Blütenmord - Smilla Johansson - E-Book
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Blütenmord E-Book

Smilla Johansson

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Beschreibung

Zwei zerstörte Leben und ein Trauma, das nie überwunden wurde.
Ein packender Kriminalroman mit psychologischem Tiefgang

Der perfide Mord an einem jungen Mädchen führt die Kommissarin Josefine Svensson tief in die Abgründe der menschlichen Seele. Bald schon kämpft die Ermittlerin nicht nur gegen einen gefährlichen Psychopathen, sondern muss sich ihrer eigenen dramatischen Vergangenheit stellen. Zur gleichen Zeit geraten auch zwei Jugendliche auf eine grausige Spur …
Eines ist klar: Dieser Fall ist anders als alle vorherigen.

Erste Leserstimmen
„ein unglaublich packender Krimi mit psychologischem Tiefgang“
„die Autorin beschreibt mit derart viel Geschick die Untiefen der Menschen, dass ich nicht nur einmal Gänsehaut hatte“
„spannend aufgebaut, bis schließlich alles in einem packenden Finale endet“
„eine junge Kommissarin, die nicht nur gegen die Dämonen der menschlichen Abgründe kämpft, sondern auch gegen ihre eigenen“
„hat alles, was ich von einem guten Krimi erwarte“

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Seitenzahl: 417

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Über dieses E-Book

Der perfide Mord an einem jungen Mädchen führt die Kommissarin Josefine Svensson tief in die Abgründe der menschlichen Seele. Bald schon kämpft die Ermittlerin nicht nur gegen einen gefährlichen Psychopathen, sondern muss sich ihrer eigenen dramatischen Vergangenheit stellen. Zur gleichen Zeit geraten auch zwei Jugendliche auf eine grausige Spur … Eines ist klar: Dieser Fall ist anders als alle vorherigen.

Impressum

Erstausgabe Mai 2019

Copyright © 2023 dp Verlag, ein Imprint der dp DIGITAL PUBLISHERS GmbH Made in Stuttgart with ♥ Alle Rechte vorbehalten

E-Book-ISBN: 978-3-96087-759-2 Taschenbuch-ISBN: 978-3-96443-283-4

Covergestaltung: Buchdesign Traumstoff unter Verwendung eines Motivs von shutterstock.com: © ioanna_alexa Lektorat: Lektorat Reim

E-Book-Version 27.04.2023, 17:02:15.

Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.

Sämtliche Personen und Ereignisse dieses Werks sind frei erfunden. Etwaige Ähnlichkeiten mit real existierenden Personen, ob lebend oder tot, wären rein zufällig.

Abhängig vom verwendeten Lesegerät kann es zu unterschiedlichen Darstellungen des vom Verlag freigegebenen Textes kommen.

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Blütenmord

Für mich; und du kannst es doch!

Prolog

Heute passiert es. Heute wird es überreicht. Ich kenne den genauen Ablauf. Ich sehe es vor meinem inneren Auge. Ich sehe die Abfolge von Ereignissen bis zur Vollendung. Es beginnt gegen Zehn, wenn alle diese kleinen Rotznasen schön brav an ihren Tischen sitzen und sich von öden Filmen oder Monologen der Lehrer berieseln lassen müssen. Aber eine von ihnen wird nicht an ihrem Platz sein. Eine von ihnen wird aus der Reihe tanzen. Keiner wird bemerken, was dort im Verborgenen abläuft.

Ein letztes Mal erinnere ich mich an den Geruch, atme ihn mit einem tiefen Atemzug durch die Nase ein. Ich liebe diesen Geruch. Er hat etwas Frisches aber auch Heimtückisches an sich.

Niemand sonst wird es jemals so genießen können, wie ich. Niemand außer mir weiß, was damit passieren wird. Es wird jemanden geben, der mir behilflich ist und es wird jemanden geben, der das letzte Mal jemandem behilflich sein darf.

Ich freue mich jetzt schon, es persönlich in Empfang zu nehmen. Später, wenn alles gelaufen und alle verräterischen Spuren beseitigt sind, wird jemandem auffallen, dass Janine Krause für fünf Minuten nicht an ihrem Platz saß. Doch es wird für das kleine Kind zu spät sein. Niemand wird sie mehr retten können. Sie steckt bereits bis zum Hals in Schwierigkeiten. Ich bin ihre einzige Hoffnung.

Früher oder später wird auch sie es verstehen. Werden ihre Eltern verstehen, dass ich sie gerettet habe. Wenn nach einem normalen Tag keine Janine nach Hause kommt.

Ihre Eltern werden eine Vermisstenanzeige aufgeben. Sie werden warten. Warten. Vergeblich warten. Sie werden alles in ihrer Macht Stehende tun. Die Polizei wird jeden einzelnen Schüler des Goethe-Gymnasiums befragen. Niemand von ihnen, egal ob Schüler oder Lehrer, wird etwas wissen. Niemand. Außer mir. Vielleicht werden Verdächtige festgenommen. Aber die werden der Polizei nicht weiterhelfen können. Nach ein oder zwei Tagen werden sie Janine finden. Zu gerne wüsste ich, wer sie finden wird. Ein ahnungsloser Passant? Eine Freundin? Oder ihre Eltern selbst?

Ich wäre gerne dabei, wenn die Polizei ihren leblosen Körper aus der Elbe fischt. Aber ich bin nicht dumm. Ich bin kein einfältiges Schulkind. Ich weiß, dass sie jeden Passanten, jedes Auto, das langsam am Ort des Geschehens vorbeifährt oder anhält, genauestens unter die Lupe nehmen werden. Jedes Gesicht, das den Tatort aus der Schar der Schaulustigen heraus anstarrt. Trotzdem ist es geradezu verlockend doch an den Ort des Geschehens zurückzukehren. Alles mit anzusehen.

Stattdessen sitze ich hier, nippe an meiner Milch mit Honig, untypisch für jemanden wie mich, und male mir diese schrecklich schöne Szenerie aus. Die Polizei wird jemanden von ihren Leuten bestimmen, der mit der schlechten Nachricht zu den Eltern des armen kleinen Mädchens gehen wird. Sie werden ihm die Tür öffnen und fragen: „Haben Sie unsere Tochter gefunden?“ Der Polizist wird diese Frage verneinen und ihnen die Wahrheit sagen müssen. Es wäre amüsant in diesem Moment in einem Busch versteckt lauschen und alles mitanhören zu können. Nur um das Entsetzen auf ihren Gesichtern zu sehen.

Die Sonne geht langsam auf. Ich spüre ihre Strahlen auf meinem Gesicht, während sie langsam hinter dem Michel hervorkriecht. In der Ferne ertönt eine Polizeisirene, die sich schnell wieder entfernt. Sie ruft mich. Ruft mich an den Ort des Geschehens zurück. Zerrt an mir und bringt mich zurück in die Wirklichkeit. Aber noch will ich mich von diesen schönen Gedanken nicht losreißen. Auch wenn meine Gedanken der Wirklichkeit Platz machen müssen, sind sie noch zum Greifen nah. Hier in meinem Kopf.

Ja, heute ist der perfekte Tag. Heute beginnt es und ich werde endlich vollkommen zufrieden sein. Nur noch wenige Stunden trennen mich von meinem Ziel. Nach Jahren der Vorbereitung. Nach Jahren des Wartens. Nach Jahren hinter Gittern. Ich werde mit dem Produkt unseres genialen Plans endlich vereint sein. Und sie werden wissen, dass ich wieder da bin. Dass ich es geschafft habe, zurückzukehren. Dass ich ihnen erneut ein Schnippchen geschlagen habe.

Die Beobachtung

9. September, 09.23 Uhr

Es war ein warmer Septembertag. Die Sonne schien durch das halb verdunkelte Fenster und draußen zwitscherten die Vögel. Drinnen war es jedoch totenstill. Nur das Ticken der großen Wanduhr zerschnitt die Stille.

Elijah hob den Blick von seiner Klausur und sah aus dem Fenster. Warum konnte er jetzt nicht draußen sein? Konnte man Klausuren nicht auch auf dem Schulhof in der Sonne schreiben? Es gäbe dann zumindest niemanden, der sich über verbrauchte Luft beschweren könnte. Obwohl es bereits September war, hingen die Blätter noch in voller Farbe an den Bäumen. Sein Blick schweifte über den Hof hinüber zu der stark befahrenen Straße. Gerade jetzt, als er die vielen Autos vorbeifahren sah, wurde Elijah wieder bewusst, wie vollkommen die Natur war. Aber er konnte diese schöne Aussicht nicht genießen. Zumindest nicht jetzt.

Elijah Shooter war schon immer von der Natur und ihrem Leben fasziniert gewesen und gerade an einem schönen Tag wie heute, wurde es ihm wieder bewusst. Wie schön wäre es, sich mit einem guten Buch und einem Sandwich unter einen Baum zu legen und das Wetter zu genießen, vollkommen ohne Schule oder Klausur. Doch das kleine, wenn auch nicht völlig unwichtige, Detail namens Schule hatte beschlossen, ihm auch am heutigen Tag das Leben schwer zu machen und ihn in einem stickigen Klassenzimmer mit vierundzwanzig anderen Schülern einzusperren.

Eigentlich gefiel ihm der Unterricht an der neuen Schule gut. Aber so schön es auch sein mochte, Klausuren waren für Elijah nicht mehr als nervig. Seine wirren Haare fielen ihm ins Gesicht, als er sich schweren Herzens wieder seinem Blatt zuwandte.

Lesen Sie den vorliegenden Fachtext „Problematik des Treibhauseffektes“ und fassen Sie die zentralen Aussagen kurz und strukturiert zusammen.

Unter dieser Aufgabenstellung hatte Elijah bereits einen Haken gesetzt. Als er seinen Text überflog, kam ihm die eigene Antwort jedoch total fremd vor. Zu leicht ließ er sich jedes Mal aufs Neue ablenken von der Welt draußen.

Er hatte bereits vergessen, worum es in dem Text im Detail ging und was genau der Autor Professor Karl Hüpfner über den Treibhauseffekt sagte. Es war theoretisch nicht so schwer. Heutzutage verging doch kein Tag, an dem nicht in den Nachrichten berichtet wurde oder in der Zeitung geschrieben stand, dass die Erde langsam aber sicher dem Klimawandel zum Opfer fiel. Woran nicht zuletzt die lärmenden Autos draußen auf der Straße schuld waren, die ihm gerade seine Gedanken durcheinanderwirbelten.

Er schaffte es noch rechtzeitig sich wieder zu sammeln. Ich lass mich zu leicht ablenken. Sein Blick richtete sich auf die zweite Aufgabenstellung.

Vergleichen Sie die Aussagen von Professor Karl Hüpfner mit anderen Ihnen bekannten Einstellungen zum Treibhauseffekt. Arbeiten Sie heraus, wie und wo dieser in der heutigen Zeit zu finden ist und was er für Mensch und Natur bedeutet.

Na toll, jetzt muss ich den ganzen Text nochmal lesen. Heute war nicht sein Tag. Er überflog den Inhalt erneut und kritzelte geistesabwesend eine Antwort auf sein Blatt.

Normalerweise war Biologie sein Lieblingsfach. Aber wenn die Sonne draußen so verlockend durch die Fenster schien, fiel es ihm schwer, sich auf so etwas Abstruses wie eine Klausur zu konzentrieren. Es war seine Erste an der neuen Schule und er wusste, dass er mit einer guten Note überzeugen konnte. Er fixierte die Uhr über der Tafel. Noch über eine halbe Stunde für die letzte Aufgabe.

Seine Hand krampfte. Hoffentlich würde er die Antwort kurz halten können, doch seine Hoffnung wurde enttäuscht.

Was denken Sie selbst über die Bedeutung des Treibhauseffektes heute? Teilen Sie die Ansichten von Professor Karl Hüpfner? Begründen Sie Ihre Ansichten und Einstellungen. Wie könnte man den Treibhauseffekt eindämmen oder gar beseitigen?

Elijah schmunzelte. Typisch Lehrer, vier Fragen in einer Aufgabe. Er kaute auf dem Ende seines Füllers herum und überlegte. Dabei schweifte sein Blick wieder aus dem Fenster.

Er sah die gleichen Bäume und den gleichen Hof. Dennoch war etwas anders als noch eine gute Viertelstunde zuvor. Etwas, und war es noch so unscheinbar, hatte seine Aufmerksamkeit auf sich gezogen. Angestrengt versuchte Elijah jedes Detail zu erfassen, herauszufinden, was sich auf dem Schulhof verändert hatte.

Es standen immer noch gleichviele Autos auf den Parkplätzen hinter der Hecke. Der Wind trieb immer noch die gleichen leeren Plastiktüten von links nach rechts. Was hatte sich hier verändert? Elijah hatte die Aussagen von Karl Hüpfner und die Klausur komplett aus seinen Gedanken vertrieben. Gebannt suchte er nach dem einen winzigen Detail. Und dann sah er sie.

Als würde er durch einen schwarzen Tunnel gesogen, konnte er nicht anders, als nach draußen zu starren. Alles um ihn herum schien in den Hintergrund zu treten, wurde von einem dumpfen Vorhang verschluckt, und die Szene vor ihm lief quälend langsam wie in Zeitlupe ab.

So etwas hatte er bisher nur in schlechten Krimis im Fernsehen gesehen. Bei solchen, wo man nach mindestens zehn Minuten schon weiß, wer der Dieb oder der Mörder ist. Dieses Szenario war jedoch echt und passierte direkt vor der Nase einer ganzen Schule.

Seltsam, dass er offenbar der Einzige war, der dieses Schauspiel bemerkte. Elijah sah sich im Klassenzimmer um, alle seine Mitschüler schrieben noch und ihr Biologielehrer las in der Zeitung. Kopfschüttelnd drehte er sich wieder zum Fenster.

Ja, jetzt erkannte er die beiden Gestalten deutlicher. Sie standen im Schatten des Schulgebäudes, genau an der Stelle, wo die große Turnhalle und die Aula aufeinandertrafen. Er selbst saß aber im zweiten Stock im Biologieraum genau gegenüber, dazwischen der gesamte Innenhof. Es war unmöglich auf diese Distanz ihre Gesichter zu sehen. Eine Gänsehaut breitete sich auf seinen Armen aus und seine Nackenhärchen sträubten sich. Die zwei Personen hatten sich genau die richtige Ecke des Schulhofes ausgesucht, um unbemerkt zu bleiben. Fast unbemerkt. Elijah erkannte nur, dass die eine Gestalt deutlich größer war als die andere. Bei der Kleineren konnte er einen seltsamen hellen Fleck auf dem dunklen Jackenärmel ausmachen, der im Schatten des Gebäudes merkwürdig grell wirkte.

Bemüht, dieses Etwas genauer zu erkennen, kniff er die Augen zusammen, erhob sich leicht von seinem Stuhl und reckte neugierig den Hals. Nein, da war nichts zu machen. Er konnte beim besten Willen nicht mehr erkennen.

Ein kalter Schauer lief Elijah über den Rücken. Er beobachtete, wie die kleinere Gestalt der größeren einen silbernen Aktenkoffer überreichte. Der Koffer war schlicht. Nicht von einem normalen Koffer zu unterscheiden und Elijah konnte auch nicht erkennen, ob er ungewohnt schwer war. Dennoch versuchte er sich jedes noch so kleine Detail einzuprägen und wieder fiel sein Blick auf diesen merkwürdigen Fleck auf der schwarzen Jacke. Die Personen schüttelten sie sich die Hände und trennten sich.

Die Übergabe war nicht sonderlich spektakulär gewesen. Sie wirkte geradezu surreal, wie sie am helllichten Tag auf dem Schulhof eines Gymnasiums stattgefunden hatte. Elijahs Neugier sprang trotzdem darauf an.

Der Größere ging mit dem Koffer in der Hand schnellen Schrittes auf einen blauen SUV zu. Der Motor heulte auf und als der Wagen um die Kurve fuhr, konnte Elijah einen Teil des Nummernschildes erkennen: HH SJ.

Die darauffolgenden Zahlen sah er nicht mehr. Elijah schaute dem Wagen hinterher, bis er hinter der grünen Hecke verschwand. Gerade noch rechtzeitig sah er zurück zu der im Schatten liegenden Ecke. Die kleinere Gestalt erhob sich aus der Hocke und eilte ins Schulgebäude zurück.

Schlagartig füllten tausend Fragen seinen Kopf, die alle möglichen Szenarien wie auf einem Band vor seinem inneren Auge ablaufen ließen. War die eine Person jemand aus der Schule? Schüler oder Lehrer? War sie nur zur Tarnung in das Schulgebäude gegangen? Wer war die andere Person? Warum wickelten sie ihr Geschäft mitten am Tag auf einem Schulhof ab? Und vor allem, was befand sich in diesem Koffer? Geld? Drogen? Eine illegale Waffe? Gefälschte Papiere? Eine nukleare Bombe?

Völlig perplex rieb er sich die Augen nur um sicherzugehen, dass er sich das nicht einbildete. War er wirklich schon so gelangweilt, dass er sich so etwas vorstellte? Elijah wusste nicht, ob ihm diese Situation bekannt vorkam. Jedenfalls war es keins von diesen berüchtigten Déjà-vus, dafür erschien es ihm zu unbekannt. Diese Spektulationen und Grübeleien brachten ihn aber nicht weiter. Er musste nachsehen, ob die beiden Gestalten wirklich dort gewesen waren, musste Spuren suchen. Wenn er etwas finden sollte, war es umso besser. Wenn nicht, würde er sich wohl ernsthafte Sorgen um seinen geistigen Zustand machen müssen.

Für Elijah gab es keine Konzentration mehr für die Klausur. Seine innere Neugier übernahm die Oberhand und ein angenehmes Kribbeln durchflutete seinen Körper. Er musste wissen, was sich da gerade abgespielt hatte. Wenn er sich beeilte, konnte er die Person vielleicht auf dem Flur noch abfangen.

Er hob die Hand. „Dürfte ich kurz auf die Toilette gehen?“ Sein Lehrer lugte hinter der Zeitung hervor und sah auf die Uhr über der Tafel.

„Tut mir leid, Elijah. Sie haben noch ganze drei Minuten. Die werden Sie wohl noch warten können.“

Erschrocken sah Elijah ebenfalls auf die Uhr. Mist, in drei Minuten ist der Typ bestimmt schonüber alle Berge.

Endlich wandte er sich wieder seiner Arbeit zu und krakelte so schnell er konnte eine Antwort zur dritten Frage aufs Papier. Mit seinen Gedanken war er immer noch bei den beiden Gestalten und dem Koffer.

Er ging alle Fernsehkrimis durch, die er in seinem Leben gesehen hatte. Oder besser gesagt, die, an die er sich spontan erinnern konnte. Viele Bilder und Eindrücke rasten durch Elijahs Kopf, als die Klausuren eingesammelt wurden.

Als es endlich zur Pause klingelte, rannte Elijah sofort auf den Schulhof. Dicht gefolgt von seinem Freund Lion.

„Warte! Elijah, warte! O Mann, jetzt warte endlich, verdammt!“ Doch der hatte nur Augen für die Stelle, wo sich vor ein paar Minuten noch die beiden Gestalten die Hände geschüttelt hatten. Schlitternd kam Elijah hinter der dunklen Ecke zu stehen.

Es war jedoch nichts zu sehen. Nur ein überquellender Mülleimer und eine hölzerne Bank. Nichts Besonderes. Nichts, was auf das eben Geschehene hinwieß. Enttäuscht ließ Elijah die Schultern hängen und sah seinem Freund mürrisch entgegen, der ihn langsam einholte.

„So, und nun? Kannst du mir mal erklären, warum du nach der Klausur wie vom Teufel höchst selbst gejagt auf den Schulhof rennst, nur um vor einer Bank und einem Mülleimer stehen zu bleiben, Mann?“, japste Lion, die Hände in die Seiten gestemmt. Elijah seufzte.

Schnell erzählte er von seiner Beobachtung. Belustigt beobachtete er, wie Lions Augen immer größer und größer wurden und ihm nach und nach der Mund aufklappte. Lion hatte ebenso wie Elijah eine Schwäche für Rätsel und Geheimnisse. Vielleicht hatten sie sich deswegen von Anfang an so gut verstanden.

„Du meinst, du hast vorhin zwei Gangster beobachtet, die irgendein krummes Ding gedreht haben?“, fragte er noch einmal nach.

Elijah nickte. „Ich dachte, vielleicht haben sie hier irgendwelche Spuren hinterlassen oder so etwas.“

„Du meinst etwas, was uns Informationen über sie geben könnte?“

„Ja, so in etwa.“

„Aber hier ist nichts! Bist du sicher, dass du nicht kurz eingenickt bist und das alles nur geträumt hast?“

Mit einem zornfunkelnden Blick brachte Elijah den blonden Jungen zum Schweigen. Er hatte selbst schon über diese Möglichkeit nachgedacht. Sein Kopf sponn sich manchmal die tollsten Dinge zurecht, wenn ihm langweilig war. Zugegeben, die Klausur hatte ihn wirklich gelangweilt. Aber so etwas sich ausdenken? Nein, definitiv nicht.

„So sicher, wie ich weiß, dass der HSV nicht mehr Bundesliga spielt“, sagte er mit knirschenden Zähnen. Sofort tat es ihm leid, Lion so persönlich angegangen zu haben. Der blonde Franzose spielte schon seit fünf Jahren in der ersten Nachwuchsmannschaft des HSV und hatte die besten Aussichten bald ins Profiteam übernommen zu werden. Lion war nach dem alles entscheidenden Spiel so am Boden zerstört gewesen, dass selbst Elijah ihn nicht hatte aufheitern können.

Schmollend schob Lion die Unterlippe vor, ging jedoch nicht weiter auf die Provokation seines Freundes ein. „Wenn du dir wirklich so sicher bist“, entgegnete er sarkastisch. „Hm … vielleicht finden wir auf dem Parkplatz etwas, du hast erzählt, der eine wäre mit einem blauen SUV davongefahren.“

Elijah lachte daraufhin nur spöttisch.

„Was hoffst du denn zu finden, Sherlock CSI? Reifenprofile oder ein Nummernschildabdruck in der Hecke?“

Daraufhin fing er sich einen ordentlichen Schlag seines Freundes gegen den Oberarm ein. „Nein, du Idiot, aber hast du eine bessere Idee? Wenn du etwas herausfinden willst, musst du anfangen zu suchen. Und hey, du bist derjenige, der angeblich diese Sache beobachtet hat. Ich versuche nur deinem kranken Hirn auf die Sprünge zu helfen.“

Dagegen konnte Elijah nichts einwenden.

Auf dem Parkplatz konnten die beiden Jungen keine verräterischen Spuren oder sonstigen Hinweise auf ein geschehenes Verbrechen ausmachen.

Lion hatte trotzdem auch hier die rettende Idee. „Vielleicht sollten wir uns in den anderen Klassen umhören, von deren Fenstern aus man den Parkplatz und diese Ecke besser sehen kann.“ Er legte den Arm um Elijahs Schulter und führte ihn mit sanfter Gewalt zurück zum Eingang.

Es fiel Elijah schwer sich auf den folgenden Unterricht zu konzentrieren. Für gewöhnlich war seine Hand die erste in der Luft, sobald der Lehrer eine Frage stellte. Lion nannte ihn deswegen manchmal aus Spaß „Hermann Granger“, in Anlehnung an die kluge Hexe Hermine Granger aus Harry Potter.

Heute mussten die Lehrer auf ihren Musterschüler verzichten. Immer wieder tauchte das Bild der zwei dunklen Gestalten mit dem Koffer vor seinem inneren Auge auf. Krampfhaft rief er sich jedes Detail wieder und wieder ins Gedächtnis. Doch je mehr er sich anstrengte, desto schneller verschwamm die Erinnerung.

Als er drei Stunden später sein Fahrrad aufschloss und sich auf den Heimweg machte, schwirrten ihm immer noch lauter Fragen und Gedanken durch den Kopf.

Die Strecke von fünf Kilometern, die größtenteils an der Elbe entlang führte, nahm er überhaupt nicht wahr. Er bemerkte nicht, wie er beinah mit seiner alten Nachbarin Frau Freitag zusammengestoßen wäre. Gerade noch rechtzeitig bremste er ab und sprang vom Fahrrad. Frau Freitag ging unbeirrt weiter und störte sich nicht an Elijah. Das lag unter anderem daran, dass sie seit einem Autounfall auf beiden Ohren taub war. 

Geistesabwesend schob Elijah sein Rad die letzten Meter und stellte es vor der Garage ab, in der der ganze Stolz seines Vaters stand: Ein giftgrüner Maserati Alfieri mit blutroten Felgen und neongelben Bremsscheiben. Das Auto war das Einzige, was Elijah und seinen Vater an ihr altes Leben in Chicago erinnerte. Vor mittlerweile zehn Jahren hatte sich Elijahs Vater von seiner Frau Jessica getrennt und war mit seinem Sohn nach Hamburg gezogen.

Nachdem er damals ein Jahr lang auf unerwarteter Geschäftsreise gewesen war, war nach seiner Rückkehr alles den Bach runter gegangen. Zumindest soweit der nun Sechzehnjährige sich erinnerte. Es gab zudem ein riesen Theater um das Sorgerecht, das schließlich vor Gericht geklärt werden musste, aber auch daran hatte Elijah kaum noch Erinnerungen. Lediglich die harten Worte seiner Mutter, sie wolle mit ihm und seinem Vater nie wieder etwas zu tun haben, waren ihm im Gedächtnis geblieben, obwohl er bis heute nicht wusste, was der Grund für diesen endgültigen Bruch gewesen war.

Jetzt arbeitete sein Vater seit acht Jahren bei der Hamburger Hafenlogistik. Daran dachte Elijah an diesem Tag jedoch kaum, als er durch die Garage ins Haus ging. Sondern nur an zwei Kapuzengestalten, einen blauen SUV und an einen silbernen Koffer.

Typischer Montag

9. September, 04.34 Uhr

Es war noch dunkel, als der Pilot die Landung am Flughafen in Hamburg ankündigte. Josefine erwachte aus einem unruhigen Schlaf. Ihr Kopf schmerzte. Die Idee, einen zwölfstündigen Nachtflug von New York zurück nach Hamburg zu nehmen, war mit Abstand die schlechteste, die sie je gehabt hatte.

Ihr Kurzurlaub war dafür erholsam gewesen. New York war eine wunderschöne Stadt und Josefine war noch von dem Gefühl beflügelt, sich einen Kindheitstraum erfüllt zu haben. Zudem hatte sie sich seit langem vorgenommen ihren älteren Bruder Oskar zu besuchen, der als weltbekannter Schauspieler im internationalen Zentrum seiner Branche lebte.

Josefine bewunderte ihn. Schon als Kind war ihr Bruder ihr größtes Vorbild gewesen. Nicht, weil er jetzt ein berühmter Schauspieler war, sondern aufgrund der Tatsache, dass er immer das erreichte, was er anstrebte. Und das war ihrer Meinung nach eine Eigenschaft, die sie sich selbst nur zu gern angeeignet hätte.

Ihre Beziehung zueinander war nicht immer positiv gewesen, gerade in ihrer Kindheit waren durchaus öfter mal die Fäuste geflogen. Diese Zeiten jedoch gehörten gemeinsamen Erinnerungen an, die sie bei Besuchen gerne hervorkramten.

Diese eine Woche war viel zu kurz gewesen, um alles aufzuarbeiten, was sich in den letzten Jahren ereignet hatte. Das Ganze war in einer Art Freizeitstress ausgeartet. Es war eben nicht einfach, alles von New York zu sehen und den Bruder dabei nicht zu vernachlässigen.

Jetzt saß sie im Flugzeug auf dem Weg zurück in den Alltag und versuchte so lange wie möglich an diesem beflügelten Gefühl festzuhalten. Nur die Vorstellung von den ganzen Akten, die auf ihrem Schreibtisch auf sie warteten, vermochte ihre Laune zu dämpfen.

Sie sah auf ihre Armbanduhr. Viertel vor fünf. Sie überlegte, was sie in den verbleibenden drei Stunden noch groß anfangen konnte, als das Flugzeug zur Landung am Hamburger Flughafen ansetzte. Vielleicht würde sie sich zu Hause noch ein Stündchen ins Bett legen und danach schön gemütlich in ihrem Lieblings-Café frühstücken.

In Gedanken war sie schon bei den herrlich duftenden Brötchen und dem süßen Geruch einer frischen Tasse Kaffee, vielleicht auch einer druckfrischen Tageszeitung, als sie mit ihrer Handtasche das Flugzeug verließ und sich von dem Strom aus Passagieren zur Gepäckausgabe treiben ließ.

Die Kopfschmerzen wurden noch schlimmer, als sie endlich an der Ausgabe stand und zusah, wie ein Koffer nach dem anderen auf das Förderband rutschte – keiner davon ihrer. Das Pochen in ihrem Kopf steigerte sich zu einem gnadenlosen Hämmern, als sie wenig später in der Warteschlange vor dem Schalter stand, um eine Verlustanzeige für ihren verschwundenen Koffer aufzugeben.

Immer noch müde und einem Migräneanfall nahe, verließ Josefine eine gute Viertelstunde später das Gebäude und stieg in ein Taxi. Während sich das Auto in den frühmorgendlichen Verkehr einfädelte, schlief sie ein.

Sie wachte erst wieder auf, als das Taxi vor ihrem Haus anhielt. Sie drückte dem Fahrer zwei 20-Euroscheine in die Hand und kramte in ihrer Handtasche nach dem Hausschlüssel.

Im Haus ging sie direkt ins Schlafzimmer, schaltete das Licht ein, zog die Vorhänge zu und ließ ihre Tasche und die Jacke auf den Stuhl in der Ecke fallen. Es blieben ihr noch anderthalb Stunden zum Schlafen, wenn sie das Frühstück ausfallen ließ und nachher sofort ins Präsidium fahren würde. Das dämliche Warten an dem Gepäckschalter hatte sie weitaus mehr Zeit und vor allem Nerven gekostet, als sie nach diesem Flug noch zu verschenken gehabt hatte. Nur in Unterwäsche stieg sie ins Bett und schlief augenblicklich ein.

Ruckartig schreckte Josefine beim Klingeln des Weckers aus dem Schlaf. Sie blinzelte. Die Sonnenstrahlen, die durch den Spalt zwischen den Vorhängen fielen, blendeten sie. Schlaftrunken stieg sie aus dem Bett und rieb sich die Augen. Immer noch völlig erschöpft torkelte sie ins Badezimmer und wollte am Waschbecken nach ihrer Zahnbürste greifen – es war keine da. Die Zahnbürste befand sich in der Kosmetiktasche und die Kosmetiktasche befand sich in einem Koffer irgendwo zwischen New York und Hamburg, vielleicht auch gerade auf den Bahamas, man konnte bei den Fluggesellschaften heutzutage nie sicher sein.

Sie ging zurück ins Schlafzimmer, zog sich an und machte sich in der Küche einen schnellen Kaffee. Für das Frühstück blieb ihr keine Zeit mehr. Vielleicht würde sie nachher Christina zum Bäcker gegenüber dem Präsidium schicken. Oder sie würde sich eine Mittagspause gönnen, sofern die wartenden Akten dies zuließen.

Mit den Gedanken schon wieder im Alltag versunken, holte sie ihre Jacke aus dem Schlafzimmer und verließ das Haus durch die Tür zur Garage. Josefine stieg in ihren roten Audi A3 und betätigte den Knopf auf der Fernbedienung, der das Garagentor öffnete.

Bis zum Polizeipräsidium waren es ungefähr zwanzig Minuten. Josefine stellte das Radio an und öffnete das Seitenfenster. Der Wind war angenehm warm und es roch nach Sommer, ungewöhnlich für einen September in Hamburg. Das mussten die Auswirkungen des nicht existenten Klimawandels sein, dachte sie kopfschüttelnd und musste trotzdem schmunzeln.

Heute genoss sie die Fahrt durch die eigentlich viel zu engen Gassen der Hamburger Speicherstadt. Für einen Montagmorgen herrschte allerdings wenig Verkehr. Die Sonne brachte das Wasser der Elbe zum Glitzern und eine grüne Welle jagte die nächste. Viel schneller als ihr lieb war, erreichte sie eine gute Viertelstunde später das Präsidium und fuhr in die Tiefgarage.

Bevor sie das Auto verließ, atmete sie tief durch, um Kraft für den heutigen Tag zu sammeln. Wie schnell ein schöner Urlaub doch vom Alltag verdrängt wurde. Kurz schweiften ihre Gedanken zu Oskar, der heute für eine Rolle in einem neuen Action-Film vorsprach. Sie konnte ihm nur die Daumen drücken, die Konkurrenz war groß und der Job begehrt. Er würde sich am Abend bei ihr melden, das hatte er zumindest versprochen. Wenigstens etwas Positives, auf das sie am Ende dieses ersten Tages hoffen konnte.

Sie verschloss den Wagen und betrat den Aufzug. Der Knopf mit der Nummer vier leuchtete bereits. Wahrscheinlich war er von dem Mann aus der Autopsie betätigt worden, den Josefine zuerst nicht bemerkt hatte. Sie beließ es bei einem höflichen „Guten Morgen“ und als der Fahrstuhl auf der vierten Etage hielt, zwängte sie sich durch die Türen, bevor diese sich ganz öffneten.

Ihr war unwohl bei dem Gedanken mit diesem Mann noch länger auf so engem Raum zu sein, obwohl sie ihn nicht kannte, oder vielleicht auch gerade deswegen.

Im Vorzimmer ihres Büros saß Christina hinter ihrem Schreibtisch und tippte eifrig auf der Tastatur ihres Computers herum. Als Josefine das Zimmer betrat, blickte sie auf und begrüßte ihre Chefin mit einem Lächeln.

„Guten Morgen, Frau Svensson! Hatten Sie einen schönen Urlaub? Wie war der Flug?“

„Hallo Christina, der Urlaub war sehr erholsam und vor allem war es der Ruhigste, den ich je hatte. Zumindest so ruhig, wie es sein kann, wenn man mit einem über den ganzen Kontinent bekannten Schauspieler durch die New Yorker Straßen flaniert. Kein Beeper, der jeden Augenblick klingeln und mich zurück an die Arbeit ruft, war dagegen purer Luxus.“

„Kann ich gut verstehen. Deswegen tut es mir leid, dass sich auf Ihrem Schreibtisch schon ein neuer Berg aus Akten auftürmt.“

Mit diesen Worten reichte Christina Josefine den Beeper und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu. Sie befestigte das kleine Gerät an ihrem Gürtel und ging in ihr Büro, das sie sich mit ihrem Partner Oliver Maier teilte. Der allerdings hatte diese Woche noch frei und genoss seine Flitterwochen mit seiner Frau Sara in Florida.

Schon von der Tür aus konnte Josefine die Akten auf ihrem Schreibtisch sehen. Sie hängte ihre Jacke auf den Bügel an der Garderobe und öffnete das Fenster, um den frischen Duft des Spätsommers in den Raum strömen zu lassen; ein Hauch von Freiheit. Dann wandte sie sich der ersten Akte zu, die ganz oben auf dem Stapel lag. Es ging um einen Mord an einem kleinen Mädchen, das nicht einmal vier Jahre alt geworden war. Dasfängt ja super an.

Und es wurde nicht besser: Die Berichte von einem Tankstellenüberfall und einem tödlichen Autobahnunfall folgten. Josefine fragte sich nach fünf Jahren nicht mehr, was die Mordkommission mit solchen Fällen zu tun hatte. Bei dem Papierkram ging es oftmals völlig drunter und drüber. Am Ende war es schlichtweg egal, wer seine Unterschrift daruntersetzte.

Es war halb elf, als das Telefon klingelte. Auf dem Display stand die Nummer von Christinas Bürotelefon. Warum ruft sie mich an? Sie tut gerade so, als würde ich wie eine wildgewordene Furie auf sie losgehen, wenn sie mein Büro betreten würde.

Entnervt von der Arbeit sah sie erst auf die Uhr und hob dann den Hörer ab.

„Was gibt’s? Hoffentlich nicht noch mehr Akten?“

„Nein, keine Akten. In der Zentrale ging gerade ein Anruf von einem Lehrer des Goethe-Gymnasiums ein. Er behauptet beobachtet zu haben, wie auf dem Schulhof eine Transaktion stattgefunden haben soll. Die Kollegen von der Zentrale haben dann mich angerufen, weil Sie sich schon öfter mit besagtem Lehrer herumschlagen mussten.“

Josefine seufzte. Ein Lehrer vom Goethe-Gymnasium, der etwas Seltsames beobachtet haben wollte. Ja, das kam ihr nur allzu bekannt vor. Es war in den letzten Jahren in der Tat häufiger vorgekommen, dass in der Zentrale solche Notrufe eingingen. Hoffentlich handelte es sich diesmal um einen richtigen Einsatz und nicht wieder um ein Missverständnis, weil besagter Lehrer seine Brille nicht auf der Nase gehabt hatte. Obwohl Josefine glaubte, die Antwort auf ihre noch unausgesprochene Frage zu kennen, stellte sie sie Christina doch.

„Haben Ihnen die Kollegen aus der Zentrale den Namen des Lehrers gesagt?“

„Selbstverständlich. Ich denke, Sie kennen die Antwort.“

„Es handelt sich um Herrn Kolaks, richtig?“, stellte Josefine in dem für sie typischen, nüchternen Tonfall fest. Innerlich tobte bereits das kleine rote Wutmonster in ihr.

„Korrekt. Soll ich den Kollegen sagen, dass Sie den Fall übernehmen, oder wollen Sie lieber an den Akten weiterarbeiten?“

Josefine brauchte keine einzige Sekunde zu überlegen. Da schlug sie sich lieber mit kurzsichtigen Lehrern herum, als in dieser stickigen Bude weiter an Akten zu arbeiten, die sowieso nicht in ihren Bereich fielen. Aber da sie ohnehin wusste, worauf eine Beobachtung von Herrn Kolaks hinauslaufen würde, konnte sie den Kollegen von der Streife diese Arbeit auch abnehmen und dem Lehrer einen Besuch abstatten.

„Sagen Sie den Kollegen Bescheid, dass ich auf dem Weg bin.“

Sie legte auf, schloss das Fenster und nahm das Holster mit der Waffe aus der Schreibtischschublade. Man kann schließlich nie wissen.

Ein Perfekter Plan

9. September, 09.55 Uhr

Es ist heiß auf dem Dach. Obwohl schon September ist, brennt die Sonne gnadenlos. Die Kieselsteine knirschen unter den Sohlen meiner Schuhe. Meine Armbanduhr glänzt in der Sonne. 09.55 Uhr. Perfekt. Ich krieche an den Rand des Daches. Von hier aus habe ich den perfekten Ausblick.

Aus der Tasche hole ich das Fernglas. Das gute Jagdfernglas meines Vaters. Ich lege mich flach auf den Bauch und schaue damit über den Rand. Ich muss nicht lange suchen, bis ich mein Ziel entdecke. Dort hinten zwischen den Bäumen kann ich es sehen. Das große helle Gebäude mit den drei Stockwerken und den vielen Fenstern, hinter denen all die kleinen Gören sitzen und schön nach den Pfeifen ihrer Lehrer tanzen.

Aber eine Ecke liegt im Schatten. Etwas bleibt allen Augen verborgen – außer meinen. Ein blauer Volvo xc60 fährt auf den Parkplatz. Genau wie besprochen. Wie ich es liebe, wenn jemand meine Anweisungen exakt befolgt. Perfekt abgepasst, als hätten wir ein Funkgerät, um in Kontakt zu bleiben. Der Mann betritt den Schulhof und taucht im Schatten unter. Aus dem Gebäude kommt die kleine Janine Krause. Sie trägt den Koffer; den kleinen silbernen Koffer, den alles entscheidenden Koffer.

Nach Jahren der Vorbereitung. Nach Jahren des Wartens. Nach Jahren am Rande des Existenzminimums. Sie hält es in ihren Händen. Mein Ziel. Mein Lebenselixier. Meinen Silberkoffer. Meinen Auftrag.

Im Schatten des Gebäudes treffen sie aufeinander. Ich freue mich in diesem Moment sehr über das gute Fernglas in meinen Händen. So wird mir kein einziges Detail entgehen. Sie übergibt den Koffer. Er nimmt ihn entgegen. Alles passiert völlig lautlos, so als hätten sie es schon dutzende Male getan. Die Angst in den Augen des Mädchens spricht aber eine andere Sprache, verrät sie. Er hat es mit Sicherheit schon mal erledigt. Für sie wird es das erste und bedauerlicherweise auch das letzte Mal sein.

Gänzlich unvorhergesehen, reißt ein lautes Quietschen mich aus meinen Gedanken. Unwillkürlich lasse ich das Fernglas sinken und wende den Kopf. Auf der Kreuzung linker Hand steht ein Auto quer auf der Straße. Dicker, schwarzer Qualm dringt unter der Motorhaube hervor und ein Mann springt wie von der Tarantel gestochen um das Auto herum, die Hände wild in die Luft werfend. Überdeutlich spüre ich meinen rasenden Herzschlag, der ein unangenehmes Ziehen in meinem Brustkorb sät. Das darf nicht passieren. Nicht jetzt. Die ganze Szenerie ist so unwirklich, dass ich nicht anders kann, als genau zu beobachten. Zeuge bei einem Unfall ist man schließlich nicht alle Tage. Als gelernter Killer ist mir die Position des Verursachers weitaus vertrauter.

Gerade als ein Bus mit ebenso scharfem Bremsmanöver vor dem Wrack zu stehen kommt, jagt ein anderer Gedanke blitzschnell durch meinen Kopf. Der Gedanke an ein kleines Mädchen mit einem silbernen Koffer in einer dunklen Ecke auf dem Schulhof.

Kalter Schweiß perlt auf meiner Stirn und mein Herz rast wie verrückt. Wie konnte mir das passieren? Mir, dem perfekten Genie! Wie kann ich mich nur so leicht ablenken lassen? Ruckartig hebe ich das Fernglas wieder an die Augen und suche nach dem Mädchen und dem Koffer vor dem weißen Gebäude. Da!

Gerade erhebt sie sich aus der Hocke, dreht sich noch einmal verstohlen um und verschwindet schnell im Gebäude. Von ihm ist längst nichts mehr zu sehen. Ich kann nur für ihn hoffen, dass er sich an die Anweisungen hält und alles genauso ausführt, wie ich es ihm befohlen habe. Er hat sich in den letzten Wochen als überaus hilfreich erwiesen, es wäre zu schade um seinen Kopf, sollte ihm ein Fehler unterlaufen.

Als ob ein großer Stein vom Herzen fällt. Ich fühle mich erleichtert. Gleichzeitig bin ich total aufgeregt und kann es kaum erwarten weiter zu machen. Meine Hände schwitzen. In Gedanken mache ich einen weiteren Haken auf meiner Checkliste. Ich weiß, was als Nächstes kommt und ich bin erfüllt von Vorfreude.

Ich schließe die Augen und stelle mir jedes einzelne Bild meines genialen Plans vor. Sowohl die Bilder der Vergangenheit als auch die der Zukunft. Von jedem Detail lasse ich mich durchströmen. Sehe alles wie in Zeitlupe an mir vorbei schweben. Ein letztes Mal blicke ich durch das Fernglas auf den Ort des Geschehens.

Ich freue mich auf den nächsten Schritt meines genialen Plans, weil ich ein kleines Mädchen aus dem Sumpf des Verbrechens retten werde. Ich werde sie von all ihren Problemen erlösen, denn ich bin ein guter Mensch und nur auf das Beste im Menschen aus. Ich werde das retten, was in ihrem verkorksten Leben noch zu retten ist: Ihre Ehre.

Kurssichtige Lehrer Und Geglaubte Autos

9. September, 14.11 Uhr

Die Herbstsonne brannte unerbittlich auf sie hinab und langsam wurde es heiß und stickig im Wagen. Die Straße vor ihr flimmerte von der aufgewärmten Luft der Großstadt. Die endlos lange Schlange von Autos bewegte sich langsam, aber kontinuierlich, vorwärts. In diesem Moment war sie froh, sich für einen Automatikwagen entschieden zu haben.

Mit den Gedanken war sie bereits bei der Befragung von Herrn Kolaks. Er war der einzige Lehrer, den sie kannte, der über schizophrene Tendenzen verfügte und daraus kein Geheimnis machte. Jeder normale Mensch, der sich zwei Minuten mit ihm unterhält, müsste das bemerken. Selbst die Schüler hatten es längst bemerkt.

Es ist wahrscheinlich nur ein großes Missverständnis, dachte Josefine, als sie nach einer dreiviertel Stunde endlich ihr Auto auf dem Parkplatz im Schatten einer großen Eibe abstellte.

Leider wusste sie genau, wo sie Herrn Kolaks um diese Zeit finden würde. Im stickigen Lehrerzimmer. Gemütlich mit einer Tasse Kaffee und erleichtert einen weiteren Tag im stressigsten Beruf der Welt überlebt zu haben.

Warum werden Menschen Lehrer, wenn ihnen das alles keinen Spaßmacht und sie Kinder nicht leiden können? Wegen der Bezahlung bestimmt nicht und auch nicht wegen der Arbeitszeiten. Obwohl, Lehrer haben Ferien, ohne dass sie sich Urlaub nehmen müssen. Natürlich wusste sie nicht, ob das für Herrn Kolaks zutraf, aber er machte auf jeden Fall einen solchen Eindruck.

Schon bei ihrem allerersten Zusammentreffen vor zwei Jahren hatte Josefine den Eindruck gewonnen, dass mit diesem Lehrer nicht gut Kirschen essen war, wenn er schlechte Laune hatte. Das schien nach einigen Foreneinträgen der Schüler zu urteilen häufiger vorzukommen. Insgeheim hoffte sie, dass sie heute Glück hatte und der Tag für Herrn Kolaks bisher nicht so stressig verlaufen war.

Sie klopfte an die Tür zum Lehrerzimmer. Eine junge Frau mit kurzen blonden Haaren öffnete.

„Kann ich Ihnen helfen?“

„Mein Name ist Svensson. Ich bin von der Polizei. Herr Kolaks hat bei uns angerufen und eine seltsame Beobachtung gemeldet“, sagte Josefine und zeigte ihre Dienstmarke. Bevor die Frau antworten konnte, kam Herr Kolaks von hinten aus dem Raum und drängte sich dazwischen.

„Danke Steffi, ich denke die Dame möchte zu mir.“ Bei diesen Worten betrat Josefine das Lehrerzimmer. Ohne eine weitere Aufforderung fing Herr Kolaks an zu berichten.

„Also, es war so gegen zehn Uhr, als ich in den Kopierraum gegangen bin um meine nächste Stunde vorzubereiten. Ich sah nebenbei aus dem Fenster und bemerkte, wie eine schwarz gekleidete Person auf das Gebäude zuging, aber vorher in einer Ecke stehenblieb. Es sah aus, als ob sie auf jemanden warten würde. Kurze Zeit später kam eine zweite Person aus dem Schulgebäude. Sie hatte einen Koffer in der Hand und hat ihn der anderen Person übergeben. Dann haben sie sich die Hände geschüttelt und sind in verschiedene Richtungen gegangen. Die erste Person ist in ein Auto gestiegen und weggefahren. Die andere ist zurück ins Schulgebäude gegangen.“

„Haben Sie irgendwelche auffälligen Details bemerkt?“, fragte Josefine.

„Nein, eigentlich nicht. Obwohl … Die Person aus dem Gebäude war kleiner. Vielleicht einen Kopf. Ich schätze sie so auf einen Meter fünfzig oder sechzig. Oh, und sie hatte einen auffälligen weißen Fleck auf der schwarzen Jacke. Dieser Kontrast ist mir sofort aufgefallen.“

„Also könnte es ein Schüler oder eine Schülerin gewesen sein.“

„Ja, gut möglich.“

„Ist Ihnen sonst noch etwas aufgefallen? Was ist mit dem Auto?“

„Wissen Sie, Autos sind mein Hobby. Daher kann ich Ihnen genau sagen, was es für ein Wagen war.“ Er machte eine Pause. Josefine sah in fragend an. Ob er gerade etwas mit einer seiner anderen Persönlichkeiten absprach?

Mit dem nächsten Blinzeln wandte er sich ihr wieder zu und fuhr fort. „Wo waren wir? Ach ja, der Wagen. Es war ein blauer Volvo xc 60.“

Gut, dass es in Hamburg nur einen einzigen blauen Volvo xc 60 gibt. Mann, der Typ weißganz genau, worauf ich hinauswill. Machte es ihm Spaßeine Polizistin erst aus ihrem Dienst zu rufen und sie dann auch noch für dumm zu verkaufen? Nicht mit mir! „Und das Kennzeichen haben Sie nicht zufällig erkannt?“

„Leider nicht. Ich hatte meine Brille im Lehrerzimmer gelassen.“

Josefine stöhnte enttäuscht auf. Sie hatte nichts anderes erwartet. Für einen kurzen Moment war sie überzeugt gewesen, dass es ausnahmsweise etwas Spannendes sein könnte, was dieser Zeuge zu Tage brachte. Aber das war offensichtlich ein Irrtum.

„Aber ich glaube der Wagen kam aus Hamburg“, versuchte Herr Kolaks die Situation zu retten.

„Sie glauben?!“, fuhr Josefine ihn an.

„Ja, ich glaube.“

Entnervt klappte Josefine ihr Notizbuch zu. Auf solche Kindergartenspielchen hatte sie echt keine Lust. Wegen eines geglaubten Wagens war sie aus dem Büro beordert worden. Vielleicht war der Rest auch nur geglaubt. Damit konnte sie auf jeden Fall vorerst nicht arbeiten.

„Dann danke ich Ihnen für diese Meldung, Herr Kolaks, und wenn Ihnen noch etwas zu dem Fall einfällt, rufen Sie mich bitte an.“ Josefine spezifizierte ihre Aufforderung extra auf diesen Fall, damit Herr Kolaks nicht bei der nächsten Kleinigkeit bei ihr anrief. Sie verabschiedete sich, immer noch kopfschüttelnd, und machte sich auf den Weg zu ihrem Auto.

Eine Stunde später saß Josefine wieder in ihrem Büro und wickelte ihr Mittagessen aus. Sie war auf dem Rückweg noch kurz bei ihrem Lieblingsfischer vorbeigefahren und hatte sich ein schnelles Mittagessen besorgt. Mit dem Brötchen in der einen und einer Akte in der anderen Hand, machte sie sich über ihre eigentliche Arbeit her.

Sie bemühte sich schnell voran zu kommen. Aber das gelang ihr nur halbwegs. Wie sehr sie Aktenarbeit doch verabscheute. Zu ihrem Glück waren es viele Autopsieberichte, die sie nur gegenzeichnen musste.

Als sie gerade die letzte Akte aus der Hand legte, meldete sich ihr Beeper. Sie nahm ihn in die Hand und erkannte die Rufnummer eines Kollegen. Sie griff nach dem Telefon und wählte.

„Braustein“, meldete sich der Kollege mit einer rauen Stimme.

„Hier Svensson von der Kripo. Sie haben mich angepiepst. Was gibt’s denn?“

„Hier sitzt ein Ehepaar Krause, das eine Vermisstenanzeige aufgeben möchte. Es geht um ihre Tochter. Sie ist heute nicht aus der Schule nach Hause gekommen.“

„Na und? Was habe ich damit zu tun?“, fiel ihm Josefine ins Wort.

„Janine Krause ist ein Mädchen aus der Klasse von Herrn Kolaks. Ich dachte, vielleicht hängt das mit seiner Beobachtung zusammen und Sie würden sich gerne persönlich darum kümmern“, fuhr er seelenruhig fort.

Josefine seufzte. Eigentlich hatte sie gedacht, dass sie den Namen Kolaks zumindest heute nicht mehr hören musste. Aber das war eben ihr Job, für den sie sich entschieden hatte. Sie überlegte kurz. Theoretisch sprach nichts dagegen den Fall zu übernehmen. Mit der Aktenarbeit war sie fertig.

„Also gut, ich mach’s. Schicken Sie sie rauf.“

Keine zwei Minuten später klopfte es an der Tür. Josefine hatte es gerade einmal geschafft den Computer hochzufahren.

„Herein“, sagte sie.

Das eintretende Paar hätte unterschiedlicher nicht sein können. Der Mann war klein und nicht besonders schlank. Seine schulterlangen braunen Haare hingen ihm fettig um das Gesicht und der ungestutzte Bart wirkte verfilzt und schmutzig.

Die Frau hatte ebenso braune Haare, aber anders als bei ihrem Mann wirkte sie gepflegt; nur die braunen Augen waren gerötet und ihr Make-up hatte auch schon bessere Zeiten gesehen. Der Frau war deutlich anzusehen, dass sie mit den Nerven am Ende war. Ihre Kleidung wirkte wahllos zusammengewürfelt und von den Schuhen löste sich bereits die Sohle. Ihnen war auf den ersten Blick anzusehen, dass ihnen ihr Aussehen nicht besonders wichtig zu sein schien.

Josefine stand auf und schüttelte beiden die Hände. Dann bot sie ihnen die Stühle vor ihrem Schreibtisch an.

„Mein Kollege hat Ihnen bestimmt schon erklärt, warum Sie zu mir geschickt wurden.“ Zustimmendes Nicken.

„Es geht also um eine Vermisstenanzeige zu Ihrer Tochter Janine, ist das korrekt?“

Offenbar hatte Josefine das Falsche gesagt, denn Frau Krause brach bei diesen Worten in Tränen aus. Unentschlossen, was sie sagen sollte, reichte Josefine der Frau eine Packung Taschentücher und wandte sich an den Vater der Vermissten.

„Schildern Sie mir bitte in allen Einzelheiten, was sich ereignet hat, nachdem Sie Ihre Tochter das letzte Mal gesehen haben.“

„Heute Morgen haben wir alle drei ganz normal gefrühstückt und dann ist Janine zur Schule gegangen. Das letzte Mal sah ich sie also beim Frühstück. Um halb zwei ist sie normalerweise aus der Schule zurück. Aber heute kam sie nicht. Zuerst dachten wir uns nichts weiter dabei. Wir dachten, sie müsste vielleicht wieder nachsitzen. Wissen Sie, Janine ist nicht so gut in der Schule. Aber als sie dann nicht nach Hause kam, haben wir beschlossen her zu kommen.“

Jetzt versagte auch ihm die Stimme. Josefine hatte sich während der Erzählung Fragen auf ein Blatt ihrer Schreibtischunterlage geschrieben.

„Hat Janine sich in letzter Zeit irgendwie auffällig verhalten oder hatte sie Probleme?“

„Nein, Probleme hatte sie keine. Aber sie war in letzter Zeit sehr still. Wissen Sie, normalerweise ist sie total quirlig und aufgeweckt aber heute hat sie kein einziges Wort geredet“, antwortete Herr Krause.

„Hatte Janine einen silbernen Koffer dabei, als sie heute das Haus verließ?“, fragte Josefine. Sie hatte längst die Verbindung zwischen Janine und der Person mit dem Koffer geschlagen. Die Beschreibung von ihrem Lehrer stimmte mit der der Eltern überein.

„Nein, sie hatte keinen Koffer dabei. Was hat das überhaupt alles zu bedeuten. Was sollte sie mit einem Koffer?“

„Herr Krause, das sind Routinefragen. Die muss ich Ihnen stellen, wenn Sie eine Anzeige aufgeben wollen. Das mit dem Koffer hat mit einer Beobachtung eines Lehrers zu tun, den ich heute Vormittag befragt habe. Er arbeitet an der Schule Ihrer Tochter; mehr darf ich Ihnen allerdings nicht sagen.“

„Ich verstehe.“ Er nickte.

„Haben Sie einen bestimmten Verdacht, dass Ihrer Tochter etwas zugestoßen sein könnte?“

„Nicht direkt“, sagte Herr Krause, „aber irgendwas muss passiert sein! Sie ist sonst so zuverlässig und als Ausreißerin kann ich mir sie überhaupt nicht vorstellen.“

Josefine schürzte die Lippen. Sie stand vor einem nicht ganz unerheblichen Dilemma. Auf der einen Seite verstand sie die Sorge der Eltern. Auf der anderen Seite gab es diese polizeiliche Regel, dass es sich mindestens um einen Fall mit Gefahr im Verzug handeln musste, damit eine sofortige Anzeige und Fahndung eingeleitet werden konnte. Selbst bei Kindern war keine Ausnahme zu machen, wenn nicht handfeste Beweise für ein Gewaltverbrechen oder Kindeswohlgefährdung vorlagen. Und dass Kinder, gerade in dem Alter zwischen zwölf und fünfzehn Jahren gerne mal von zu Hause ausrissen, war nicht so ungewöhnlich, dass es eine sofortige Anzeige rechtfertigte.

Aber da sie an einem Tag wie heute keine Lust hatte, sich noch länger mit den Herrschaften herumzuschlagen, beschloss sie über diese Regelungen großzügig hinwegzusehen. Wenn sie es irgendwie mit der Sache mit dem Koffer verknüpfte, würden die Verantwortlichen bestimmt ein Auge zudrücken.

„Haben Sie vielleicht ein Foto von Ihrer Tochter dabei, was wir zu der Anzeige hinzufügen können?“ Herr Krause gab ihr ein kleines Foto seiner Tochter. Josefine warf einen flüchtigen Blick darauf, der jedoch ausreichte, um sämtliche Zweifel an der genetischen Verwandtschaft zu den Eltern auszuräumen.

Janine hatte die gleichen Augen wie ihre Mutter und dasselbe markante Kinn ihres Vaters. Nur die Haare erstrahlten in einem hellen Blond. Der schmale Mund war zu einem Lächeln verzogen, das kleine Grübchen auf den Wangen hervorrief. Das Mädchen auf dem Foto sah noch jünger aus, als Josefine sich hatte vorstellen wollen.

„Können wir jetzt nach Hause gehen?“, schluchzte Frau Krause.

„Ja, selbstverständlich. Ich werde die Anzeige heute noch rausschicken. Möchten Sie, dass sie in der Zeitung und im Fernsehen gezeigt wird?“

„Unbedingt! Wir möchten so schnell wie möglich unsere kleine Janine wiederhaben“, jammerte Frau Krause. Josefine nickte, darauf bedacht nicht die Nerven zu verlieren und begleitete die beiden zur Tür.

„Sobald wir irgendetwas wissen, melden wir uns umgehend bei Ihnen.“

Was solche Gespräche angeht, habe ich den falschen Beruf gewählt. Ihr fehlte dieses Gefühl, wie sie mit Menschen umzugehen hatte, die sich in einer emotional äußerst schwierigen Situation befanden. Josefine war noch nie nah am Wasser gebaut gewesen und konnte auch nicht nachvollziehen, wieso es so viele Menschen gab, die selbst bei der kleinsten Kleinigkeit anfingen zu weinen. Sie war die taffe Polizistin, die nichts erschüttern konnte, und dass sie es bis dahin geschafft hatte, war ihrer Meinung nach die größte Errungenschaft ihres Lebens.

Erste Schritte

9. September, 14.47 Uhr

„Wie war es heute in der Schule?“, fragte Elijahs Vater beim gemeinsamen Mittagessen.

„Gut.“

„Habt ihr nicht heute eine Klausur geschrieben?“

„Ja.“

„Und? Konntest du alle Fragen beantworten?“

„Ja.“

Genervt verdrehte sein Vater die Augen. „Mann Elijah, sag doch einfach wenn du nicht reden willst. Aber mach es mir doch nicht so schwer. Ich habe keine Lust dir, wie sagt man das auf Deutsch, dir alles aus der Nase zu ziehen.“

„Okay.“

Elijah schwirrte immer noch der Kopf. Seiner Meinung nach gab es viel schlimmere Dinge, als beim Essen nicht über so banale Sachen wie das Wetter oder die Schule zu reden.

Generell redeten sie nie viel miteinander. Ihre Beziehung war seit der Trennung und dem Umzug nach Deutschland nie wieder die Alte geworden. Die Trennung von seiner Mutter hatte Elijah damals mehr mitgenommen, als er seinem Vater gegenüber je zugegeben hätte. Zwar stand er seit kurzem wieder per E-Mail in Kontakt mit seiner Mutter, aber mehr hatte er bisher nicht erreichen können. Es riss immer noch ein tiefes Loch in ihm auf, doch nie fand er den Mut, mit seinem Vater darüber zu reden. Jessica Shooter war auch für ihn immer noch ein Tabu-Thema. Selbst nach so vielen Jahren.

In Gedanken war Elijah noch auf dem Schulhof. Die Übergabe ließ ihn einfach nicht los. Es war ein neues, faszinierendes Rätsel, das seine volle Aufmerksamkeit erforderte. Als erstes musste er Lion davon überzeugen, dass er sich das nicht alles nur aus Langeweile eingebildet hatte. Elijah hatte zwar das Gefühl, dass Lion sich genauso sehr über ein bisschen Rätselarbeit freuen würde, aber etwas ließ den Franzosen zweifeln. Ich muss mehr Zeugen finden. Je mehr Leute die beiden Gestalten gesehen hatten, desto realistischer würde es werden. Und Elijah konnte und wollte nicht daran denken, dass bei einer ganzen Schule er der Einzige gewesen war, der das bemerkt hatte. Sobald er Lion überzeugt und auf seiner Seite hatte, würde er nicht mehr über das weitere Vorgehen nachdenken müssen. Immer, wenn sie zusammen an etwas arbeiteten, lief alles von allein und fügte sich zusammen wie die Zahnräder einer gutgeölten Maschine. Es war für ihn mittlerweile zur Gewohnheit geworden, hin und wieder etwas Außergewöhnliches zu tun und Lion ging es genauso.

Sein bester Freund Lion Château hatte ebenfalls eine Schwäche für Rätsel und Geheimnisse. Sofort musste Elijah an seine erste Begegnung mit Lion denken. Sie hatten sich im Sekretariat des Goethe-Gymnasiums getroffen, genauer gesagt auf dem Flur davor. Es war der Tag der Neuanmeldungen für Fünftklässler, was sie jedoch beide nicht gewusst hatten. Sie hatten sich unabhängig voneinander dazu entschieden zum neuen Schuljahr auf das Gymnasium zu wechseln. In dem Gewusel von Kindern war es für die beiden Teenager leicht gewesen, schnell auf ein gemeinsames Gesprächsthema zu kommen: Kinder. Innerhalb von drei Sätzen war beiden klar gewesen, dass sie kleine Kinder nicht leiden konnten und nur nervig fanden. Dazu kamen dann schnell weitere Gemeinsamkeiten, allen voran ihre ausländischen Wurzeln.