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Thomas Enger

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Beschreibung

Überraschend, spannend, tiefgründig norwegisch!

Nach zwei Jahren Auszeit kehrt Henning Juul zurück an seinen alten Arbeitsplatz in der Online-Redaktion von 123nyheter. Bei einem Wohnungsbrand wurde er schwer verletzt. Die Narben zeichnen ihn bis heute. Doch noch schlimmer ist für ihn, nicht zu begreifen, wie der Brand entstehen konnte, dem sein kleiner Sohn zum Opfer fiel.

Henning bezweifelt, dass er jemals wieder der Alte sein wird – der Enthüllungsreporter mit bombensicherer Spürnase für das Böse, für den Bodensatz, für die gefährlichsten Stories. Doch seine Kollegen kennen kein Pardon und schicken ihn an seinem ersten Arbeitstag zu einer Pressekonferenz der Osloer Polizei. Auf dem Ekeberg wurde die Leiche einer 23-jährigen Studentin gefunden. Der Körper weist schreckliche Folterspuren auf – oder sind es die Folgen einer Strafe nach den Regeln der Scharia? Polizeiermittler und Journalisten glauben an einen Ehrenmord. Nur Hennings Instinkt sagt etwas anderes. Aber kann er sich darauf noch verlassen?

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Seitenzahl: 509

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Thomas Enger

Sterblich

Ein Henning-Juul-Roman

Aus dem Norwegischen von Günther Frauenlob und Maike Dörries

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen. Sollte diese Publikation Links auf Webseiten Dritter enthalten, so übernehmen wir für deren Inhalte keine Haftung, da wir uns diese nicht zu eigen machen, sondern lediglich auf deren Stand zum Zeitpunkt der Erstveröffentlichung verweisen. Die Originalausgabe erschien 2010 unter dem Titel »Skinndød« bei Gyldendal Norsk Forlag AS, Oslo.

Die Übersetzung wurde von NORLA, Oslo, gefördert, wofür wir uns herzlich bedanken.

Copyright © der Originalausgabe 2010 by Gyldendal Norsk Forlag AS

Copyright © der deutschsprachigen Ausgabe 2011 by

Blanvalet Verlag, München,

in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München

All rights reserved

Satz: Uhl + Massopust, Aalen

ISBN 978-3-641-05465-6V003

www.blanvalet.de

Für meine Reserveherzen – Benedicte, Theodor und Henny

Mein Leben, Hand aufs Herz, ich dir gelobe, erst wenn der Tod es fordert ein, verlöscht meine brennende Liebe, meine Freude: dein zu sein.

Halldis Moren Vesaas. Til Livet, 1930

PROLOG

September 2007

Er hat das Gefühl, nur von Dunkelheit umgeben zu sein. Ist sich nicht sicher, schafft es nicht, die Augen zu öffnen. Vielleicht ist der Boden unter ihm kalt. Vielleicht ist er nass.

Er glaubt, dass es regnet. Spürt etwas auf seinem Gesicht. Aber vielleicht ist das auch schon der erste Schnee.

Jonas liebt Schnee.

Jonas.

Welke Karotten in weißen Gesichtern voller Gras und Erde. Nein, kein Schneemann, das geht jetzt nicht.

Er versucht, den rechten Arm zu heben, doch der will nicht gehorchen. Hände. Hat er die noch? Ein Daumen lässt sich bewegen.

Glaubt er.

Die Haut besteht nur noch aus trockenen, dünnen Schuppen. Überall Flammen. So heiß. Das Gesicht erstarrt wie Pfannkuchenteig in einer glühend heißen Pfanne.

Jonas liebt Pfannkuchen.

Jonas.

Der Boden bebt. Stimmen. Stille. Wunderbare Stille. Bitte, hüll mich ein, du, der du mich siehst!

Alles wird gut. Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf.

Gelächter, das verstummt. Keine Luft mehr, lass mich tief in dir einatmen.

Aber wo bist du?

Da. Da bist du. Wir waren hier. Du und ich.

Jonas liebt du und ich.

Jonas.

Horizonte. Platzregen auf einem endlosen blauen Spiegel. Ein Platschen, das die gläserne Oberfläche durchbricht, bevor Köder und Schnur nach unten sinken.

Kalte Planken unter den Füßen. Verklebte Augen.

Alles wird gut. Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf.

Er spürt den Fuß auf dem Geländer. Hat sicheren Halt.

Glaubt er.

Leere Hände. Wo bist du? Spul zurück, bitte, spul zurück!

Eine Wand aus Dunkelheit. Alles ist finster. So finster. Singende Laute nähern sich.

Es gelingt ihm, ein Auge zu öffnen. Das ist kein Schnee, kein Regen, sondern einfach nur Dunkelheit.

Er hat so ein Dunkel noch nie gesehen. Noch nie gesehen, was alles darin Platz hat.

Aber jetzt sieht er es.

Jonas hatte Angst vor dem Dunkel.

Er liebt Jonas.

Jonas.

1

Juni 2009

Die weißblonden Locken sind nass, nicht nur vom Blut.

Es sieht aus, als hätte die Erde sich aufgetan, um sie zu verschlingen. Nur ihr Kopf und ihr Oberkörper sind zu sehen. Rings um ihren steifen Körper türmt sich feuchte Erde, als wäre sie eine einsame, zerbrechliche, langstielige Rose. Das Blut ist aus den langen aufgeplatzten Rissen über den Rücken geronnen, wie Tränen über eine dunkle Wange. Ihr nackter Rücken gleicht einem Gemälde.

Mit unentschlossenen Schritten tritt er ins Zelt und sieht sich um. Kehr um, sagt er zu sich selbst. Das hier, das hat nichts mit dir zu tun. Kehr um! Geh wieder raus, geh nach Hause, und vergiss, was du gesehen hast. Aber es gelingt ihm nicht. Wie auch?

»H … Hallo?«

Nur der Wald antwortet ihm. Leise wispert der Wind in den Zweigen. Er macht einen weiteren Schritt in das Zelt hinein. Die Luft ist klamm, schnürt ihm den Hals zu. Und der Geruch erinnert ihn an etwas, aber an was?

Das Zelt hat gestern noch nicht dort gestanden. Für jemanden wie ihn, der jeden Tag seinen Hund am Ekeberg ausführt, war der Anblick des großen weißen Zelts eine Versuchung, der er nicht widerstehen konnte. Ein merkwürdiger Platz für ein Zelt. Er musste einfach einen Blick hereinwerfen.

Hätte er es nur nicht getan.

Eine Hand ist abgetrennt, sie hängt nicht mehr mit dem Arm zusammen, als hätte sie sich vom Handgelenk gelöst. Der Kopf liegt schlaff auf der Schulter. Sein Blick fällt wieder auf die hellen, fast weißen Locken mit den vom Blut verklebten Strähnen. Sie wirken fast wie eine Perücke.

Er tritt neben die junge Frau, bleibt dann aber wie angewurzelt stehen und atmet hektisch ein und aus. Seine Bauchmuskeln ziehen sich zusammen und machen sich bereit, den Morgenkaffee und die Banane wieder von sich zu geben, doch es gelingt ihm, diesen Reflex zu unterdrücken. Langsam weicht er zurück, kneift die Augen zu und öffnet sie wieder, um sie ein letztes Mal anzusehen.

Eines ihrer Augen hängt aus der Höhle, und ihre Nase ist platt gehauen, fast in ihrem Schädel verschwunden. Die Kiefer sind uneben und übersät von dunkelroten Flecken und Streifen. Schwarzes, zähes Blut ist aus einer Platzwunde auf der Stirn über den Nasenrücken und die Augen gelaufen. Ein Zahn hängt an einer Faser aus getrocknetem Blut auf der Innenseite ihrer Unterlippe. Weitere Zähne liegen lose im Gras neben der Frau, die einmal ein Gesicht gehabt hat.

Jetzt ist es zerschmettert.

Das Letzte, was Thorbjørn Skagestad registriert, ehe er aus dem Zelt stolpert, ist der Nagellack an ihren Fingern. Er ist blutrot.

Genau wie die schweren Steine neben ihr.

Henning Juul weiß nicht, warum er dort sitzt. An genau diesem Platz. Die Bretter sind hart. Voller Splitter. Unbequem. Trotzdem setzt er sich immer auf genau diesen Platz. Bittersüßer Nachtschatten wächst zwischen den Brettern, die etwas geneigt am Vereinsheim von Dælenenga befestigt sind. Hummeln umschwirren die giftigen Beeren. Das Holz ist nass. Er spürt die Feuchtigkeit durch den Hosenboden, denkt, dass er sich umziehen muss, wenn er nach Hause kommt. Er weiß aber nicht, ob er das schaffen wird.

Früher hat er sich immer dorthin gesetzt, um eine Zigarette zu rauchen. Jetzt raucht er nicht mehr. Nicht aus Rücksicht auf seine Gesundheit oder aus Vernunft – seine Mutter hat eine Raucherlunge. Nein. Er würde liebend gerne rauchen. Weiße, dünne Freunde, die immer gut gelaunt sind, wenn sie einen besuchen, und nie lange bleiben. Aber es geht nicht, er schafft es nicht.

Außer ihm sitzen noch ein paar andere Menschen dort, etwas entfernt. Eine Fußballmutter auf einer Wolldecke sieht zu ihm herüber, und er wendet rasch den Blick ab. Er ist es gewohnt, dass fast alle, die auch dort sind, ihn anstarren und dabei so tun, als täten sie es nicht. Dabei weiß er ganz genau, dass sie sich fragen, wer er ist, was mit ihm geschehen ist und warum er dort sitzt. Aber es spricht ihn nie jemand an. Das trauen sie sich nicht.

Er macht ihnen keinen Vorwurf.

Als die Sonne müde wird, steht er auf und geht. Er zieht ein Bein leicht nach. Die Ärzte sagen, er solle versuchen, so normal wie möglich zu gehen, aber es gelingt ihm nicht. Es tut zu weh. Wobei »weh« vielleicht nicht das richtige Wort ist.

Er weiß, was Schmerzen sind.

Er schlendert durch den Birkelunden-Park, vorbei an dem frisch renovierten und neu gedeckten Pavillon. Eine Möwe schreit. Wie immer wimmelt es hier im Park vor Möwen. Er hasst die Viecher, aber er liebt den Birkelunden-Park.

Mit schleppenden Schritten geht er an Liebespaaren vorbei, an nackten Bäuchen, überschäumenden Bierdosen und erkalteten Einweggrillen. Ein alter Mann konzentriert sich und wirft eine silberfarbene Kugel auf andere silberfarbene Kugeln, die auf dem Schotter bei dem Bronzepferd liegen, das heute einmal nicht von Kindern belagert wird. Der Mann verfehlt sein Ziel. Wie immer.

Du und ich, denkt Henning, wir haben viel gemeinsam.

Der erste Regentropfen fällt, als er in die Seilduksgata einbiegt. Mit wenigen Schritten lässt er den Lärm von Grünerløkka hinter sich. Er mag diesen Lärm nicht. Er mag auch Chelsea nicht oder Politessen, aber was kann er schon dagegen tun. Es gibt viele Politessen in der Seilduksgata. Und vielleicht sind einige davon sogar Chelsea-Fans. Aber die Seilduksgata mag er. Das ist seine Straße.

Während der Regen sanft auf seinen Kopf trommelt, läuft er der Sonne über der alten Segeltuchfabrik entgegen. Er lässt die Tropfen kommen und blinzelt, um die Konturen vor sich besser zu erkennen. Ein gigantischer gelber Baukran ragt vor ihm in den Himmel. Der steht jetzt schon eine Ewigkeit hier. Die Wolken hinter ihm sind bleigrau.

Henning nähert sich der Kreuzung, an der der Markvei in voller Fahrt von rechts kommt, er denkt, dass morgen schon alles anders sein kann, und fragt sich, ob dieser Gedanke wirklich von ihm stammt oder ob ihm das jemand eingeredet hat. Vielleicht ändert sich ja gar nichts. Vielleicht klingen die Stimmen und Laute bloß ein bisschen anders.

Wenn sich nicht tatsächlich alles verändert, alles oder nichts. In der Spanne, die sich dazwischen auftut, läuft die Welt rückwärts. Gehöre ich eigentlich noch dazu?, fragt er sich. Gibt es noch einen Platz für mich? Werde ich es schaffen, die Worte und Gedanken und Erinnerungen hervorzuholen, die tief in meinem Inneren begraben sind?

Er weiß es nicht.

Es gibt so viel, das er nicht weiß.

Nach unzähligen Stufen, über denen der Staub über dem im Holz festgetretenen Dreck schwebt, schließt er auf der dritten Etage seine Wohnungstür auf. Der Übergang ist stimmig. Er wohnt in einem Loch. Es ist ihm lieber so, er glaubt, keine breite, ansehnliche Tür verdient zu haben oder Kleiderschränke, die geräumig wie Einkaufszentren sind, oder eine Küche mit glänzenden Schrankoberflächen und Arbeitsplatten wie polierte Schlittschuhbahnen. Selbstreinigende Küchengeräte, samtweiche Holzdielen, die nach langsamen Tanzschritten lechzen, oder Regale voller Klassiker und Lexika. Er verdient keine geschnitzte Uhr, keine Kerzenständer von Georg Jensen, keine in die Bettdecke eingenähte Kolibrivorhaut. Alles, was er braucht, ist die neunzig Zentimeter breite Matratze, einen Kühlschrank und einen Platz, auf den er sich setzen kann, wenn es dunkel wird. Und dunkel wird es.

Jedes Mal, wenn er die Tür hinter sich schließt, hat er das Gefühl, dass irgendetwas nicht stimmt. Er beginnt, schneller zu atmen, der Schweiß bricht ihm aus, und seine Hände werden klamm. Rechter Hand im Flur steht eine Trittleiter. Er nimmt sie, steigt hinauf, zieht die Clas-Ohlson-Tüte von der alten, abgenutzten Hutablage und nimmt die Schachtel mit den Batterien hervor. Dann streckt er seinen Arm zum Rauchmelder empor, nimmt die Batterie heraus und ersetzt sie durch eine neue.

Er überprüft sie, versichert sich, dass alles funktioniert.

Während sein Atem sich langsam beruhigt, steigt er wieder nach unten. Er hat diese Rauchmelder lieben gelernt. So sehr, dass er inzwischen acht Stück von ihnen besitzt.

2

Als der Wecker klingelt, dreht er sich missmutig um und brummt. Nur widerwillig lässt er den Traum davonziehen, als er die Augen aufschlägt und das Morgenlicht in sich aufnimmt. Eine Frau hat in dem Traum eine Rolle gespielt, und auch wenn er sich nicht mehr erinnert, wie sie aussah, weiß er, dass sie seine Traumfrau war.

Er flucht, richtet sich auf und sieht sich um. Sein Blick bleibt an dem Pillenglas und der Schachtel Streichhölzer hängen, die immer neben ihm auf dem Nachtschränkchen parat liegen. Er seufzt, schiebt die Beine über die Bettkante und denkt, dass er es heute – heute – schaffen wird.

Er holt tief Luft, reibt sich mit den Händen übers Gesicht und beginnt mit der einfacheren der beiden Übungen. Die Pillen. Trocken und scheußlich. Er schluckt sie wie immer ohne Wasser, weil es so am schwersten ist, zwingt sie am Zäpfchen vorbei in die Speiseröhre und wartet, dass sie im Verdauungstrakt verschwinden und dort die Arbeit erledigen, die laut Dr. Helges engagiertem Dafürhalten zu Hennings Bestem ist.

Er knallt das Tablettenglas unnötig hart auf das Nachttischchen, als wollte er sich selbst wecken. Dann greift er energisch zu den Streichhölzern, schiebt langsam die Schachtel auf und starrt den Inhalt an. Dünne Holzsoldaten aus der Hölle. Er nimmt einen davon heraus, den Blick auf den Schwefelkopf geheftet, diese rote Kappe geballter Boshaftigkeit. Auf der Packung steht etwas von Sicherheitshölzern.

Scheiß Sicherheit.

Er legt das dünne Hölzchen an die Reibefläche und will es anreißen, aber seine Hände verkrampfen und schließen sich. Er kann sie nicht mehr bewegen, strengt sich an, konzentriert alle Kraft auf seine Hände, auf die Finger, aber dieses verfluchte kleine Stückchen Holz will sich nicht rühren. Es will einfach nicht kapieren, lässt sich durch nichts beeindrucken. Ihm bricht der Schweiß aus, seine Brust wird eng, er will Luft holen, aber es geht nicht. Er versucht es wieder, nimmt das winzige Schwert der Boshaftigkeit von der Reibefläche, um es gleich darauf erneut zu versuchen, spürt aber sofort, dass sein Kampfwille und damit auch seine Entschlossenheit nachgelassen haben, und hält inne. Jetzt versucht er, die Kraft in seine Gedanken zu legen, sieht aber ein, dass er atmen muss, und erstickt den in ihm aufkeimenden Drang zu schreien.

Alles nur, weil es so schrecklich früh am Morgen ist. Arne, der über ihm wohnt, schläft vermutlich noch, sonst würde man ihn sicher, wie sonst zu jeder Tages- und Nachtzeit, Gedichte von Halldis Moren Vesaas vortragen hören.

Henning seufzt und legt die Schachtel vorsichtig zurück an die exakt gleiche Stelle. Langsam fährt er sich mit den Händen über das Gesicht und betastet die Stellen seiner Haut, die sich anders anfühlen. Weicher und unebener. Die äußerlichen Narben sind nichts im Vergleich zu denen in seinem Inneren, denkt er und steht auf.

Schlafende Städte sind seine Bestimmung. Dort will er sein, und dort ist er jetzt. Grünerløkka früh am Morgen, bevor der Stadtteil vor Leben brummt, sich die Straßencafés füllen, Mütter und Väter zur Arbeit und die Kinder in den Kindergarten müssen. Noch sind keine Radfahrer unterwegs, die auf dem Weg über die Toftes gate so viele rote Ampeln wie nur möglich überfahren. Um diese Zeit ist außer den ewig hungrigen Tauben niemand wach.

Er geht an dem Brunnen auf dem Olav Ryes plass vorbei und lauscht dem Spiel des Wassers. Er ist ein guter Zuhörer. Und er kennt sich mit Lauten aus. Kann die Stille aus dem fließenden Wasser heraushören und denkt, dass es gut und gern der letzte Tag der Welt sein könnte. Mit ein wenig Konzentration würde er vielleicht sogar ein paar vorsichtige Streicher und die dunklen Klänge eines Cellos hören. Töne, die sich annähern, aneinanderschmiegen, aufeinander einlassen und schließlich Gesellschaft von Pauken bekommen, die das herannahende Elend verkünden.

Aber er hat nicht die Zeit, die Morgenmusik in sich aufzunehmen, denn er ist auf dem Weg zur Arbeit. Allein schon der Gedanke daran macht Gummi aus seinen Beinen. Er weiß nicht, ob es Henning Juul noch gibt, den Juul, der jedes Jahr vier Jobangebote bekam, stumme Quellen zum Singen und die Tage dazu brachte, ein paar Stunden länger zu sein – nur ihm zuliebe –, weil er zum Jagen seiner Beute Licht brauchte.

Er weiß, wer er war.

Ob Halldis auch einen Vers für solche wie mich hat?, fragt er sich. Vermutlich.

Halldis hat für jeden ihren Vers.

Er bleibt stehen, als er den gigantischen gelben Koloss am Beginn der Urtegata sieht. Wegen des riesigen Securitas-Logos an der Wand glauben alle, dass in diesem Gebäude nur die Sicherheitsfirma ansässig ist, dabei gibt es dort auch diverse private Firmen und Behördenstellen. Und die Firma www.123nyheter.no, Hennings Arbeitsplatz, eine reine Internetzeitung, die mit dem Slogan »Nachrichten in 1-2-3« operiert.

Er ist sich unschlüssig, was er von diesem Slogan halten soll, aber im Grunde genommen sind ihm solche Sachen egal. Sie haben sich fair verhalten, ihm Zeit gegeben, wieder zu sich zu kommen, die Chance für einen Neustart.

Ein Zaun aus hohen schwarzen Speeren ragt vor dem gelben Gebäude drei Meter in die Höhe. Das Tor ist ein Teil dieses Zauns. Es öffnet sich langsam, als ein Geldtransporter herausfährt.

Er geht an einem kleinen leeren Pförtnerbüro vorbei und legt die Hand an die Eingangstür. Sie rührt sich nicht. Er blickt durch das Glas nach drinnen. Es steht niemand in der Nähe. Schließlich drückt er auf die Klingel aus gebürstetem Stahl, über der »Empfang« steht.

»Ja«, ertönt mürrisch eine Frauenstimme.

»Hallo«, sagt er und räuspert sich. »Können Sie mich reinlassen?«

»Zu wem wollen Sie?«

»Ich arbeite hier.«

Es bleibt für ein paar Sekunden still.

»Haben Sie Ihre Schlüsselkarte vergessen?«

Er denkt nach. Schlüsselkarte?

»Nein, ich habe keine bekommen.«

»Alle haben Schlüsselkarten bekommen.«

»Ich nicht.«

Es wird wieder still. Er wartet auf eine Fortsetzung, die nicht kommt.

»Würden Sie mich reinlassen?«

Ein scharfes Bzzzzzz lässt ihn zusammenzucken, die Tür summt. Er zieht sie überrascht zu sich, geht hinein und blickt nach oben. Seine Augen haben rasch das runde Ding an der Decke gefunden. Er wartet, bis es rot zu blinken beginnt.

Die grauen Schieferplatten am Boden sind neu, die waren beim letzten Mal noch nicht da. Wie das meiste andere, denkt er. Auf dem Boden stehen große Pflanzen in noch größeren Töpfen, und an den weißen Wänden hängen Kunstwerke, die ihm nichts sagen. Sie haben jetzt auch eine Kantine, stellt er fest, als er links durch eine Glastür schaut. Die Rezeption liegt auf der anderen Seite hinter einer weiteren Glastür. Er geht hinein. Auch hier hängt so ein Ding unter der Decke. Gut.

Eine Frau mit rotem, zu einem Pferdeschwanz zusammengefasstem Haar sitzt hinter dem Tresen. Wütend hackt sie etwas in die Tastatur des Computers, während das Licht des Bildschirms auf ihr müdes Gesicht fällt. Die Postfächer hinter ihr an der Wand sind übervoll mit Papieren, Broschüren, Päckchen und Briefen. An der Wand hängt ein Bildschirm, der mit einem PC gekoppelt ist. Er wirft einen Blick auf die Topnews.

FRAUENLEICHE GEFUNDEN

Auch den Lead bekommt er mit.

In einem Zelt am Ekeberg wurde die Leiche einer Frau gefunden. Die Polizei geht von einem Verbrechen aus.

Die Nachrichtenredaktion hat sich noch nicht darum kümmern können, denkt er, sonst stünde im Lead mehr als in der Schlagzeile. Vermutlich sind die Reporter noch gar nicht ausgerückt. Als Illustration dient ein Foto von einem Polizeiabsperrband an einem ganz anderen Tatort.

Wie originell.

Henning wartet darauf, dass sie ihn ansieht. Aber das tut sie nicht. Er geht auf die Frau zu und begrüßt sie. Sie hebt ihren Blick und sieht ihn an, als hätte er sie geohrfeigt. Dann kommt das Unausweichliche. Ihr Mund öffnet sich, und ihre Augen nehmen alles auf, das Gesicht, die Brandverletzungen und die Narben. Er ist nicht völlig entstellt, die Narben sind nicht groß, nicht aufdringlich groß, aber doch groß genug, dass die Leute ihn einen Augenblick zu lange anstarren, wenn er sich im selben Raum wie sie befindet.

»Ich brauche offensichtlich eine Schlüsselkarte«, sagt er so höflich, wie er kann. Sie starrt ihn noch immer an, ehe sie sich selbst aus der Blase reißt, in der sie Zuflucht gesucht hat, und in einem Stapel Papiere zu blättern beginnt, die vor ihr liegen.

»Äh, ja. Äh … wie heißen Sie denn?«

»Henning Juul.«

Abrupt hält sie inne und blickt wieder auf. Es fühlt sich wie eine Ewigkeit an, bis sie sagt: »Sie sind das also.«

Er nickt verlegen. Dann öffnet sie eine Schublade, nimmt ein paar Unterlagen heraus, bis sie einen Kartenhalter und eine Schlüsselkarte findet.

»Ich kann Ihnen nur eine vorläufige Karte geben. Es dauert etwas, eine neue herzustellen. Sie müssen sich draußen im Pförtnerbüro registrieren lassen, damit Sie die Tür selbst öffnen können, und – aber das wissen Sie ja sicher – der Code ist 1221. Den kann man sich leicht merken.«

Sie reicht ihm die Karte.

»Und dann muss ich noch ein Foto von Ihnen machen.«

Er sieht sie an.

»Ein Foto?«

»Ja, für die Schlüsselkarte. Und für die Autorenzeile in der Zeitung. So schlagen wir gleich zwei Fliegen mit einer Klappe, ist doch gut, oder?«

Sie lächelt, aber ihre Lippen zittern leicht.

»Ich habe einen Fotokurs gemacht«, sagt sie, als wollte sie seine Bedenken zerstreuen. »Bleiben Sie einfach da stehen, wo Sie jetzt sind. Ich kümmere mich um den Rest.«

Hinter dem Tresen taucht eine an einem Stativ befestigte Kamera auf, die sie aufstellt. Henning weiß nicht, wohin er gucken soll, weshalb er den Blick starr nach vorn richtet.

»So, ja. Versuchen Sie zu lächeln.«

Lächeln. Er weiß nicht, wann er zuletzt gelächelt hat. Sie macht drei Fotos schnell hintereinander.

»Gut! Ich heiße Sølvi«, sagt sie und reicht ihm über den Tresen hinweg die Hand. Er schlägt ein. Weiche, angenehme Haut. Er kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt weiche, angenehme Haut in seiner Hand gespürt hat. Sie drückt gerade fest genug zu. Er sieht sie an und lässt los.

Als er sich umdreht und geht, fragt er sich, ob sie wohl sein schwaches Lächeln bemerkt hat.

3

Henning braucht die neue Schlüsselkarte nicht weniger als drei Mal auf seinem Weg von der Rezeption ins zweite Stockwerk. Abgesehen von der Tatsache, dass die Redaktion nach wie vor dort untergebracht ist, erinnert nichts an die Räumlichkeiten, in denen er vor bald zwei Jahren gerade angefangen hatte, sich zurechtzufinden. Alles ist neu, sogar der Teppich. Überall finden sich jetzt graue und weiße Flächen, sie haben eine Kochnische bekommen, und er könnte wetten, dass die Gläser und Tassen in den Schränken jetzt sogar sauber sind. Des Weiteren finden sich jetzt auf allen Tischen und sogar an einigen Wänden Flachbildschirme.

Er sieht sich um. Vier runde Dinger. Und mindestens zwei rote Schaumgeräte. Gut. Besser als nichts.

Der Raum hat die Form eines lang gestreckten L. An den Fenstern stehen Pulte, Tische und Stühle hinter Trennwänden aus getöntem Glas. Abgetrennte Räume von je einem üppigen Quadratmeter, falls man ein Interview ohne Zuhörer oder Unruhe um sich herum führen will. Es gibt sogar Behindertentoiletten, obgleich er sonst niemanden mit irgendwelchen Gebrechen gesehen hat. Aber das ist wahrscheinlich Vorschrift. Eine Kaffeemaschine hat es schon immer gegeben, aber jetzt haben sie eine Kaffeemaschine, die exakt neunundzwanzig Sekunden für eine Tasse guten schwarzen Kaffee braucht. Nicht vier.

Henning mag Kaffee. Man kann kein guter Journalist sein, ohne Kaffee zu mögen.

Das Surren im Hintergrund ist ihm vertraut. Diverse ausländische Fernsehstationen melden immer wieder dieselben Nachrichten. Alles Eilmeldungen, Breaking News. Börsenkurse laufen in einem Band unten über die Mattscheibe. Eine Handvoll Bildschirme zeigt, was NRK und TV 2 auf ihren unglaublich unmodernen, aber nach wie vor lebenstüchtigen Teletext-Seiten zu vermelden haben. Die Nachrichtensender bringen ihre Beiträge in einer Endlosschleife. Auch sie haben einen Ticker, der die Essenz einer Neuigkeit in einem Satz zusammenfasst. Dann hört er die charakteristische Lautfolge des Polizeifunks, als würde R2-D2 aus Star Wars in regelmäßigen Abständen aus einer weit, weit entfernten Galaxie Signale senden. Aus einem Radio plätschert leise NRKs Vierundzwanzigstunden-Nachrichtensender.

Morgenmüde Reporter hämmern auf ihre Tastaturen, Telefone klingeln, es wird diskutiert, unterschiedliche Perspektiven werden vorgeschlagen. In der Ecke am Newsdesk, wo aller Stoff durchgekaut, abgewogen, verworfen, bejubelt, poliert oder kräftig umgearbeitet wird, liegt ein Stapel Zeitungen – Papierausgaben, neue und alte –, den die frisch eintrudelnden Journalisten verschlingen und verdauen, während sie an ihrer ersten Tasse Kaffee nippen.

Es herrscht das übliche kontrollierte Chaos. Doch für ihn fühlt sich alles fremd an. Die Sicherheit, die er nach vielen Jahren Arbeit auf der Straße, im Feld, gespürt hat, wenn er an einem Tatort eintraf und wie selbstverständlich seinen natürlichen Platz einnahm, ist verpufft. All das gehört einem anderen Lebensabschnitt an, einer anderen Ära.

Er fühlt sich wie ein Neuling. Als hätte er in einem Theaterstück die Hauptrolle des Armen Würstchens übernommen. Des Typen, auf den alle aufpassen sollen und dem sie helfen müssen, um ihn wieder auf die Beine zu kriegen. Obgleich er noch mit niemandem ein Wort gewechselt hat außer mit Sølvi, ist er sicher, dass keiner daran glaubt, dass das überhaupt möglich ist. Henning Juul wird niemals wieder der Alte werden.

Er macht kleine Schritte, versucht, sich einen Überblick zu verschaffen, ob er jemanden wiedererkennt. Gesichter. Lauter Gesichter und Bruchstücke aus einem Erinnerungsbuch, das er ein für alle Mal zugeklappt zu haben glaubte. Da sieht er Kåre.

Kåre Hjeltland beugt sich über die Schulter eines Journalisten in der Desk-Ecke. Kåre ist Nachrichtenredakteur bei 123nyheter. Er ist ein kleiner, schmächtiger Kerl mit wirrem Haar und einem Engagement, das alles übertrifft, was Henning je erlebt hat. Kåre ist ein Duracell-Kaninchen auf Speed, das hundert Sachen auf einmal im Kopf hat und auf ein Arsenal aller möglichen Blickwinkel zurückgreifen kann.

Darum ist er Nachrichtenredakteur. Ginge es nach Kåre, wäre er Chef sämtlicher Redaktionen und obendrein auch noch Chef vom Dienst. Er hat Tourette, nicht unbedingt eine der unproblematischsten Krankheiten, wenn man eine Redaktion leiten und gleichzeitig ein soziales Leben führen will.

Aber Kåre schafft es, mit Zwangshandlungen, Ticks und allem, was dazugehört. Henning weiß nicht wie, aber Kåre schafft es.

Jetzt hat Kåre ihn auch entdeckt. Er winkt und streckt einen Finger in die Luft. Henning nickt und bleibt ruhig stehen, während Kåre den Desk-Journalisten instruiert.

»Und das nimmst du in den Lead. Das ist das Prickelndste an der ganzen Sache, nicht, dass das Zelt weiß war und im März bei Maxbo gekauft wurde. Verstehst du?«

»Maxbo verkauft keine Zelte.«

»Nein, natürlich nicht. Aber du weißt, was ich meine. Und bring zu einem frühen Zeitpunkt, dass sie wenig anhatte, als sie gefunden wurde. Das ist wichtig. Pflanz den Leuten ein sexy Bild in den Kopf, reg ihre Fantasie an.«

Der Desk-Journalist nickt. Kåre klopft dem Mann auf die Schulter und kommt mit raschen Schritten auf Henning zu. Um ein Haar stolpert er über ein Kabel, das über dem Gang liegt, aber er geht einfach weiter. Und obwohl er nur noch wenige Meter entfernt ist, ruft er: »Henning! Schön, dich zu sehen! Welcome back!«

Kåre schwingt seine Hand nach vorn und wartet nicht, bis Henning ihm seine entgegenstreckt. Er packt sie und schüttelt sie kräftig. Henning treten Schweißperlen auf die Stirn.

»Na – wie geht’s? Bist du bereit, die Klick-Jagd wieder aufzunehmen?«

Henning denkt an Ohrenschützer.

»Ich bin jedenfalls schon mal hier«, antwortet er.

»Fein! Fein! Wir brauchen hier solche wie dich, einen, der weiß, wie man einen lesefreundlichen Artikel schreibt. Das ist gut! Keine Frau – arme Sau! Scharfe Ficks – das bringt Klicks!«

Kåre lacht laut, ein Zucken läuft über sein Gesicht, aber er lacht weiter. Kåre hat im Laufe seiner Zeit schon viele Schlagzeilen gereimt. Kåre liebt Reime.

»Also, ich hab mir gedacht, dass du da drüben mit den andern aus der Abteilung zusammensitzt.«

Kåre fasst Henning am Arm und zieht ihn an einer rot getönten Glaswand vorbei. Sechs Computer, jeweils drei an jeder langen Seite eines rechteckigen Tischs. Hinter dem Tisch, auf einer einsamen Insel, liegt mindestens eine Tonne Zeitungen.

»Hier hat sich einiges verändert, wie du vielleicht bemerkt hast, aber deinen Arbeitsplatz hab ich nicht angerührt. Der ist genau wie vorher. Nach dem, was passiert ist, dachte ich, dass du – ähm – vielleicht selbst entscheiden möchtest, ob du was wegwerfen willst.«

»Wegwerfen?«

»Ja, oder umstellen. Du weißt schon.«

Er sieht sich noch einmal um.

»Wo sind die anderen?«

»Wer?«

»Die anderen aus der Abteilung?«

»Keinen Schimmer, Schimmer, SCHIMMER. Doch, warte. Heidi ist hier. Heidi Kjus. Hab sie eben doch noch irgendwo hier gesehen. Sie ist jetzt die Chefin von irix.«

Henning spürt einen Stich in der Brust. Heidi Kjus.

Heidi war eine der Ersten, die er vor fünfundneunzigtausend Jahren als Aushilfe von der Journalisten-Hochschule angefordert hat. Normalerweise sind die frisch Ausgebildeten so zugestopft mit Informationen, die sie an der Schule gelernt haben, dass sie das Wichtigste vergessen, was einen guten Journalisten ausmacht: Benimm und gesunder Menschenverstand. Wenn man darüber hinaus noch neugierig ist und sich nicht mit der erstbesten Wahrheit zufriedengibt, hat man es schon ein ganzes Stück weit gebracht. Aber um ein verflixt guter Reporter zu werden, muss man auch ein wenig Drecksack sein, ein wenig skrupellos. Man muss die nötige Kondition aufbringen, lange Strecken und Gegenwind durchzuhalten und nicht aufzugeben, wenn man an einer guten Sache dran ist.

Heidi Kjus hatte all das. Vom ersten Tag an. Und sie hatte einen Heißhunger, den Henning in dieser Form selten erlebt hat. Für sie war keine Sache zu unwichtig oder zu groß, und es dauerte nicht lange, bis sie sowohl die nötigen Quellen als auch Erfahrungen gesammelt hatte. Nachdem sie einmal begriffen hatte, dass sie gut war, legte sie zu der allmorgendlichen Schminke noch eine solide Schicht Arroganz auf.

Einige Journalisten strahlen eine Aura aus, eine Haltung zu ihrer Umgebung, die förmlich schreit: »Der Job, den ich mache, ist der wichtigste auf der ganzen Welt. Und keiner macht ihn besser als ich.« Heidi schaute zu Leuten mit spitzen Ellenbogen auf und legte sich schnell selber welche zu. Sie beanspruchte Raum, selbst als Aushilfe. Und sie hatte hohe Ansprüche.

Henning arbeitete für die Online-Zeitung Nettavisen, als Heidi ihre Ausbildung abschloss. Neben seiner Arbeit als Kriminalreporter war er hauptverantwortlich für die Auswahl und das Einarbeiten der neuen Journalisten und Volontäre, er zeigte ihnen die Kniffe, korrigierte sie während der Arbeit, schubste sie in die Richtung des übergeordneten Ziels, das darin bestand, emsige Ameisen heranzuziehen, die keine Rund-um-die-Uhr-Betreuung brauchten, um Spitzenartikel und Klick-Magneten am Fließband zu liefern.

Er mochte diesen Teil seiner Arbeit. Und Nettavisen war eine gute Startadresse, auch wenn den meisten sicher nicht klar war, dass sie in einem Formel-1-Wagen in einen Medienzirkus geschickt wurden, in dem die Geschwindigkeit mit jedem Tag zunahm und die Straßen immer voller wurden. Bei Weitem nicht alle eigneten sich für so ein Leben, für diese Art zu denken und zu arbeiten. Und das Problem war, dass jedes Mal, wenn er auch nur ansatzweise einen guten Internet-Journalisten witterte, derjenige verschwand. Weil er woanders einen Job angeboten bekam, einen spannenderen Job, eine feste Anstellung irgendwo anders.

Heidi verschwand bereits nach vier Monaten. Sie bekam ein Angebot vom Dagbladet, das sie nicht ablehnen konnte. Henning hatte damals vollstes Verständnis. Das Dagbladet. Höherer Status. Mehr Geld. Heidi wollte alles und das so schnell wie möglich. Und sie bekam es.

Und jetzt ist sie also seine Chefin. Himmel Herrgott, denkt er, das geht im Leben nicht gut.

»Freut mich, dich wieder in unserer Runde zu haben, Henning«, insistiert Kåre. Henning antwortet mit einem »Hm«.

»In zehn Minuten ist Morgensitzung. Du bist doch dabei, oder?«

Er antwortet wieder mit »Hm«.

»Fein! Fein! Ich muss weiter. Muss zu einem anderen Meeting.«

Kåre lächelt, streckt den Daumen hoch, dreht sich um und geht. Er läuft an einem Mann vorbei, klopft ihm ebenfalls auf die Schulter, ehe er um die Ecke biegt und verschwindet. Henning bleibt kopfschüttelnd stehen. Dann setzt er sich auf einen Stuhl, der heftig knarrt und schwingt wie ein Boot. Neben der Tastatur liegt ein roter Notizblock, der noch in Folie eingeschweißt ist. Vier Stifte. Wahrscheinlich funktioniert keiner. Ausdrucke von alten Artikeln liegen auf einem Stapel, er erkennt Recherchematerial von alten Fällen wieder, an denen er gearbeitet hat, ein ausrangiertes Mobilladeteil, das unnötig viel Platz einnimmt, und einen Stapel Visitenkarten. Seine Visitenkarten.

Sein Blick bleibt an einem gerahmten Foto hängen, das schräg auf der Arbeitsfläche steht. Darauf sind zwei Menschen zu sehen, eine Frau und ein Junge.

Nora und Jonas.

Er sieht sie an, ohne sie zu sehen. Kein Lächeln. Bitte, lächelt mich nicht an.

Alles wird gut. Hab keine Angst. Ich passe auf dich auf.

Er streckt die Hand aus, hebt den Rahmen hoch und legt das Foto weg.

Mit dem Bild nach unten.

4

Morgensitzungen. Das Kerngeschäft aller Redaktionen. Dort wird der Produktionsplan für den Tag erstellt, werden die Aufgaben verteilt, Beiträge nach Kriterien wie Aktualität, Wichtigkeit und – im Fall von 123nyheter – Leserpotenzial hoch- oder runtergestuft.

Zuerst haben die jeweiligen Redaktionen ihre Morgensitzungen. Sport, Wirtschaft, Kultur, Nachrichten. Tageslisten werden gemacht. Und auf diesem Niveau sind die Sitzungen manchmal genial. Oft wird eine gute Idee in der Diskussion mit den anderen geboren, während andere Ideen verworfen werden, weil sich herausstellt, dass der Beitrag zu wenig hergibt oder eine konkurrierende Zeitung zwei Wochen vorher einen ganz ähnlichen Artikel gebracht hat. Danach treffen sich die Redakteure der einzelnen Ressorts, um sich auf den neuesten Stand zu bringen und dem Chef vom Dienst mitzuteilen, was im Laufe des Tages an Stoff bei ihm eingehen wird.

Wenn Henning etwas nicht vermisst hat, dann diese Sitzungen. Für ihn ist das vergeudete Zeit. Er ist für die aktuellen Nachrichten zuständig. Für Verbrechen, Morde, den Bodensatz, das Böse. Wieso muss er sich da anhören, dass Trine Haltvik ein Comeback plant? Oder dass Bruce Springsteen sich scheiden lassen will? Das kann er später in der Zeitung lesen – falls es ihn interessiert. Oder falls es dem Journalisten wider Erwarten gelungen sein sollte, das Ganze interessant zu verpacken. Außerdem haben der Wirtschaftsredakteur und der Sportchef von Kultur nicht die blasseste Ahnung und umgekehrt genauso, was die Möglichkeit einer kreativen Zusammenarbeit von vornherein ausschließt.

Die Redakteure haben geringe bis gar keine Voraussetzungen, sich gegenseitig wertvolle Informationen oder Vorschläge für neue Artikel zuzuspielen. Sie sind viel zu sehr von ihrem eigenen Kram eingenommen, von den Aufgabenstellungen der Ressorts, die sie verantworten. Aber dennoch halten die oberen Chefs an diesen Sitzungen fest und betonen ihre Wichtigkeit. Und trotzdem begibt Henning sich in den Sitzungsraum, in dem die rechteckige Tischfläche wie ein blank geputzter Spiegel blinkt. In der Mitte stehen ein Krug mit Wasser und ein Stapel Plastikbecher. Bestimmt ist das Wasser abgestanden.

Der Stuhl, auf dem er Platz nimmt, ist nicht für lange Diskussionen geeignet. Er vermeidet den Blickkontakt mit den anderen, die sich um den Tisch versammeln. Gedankenlose Worthülsen kann er gerade gar nicht ertragen, außerdem hat er das Gefühl, dass sich alle fragen, was er hier verloren hat.

Was macht der denn hier?

Ist der Redakteur?

Der soll doch durchgedreht sein?

Kåre Hjeltland betritt als Letzter den Raum und schließt die Tür.

»Okay, fangen wir an«, ruft er und setzt sich an die eine Kopfseite des Tischs. Er sieht sich um.

»Erwarten wir noch jemanden?«

Keine Antwort.

»Okay, dann legen wir mit urix los. Knut. Was habt ihr heute?«

Knut Hammerstad, Chef der Auslandsabteilung, räuspert sich und stellt seinen Kaffeebecher weg.

»In Schweden ist bald Wahl. Wir bringen eine Übersicht über die Ministerpräsidenten-Kandidaten, wer sie sind und wofür sie stehen. In Indonesien hat ein Flugzeug eine Bruchlandung hingelegt. Verdacht auf Terroranschlag. Sie suchen noch nach der Blackbox. Es wurden vier Terrorverdächtige in London festgenommen, die offenbar das Parlament zur Hölle jagen wollten.«

»Guter Titel!«, ruft Kåre. »Scheißt auf die Wahl in Schweden, und blast den Flugzeugabsturz nicht weiter auf. Das interessiert sowieso keine Sau, wenn kein Norweger an Bord war.«

»Das überprüfen wir gerade.«

»Move on! Alles auf den Terror! Beschafft alle Details über die Planung, Durchführung, wie viele Menschenleben auf dem Spiel standen und so weiter und so weiter.«

»Wir sind dabei.«

»Gut! Nächster?«

Neben Knut Hammerstad sitzt Rikke Ringheim. Rikke ist die Chefin der Sex- und Tratschabteilung, der wichtigsten Redaktion des Hauses.

»Rikke, was habt ihr heute zu bieten?«, fragt Kåre sie.

»Ein Interview mit Carrie Olson.«

Rikke lächelt stolz und zufrieden. Henning sieht sie an und fragt sich, ob das Fragezeichen, das sich über sein ganzes Gesicht ausbreitet, für alle zu erkennen ist.

»Wer zum Teufel ist Carrie Olson?«

»Sie hat das Buch So haben Sie zehn Orgasmen am Tag geschrieben. Absoluter Bestseller in den USA und auf Platz eins in Deutschland und Frankreich. Sie ist momentan in Norwegen.«

Kåre klatscht in die Hände. Es schallt durch den Raum.

»Souverän!«

Rikke lächelt zufrieden.

»Und sie hat norwegische Vorfahren.«

»Noch besser! Sonst noch was?«

»Wir haben eine Untersuchung laufen. Wie oft haben wir Sex? Die fährt jetzt schon jede Menge Klicks ein.«

»Sehr gut. Das macht die Leser scharf. Hä hä. Scharf.«

»Wir haben noch einen sicheren Klick-Sieger: ein Sexologe, der für die Priorisierung von Sex in Paarbeziehungen spricht. Den bringen wir vielleicht etwas später.«

Kåre nickt.

»Sehr gut, Rikke.«

Er galoppiert weiter.

»Heidi?«

Henning hat Heidi noch gar nicht wahrgenommen, aber jetzt sieht er sie. Sie ist genauso dünn wie damals und hat noch immer die markanten Wangenknochen und die tief in den Höhlen liegenden Augen. Sie hat sich viel zu knallig geschminkt, ihr Lipgloss lässt ihn an Neujahrsraketen und zu süßen Schampus denken. Sie beugt sich vor und räuspert sich.

»Es besteht wohl kein Zweifel, was bei uns heute das Gesprächsthema Nummer eins ist. Der Mord auf dem Ekeberg. Ich habe soeben die Bestätigung bekommen, dass es sich um Mord handelt. Ein ziemlich brutaler obendrein. Die Polizei gibt später am Tag eine Pressekonferenz. Iver fährt direkt dorthin und bleibt nachmittags und abends an der Sache dran. Ich habe schon mit ihm gesprochen.«

»Gut! Henning kann auch hingehen. Kannst du doch, oder, Henning?«

Er zuckt zusammen, als er seinen Namen hört. Sagt »Hm«. Mit steigendem Tonfall. Er klingt wie ein Neunzigjähriger, der dringend ein Hörgerät braucht, denkt er.

»Mord auf dem Ekeberg. PK später am Nachmittag. Das ist ein guter Einstieg, findest du nicht?«

Er räuspert sich. »Ja, klar.« Er hört die Stimme, kann sie aber nicht als seine eigene identifizieren.

»Wunderbar! Ich gehe davon aus, dass alle Henning Juul kennen und ich ihn nicht weiter vorstellen muss. Ihr wisst ja, was er durchgemacht hat, es wäre also schön, wenn ihr ihn herzlich willkommen heißen würdet. Niemand hat das mehr verdient als er.«

Es wird still. Sein Gesicht glüht von innen, und irgendwie hat er das Gefühl, dass plötzlich mindestens doppelt so viele Personen im Raum sind wie noch vor sechzig Sekunden. Und alle sehen ihn an. Am liebsten würde er aufstehen und gehen. Aber das kann er nicht tun. Stattdessen hebt er den Blick und starrt auf einen Punkt an der Wand, über alle Köpfe hinweg, so glaubt hoffentlich jeder von ihnen, dass er gerade jemand anderen anguckt.

»Die Zeit rast! Ich muss zur nächsten Sitzung. Steht noch was an? Musst du noch was wissen, bevor wir uns auf Leserjagd begeben?«

Kåre wendet sich an den Chef vom Dienst, einen Mann mit schwarzer Brille, den Henning noch nie gesehen hat. Der Chef vom Dienst setzt an, etwas zu sagen, aber Kåre ist bereits aufgestanden.

»Dann bleibt es dabei.«

Er verlässt den Raum.

»Ole und Anders, schickt ihr mir eure Listen?«

Die Stimme des Dienstchefs ist dünn, und eine Antwort erhält er auch nicht. Henning könnte kaum glücklicher sein, als die Sitzung aufgehoben wird. Stühle scharren über den Boden, und an der Tür staut es sich. Er spürt warmen Atem in seinem Nacken, Leute, die ihn unabsichtlich anstoßen, es wird eng, schnürt ihm den Hals zu, aber er schafft es nach draußen, ohne jemanden anzurempeln oder in Panik zu geraten.

Erleichtert holt er Luft. Seine Stirn glüht.

Und gleich ein Mord, denkt Henning. Er hätte sich einen etwas ruhigeren Einstieg gewünscht, hatte gehofft, die ersten Tage dazu nutzen zu können, sich wieder einzugewöhnen, ein bisschen einzulesen und zu schauen, was in letzter Zeit so gelaufen ist. Eigentlich hatte er sich vorgenommen, ein paar seiner alten Quellen anzurufen, um sich zurückzumelden. Sicher wäre es auch sinnvoll gewesen, sich wieder mit seinem Publikationswerkzeug vertraut zu machen, den Routinen im Haus, den Örtlichkeiten, sich mit seinen Kollegen zu unterhalten und Schritt für Schritt den Kopf wieder daran zu gewöhnen, in Artikeln zu denken.

Das kann er jetzt alles vergessen.

5

Wenige Minuten später geht er mit den schlimmsten Erwartungen an seinen Platz zurück. Als hätte sie ihn nicht kommen sehen, schwingt Heidi Kjus in just dem Augenblick auf ihrem Stuhl herum, als er ankommt. Sie steht auf, schenkt ihm ihr breitestes Lächeln und streckt ihm die Hand entgegen.

»Hallo, Henning!«

Professionelle Höflichkeit. Falsches Lächeln.

Er entscheidet sich mitzuspielen und schlägt ein.

»Hallo, Heidi.«

»Gut, dich wieder hier zu haben.«

»Ja, auch gut, wieder hier zu sein.«

»Das ist gut … äh, ja.«

Henning mustert sie. Wie immer strahlt ihr Blick sachlichen Ernst aus. Sie ist ambitioniert, nicht nur was sie selbst betrifft, sondern sie hat auch an die anderen hohe Erwartungen. Er ist sich ziemlich sicher, was sie denkt: Henning, du warst einmal mein Chef. Aber die Zeiten haben sich geändert. Jetzt bin ich deine Vorgesetzte, und ich erwarte, dass du bla bla bla …

Erstaunt stellt er fest, dass die Ermahnung ausbleibt. Stattdessen wartet sie schon mit der nächsten Überraschung auf.

»Es hat mir wahnsinnig leidgetan, als ich gehört habe … gehört habe, was geschehen ist. Ich wollte nur sagen, falls du etwas brauchst oder doch noch mehr Zeit benötigst, um die Geschehnisse zu verarbeiten, sag einfach Bescheid, ja?«

Ihre Stimme ist warm wie eine Schäre in der Nachmittagssonne. Er bedankt sich für ihr Mitgefühl und verspürt zum ersten Mal seit Langem das Bedürfnis, endlich wieder durchzustarten.

»Iver ist also bei der Pressekonferenz?«, fragt er.

»Ja. Er war gestern noch lange unterwegs und ist heute Morgen von zu Hause aus direkt dorthin gefahren.«

»Wer ist Iver?«

Heidi starrt ihn an, als hätte er gesagt, die Erde sei eine Scheibe.

»Machst du Witze?«

Er schüttelt den Kopf.

»Iver Gundersen? Du weißt nicht, wer Iver Gundersen ist?«

»Nein.«

Heidi unterdrückt ein Lachen und richtet sich auf, als spräche sie mit einem Kind.

»Wir haben Iver im letzten Sommer von der Web-Ausgabe der VG abgeworben.«

»Ach ja?«

»Er hat da einen Superjob geleistet und hier sofort im gleichen Stil weitergemacht. Ich weiß, dass TV 2 sich die Finger nach ihm leckt, aber bis jetzt verhält Iver sich noch loyal uns gegenüber.«

»Klar. Dann ist auch sein Lohn entsprechend?«

Heidi sieht ihn an, als hätte er in der Kirche laut geflucht.

»Äh, darüber weiß ich eigentlich nichts Genaues, aber …«

Henning nickt und tut so, als hörte er ihr zu. Er kennt die Argumente nur zu gut. Loyalität. Ein ungeheuer abgenutzter Begriff in ihrer Branche. Mit etwas gutem Willen kann er vielleicht zwei Personen nennen, auf die dieser Begriff zutrifft. Bei den anderen handelt es sich um Karrieremenschen, die, kaum dass sich die Chance bietet, von einer gut bezahlten Stellung zur anderen noch besser bezahlten wechseln, oder um komplett untalentierte Personen, die woanders ohnehin keinen Job bekommen würden. Wenn ein relativ unbekannter Journalist von VG Nett zur Konkurrenz wechselt und danach ein Angebot von TV 2 ablehnt, muss der Grund dafür finanzieller Natur sein. Es geht immer nur ums Geld.

Er registriert Heidis Hoffnung, dass er mit Iver auskommen und Zugang zu ihm finden möge. Henning nickt und sagt »Hm«. Was das »Hm« angeht, ist er ein Profi.

»Ihr könnt euch dann ja bei der Pressekonferenz vorstellen und eure nächsten Schritte abstimmen. Das ist eine ziemlich heftige Sache.«

»Was ist eigentlich passiert?«

»Meine Quelle sagt, das Opfer wäre gesteinigt worden. Sie ist in einem Zelt gefunden worden, halb eingegraben. Die Polizei kommt sicher mit einer Unmenge Theorien. Bei so einem Fall denkt man ja immer gleich an einen anderen kulturellen Background.«

Er nickt und denkt, dass er von solchen Gedanken, die sich einem vorschnell aufdrängen, noch nie viel gehalten hat.

»Halte mich bitte über eure Aktivitäten auf dem Laufenden, ja?«, sagt sie. Er nickt wieder und wirft einen Blick auf das noch eingeschweißte Notizbuch auf seinem Schreibtisch. Mit geübter Handbewegung reißt er das Plastik herunter und testet einen der vier Stifte, die daneben liegen. Ohne Erfolg. Dann probiert er auch die anderen drei aus.

Verflucht.

6

Es ist nicht weit von der Urtegata bis zum Polizeipräsidium in Oslo-Grønland, in dem die Pressekonferenz stattfinden soll. Er nimmt sich viel Zeit und bewegt sich langsam durch die Straßenzüge, die Chefredakteur Sture Skipsrud nach dem Umzug von 123nyheter hierher als das neue Pressemekka bezeichnet hat. Henning erinnert sich, dass diese Äußerung ihm damals gefallen hat. Nettavisen ist dort untergebracht, Dagens Næringsliv hat ganz in der Nähe ein hypermodernes Gebäude, und Mekka selbst nimmt in den meisten Wohnungen ringsherum einen wichtigen Platz ein. Mal abgesehen von den asphaltierten Straßen und der Lufttemperatur könnte man ebenso gut in Mogadischu sein. Hinter jeder Hausecke schlägt einem der Duft unzähliger Kräuter und orientalischer Gewürze entgegen.

Henning erinnert sich an das letzte Mal, als er auf dieser Straße war. Damals hatte sich ein Typ umgebracht, kurz nachdem er ihn interviewt hatte, sodass sowohl die Polizei als auch die Angehörigen wissen wollten, ob er ihn durch sein Interview in den Selbstmord getrieben hatte.

Henning erinnert sich gut an ihn. Paul Erik Holmen war damals etwas über vierzig gewesen. In der Firma, in der er arbeitete, waren auf geheimnisvolle Weise mehr als zwei Millionen Kronen aus der Firmenkasse verschwunden. Henning hatte in seinem Interview unmissverständlich angedeutet, dass die Renovierungsarbeiten in Holmens Sommerhaus im Eggedal und die extravagante Ferienreise, die er gerade gemacht hatte, eigentlich für sich sprachen. Natürlich hatte er damals eine verdammt gute Quelle gehabt. Holmen war offensichtlich an seinem schlechten Gewissen und der Angst vor einer möglichen Verhaftung zerbrochen, worauf Henning in einem der zahlreichen Vernehmungszimmer im Präsidium gelandet war.

Sie hatten ihn schnell wieder gehen lassen, aber der eine oder andere missgünstige Kollege hatte es sich nicht verkneifen können, wenigstens ein paar Zeilen über seine Rolle bei der Tragödie zu Papier zu bringen. Was okay war, einen gewissen Informationswert hatte die Sache ja schon, auch wenn Holmen aller Wahrscheinlichkeit nach auch ohne dieses Interview in die Tiefe gesprungen wäre. Dummerweise hatten solche Meldungen die Tendenz, ewig an einem haften zu bleiben.

Das Gedächtnis der Menschen ist bestenfalls selektiv, wenn nicht ganz einfach fehlerhaft, sodass aus einem vagen Verdacht, wenn er erst geäußert worden ist, schnell eine unverrückbare Wahrheit wird, die Menschen verurteilt. Das weiß er aus vielen Mordfällen, bei denen Angehörige erst als Verdächtige verhaftet werden – in den Zeitungen heißt es dann: Mann tötete seine Frau –, ehe sie am nächsten Tag, wenn die tatsächliche Wahrheit ans Licht kommt, wieder entlassen werden. In der Zwischenzeit aber haben die Medien genug Nägel in der Vergangenheit des angeblichen Täters ausgegraben, um damit den Deckel seines Sargs ordentlich zuzunageln.

Kurzfristig ist die Wahrheit ein guter Freund, aber ein einmal geäußerter Verdacht löst sich niemals auf. Nicht bei Menschen, die einem völlig fremd sind. Außerdem erinnert man sich immer an das, woran man sich erinnern will. Henning ist überzeugt, dass es da draußen noch immer Leute gibt, die seine Rolle in Paul Erik Holmens letztem Auftritt noch nicht vergessen haben. Aber darüber macht er sich keine Sorgen. Er hat sich nichts vorzuwerfen, kann gut damit leben, was er getan hat, auch wenn die Polizei wahrlich nicht froh darüber war, dass er sich in ihre Arbeit eingemischt hatte.

Aber das war er gewohnt.

7

Es ist ein merkwürdiges Gefühl, wieder in das silbergraue Gebäude am Grønlandsleiret 44 zu gehen. Dabei war das Präsidium früher einmal so etwas wie sein zweites Zuhause. Damals hatte er sogar die Putzfrauen geduzt. Jetzt versucht er, sich so unauffällig wie möglich zu verhalten, was bei den Narben in seinem Gesicht nicht ganz einfach ist. Er spürt die Blicke der anderen auf sich, grüßt aber niemanden. Er will einfach nur dort sein, will hören, was die Polizei zu sagen hat, bevor er zurück in die Redaktion geht und seinen Artikel schreibt, wenn es denn etwas zu schreiben gibt.

Kaum in der Halle angekommen, bleibt er wie angewurzelt stehen. Nichts hätte ihn auf den Anblick der Frau vorbereiten können, die auffällig dicht neben einem Mann steht, der alle äußeren Zeichen eines Journalisten in sich vereint: dunkle Cordjacke, das distanziert arrogante Auftreten, das zu sagen scheint: »Habt ihr meinen gestrigen Artikel gelesen?«, der Dreitagebart, der das Gesicht dunkler macht, und die dünnen, mit Wasser nach hinten gekämmten Haare.

Aber die Frau. Henning hatte keine Sekunde lang damit gerechnet, sie hier zu treffen. An seinem ersten Arbeitstag.

Nora Klementsen. Seine Exfrau. Jonas’ Mutter.

Er hat nicht mehr mit ihr gesprochen, seit sie ihn in Sunnaas besucht hat. Wann das gewesen ist, hat er vergessen. Oder vielleicht verdrängt. Ihren Blick aber würde er niemals vergessen. Sie hatte sich nicht überwinden können, ihn anzusehen. Aber damals wie heute machte er ihr keine Vorwürfe. Sie hatte ja in allem recht. Jonas war bei ihm gewesen, und er hatte versagt, hatte es nicht geschafft, ihn zu retten.

Ihren Jungen.

Ihren lieben, kleinen Jungen.

Sie hatten schon damals getrennt gelebt, und sie war nach Sunnaas gekommen, um die letzten Formalitäten der Scheidung über die Bühne zu bringen. Sie hatte seine Unterschrift gebraucht, die er ihr gab. Ohne Hintergedanken, ohne Fragen, ohne Bedingungen. Eigentlich war er erleichtert. Er hätte es nicht ertragen, sie um sich zu haben. Das wäre wie eine konstante Mahnung an sein Versagen gewesen. Jeder Blick, jedes Gespräch wäre mit diesem Pinsel gemalt worden.

Sie hatten damals nur wenige Worte gewechselt, dabei hätte er ihr gerne alles erzählt und ihr gesagt, was er getan und nicht getan hatte und an was er sich erinnerte. Aber es war kein Laut über seine trockenen Lippen gekommen, wie sehr er es auch versucht hatte. Nachdem sie gegangen war, hatte er nur die Augen zu schließen brauchen, und schon waren die Worte wie eine Maschinengewehrsalve aus seinem Mund geschossen. In seiner Vorstellung hatte sie ihn verstanden, und er hatte seinen Kopf auf ihren Schoß gelegt, während sie ihm mit den Fingern durch die Haare strich.

Er nahm sich damals vor, es bei ihrer nächsten Begegnung noch einmal zu versuchen, aber dieser Tag heute ist dafür definitiv nicht der richtige, denkt er. Denn jetzt arbeitet er. Wie auch sie arbeitet. Und noch dazu steht sie bei diesem anderen Journalisten – und lacht.

Verfluchter Aufschneider.

Als Henning Nora Klementsen zum ersten Mal begegnete, arbeitete er bei der Zeitschrift Kapital, während sie ein ganz junges Küken bei der Aftenposten war. Sie waren sich bei einer Pressekonferenz in den Räumlichkeiten der Firma Aker Yards in der Fjordallé 16 über den Weg gelaufen. Es war um etwas Banales gegangen, nichts Dramatisches, nur ein paar magere Ergebnisse mit so geringem Nachrichtenwert, dass diese sich tags darauf nur in einer kurzen Notiz in der Zeitung Dagens Næringsliv und in einer schmalen Spalte auf Seite 17 der Finanzzeitung wiederfanden.

Wie der Zufall es wollte, hatte er bei der Pressekonferenz neben Nora gesessen. Er war damals dort gewesen, um einen größeren Artikel über einen der Topmanager zu schreiben, der drei Wochen später das Unternehmen verlassen wollte. Sie gähnten sich durch die Präsentation der Bilanz und amüsierten sich immer mehr über ihre zunehmend erfolglosen Versuche, ihre tödliche Langeweile zu verbergen. Schließlich entschlossen sie sich, anschließend noch etwas trinken zu gehen, um wieder auf die Beine zu kommen.

Sie steckten damals beide in mehr oder weniger ernsten Beziehungen. Sie mit einem Aktienmakler aus Nordstrand und er – nicht ganz so fest – mit einer noblen Anwältin der Kanzlei BA-HR. Ihr erster Abend aber war so lustig gewesen, so reibungsfrei, dass sie auch nach ihrem nächsten berufsbedingten Treffen etwas zusammen trinken gingen. Er hatte schon einige Beziehungen hinter sich, aber noch nie eine Frau getroffen, mit der das Zusammensein so unkompliziert war. Es machte ihm fast Angst, bei wie vielen Themen sie den gleichen Geschmack hatten.

Beide mochten sie körnigen Senf auf ihren Würstchen, nicht die übliche grüngelbe Soße, konnten Tomaten nicht ausstehen, liebten aber Ketchup. Sie hatten ein Faible für die gleiche Art von Filmen, sodass sie nie lange diskutieren mussten, welches Video sie ausliehen oder in welchen Film sie gingen. Keiner von ihnen wollte ins heiße Ausland fahren, wenn Norwegen sonnenwarme Schären und frische Krabben zu bieten hatte. Und freitags aßen sie Tacos. Nur freitags.

Irgendwann erkannten sie, dass sie nicht mehr ohne einander auskamen.

Dreieinhalb Jahre später waren sie verheiratet. Jonas kam ziemlich genau neun Monate darauf, und sie waren so glücklich, wie zwei schlaflose Karrieremenschen Ende zwanzig es sein konnten, deren Alltag aussah wie ein Holzbrett voller Kerben und Risse. Es kam, wie es kommen musste: wenig Schlaf, kaum Zerstreuungen, ein minimales Verständnis für die Bedürfnisse des anderen, sowohl zu Hause als auch bei der Arbeit. Sie stritten immer häufiger und hatten immer weniger Zeit und Energie, einfach nur zusammen zu sein. Zum Schluss hatten sie beide keine Kraft mehr.

Eltern. Das Schönste und Schlimmste, was man als Mensch sein kann.

Jetzt hat sie sich bei einem anderen Mann untergehakt. Wie unprofessionell, denkt er, bei einer Pressekonferenz.

Er versucht, in eine andere Richtung zu schauen, doch es gelingt ihm nicht. Gerade als Nora laut auflacht, sieht sie ihn. Sie erstarrt und verstummt, als hätte sie sich verschluckt. Dann stehen sie eine Ewigkeit da und sehen sich an.

Er wendet den Blick zuerst ab. Vidar Larsen, der beim Norwegischen Telegramm-Büro NTB arbeitet, schlägt ihm auf die Schulter und sagt: »He, Alter, bist du endlich wieder da?« Er nickt, folgt Vidar wortlos und nutzt die Gelegenheit, sich so weit wie möglich von Nora zu entfernen. Er weicht allen Blicken aus, sieht zu Boden, folgt den Füßen und Schritten auf einem Weg, den er noch immer auswendig kennt. Er sucht sich einen Platz ganz hinten im Presseraum, damit er auf die Nacken der anderen schauen kann, und nicht umgekehrt. Der Raum füllt sich schnell. Nora und die Cordjacke treten gemeinsam ein und nehmen weit vorn Platz. Nebeneinander.

So treffen wir uns also wieder, Nora.

Wie damals auf einer Pressekonferenz.

8

Drei Uniformierte kommen herein, eine Frau und zwei Männer, die Henning kennt: Arild Gjerstad und Bjarne Brogeland.

Bjarne und Henning sind als Kinder auf dieselbe Schule in Kløfta gegangen. Sie waren nicht befreundet, ganz und gar nicht, sie waren nicht einmal in derselben Klasse. Damals reichte das schon aus, um sich nicht zu mögen. Doch das war nicht alles. Die Chemie zwischen ihnen stimmte nicht, das ganze Drumherum.

Bjarne war ein Schürzenjäger, der sich schon früh vorgenommen hatte, möglichst viele Mädchen in möglichst kurzer Zeit rumzukriegen. Deshalb war Henning gleich klar gewesen, welche Ambitionen Bjarne hatte, als er plötzlich zu Hause bei Familie Juul vor der Tür stand. Hennings Schwester Trine erkannte das zum Glück auch sofort, sodass er gar nicht erst als stolzer großer Bruder in Erscheinung treten musste. Trotzdem war die Skepsis, die er Bjarne gegenüber empfand, nie mehr gewichen.

Jetzt war Bjarne also bei der Kripo.

Eigentlich hätte er das ahnen können, hatten sie sich doch beide Mitte der Neunzigerjahre auf der Polizeischule beworben. Während Bjarne aufgenommen worden war, hatten sie Henning dank seines schon seit Kindertagen anhaltenden Asthmas und seiner zahlreichen Allergien – von Hundehaaren bis Heuschnupfen – ganz früh aussortiert. Bjarne war ein körperlich robuster Typ. Er sah gut aus, war stark und ausdauernd. Als Junge hatte er Leichtathletik betrieben und war kein schlechter Siebenkämpfer gewesen. Henning glaubt sich daran zu erinnern, dass Bjarne es im Stabhochsprung auf vier Meter fünfzig brachte.

Dass Bjarne jetzt im Dezernat für Gewaltverbrechen arbeitet, ist neu für Henning. Früher war er als Fahnder oder verdeckter Ermittler tätig. Vielleicht brauchte er ja einen Tapetenwechsel, denkt Henning. Jetzt sitzt er oben auf dem Podium und blickt über die Versammlung. Seine Miene ist ernst, professionell, und die stramm sitzende Uniform steht ihm. Sicher macht er noch immer Eindruck bei den Frauen, vermutet Henning. Dunkle, kurz geschnittene Haare, graue Schläfen, ein Grübchen im Kinn, weiße Zähne. Sonnengebräunt und glatt rasiert.

Bjarne Eitel. Henning denkt an eine potenzielle Quelle, auf die er hinarbeiten sollte.

Der zweite Mann auf dem Podium ist Arild Gjerstad. Er ist groß und schlank und trägt einen gepflegten Bart, über den er sich immer wieder mit den Fingern fährt. Gjerstad war schon bei der Mordkommission, als Henning als Kriminaljournalist angefangen hat, woran sich bis jetzt nichts geändert zu haben scheint. Gjerstad mag keine Journalisten, die sich für schlauer als die Polizei halten, und Henning ist sich, will er ehrlich mit sich sein, im Klaren darüber, dass er genau zu diesen Menschen gehört.

Die Frau, die zwischen den beiden Männern Platz genommen hat, heißt Pia Nøkleby. Sie überprüft, ob das Mikrofon eingeschaltet ist, und räuspert sich. Notizblöcke und Stifte werden gezückt. Henning wartet noch etwas, er weiß ganz genau, dass in den ersten Minuten doch nur einführende Worte fallen und Altbekanntes wiederholt wird. Trotzdem spitzt er die Ohren.

Dann geschieht etwas Überraschendes. Es äußert sich als leichtes Zittern in seinem Körper. Für ihn, der in den letzten zwei Jahren nur noch Wut empfunden hat, Verachtung für sein Tun und Selbstmitleid, ist dieses Zittern – dieses erwartungsvolle, arbeitsbedingte Zittern – etwas, dass Dr. Helge sicher als eine Art Durchbruch bezeichnet hätte.

Wie gebannt lauscht er der hellen Stimme der Frau.

»Ich danke Ihnen für Ihr Erscheinen und begrüße Sie zur heutigen Pressekonferenz in Verbindung mit dem Leichenfund am Ekeberg heute Morgen. Mein Name ist Pia Nøkleby, und an meiner Seite sitzen Ermittlungsleiter Arild Gjerstad und Kriminalkommissar Bjarne Brogeland.«

Gjerstad und Brogeland nicken den Anwesenden kurz zu. Nøkleby hält sich die Hand vor den Mund und räuspert sich, bevor sie fortfährt.

»Wie Sie alle wissen, haben wir nach dem Fund der weiblichen Leiche in einem Zelt am Ekeberg polizeiliche Ermittlungen eingeleitet. Der Fund wurde uns heute früh um 06.09 Uhr von einem älteren Mann gemeldet, der mit seinem Hund unterwegs war. Bei dem Opfer handelt es sich um die dreiundzwanzigjährige Henriette Hagerup aus Slemdal.«

Stifte huschen über Papier. Nøkleby nickt Gjerstad zu, der näher an den Tisch heranrückt und sich zum Mikrofon vorbeugt. Auch er räuspert sich.

»Es handelt sich um vorsätzlichen Mord. Die Tat ist auf sehr spezielle Weise ausgeführt worden. Der Täter ist unbekannt. Wir können zu diesem Zeitpunkt der Ermittlungen noch nicht viel sagen, weder über Funde am Tatort noch über eventuelle Spuren, die wir weiterverfolgen, ich möchte aber klarstellen, dass wir es mit einer außergewöhnlich grausamen, bestialischen Tat zu tun haben.«

Henning notiert sich das Wort »bestialisch«. Typischer Polizeijargon, der nichts anderes heißt, als dass es Details gibt, die die Presse so nicht veröffentlichen darf. Die Bevölkerung soll nicht erfahren, wozu gewisse Täter fähig sind. Sie muss vor dieser Erkenntnis geschützt werden. Und natürlich soll auch vor der Familie nicht ausgebreitet werden, wie ihre Kinder, Geschwister oder Eltern ermordet wurden. Was nicht bedeutet, dass die Medien es nicht wissen.

Die Pressekonferenz bietet ansonsten nicht viel Neues, aber das hat Henning auch nicht erwartet. Es gibt noch keine Verdächtigen, das Motiv ist unbekannt, die Spurensicherung noch nicht abgeschlossen, sodass zum jetzigen Zeitpunkt der Ermittlungen noch nicht gesagt werden kann, ob die eventuell gefundenen Spuren die Polizei weiterbringen.

Und so weiter und so fort.

Gjerstad ist mit seinen Ausführungen nach zehn Minuten zu Ende. Wie gewöhnlich wird danach den Journalisten das Wort erteilt, und in üblicher Weise ringen alle gleichzeitig darum, ihre Fragen als Erste zu stellen.

Henning muss jedes Mal aufs Neue den Kopf darüber schütteln. Die »Erste Frage«, ein beständiger Quell für neidvolle Blicke der Kollegen und Schulterklopfen in den heimischen Redaktionen. Sowohl in den eigenen als auch in überraschend vielen anderen Augen ist man ein verflucht guter Journalist, wenn man es schafft, sich als Erster Gehör zu verschaffen.

Den Sinn des Ganzen hat er nie verstanden, aber wahrscheinlich hat auch das nur wieder etwas mit der Schwanzlänge und so weiter zu tun.

Dieses Mal heimst Guri Palme von TV 2 den Sieg ein. Sie hat zwar keinen Penis, ist aber eine blonde, hübsche Frau, die alle Nachteile, die dieses Erscheinungsbild mit sich bringt, zu ihrem Vorteil genutzt hat. Ihre Klugheit und Zielstrebigkeit hat alle überrascht, und sie ist auf der Karriereleiter der Journalisten definitiv auf dem Weg nach oben.

»Was können Sie über die näheren Umstände des Mordes sagen? Herr Gjerstad, Sie sprachen von einer außergewöhnlich grausamen, bestialischen Tat. Was muss man sich darunter vorstellen?«

Auf die Plätze, fertig, los …

»Das kann und will ich zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht vertiefen.«

»Können Sie etwas über den Hintergrund des Opfers sagen?«

»Soweit wir wissen, war sie Studentin an der Westerdals School of Communication. Sie war kurz vor dem Abschluss des zweiten Jahres und galt in ihrem Fachgebiet als höchst begabt.«

»Welches Fachgebiet war das?«

»Sie hatte den Schwerpunkt Film und Fernsehen und wollte Drehbuchautorin werden.«

Drei Fragen sind genug für Guri Palme, danach übernimmt NRK den Staffelstab. Henning erkennt die Enttäuschung des Journalisten, der es dieses Mal nur auf den zweiten Platz geschafft hat, obgleich er nur seinen Nacken sieht. Trotzdem gelingt es dem NRK-Reporter, Jørn Bendiksen, sie alle zu verblüffen.

»Es kursieren Gerüchte, dass es sich um einen Ehrenmord handelt?«

Reporter. Niemand versteht sich so gut darauf wie sie, Behauptungen wie eine Frage klingen zu lassen. Pia Nøkleby schüttelt den Kopf.

»Kein Kommentar.«

»Können Sie bestätigen, dass das Opfer ausgepeitscht wurde?«

Nøkleby hält Bendiksens Blick stand, bevor sie kurz zu Gjerstad schaut. Henning lächelt innerlich. Es gibt ein Leck, denkt er. Und die Polizei weiß das. Trotzdem reagiert Nøkleby vollkommen professionell auf die Frage.

»Auch dazu kein Kommentar.«

Kein Kommentar.