dass die Dämmerung dem Tag gewichen war. Es passierte ihm oft, dass er über die Gartenarbeit alles um sich herum vergaß. Doch die Natur beruhigte ihn. Deshalb war er ja auch hierhergeschlichen, nachdem er schier endlos von seinem schmalen Lager aus in die Dunkelheit gestarrt und den Schlafgeräuschen der anderen gelauscht hatte. Zu viel war ihm durch den Kopf gegangen, zu viele Bilder hatten sein Herz zum Rasen gebracht.

Wolken, schwer wie nasse Schaffelle, waberten über dem Garten. Warum regnete es nicht endlich? Schon Winter und Frühjahr waren so trocken gewesen, dass viele Pflanzen verwelkt waren. Zu allen anderen Katastrophen gesellte sich also auch noch eine katastrophale Dürre. Anscheinend gab es in diesem Jahr kein Mittelmaß, auch in der Natur nicht. Groll überfiel ihn, als er an die Fluten der feindlichen Soldaten dachte, die ihr Land überschwemmten, die brandschatzten, plünderten, vergewaltigten und töteten. Die Erinnerung daran, wie sie das Leben auch seiner Familie zerstört hatten, fügte ihm Seelenqualen zu, die er nur schwer wieder abschütteln konnte. Bilder der letzten Wochen blitzten vor seinem inneren Auge auf: Seine Familie auf dem Hof in der Provinz Overijssel, ihrem Zuhause. Seine Aufgaben im Garten, das Studium von Traktaten, die Fürsorge für seltene Pflanzen. Dann der Angriff durch das Söldnerheer des Erzbischofs von Münster, dieses verfluchten Bomben-Bernds. Wie konnte ein derart gewalttätiger Mensch, der eine Vorliebe für verheerende Kanonen hatte und rücksichtslos das Leben anderer vernichtete, als Gottesmann gelten?

Schnell verbannte Max den Gedanken und dachte stattdessen an die verzweifelte Lage, in der sich die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen befand. Heimtückisch hatten der französische König Ludwig, der vierzehnte dieses Namens, und der englische König Charles II. sich gegen sie verbündet; die katholischen Erzstifte Köln und Münster hatten sich ihnen angeschlossen. Hollands Einfluss, sein Reichtum und die weltumspannende Macht waren den Königen und Bischöfen genauso ein Dorn im Auge wie die religiöse Toleranz, die in der gesamten Republik herrschte. Daneben ging es um die Spanischen Niederlande, die König Ludwig an sich reißen wollte. Sie waren alles, was den Habsburgern nach dem Befreiungskampf geblieben war; der Landstrich trennte den freien protestantischen Norden vom katholischen Süden – und von Frankreich. Ein so machtgieriges Land wie Frankreich als Nachbarn zu haben wäre für die republikanischen Niederlande gefährlich. Schon jetzt war ein gewaltiges Heer über die Provinzen hergefallen. Es hieß, mehr als einhunderttausend ausgezeichnet ausgebildete französische Soldaten stürmten gegen die mickrige Armee der Niederlande; dazu kamen die Söldner der Verbündeten. Wenn es so weiterging, würde der Feind die Republik vollends überrennen, ausplündern und unterwerfen; eine grausame Vorstellung, zumal ihnen die englische Kriegsflotte gleichzeitig auf See das Leben schwermachte.

Mühsam schüttelte Max auch diese Grübelei ab. Er sollte sich ablenken, wenigstens für ein paar Minuten! Verstohlen sah er sich um. Niemand war zu sehen. Während er den Garten auf sich wirken ließ, spürte er, wie sein Geist sich beruhigte. Obgleich der Lustgarten auf dem Singel klein war, bewunderte er die Anlage. Er wusste, dass der berühmte Pieter Post die Rabatten entworfen und der ebenso bekannte Hofgärtner Jan van der Groen sie ausgestaltet hatte. Dabei waren die beiden nach den Regeln der Gartenkunst vorgegangen. Herausgekommen war alles andere als ein Allerweltsgarten. Das lang gezogene Rechteck mit den zehn von Buchsbaum umsäumten, hübsch bepflanzten und üppig blühenden Parterres lag hinter dem Binnenhof, dem politischen Zentrum der Niederlande. Mit Orangen, Zypressen, Zitronen und Granatäpfeln konnten die Besucher hier einige der exotischen Gewächse bewundern, die die niederländischen Handelskompanien aus dem Ausland mitbrachten. Linden beschatteten empfindliche Pflanzen. Es gab einen Pavillon sowie eine Grotte, die allerdings ein wenig vernachlässigt wirkten. Auch die Rabatten hatte lange niemand mehr gepflegt; offenbar war zu Kriegszeiten die Schönheit des hochherrschaftlichen Gartens unwichtig. Max konnte das nicht nachvollziehen. War ein Garten nicht ein Spiegel des Gartens Eden? War er nicht eine Welt in der Welt?

Er schüttelte den Kopf. Ich sollte lieber verschwinden, ehe es Ärger gibt, dachte er nervös.

Schnellen Schrittes trug Max den Grünabfall zwischen den wuchernden Hecken entlang. Löwenzahn und Hahnenfuß sprossen zwischen Tulpen, Hyazinthen und Narzissen, die Buchsbäume gerieten außer Form, der Springbrunnen war voller Algen. Es war erschreckend, wie schnell die Natur die Ordnung der Menschen vernichtete. Vielleicht konnte er bei Einbruch der Nacht zurückkommen. Als Erstes würde er das Beet mit dem Rittersporn entkrauten; eine Schnecke kam selten allein.

Max’ Gesicht hellte sich auf. Niemand würde ihm seine Mühen entlohnen, aber immerhin musste er dann nicht in der kleinen Kammer ausharren, in der seine Mutter vor sich hindämmerte. Debora machten nicht nur ihre Verletzungen zu schaffen. Sie war seit dem Überfall und dem Tod des Vaters vielmehr in eine Art Starre gefallen, einen Zustand, wie er ihn noch nie bei ihr erlebt hatte. Wie sich eine Schnecke vor Feinden in ihr Haus verkroch, hatte sich Deboras Lebensgeist zurückgezogen. Floris, sein jüngerer Bruder, wich seither nicht von ihrer Seite, was gut war, denn in den prächtigen Straßen des Haag herrschten Gewalt und Panik.

Der Anblick einer weiteren verkümmerten Zierpflanze ließ Max innehalten. Welke Blätter, fleckige Knospen. Also so was! Er griff in die Erde, zerkrümelte sie zwischen den Fingern. Dann nahm er die Umgebung in Augenschein. Wer diese Lenzrose hier gepflanzt hatte, hatte keinen Gedanken an ihre Bedürfnisse verschwendet. An der Südseite, zwischen den Büschen, würde es der Pflanze besser gehen. Ohnehin hätte die Staude längst geteilt werden müssen. Kurzerhand grub er sie aus und setzte sie auf den Grünabfall. Eilig ging er weiter. Wenn ihn jemand so antraf, könnte er denken, er wollte die Rose stehlen.

Bei einer hoch aufgeschossenen Zypresse stieß er beinahe mit einem weißbärtigen Mann mit Lederschürze zusammen, der einen Blumenkübel mit Rosmarin vor sich hertrug. War in diesem Geviert doch noch ein Lustgärtner beschäftigt?

»Was treibst du hier, Bursche?« Der schroffe Ton ließ Max zusammenfahren. Der Gärtner ließ den Kübel beinahe fallen, so hastig stellte er ihn ab, und zog einen Pflanzstock aus seiner Schürze. »Ein Pflanzendieb, wie!« Schon hieb er auf Max ein, der nicht einmal die Hände frei hatte, um sich zu schützen. Scharf brannten die ersten Striemen auf seinem Handrücken.

»Haltet ein! Ich wollte nichts stehlen! Ich wollte helfen. Ich habe nichts …«, rief er und taumelte zurück.

»Das sieht nicht aus wie nichts! Wer hat dich angeheuert?« Drohend erhob der Gärtner den Stecken.

»Niemand. Ich habe einfach …« Max holte Luft, um sich zu beruhigen. Scham hatte seine Wangen gerötet. Wenn er mit Fremden reden musste, fiel es ihm oft schwer, Sätze fehlerfrei herauszubringen. Und in dieser Situation …

»Entschuldigt, Mijnheer. Mein Vater war Wobbe Tuinstra. Er war als Lustgärtner und Planteur tätig. Hat für den Oranierhof, verschiedene Regenten und früher auch mit Jan van der Groen gearbeitet«, sagte er schnell.

Der Gärtner zupfte an seinem Bart. »Der Name sagt mir etwas. Deine Herkunft gibt dir aber noch lange nicht das Recht, hier herumzufuhrwerken!«

»Ich bin … Ich war sein Lehrling. Vater ist leider«, Max musste schlucken, »gestorben.« Er mochte nicht erzählen, wie es dazu gekommen war.

Der Gärtner ließ seinen Blick auf Max ruhen, was dessen Nervosität noch befeuerte. Immerhin steckte er den Pflanzstock wieder weg. »Was hast du mit der Rose vor? Das ist eine Christrose, die reißt man nicht einfach heraus!«

»Ich habe sie nicht herausgerissen! Außerdem ist das eine Lenzrose, der tut es gut, wenn sie geteilt wird.« Max spürte, wie seine Ohren glühten.

»Ein betweter bist du also auch noch!«

Max trat von einem Fuß auf den anderen. »Entschuldigt, Meester. Ich wollte nur … helfen. Die Blumenrabatte dort hinten habe ich … angefangen zu entkrauten. Und diese Rose …« Er zupfte an seinem Ohrläppchen. Der Gärtner verzog den Mund. Doch ehe er losschimpfen konnte, gelang es Max, seinen Satz zu beenden: »Ich will sie retten. Jede Pflanze braucht ein geeignetes Umfeld, um zu gedeihen, genau wie jeder Mensch.«

Sichtlich unwillig schwieg der Gärtner. Dann sagte er: »Ich habe sie nicht dort hingepflanzt. So was passiert, wenn man kein kundiges Personal beschäftigt! Und um alle Stauden zu teilen, fehlt mir die Zeit.« Er hob den Kübel wieder hoch, was ihm schwerzufallen schien.

»Bitte, lasst mich den Kübel ein Stück tragen«, sagte Max, als müsste er etwas wiedergutmachen.

Der Gärtner ruckelte mit den Händen, offensichtlich suchte er nach einem guten Griff. »Und was willst du dafür?«, fragte er argwöhnisch.

Max schüttelte den Kopf. »Nichts.«

Der Gärtner reichte ihm den Kübel. »Das ist gut. Es gibt für diese Arbeit nämlich keinen Lohn. Und es wird auch sehr lange keinen geben. Alles Geld fließt in den Krieg.« Er wies Max den Weg.

»Das sagte mein Vater auch. Er hat zuletzt Jan van der Groen beim Garten von Paleis Honselaarsdijk unterstützt.«

»An dessen letzter großer Stellung.«

»Genau. Mein Vater hatte sich auf die Anlage von Gärten nach den klassischen Prinzipien, auf fremdartige Pflanzen sowie auf Treibkästen spezialisiert.« Max kamen die Sätze nun, da es um die Gartenkunst ging, leichter über die Lippen. »Der Park wurde ja bereits unter Friedrich Heinrich, dem Großvater unseres Prinzen, angelegt. Prinz Wilhelm wollte ihn umgestalten.«

»Was du nicht sagst«, spottete der Gärtner. »Hast du nicht behauptet, dein Vater sei Planteur gewesen?«

»Mein Vater war vielseitig«, sagte Max kühl. Er wusste, dass Wobbes Konkurrenten behauptet hatten, er könne zwar vieles, aber nichts davon richtig. Max hielt ihre Kritik jedoch für blanken Neid. Er hatte von seinem Vater viele verschiedene Facetten der Gartenkunst gelernt.

Der Gärtner wies auf einen sonnigen Platz vor der verputzten Mauer. Max stellte den Kübel ab und zeigte auf ein halbschattiges Fleckchen unter Büschen. »Meint Ihr, ich könnte die Rose dort hinpflanzen? Dieser Platz würde ihr sicher gut gefallen.« Der Gärtner nickte stumm. »Prinz Wilhelm ist ein großer Freund der Gartenkunst, heißt es«, nahm Max den Gesprächsfaden wieder auf.

»Das ist wahr«, bestätigte der Gärtner und drehte den Kübel, bis der Rosmarin gut ausgerichtet war. »Ein Jammer, dass der Krieg all seine Mittel verschlingt. Das Oranierhaus ist ohnehin in Nöten. Die Verräter haben unser Land in den Ruin getrieben. Jetzt kann uns nur noch der Prinz retten! Niedermachen sollte man die Regenten, in Stücke reißen, vor allem diesen de Witt, diesen Verräter …«

Der Gärtner redete sich derart in Rage, dass Max unwillkürlich einen Schritt zurücktrat. Sein Vater hatte viel für die Regenten, die reichen Politiker und Kaufleute gearbeitet. Von ihm hatte Max gelernt, dass nicht der Stand zählte, sondern die Fürsorge, die man seinem Besitz angedeihen ließ.

»Ich muss zu meiner Familie!«, sagte Max daher, sobald er die Lenzrose gegossen hatte, und ging grußlos davon. Er warf den Grünabfall auf einen Komposthaufen in der Nähe des Tores und lief weiter. Verflixt, jetzt hatte er nicht gefragt, ob er wiederkommen durfte!

Im Durchgang traf er zu seiner Überraschung auf Floris. »Da bist du ja endlich! Ich hab dich überall gesucht!«

Max sah ihn beunruhigt an. Floris war für seine elf Jahre zierlich und wirkte hilflos wie ein kleines Kind. Seine Wangen waren rot, die grünbraunen Augen unter dem dunkelblonden Schopf wirkten groß und viel zu ernst. »Was machst du hier? Du sollst doch nicht allein durch den Haag laufen!«

Floris’ Lippen bebten. Würde er gleich weinen? Max beugte sich zu ihm hinunter und legte ihm die Hand auf die Schulter. »Sag schon – ist was mit Mutter?«

Floris blinzelte heftig. »Ich bin aufgewacht, und du warst fort! Mutter stöhnt und weint im Schlaf, aber wenn ich sie anfasse, reagiert sie nicht. Und dann hatte ich Hunger …« Wie immer, wenn Floris aufgeregt war, nagte er an seiner Unterlippe, wodurch seine großen Vorderzähne hasenartig wirkten. »Ich habe unter Mutters Pritsche geschaut, aber …«, er pumpte die Wangen auf, »aber der Korb war leer! Das Brot ist weg, kein Krümel mehr da! Jemand muss es gestohlen haben. Und Mutter … Sie reagiert einfach nicht.«

Max unterdrückte ein Seufzen. Dass seine Mutter unter dem Tod ihres Mannes und den Folgen der Gewalt litt, konnte er nachfühlen. Und doch war sie für Floris verantwortlich! »Du hättest trotzdem nicht allein losgehen dürfen. Das ist viel zu gefährlich, hörst du!«

»Hier sind keine Franzosen! Und auch sonst kein Feind!«

»Nein, aber die Leute hier können ebenfalls gefährlich sein, auch für einen Jungen wie dich.«

»Ich kann mich verteidigen!« Halbherzig ballte Floris die Finger zur Faust.

»Klar, weiß ich doch!« Max stupste mit seinen Knöcheln spielerisch dagegen. »Komm, lass uns nachsehen, was mit Mutter ist. Und dann kümmere ich mich um etwas zu essen.« Sein Magen krampfte; er hatte gar nicht gemerkt, dass er solchen Hunger hatte. Selbst wenn sie etwas hatten, was selten genug vorkam, brachte er kaum einen Bissen herunter, sondern teilte lieber mit seiner Mutter und seinem Bruder. Früher hatten sie diesen nagenden Hunger nicht gekannt. Sie hatten Vieh gehalten, und ihr Vater hatte genug verdient, sodass die Speisekammer immer gefüllt war.

Max seufzte. Nun musste er für ihren Lebensunterhalt sorgen, irgendwie. Er sollte sich eine Arbeit suchen. Doch mit seinen fünfzehn Jahren würde er auf die Schnelle kaum genügend Geld verdienen, um die Familie durchzubringen, zumal im Haag die Konkurrenz groß war. Aufs Land zurückzukehren, wagten sie aus Furcht vor dem Feind allerdings auch nicht. Wenn sie irgendwo sicher waren, dann hier. ’s-Gravenhage würde als Regierungssitz der Republik bis zuletzt verteidigt werden, auch wenn es nicht einmal eine Stadtmauer gab. Ihr Gastgeber lag ihm seit Wochen in den Ohren, dass er sich freiwillig zur Armee melden sollte, um für die Republik zu kämpfen. Aber das wollte Max nicht. Er war kein Krieger, selbst als Kind hatte er Raufereien mit anderen Jungen vermieden.

Trauer drückte ihn nieder, als er daran dachte, wie sein Vater gleich nach seiner Ankunft in ’s-Gravenhage seinen Verletzungen erlegen war. Nun hatten sie nichts mehr. Keinen Halt, kein Zuhause, keine Arbeit, kein Geld. Immerhin hatten sie bei einem befreundeten Gärtner in der Sint Jacobstraat unterschlüpfen können. Die Verhältnisse dort waren beengt, und jeden Tag wurden noch mehr Flüchtlinge einquartiert.

Die Geschwister passierten den Binnenhof, ein Gebäudeensemble aus Backsteinen und crèmefarbenem Blendwerk. Max mochte ’s-Gravenhage. Es gab viele Villen mit großen Gärten, in die er nur zu gern hineingespitzt hätte, und baumumsäumte Grachten. Beeindruckend war auch die Lange Voorhout, eine Allee mit vier Reihen Linden, in der die Reichen in Friedenszeiten flanierten oder mit ihren Kutschen spazieren fuhren. Jetzt allerdings mussten Max und Floris einen Bogen um die aufgebrachten Bauern und Bürger schlagen, die sich hier wie jeden Tag versammelt hatten, um zu protestieren. Flugblattverkäufer schrien ihnen die Schlagzeilen entgegen. Manche Schmähschriften fanden reißenden Absatz, vor allem diejenigen, in denen zum Sturz der Regierung aufgerufen wurde. Man behauptete, dass die Politiker bestochen seien und sie die Armee absichtlich geschwächt hätten. Dass die Regenten die Niederlande an feindliche Könige verkauft hätten.

»Der Hohe Rat will den Haag verlassen und nach Amsterdam fliehen! Diese Feiglinge bringen sich in Sicherheit – während sie uns opfern!«, rief ein Verkäufer und wedelte mit blauen Büchern und Handzetteln.

Eine hitzige Diskussion brach aus. Auch Max war beunruhigt. Wenn die Regierung ’s-Gravenhage für verloren hielt, wären sie auch hier nicht mehr sicher. Aber wohin sollten sie stattdessen?

Sie liefen den Hofplaats entlang zur Sint Jacobstraat. Vor der Gärtnerei diskutierte ihr Gastgeber gerade lautstark mit einem Kaufmann. »Es ist mir egal, ob Euer Geschäft durch den Krieg zum Erliegen gekommen ist! Ich habe vor drei Monaten eine Fuhre Buchs geliefert, und ich will dafür bezahlt werden!«, schimpfte er.

Max ging stumm grüßend an ihnen vorbei.

»Halt, warte!«

Galt das ihm? Er verlangsamte den Schritt.

»Ja, genau, du!«

Max wandte sich um. Sein Gastgeber funkelte ihn an, während der Kaufmann die Gelegenheit nutzte und sich verzog. »Wenn deine Mutter so krank ist, dass sie das Bett nicht verlässt, müsst ihr ins Spital. Ich will nicht, dass Debora uns alle mit was auch immer ansteckt, und schon gar nicht, dass sie unter meinem Dach verreckt!«

Ehe Max ihn aufhalten konnte, schoss Floris vor. »Wie könnt Ihr das sagen! Mutter hat keine ansteckende Krankheit! Und sie wird auch nicht sterben!«

Max schob ihn beiseite. »Meine Mutter ist wegen des Angriffs und des grausamen Todes meines Vaters noch etwas leidend«, erklärte er schnell, bevor Floris den Mann vollends erzürnen könnte.

Der Gärtner verschränkte die Arme. »Dann soll sie schnell wieder auf die Beine kommen! Außerdem kannst auch du Geld verdienen, um für eure Unterkunft aufzukommen.«

»Habt Ihr in der Gärtnerei eine Beschäftigung für mich?«, fragte Max hoffnungsvoll.

Der Mann lachte höhnisch. »Glaubst du, ich lege mich aus Spaß mit meinen Kunden an? Ich habe Arbeiter genug – nur kann ich sie nicht bezahlen. Melde dich zum Schanzen oder noch besser zur Armee, und verteidige unser Land! Ein kräftiger Kerl wie du wird bestimmt mit Handkuss genommen!«

»Max, Floris – kommt sofort hierher!« Die Geschwister fuhren herum. Ihre Mutter lehnte am Türpfosten.

Ihr Anblick erfüllte Max mit Trauer. Blass war Debora und dünn, die Haare hatte sie notdürftig hochgesteckt, ihre Arme um ihre schlanke Taille gewunden. Sie wirkte verhärmt, kaum war noch zu erkennen, wie ansprechend sie trotz ihrer vierzig Jahre bis vor Kurzem ausgesehen hatte. Ihre blauen Flecke und die Würgemale verblassten nur langsam, die Verletzungen waren erst ein wenig verheilt. Natürlich hatte er versucht, seiner Mutter zu Hilfe zu kommen, aber ein Soldat hatte ihn niedergeschlagen. Man musste von Glück reden, dass es Floris gelungen war, sich zu verstecken; so hatte wenigstens er die Untaten nicht mitansehen müssen. Was danach gekommen war, war für seinen Bruder ohnehin schlimm genug.

Floris schlang die Arme um Debora. Auch Max trat zu ihr. Debora zog ihre Kinder an sich, klammerte sich an sie.

Ihr Gastgeber verschränkte die Arme vor der Brust. »Ich wiederhole mich nur ungern, Debora: Die Freundschaft zu deinem Mann, Gott habe ihn selig, in Ehren, aber ihr müsst für die Unterkunft zahlen. Ich brauche das Geld.« Nachdem er Max gegenüber Härte gezeigt hatte, war sein Ton nun mitfühlender.

»Wenn das so ist, wirst du es bekommen«, sagte Debora fest. Im nächsten Moment aber schienen ihre Knie nachzugeben. Mit Mühe hielt Max sie aufrecht. Aus der Nähe bemerkte er einen Blutstropfen an ihrem Hals. Er zupfte an ihrem Tuch, um ihn zu verdecken. Wortlos wandten sie sich ab.

Die Geschwister stützten Debora, bis sie ihre Kammer im Wirtschaftshaus erreicht hatten, die karg und eigentlich für Saisonarbeiter gedacht war. Schnell versorgte Max die Schnittwunde an Deboras Hals, die durch die Anstrengung aufgeplatzt war. Neben der Pritsche lagen die wenigen Dinge, die ihnen geblieben waren: Vaters Werkzeugtasche mit seiner Gartenschere und der Zange, den kleinen Schaufeln und Messern. Bücher über Gartengestaltung, die Max – anders als Vaters gärtnerisches Notizbuch – vor den Flammen hatte retten können. Ein Beutel mit Blumen- und Gemüsesamen. Geflickte Kleidung. Ein Abakus und ein Peitschenkreisel.

Max führte seine Mutter zu der schmalen Pritsche, auf die sie sich sogleich sinken ließ. Sie schlug die Hände vor das Gesicht und weinte.

Max wollte sie trösten. »Ich werde Geld beschaffen. Ich suche mir Arbeit. Zur Not melde ich mich zur Armee«, sagte er, obgleich diese Möglichkeit ihn erschauern ließ.

Debora wiegte den Kopf hin und her. So kraft- und mutlos hatte er sie noch nie erlebt. »Nur das nicht! Ich will dich nicht auch noch verlieren.« Sie knetete ihre Finger. Ihr Ehering blitzte auf; sie hatte ihn nur retten können, weil sie ihn bei dem Überfall geistesgegenwärtig im Rocksaum versteckt hatte. »Ich weiß doch auch nicht, was wir tun können …« Tränen rannen ihr über die Wangen. »Ich kann nicht fassen, dass mein Wobbe, euer Vater … dass wir … Unser Erspartes ist gestohlen, der Hof verloren, und er …«

Sie warf sich weinend auf das Bett. Floris schmiegte sich an sie, Max aber ergriff die Hand seiner Mutter. »Gibt es denn niemanden, der uns noch helfen kann?«

Debora schluchzte. »Wer soll … uns schon … helfen?«

»Es muss doch jemanden geben! Verwandte, Freunde? Jemanden, an den wir schreiben können. Vater hätte nicht gewollt …«, rief Max aus, verstummte dann aber. Endlich sah Debora ihn wieder an. Ihr Blick war weidwund. »Entschuldige, Mutter«, stammelte er. »Es sollte kein Vorwurf …«

Debora wischte sich die Tränen von den Wangen, dann stemmte sie sich hoch. »Du hast recht. Ich muss mich zusammenreißen, das bin ich eurem Vater schuldig.« Sie stieß die Luft aus. »Du musst deine Ausbildung fortsetzen, Max. Und du sollst in Frieden aufwachsen.« Sie strich Floris über den Rücken. Stille kehrte ein. Würde sie gleich wieder zusammenbrechen? Doch dann murmelte Debora, als spräche sie nur mit sich: »Das halbe Land ist in den Händen des Feindes. Wir haben Bekannte im niederrheinischen Kleve. Aber um die kurfürstlichen Gärten dort wird es kaum besser bestellt sein, als es hier der Fall ist. Außerdem sind wir dort nahe an den Schlachtfeldern. Da kommen wir vom Regen in die Traufe. Und meine Schwester …«

Max merkte auf. »Du hast eine Schwester? Wir haben … eine Tante?«

Deboras Gesicht verschloss sich schlagartig, als bereute sie, diese Schwester erwähnt zu haben. »Wir haben seit Jahren keinen Kontakt mehr.«

Max war fassungslos. Eine Gänsehaut überlief ihn. Manchmal war seine Mutter ihm ein Rätsel. »Trotzdem solltest du auch ihr schreiben, Mutter«, sagte er eindringlich.

»Das kann ich nicht!«

Er drückte Deboras Hand, aber sie reagierte nicht mehr. Irgendetwas musste er tun, um sie umzustimmen! »Was auch immer zwischen euch steht – ihr müsst es vergessen. Wenn du es selbst nicht kannst, sag mir, was ich wissen muss, dann schreibe ich die Briefe.«

Debora sah sich um, als erwachte sie aus einem Albtraum. »Wir müssen die Bücher verkaufen. Und Vaters Werkzeug. Aber dann kannst du nicht … Du musst doch lernen!«

»Das werde ich auch!« Max schmerzte der Gedanke, die letzten Besitztümer seines Vaters verkaufen zu müssen. Aber was blieb ihnen anderes übrig? »Ich habe die Traktate studiert. Und vielleicht akzeptiert unser Gastgeber das Werkzeug als Bezahlung. Vater hat es sich damals etwas kosten lassen.«

Debora nickte. »Verkaufe die Bücher, und beschaffe dann Papier und Schreibzeug.«

»Und etwas zu essen!«, rief Floris, der ungewohnt ruhig gelauscht hatte.

Ein erneutes Seufzen. »Ja, auch etwas Brot und Käse«, stimmte Debora matt zu. »Und wegen des Werkzeugs … Vielleicht warten wir damit noch ein wenig.«

»Meinen Peitschenkreisel und den Abakus kannst du auch verkaufen. Ich brauche sie nicht mehr. Rechnen kann ich gut«, sagte Floris tapfer. Noch einmal trieb er den Kreisel geschickt mit der Spielzeugpeitsche an, dann reichte er beides Max.

Max musste schlucken. Er strich über die abgegriffene Ledermappe mit dem Werkzeug, blätterte dann in den Büchern. Es schmerzte ihn, sie wegzugeben, auch wenn er den Inhalt kannte. Vermutlich würden sie nicht viel dafür bekommen. Wer brauchte schon Gartenbücher, wenn jeder um sein Leben fürchtete? Wenn es täglich zig, ja, vielleicht Hunderte Flugschriften gab, die sich die Menschen gegenseitig aus der Hand rissen, um über die Lage der Nation informiert zu sein?

2

Arnhem, 11. Juni 1672

Der Fluss stank, der Pegel war wegen der andauernden Trockenheit niedrig. Paulus befahl der Eskadron seines Vaters, am Ufer des Nederrijn zu exerzieren. Über ihm flatterte in einer Brise die Cornette, die er als rangjüngster Offizier der Kavallerie hielt. Ungeduldig sah er sich um. Es dauerte viel zu lange, bis der Zug wieder Formation annahm! Immerhin standen sie im Vergleich zu dem Fußtrupp neben ihnen noch gut da. Wild stolperten die ehemaligen Bauern oder Handwerker durcheinander, schmutzig vom aufwirbelnden Staub. Manche waren so jung, dass sie noch nicht einmal Bartwuchs hatten. Eine Schande, dass die Republik der Sieben Vereinigten Provinzen, diese reichste aller Weltmächte, keine anständige Armee besaß!

Zwischen Paulus’ Schulterblättern prickelte die Wut. Der schnelle Vormarsch der feindlichen Armee hatte alle Niederländer erschüttert. Die ersten Grenzstädte waren bereits gefallen, darunter Bollwerke wie Wesel. Sogar Städte wie seine Heimat Maastricht waren inzwischen bedroht. Sie mochte die imposanteste Festung der Republik sein, hatte aber eben auch eine Schlüsselstellung inne. Zwar hatte Leutnant-Admiral de Ruyter in der Seeschlacht in der Solebay die Gefahr einer Invasion vom Meer aus abgewendet. Dafür schickte sich der französische König Ludwig nun höchstselbst an, mit seinem Heer den Rhein zu überqueren, um die Republik zu erobern.

Dass sein Freund, Prinz Wilhelm, trotz seiner erst einundzwanzig Jahre zum Generalkapitän ernannt worden war, war das einzig Positive, was Paulus dem Kriegsausbruch abgewinnen konnte. In der Panik, die nach der Kriegserklärung ausgebrochen war, hatte das Volk einen Anführer gebraucht und sich des entmachteten Oraniers erinnert. Wilhelm hatte sofort alles in die Wege geleitet, um die Streitkräfte zu verstärken und Allianzen zu schmieden. Doch es dauerte, bis die Maßnahmen griffen.

Paulus beobachtete, wie ungeschickt einige der Soldaten mit ihrer Pistole umgingen, und winkte sie zu sich. »So müsst ihr das machen«, erklärte er und führte ihnen noch einmal das Radschloss mit seinem Mechanismus von Abzug, Metallklappe, Schwefelkies und Zündkraut vor. Obgleich es wetteranfälliger war und mehr Lunte verbrauchte, griffen manche immer noch lieber auf das altmodische Luntenschloss zurück.

Als er sah, dass sich sein Vater näherte, ließ Paulus die Eskadron Formation annehmen; dieses Mal eilten die Männer sich sichtlich. Auch er nahm Haltung an. Trotz seines Alters war Egbert van Houtkerke noch immer eine imposante Erscheinung: groß, mit dichtem Bart und stechenden Augen. Durch seine Kämpfe in den Kriegen mit Spanien und England hatte er einen legendären Ruf. Paulus respektierte seinen Vater, denn er wusste, dass die meisten der Legenden über den alten Haudegen wahr waren. Doch auch als Vater war Egbert unerbittlich, was Paulus und sein älterer Halbbruder Quentin oft genug hatten erleben müssen.

Er ritt seinem Vater entgegen und stellte fest, dass dieser doch nicht von allen gesundheitlichen Problemen verschont geblieben war. Manchmal deutete Paulus’ Mutter an, dass es für Egbert an der Zeit sei, sich auf den Landsitz der Familie bei Maastricht zurückzuziehen und den Jungen den Krieg zu überlassen. Doch davon wollte dieser nichts wissen. Vielleicht, weil er sich dann mit unserer finanziellen Misere und Mutters Zustand auseinandersetzen müsste, schoss es Paulus durch den Kopf. »Was habt Ihr erreichen können, Herr Vater? Bekommen wir noch Männer, um unsere Eskadron aufzustocken?«, fragte er.

Egbert van Houtkerkes vernarbtes Gesicht zuckte. »Es gibt keine. Die Feiglinge fliehen lieber, statt zu kämpfen. Deserteure zuhauf! Wie diese Pfeffersäcke in Amsterdam, die sich nicht schämen, ihr Hab und Gut außer Landes zu schaffen, statt die Republik zu retten! Wer noch übrig ist und sich bewirbt, ist geldgierig. Dabei sollten sie aus Patriotismus für ihr Land kämpfen!« Er schnaubte verächtlich. »Du musst zu Prinz Wilhelm. Er muss etwas für uns tun.«

»Prinz Wilhelm tut schon jetzt, was er – «

»Als Generalkapitän hält er die Hebel in der Hand«, wischte sein Vater den Einwand weg. »Er soll dafür sorgen, dass unsere Eskadron aufgestockt wird. Es ist bekannt, dass der Prinz eher auf seinesgleichen hört als auf seine altgedienten Generäle. Wozu hast du denn all die Jahre am Oranierhof verbracht! Eil dich gefälligst!«

Zorn trieb Paulus an, als er die Hauptstadt der Provinz Gelderland hinter sich ließ und gen te Dieren ritt, wo der Prinz die Nacht verbringen würde. Er hasste die Vorstellung, Wilhelm um etwas bitten zu müssen.

In den letzten Jahren war sein Verhältnis zu Wilhelm durch ein ständiges Auf und Ab geprägt gewesen. Nachdem Wilhelm mit dem Ewigen Edikt gedemütigt worden war, hatte Paulus ihm beistehen und ihn ablenken können. Zu dieser Zeit waren sie einander recht nah gewesen, doch vor eineinhalb Jahren hatte ihr Verhältnis während ihrer Reise nach England Risse bekommen. Prinz Wilhelm hatte versucht, bei seinem Onkel, dem englischen König, Schulden einzutreiben. Charles II. war ein säumiger Zahler und galt als Verschwender. Selbst die Mitgift von Wilhelms verstorbener Mutter, Charles’ Schwester, war nie ausgezahlt worden. König Charles hatte Feste zu ihren Ehren gegeben und ihnen alle erdenklichen Vergnügungen geboten, und Paulus hatte die Zeit bei Hofe genossen. Viel zu spät hatte er bemerkt, wie abgestoßen Prinz Wilhelm von seinem Onkel war – und von Paulus’ Poussieren mit Hofdamen und Schauspielerinnen einer Theatertruppe. So war statt ihm Bentinck in der Gunst des Prinzen weiter gestiegen und hatte wichtige Botendienste erledigen dürfen. Der Tiefpunkt war für Paulus erreicht, als Wilhelm Bentinck zu seinem Kammerherrn ernannte. Noch immer war ihm nicht klar, warum genau er den Kürzeren gezogen hatte, und Wilhelm schwieg sich aus, wie so oft. Um die Tätigkeit tat es Paulus nicht leid, er erwarb sich seine Glorie lieber im Kampf, aber der Posten war einer der höchsten bei Hofe und versprach gute Einkünfte und ein beträchtliches Renommee.

Erst seit Krieg herrschte, konnte Paulus wieder punkten. Er war ein ausgezeichneter Kämpfer, hatte die Schriften der Kriegsstrategen studiert, und er kannte durch die Erzählungen seines Vaters die Schlachten der jüngeren Vergangenheit, als wäre er selbst dabei gewesen.

Paulus zügelte seinen Hengst, weil er einen Kanal überqueren musste. Auf der Brücke und am Ufer wartete eine Menschenmenge auf die nächste Treckschute. Die Flüchtlingswelle hatte mittlerweile bedrohliche Ausmaße angenommen, und viele Reiche schafften ihr Geld ins Ausland. Glücklicherweise gab es in den Hafenstädten auch patriotische und oraniertreue Männer, die diese Feiglinge aufhielten. Ihm allerdings machten die Wartenden den Weg frei, denn Paulus hatte seinen Hengst mit einer wappengeschmückten Schabracke versehen lassen und war selbst in einen neuen Justaucorps mit kleinen Kugelknöpfen und Borten an den Seitenschlitzen gewandet.

Wenig später erreichte Paulus die Einhegung des Jagdschlosses. Kurz träumte er davon, dass sie sich auf einem Jagdausflug entspannen könnten, doch dafür war vermutlich keine Zeit. Seufzend wandte er sich zum Eingang.

Wilhelm stand mit seinen Beratern im großen Saal und freute sich sichtlich, Paulus zu sehen. Bentinck lächelte gemessen. Der Freund hatte sich gemacht, seit er Kammerherr war. Er trug einen Schoßrock aus teurem Stoff und schien auch sonst gut für sich zu sorgen, wie sein Bäuchlein bewies.

Knapp tauschten sie sich über die neuesten Entwicklungen aus. Als Paulus seinen Freund endlich auf die väterliche Eskadron ansprechen wollte, trat der altgediente Botschafter Hieronymus van Beverninck ein.

»Unsere Unterredung ist beendet, meine Herren.« Wilhelm wies seinen Beratern die Tür, signalisierte Bentinck und Paulus aber zu bleiben.

»Ihr bringt wichtige Neuigkeiten aus Zutphen, nehme ich an. Gibt es wieder Ärger mit Wirtz?«, wandte sich Prinz Wilhelm sodann an van Beverninck.

»Wenn es nur das wäre! Der Feind nähert sich von allen Seiten – und das in Windeseile«, berichtete der Botschafter. »Es wird gefürchtet, dass die Franzosen bei Tolhuis den Rhein überqueren könnten, wo der Pegel derzeit besonders niedrig ist.«

»Das wäre eine Katastrophe!« Wilhelm strich sich über die Stirn. »Die Verteidigung von Schloss Tolhuis und die Bewachung des dortigen Rheinabschnitts obliegen dem Vicomte de Montbas. Ich habe dem Feldmarschall bereits aufgetragen, ihm Verstärkung zu schicken.« Montbas war mit der Tochter von Pieter de Groot, dem niederländischen Botschafter in Frankreich, verheiratet und kämpfte deshalb für die Republik.

Van Beverninck sah sich nach einem Stuhl um, aber da der Prinz ihm nicht gestattet hatte, sich zu setzen, blieb er stehen. »Allerdings gibt es auch mit dem Zweiten Feldmarschall erneut Ärger«, berichtete er. »Als unsere Truppen seiner Ansicht nach zu lange brauchten, um Formation anzunehmen, hat Wirtz nicht nur sie, sondern auch die verantwortlichen Offiziere scharf gerügt. Auch soll er Trompetern gedroht haben, sie zu hängen, wenn sie noch einmal unerlaubt einen Begrüßungssalut für Euch spielen.« Van Beverninck stand der Zorn über das Verhalten des betagten, aber erfahrenen deutschen Feldmarschalls ins Gesicht geschrieben.

Auch Wilhelms Züge verdüsterten sich. »Wenn ich erst meine Macht gemehrt habe, wird Wirtz sehen, dass er sich besser nicht mit mir anlegen sollte. Bis dahin sind wir leider auf seine Dienste angewiesen.«

Paulus bezweifelte, dass es je dazu kommen würde. Erst in der Stunde der höchsten Not hatten die Generalstaaten ihr Misstrauen dem Hause Oranien gegenüber überwunden und Prinz Wilhelm zum Generalkapitän gemacht. Johann Moritz, Fürst von Nassau-Siegen, war zum Ersten Feldmarschall ernannt worden, der deutsche Heerführer Wirtz zum zweiten. Zwei alte Männer, deren Zeit längst abgelaufen war. Während die anderen berieten, stürzte Paulus ein Glas verdünnten Weins herunter und aß einige Schnitten Melone, die stets bereitstanden, weil Wilhelm darauf ganz versessen war. Die Trockenheit spielte nicht nur dem Feind in die Hände, sondern setzte auch ihm zu; er fühlte sich wie ausgedörrt. Trotzdem war er entschlossen, sogleich wieder aufzubrechen.

Nachdem van Beverninck sich entschuldigt und zurückgezogen hatte, sagte er daher: »Ich werde bei meinem Vater darauf drängen, unsere Eskadron zu verlagern, wenn Ihr einverstanden seid, Hoheit. Wir müssen um jeden Preis verhindern, dass die Franzosen den Rhein überqueren. Der Wasserstand ist auch im Nederrijn sehr niedrig.«

Prinz Wilhelm nickte grimmig, doch Bentinck schien nicht einverstanden zu sein. Sein Blick war zu den Plänen für die Umgestaltung der Gartenanlage des Jagdschlosses gewandert, die er mit Wilhelm entwickelt hatte. Ausgerechnet Wasserspiele im französischen Stil hatten es ihnen angetan, was Paulus ebenso überflüssig wie unpatriotisch fand. War es nicht schlimm genug, dass die feine niederländische Gesellschaft auf Französisch parlierte und den französischen Sitten nacheiferte?

»Ihr solltet Dieren verlassen, Hoheit, sosehr Ihr diesen Ort auch liebt«, sagte Bentinck schließlich. »Hierher ist es von Tolhuis nur ein kurzer Ritt. In Nu wäret Ihr in den Händen des Feindes. Das dürfen wir nicht riskieren.«

Wilhelm stützte die Hände auf die Hüften. Die augenbrauenschmalen Bärtchen, die er sich links und rechts über der Oberlippe hatte stehen lassen, bebten. »Ich werde Dieren nicht aufgeben, allein aus Respekt vor meinem Vater!«

»Dennoch könnte die Flucht nötig sein. Ich hörte, dass unsere Truppen sich darauf vorbereiten, sich zurückzuziehen, wenn die Franzosen einfallen«, sagte Paulus.

»Das ist noch nicht entschieden. Oder hat es jemand an mir vorbei befohlen? De Witt etwa?«, fragte Wilhelm scharf. Seit dem Ewigen Edikt hielt der Prinz seine Verachtung für den Ratspensionär kaum noch im Zaum.

In diesem Augenblick trat ein Diener ein. »Der Vicomte de Montbas ist eingetroffen, Hoheit. Er sagt, es sei dringlich.«

Paulus durchfuhr es heiß. Er sah, dass auch Wilhelm sich versteifte. Warum war der Vicomte nicht in Tolhuis und hielt dort den Feind auf? War der Rhein schon verloren? Dann gnade ihnen Gott! Die Franzosen würden das Land überrennen.

Schon betrat der Vicomte den Raum. Er war nach der neuesten französischen Mode gekleidet, aber seine Kleidung war verdreckt, und er wirkte derangiert. »Ihr habt Euren Posten verlassen, Vicomte?«, forschte Wilhelm sogleich nach.

Nervös nestelte Montbas am Heft seines Degens. »Die französische Armee steht unter dem Prinzen von Condé und dem Duc de Longueville auf der anderen Rheinseite. Es sind so viele Soldaten – und stündlich stoßen weitere Truppen hinzu. Der Wasserstand ist niedrig an dieser Stelle, Kanonen werden herangeschafft, und der Feind hat angefangen, aus Pontons eine Schwimmbrücke – «

»Warum habt Ihr Euren Posten und Eure Männer im Stich gelassen, Vicomte?« Wilhelms Ton war schneidend, sein Gesicht eine Maske. Bentinck und Paulus tauschten Blicke. Wilhelm verstand es zwar meisterhaft, seine Gefühle zu verbergen, aber wenn sein Zorn Oberhand gewann, wurde es gefährlich.

»Hoheit, ich habe unterschiedliche Anweisungen der Feldmarschälle und Eurer Hoheit erhalten und weiß nun angesichts der Übermacht nicht – «

»Und deshalb beweist Ihr Feigheit vor dem Feind? Wachen!«

Entsetzen schlich sich auf das Gesicht des Vicomte. »Hoheit, lasst mich doch erklären …«

Die Wachen stürmten herein. »Verhaftet den Vicomte!«, befahl Wilhelm. Etwas zögerlich packten sie zu. Der Prinz ließ sich von den Protestrufen des Franzosen jedoch nicht erweichen und beobachtete stattdessen, wie dieser aus dem Saal geführt wurde.

Erneut blieben die drei Freunde allein zurück. Wilhelm stieß einen Wutschrei aus und trat so heftig gegen einen Stuhl, dass dieser gegen den Beistelltisch prallte und die Zeichnungen der Blumenrabatten und des Wasserlabyrinths zu Boden segelten.

Bentinck hob sie auf. »Ihr müsst Euch in Sicherheit bringen, Hoheit! Ihr dürft nicht vergessen, dass das Volk auf Euch zählt.«

»Was mir wenig nützt! Solange ich meine angestammten Rechte nicht zurückhabe, bin ich ein Spielball in den Händen der Regenten!«, knurrte Wilhelm.

Impulsiv legte Paulus ihm die Hand auf den Unterarm, ruhig und schwer. Er wusste um seine Ausstrahlung, die mit einem angenehmen Äußeren zusammenkam; in seiner Nähe fühlten sich nicht nur Frauen geborgen. Tatsächlich schien Wilhelm ruhiger zu werden, doch dann flackerte sein Blick von ihm zu Bentinck, woraufhin Paulus seine Hand zurückzog. Was war in ihn gefahren – er sollte sich keine Vertraulichkeiten erlauben! Beschwörend sagte er: »Ich muss Bentinck zustimmen. Zieht Euch zurück, und plant für den Notfall. Falls wir die Franzosen nicht an IJssel und Rhein aufhalten können, müssen wir es woanders tun.«

»Was bleibt uns denn noch?«, fragte Wilhelm erregt. »Höchstens die – «

»Wasserlinie, genau. Nur dass wir zur Not dieses Mal ganz Holland in eine Insel verwandeln müssen.« Die Maßnahme war schon länger erwogen worden, aber noch nie so radikal, wie Paulus es gerade ausgesprochen hatte. Stille hing zwischen ihnen wie ein Leichentuch.

»Das können wir nicht machen!«, rief Bentinck schließlich. »Wir würden an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen!«

Paulus ärgerte der Einspruch. »So wie deine Familie an unserem Ast sägt, indem sie in Overijssel mit dem Feind gemeinsame Sache macht?«

»Dir ist bekannt, dass wir einen Familienzweig haben, der dem Katholizismus zuneigt. Meine Verwandten haben sich der Armee des Münsteraner Fürstbischofs ergeben. Was hätten sie tun sollen?« Bentinck machte eine wegwerfende Geste. Sein rötliches Gesicht war fleckig. »Eine Hungersnot droht, wenn wir Äcker und Weiden fluten. Außerdem würden die Bauern rebellieren – die laufen jetzt schon gegen die Regierung Sturm!«

Ein schmales Lächeln schlich sich auf Wilhelms Gesicht, das Paulus schaudern ließ. »Das kann auch unser Vorteil sein.«

Paulus wusste, dass sein Freund recht hatte. Wenn Wilhelm seine angestammten Rechte gänzlich zurückerlangen wollte, mussten die Regenten Macht verlieren. Dennoch könnte genau das auch einen Bürgerkrieg auslösen. »So weit muss es nicht kommen. Wir werden den Rhein halten«, sagte er. »Ich werde losreiten und mit meinem Vater und allen Soldaten, derer wir habhaft werden können, Tolhuis zu Hilfe eilen. Aber vorher müssen wir unsere Eskadron aufstocken.«

Wilhelm nickte zustimmend und straffte sich, sodass sein Lederkorsett knirschte. Er wandte sich an Bentinck. »Schicke van Beverninck wieder los. Auch Wirtz soll sich mit seinen Truppen auf den Weg machen – und zwar sofort! Der Rhein muss um jeden Preis verteidigt werden!«

Paulus ritt wie der Teufel. In Windeseile ließen er und sein Vater die Eskadron aufmarschieren und verstärken und brachen auf. Und doch kamen sie zu spät. Schon aus der Ferne sahen sie den über Tolhuis aufsteigenden Rauch, sahen das schäumende Wasser, sahen Hunderte, ja, vermutlich Tausende Reiter, die durch einen seichten Abschnitt des Rheins preschten, während in der Nähe bereits die ersten Häuser brannten. Schmerzerfüllte Schreie mischten sich in Kampfrufe, in das Donnern der Kanonen, der Musketenschüsse, der Hufe.

Auch Tolhuis stand unter Beschuss. Obgleich die Lage verzweifelt schien, gab Paulus seinen Mannen das Zeichen zum Angriff. Sie durften nicht aufgeben, durften den Franzosen nicht das Feld überlassen! Den Befehl seines Vaters, sich zurückzuziehen, ignorierte er.

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Bodegraven, 20. Juni 1672

Der Anblick war unerträglich. Das grüne Herz der Niederlande schlug kaum mehr, das Land rang mit dem Tod. Paulus schmerzte es, die fruchtbaren Weiden überflutet zu sehen, die Dörfer geplündert und abgebrannt. Stundenlang war er auf Dämmen geritten, hatte auf die spiegelnde Fläche gestarrt, die seine Heimat überspülte. Die Wasserlinie war die grausamste Waffe, die sie hatten anwenden können, denn sie richtete sich auch gegen sie selbst. Viele Schleusen wurden geöffnet, viele Deiche durchstochen, um eine Grenze aus Wasser zu schaffen. Von der Zuiderzee bei Amsterdam bis Gorinchem im Süden sollte das Land in einem breiten Streifen überflutet, Holland damit tatsächlich zu einer Insel werden. Auch er hatte darauf gedrängt – und doch haderte er mit dieser Entscheidung.