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Sie dachte immer, sie kenne den Tod. Sie hielt ihn für einen alten Bekannten. Jetzt weiß sie es besser. Endlich erfährt Emma die Wahrheit. Über den Mann, den sie liebte. Über eine Verschwörung. Über sich selbst. Emmas Welt bricht zusammen. Als sie endlich von Aleksander die Wahrheit über den Unfall erfährt, der ihr Leben zerstörte, ist nichts mehr so wie vorher. In der Hamburger Justiz jagt ein Mord den nächsten und ausgerechnet Emma gerät unter Verdacht. Die Kommissare Marcus Winter und Elisabeth Wolf heften sich unerbittlich an ihre Fersen, während sie verzweifelt versucht, hinter die schrecklichen Ereignisse zu kommen. Als sie endlich den Drahtziehern gegenübersteht, muss Emma erkennen, dass es längst zu spät ist ...
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Für Hans-Jürgen
Es geht los.
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Nun aber los. Worauf wartest du?
EMMA ANDERS lebt. Nachdem es ihr, dem ehemaligen SEK-Mitglied MARCUS WINTER und der Kriminalkommissarin ELISABETH WOLF gelungen ist, den Serienmord in ihrer eigenen Familie aufzuklären, kennt die junge Richterin nur ein Ziel: ALEKSANDER. Ausgerechnet der in die Verschwörung verwickelte Attentäter ist der Mann, der Emma einst aus einem sinkenden Auto rettete und ihren Ehemann sterben ließ.
Seine Spur führt Emma, Marcus und Lissy in das Haus Seedorff, wo KATHARINA, eine alte Freundin von Emma, mit einer rauschenden Party den Fund einer altägyptischen Mumie feiern will. Auch Aleksander befindet sich verkleidet unter den Gästen.
Doch bevor Emma ihn stellen kann, fällt der Strom aus und ein Mord geschieht. Im Keller des uralten Herrenhauses taucht eine mumifizierte Leiche auf und nicht nur Aleksander treibt in den dunklen Gängen sein Unwesen. Emma deckt einen grausamen Racheplan und den Betrug hinter dem ganzen Schauspiel auf: Es gab nie eine Mumie im Keller. Die ganze Zeit über ging es um ein Ankh – ein mystisches, altägyptisches Amulett, das ewiges Leben verspricht und seinen Räubern nach Jahrzehnten entrissen werden soll.
Gerade als endlich Licht ins Dunkel kommt, bringt ROMAN – Aleksanders Auftraggeber – Emma in seine Gewalt. Er droht Aleksander damit, sie zu töten, aber Emma überwältigt ihn. Sie bekommt seine Waffe zu fassen, schießt und verletzt den Mann in Weiß beinahe tödlich.
Aleksander wird verhaftet und alles scheint vorbei. Doch da macht ihr der schwarzhaarige Mann ein Angebot und ein Versprechen. Noch bevor er abgeführt wird, steckt er Emma heimlich einen USB-Stick zu, auf dem sie neben einer Vielzahl von Informationen auch die Akte einer Person findet, die ihr mehr bedeutet hat als irgendjemand sonst: MAXIMILIAN ANDERS.
Sie dachte immer, sie kenne den Tod. Sie hielt ihn für einen alten Bekannten, einen Räuber, der sie bereits heimgesucht und seine Spuren auf ihr hinterlassen hat. Jetzt weiß sie es besser. Der Tod kommt niemals zweimal auf dieselbe Weise.
Noch im Schlaf spürt sie, wie er sich langsam nähert. Als wäre er ein Schatten, der durch das geöffnete Fenster fegt, betritt er ihr Schlafzimmer. Die Kälte, die sich über ihre Haut legt, ist unverkennbar, unvermeidbar und grenzenlos.
Als sie die Augen öffnet, wagt sie es nicht, sich zu rühren. Ihr Atem steht still. Es kommt ihr vor, als höre sogar ihr Herz zu schlagen auf.
Sie kann ihn hören. Das entfernte Keuchen hat etwas Verzweifeltes, Finales. Es erschüttert sie bis ins Mark.
Endlich erwacht sie vollends. Sie schüttelt sich, wirft im nächsten Moment die Bettdecke von sich. Wie von selbst gleiten ihre Finger nach links und graben sich in die leere Matratze neben ihr. Sie sucht ihn, braucht ihn. Doch da liegt niemand. Er ist fort.
Sie blinzelt heftig, zwingt ihre Augen, sich an das fahle Licht zu gewöhnen. Silhouetten lassen sich ausmachen. Sie erkennt ihre eigenen Füße, bewegt sie und schwingt sie über die Bettkante. Wie von selbst wandert ihr Blick zu ihrer Schlafzimmertür. Sie steht weit offen. Sie steht sonst nie offen.
Vorsichtig erhebt sie sich, schleicht über das kühle Parkett. Das Keuchen wird derweil lauter, schmerzhafter. So hört es sich an, wenn jemand um sein Leben ringt.
Sie tritt in den Flur, schaltet im selben Moment das Licht an. Der grelle Schein raubt ihr für einen Augenblick die Sicht. Doch sie schaut entschlossen nach vorne. Jetzt kann sie ihren rasenden Puls in der Kehle spüren.
Erst sieht sie nichts. Der Flur ist leer. Niemand steht vor ihr. Sie ist allein - oder?
Erneut ertönt das Keuchen. Direkt vor ihr. Nur widerwillig zwingt sie sich, den Blick zu senken. Als sie erkennt, was sich vor ihr ausbreitet, weiß sie, was sie sieht. Sie kennt den Tod. In ihrer Wohnung, inmitten ihres Rückzugortes, zu ihren Füßen, hat das Sterben begonnen.
Kerlchen!“
Emmas ganzer Körper überzog sich mit Gänsehaut. Sie konnte fühlen, wie alle Farbe aus ihrem Gesicht wich. Sie ging zu Boden, donnerte mit den Knien auf den harten Holzfußboden und riss die Augen weit auf.
Vor ihr, nur wenige Zentimeter entfernt, lag Karlchen. Der kleine Dackel hatte sich auf die Seite gerollt und den Kopf merkwürdig von sich gestreckt. Seine Pfoten hingen schlaff an ihm herab und sein Maul stand leicht geöffnet. Emma streckte bereits eine Hand nach ihm aus, als der Brustkorb des Tieres erschüttert wurde. Ein hässliches Krächzen entwich Karlchens Kehle, als er die Augen leicht öffnete und seine Nase verzweifelt in die Höhe zu schieben versuchte.
Emma zögerte nicht länger. Sie kroch zu dem kleinen Hund, nahm ihn in ihre Arme und bettete seinen Kopf in ihren Schoß. Vergeblich versuchte sie, ihm in die Augen zu sehen. Doch der kleine Hund starrte nur ausdruckslos ins Leere, während er weiter hustete und nach Luft schnappte.
„Karlchen! Karlchen, kleiner Kerl. Wach auf!“
Emma rüttelte an ihrem Freund, schnippte mehrfach mit den Fingern in der Hoffnung, dass der Hund nur aus seinem Anfall aufzuwachen brauchte. Sie wusste, dass sie sich etwas vormachte. Als Karlchen nach einem erneuten Hustenanfall leise wimmerte, wusste sie es: So klang der Tod.
Tränen stiegen Emma in die Augen und für die Dauer eines einzigen schrecklichen Herzschlages, wollte sie sich ihnen ergeben. Karlchen würde sterben, sie um ihn weinen und es gab nichts, was sie dagegen tun konnte.
„Nein!“
Emma wusste hinterher nicht mehr, ob sie das Wort gedacht oder tatsächlich laut geschrien hatte. Sie wusste nur noch, dass es alles in den nächsten Augenblicken für sie bestimmte. Karlchen würde nicht sterben, nicht jetzt, nicht so. Sie würde das nicht zulassen. Sie würde alle verbliebenen Kraftreserven mobilisieren, um sein Leben zu retten – egal, was es kostete.
Die heißen Tränen, die über ihre Wange liefen, als sie sich blitzschnell erhob, waren keine der Trauer. Wut überkam sie. Brutaler, gewaltiger Zorn ergriff von ihr Besitz und ließ sie in die Küche ihrer geräumigen Penthouse-Wohnung sprinten. Mit jedem Schritt wurde ihr mehr bewusst, was Karlchen ihr eigentlich bedeutete. Seit der kleine Hund bei ihr lebte, war auch Emma aus ihrer Starre erwacht. Sie stand gerne morgens mit ihm auf, um die ersten Sonnenstrahlen bei ihrer täglichen Morgenrunde aufzunehmen. Er brachte sie zum Lachen, wirklich zum Lachen. Sie liebte Karlchen. Er war das erste und bisher einzige Wesen, dem Emma Liebe schenken konnte, seit sie ihren Mann in den Fluten der Elbe verloren hatte. Dieser kleine Dackel mit seinen frechen Augen, dem unerschütterlichen Selbstbewusstsein und der treuen Seele hatte Emma gezeigt, dass sie überhaupt noch lieben konnte. Sie durfte ihn nicht auch noch verlieren. Ihren Mann hatte sie nicht retten können. Noch einmal würde ihr das nicht passieren.
Die Schublade kam ihr mit einer solchen Wucht entgegen, dass sie beinahe aus den Scharnieren flog. Emma griff hinein und warf achtlos beiseite, was sie nicht gebrauchen konnte. In Windeseile zog sie schließlich das unscheinbare Tablettendöschen hervor, das sie einige Wochen zuvor vom Tierarzt erhalten hatte. VETMEDIN stand in schwarzen Lettern darauf. Der Veterinär hatte bei Karlchen einen für sein Alter üblichen, aber gut behandelbaren Herzfehler festgestellt. Die Tabletten, die der Dackel täglich von Emma bekam, sollten einen Herzanfall eigentlich verhindern. Doch genau das war es, was Karlchen jetzt den Atem raubte.
Emma hatte keine Ahnung, ob ihm das Medikament noch helfen konnte. Es war aber das Einzige, was ihr einfiel. Mit Fingern, die trotz ihrer Panik mit chirurgischer Präzision arbeiteten, legte sie zwei der Tabletten in eine kleine Schüssel, nahm den Griff eines Messers und pulverisierte sie mit wenigen kräftigen Stößen. Anschließend holte sie eine Pipette, träufelte ein wenig Wasser darauf und sah ungeduldig zu, wie sich das Medikament auflöste.
Karlchen wimmerte wieder. Emma schaute zu ihm und machte seine undeutliche Gestalt aus. Die Nässe ihrer Augen ließ alles verschwimmen und für einen Moment kam es Emma so vor, als löste er sich einfach in Luft auf.
„Nein!“, hauchte sie noch einmal, holte blitzschnell eine Plastikspritze hervor und zog sie mit der Lösung auf. Anschließend stürzte sie zurück zu dem Hund, las ihn auf und platzierte seinen Kopf in ihrer Armbeuge.
„Ich bin hier, kleiner Freund!“, flüsterte sie Karlchen zu, während sie ihm die Spritze tief in die Kehle schob. „Das wird dir helfen.“ Tröpfchenweise flößte sie dem strauchelnden Tier die Lösung ein. Als die Spritze schließlich leer und ihr Inhalt den Hals des Hundes hinabgeflossen war, schob Emma Karlchens Kopf an ihre Brust. Seine Ohren lagen genau über ihrem Herzen. Er musste hören, dass es genauso unregelmäßig schlug wie sein eigenes.
„Bitte, Karlchen“, wisperte Emma, als sie mit dem Hund in den Armen in sich zusammensackte. „Bleib bei mir. Lass mich nicht allein.“ Ein Schluchzen blieb ihr im Hals stecken, während Karlchen weiter vor sich hin keuchte.
„Ich brauche dich doch.“
Es war nicht das erste Mal, dass Emma sich eingestand, was tatsächlich in ihr vorging. Doch nie zuvor hatte sie sich selbst in einer solchen Klarheit gesehen. Seit dem Tod ihres Mannes war sie sich vorgekommen wie ein Geist – wie jemand, den der Tod nur noch ein wenig warten ließ, bis er sie schließlich holte. Doch seit den Ereignissen des letzten Dezembers, seit Marcus und Lissy, seit Aleksander ihr begegnet waren, hatte sie den Weg zurück ins Leben gefunden. Noch war ihre Reise jedoch nicht abgeschlossen. Noch hatte sie den Tod nicht vollends hinter sich gelassen. Sie konnte sich nicht vorstellen, den Rest ihres Weges ohne Karlchen zurückzulegen.
Stunden vergingen. Oder waren es nur Minuten? Emma wusste nicht mehr genau, wann ihr auffiel, dass Karlchens Atemzüge tiefer wurden. Nach und nach, Zug um Zug ebbte das schreckliche Rasseln ab, bis der Dackel endlich das Maul schloss und wieder regelmäßig durch seine Nase atmete. An ihrer Handfläche fühlte Emma, wie Karlchens Puls steter und kräftiger wurde. Als sie es wagte, ihm in die Augen zu sehen, erwiderte er ihren Blick. Schwach streckte er sich nach vorne und gab ihr einen sanften Kuss auf die Nase.
„Karlchen!“
So erleichtert wie vielleicht noch nie in ihrem Leben atmete Emma auf. Luft strömte in ihre Lungen und als sie lautstark ausatmete, kam es ihr so vor, als stieße sie die Angst und Verzweiflung mit aus. Karlchen hatte seinen Anfall überstanden. Er würde leben. Sie würden leben. Niemand würde heute sterben.
Vorsichtig erhob sich Emma mit dem Hund in ihren Armen. Mit steifen Gliedern trug sie ihn ins Schlafzimmer und bettete ihn behutsam auf ihrem Kopfkissen. Sie sah ihm gerade dabei zu, wie er sich einrollte, als ihr Telefon klingelte.
Widerwillig löste sie sich vom Anblick des Dackels, nahm ihr Handy vom Nachttisch und stellte vor dem Abheben fest, dass es kurz nach sechs Uhr in der Früh war. Wer rief sie um diese Uhrzeit an?
„Anders?“, meldete sie sich und hörte dabei selbst, wie zittrig sie klang.
„Emma! Ist alles in Ordnung?“
„Marcus!“, rief Emma überrascht. „Ja, es ist alles in Ordnung. Es war nur ... Karlchen ...“ Sie stockte. Was wollte der junge Kommissar so früh am Morgen von ihr? Wenn er sie noch vor Tagesanbruch anrief, dann musste es Neuigkeiten geben, die nicht warten konnten. Schlagartig kehrte die Angst zurück.
„Was gibt es?“
„Emma ...“
Sie hörte sein Zögern, seinen Schmerz. Sie kannte Marcus inzwischen gut genug, um zu wissen, dass ihn nichts so schnell aus der Fassung brachte.
„Ich weiß ehrlich nicht ...“
„... wie du es mir sagen sollst“, beendete Emma tonlos seinen Satz. Bereits im nächsten Moment spürte sie die Kälte in ihre nackten Beine zurückkehren. Sie kroch unaufhaltsam ihren Körper hinauf, erreichte ihre Brust und schließlich ihr Herz.
„Emma, es tut mir so leid.“
Emma brauchte Marcus’ Worte nicht, um bestätigt zu wissen, was sie schon längst ahnte. Ihr Blick glitt zurück zu Karlchen, der weiter ruhig atmete. Niemand wird heute sterben, hatte sie gerade noch gedacht. Jetzt wusste sie, dass sie sich geirrt hatte.
Ihr Griff um das Telefon verkrampfte sich. Die Knöchel traten weiß unter der Haut hervor. „Wer?“
Marcus zögerte erneut, schien aber seine Fassung wiederzugewinnen. „Ich bin in Blankenese. Es war heute Nacht.“
„Wer, Marcus?“ Emma sprach nicht laut. Doch die Autorität, die sie jetzt in ihre Stimme legte, ließ keine weiteres Hinausschieben zu.
„Dein Vater.“
Sie kommt nicht.“
Diese drei Worte nahmen seinen Verstand mit einer Macht ein, die jeden anderen Gedanken verdrängte. Die Worte des Justizvollzugsbeamten hatten beiläufig, nebensächlich geklungen. Der hochgewachsene, schlanke Mann mit dem stoppeligen Bart und den grauen Schläfen erahnte nicht einmal im Ansatz, was die Worte für Aleksander bedeuteten.
Er regte sich nicht, unterdrückte mit eiserner Disziplin jede Zuckung in seinem Gesicht. Nichts an ihm verriet, was für ein Sturm sich in seinem Inneren zusammenbraute. Emma würde heute nicht kommen. Noch vor Beginn der alltäglichen Routine innerhalb der Untersuchungshaftanstalt im Hamburger Holstenglacis, das innerhalb seiner Mauern nur das ‚Dammtor‘ genannt wurde, war Aleksander in seiner Einzelzelle von einem Beamten aufgesucht worden. Der Vollzugsmitarbeiter hatte ihn darüber in Kenntnis gesetzt, dass es eine Änderung im Tagesablauf gäbe. Sie wird nicht kommen. Das konnte nur eines bedeuten: Emmas Besuch war kurzfristig abgesagt worden. Vielleicht erst vor wenigen Minuten.
„Aha“, gab Aleksander monoton zurück. Er unterzog den Beamten einer unauffälligen Musterung. Er kannte den Mann nicht. An sich war das nichts Ungewöhnliches. Nach den wenigen Wochen, die Aleksander im Dammtor verbracht hatte, war es gut möglich, dass er noch nicht jedem einzelnen Wärter des Gefängnisses persönlich begegnet war. Schließlich gab es hier Platz für mehrere hundert Gefangene. Doch jetzt fiel ihm umso deutlicher auf, dass ausgerechnet ein neuer Justizbeamter ihm Nachrichten überbrachte, die ihn völlig aus dem Takt brachten.
„Hat sie einen Grund genannt?“
Aleksander spielte im Kopf die unzähligen Möglichkeiten durch, die hinter Emmas Absage stecken konnten. Sie hatte sich stets als sein Rechtsbeistand ausgegeben, damit ihre Begegnungen weder überwacht noch per Kamera aufgezeichnet wurden. Eigentlich war ihr das Aufsuchen von Gefangenen in der U-Haft als Richterin der Hansestadt nicht gestattet – schon gar nicht unter dem Deckmantel, sie sei seine Anwältin. War sie eventuell aufgeflogen? Oder steckte gar ein vollkommen harmloser Grund dahinter?
Als der Beamte ihn nur irritiert anstarrte, setzte Aleksander nach: „Ist ja auch egal. Auf wann ist der Termin verschoben worden?“
„Verschoben?“
Aleksander entging die winzige Bewegung der Lippen nicht. Einer der Mundwinkel des Justizvollzugsbeamten zuckte minimal, bevor er wieder Teil eines ganz und gar unbefangenen Gesichtsausdrucks wurde. Aleksander genügte das, um zu verstehen.
„Von einem neuen Termin weiß ich nichts. Ich soll Ihnen aber sagen, dass Ihre Anwältin sich vertreten lassen wird. Sie hat jemanden geschickt.“
„Wen?“ Die Frage flog so schnell aus Aleksanders Mund, dass er seinen Tonfall nicht kontrollieren konnte. Seine Stimme wurde tief und scharf. Er klang so alarmiert, wie er tatsächlich war.
Wieder zuckte einer der Mundwinkel. Anschließend hob der Beamte die Schultern und wandte sich der Zellentür zu. „Woher soll ich das denn wissen?“
Natürlich weißt du es, schoss es Aleksander durch den Kopf. Jeder Zweifel, dass der Beamte für denjenigen arbeitete, der ihn gleich an Emmas statt aufsuchen würde, verflüchtigte sich bei seinen nächsten Worten. „Ich soll Ihnen nur sagen, dass Sie sich bereithalten sollen. Und wer weiß …“ Die Pause, die folgte, war eine Spur zu lang. „Vielleicht trägt der Besuch ja endlich dazu bei, Ihre Zeit hier zu Ende zu bringen.“
Mit diesen Worten drehte der Mann Aleksander den Rücken zu, steckte den großen Schlüssel in die alte, schwere Holztür und drehte ihn im Schloss. Das Geräusch der schweren Metallbolzen fuhr Aleksander durch Mark und Bein.
Regungslos sah er dabei zu, wie der Beamte durch die Tür trat, sie hinter sich zuzog und sie nur wenige Herzschläge danach erneut verschloss. Aleksander blieb allein zurück. Einziger Begleiter in seinem Gefängnis waren sein rasender Herzschlag und die Stimme in seinem Kopf. Sie kommt nicht, wiederholte er in Gedanken wieder und wieder. Wenn Emma heute nicht kam, wenn ihn stattdessen jemand anderes aufsuchte, bedeutete das nur eines: Er würde sterben – heute. Vielleicht blieben ihm nur noch Minuten.
Aleksander hatte damit gerechnet. Seit er sich von der Polizei hatte festnehmen lassen, war ihm bewusst gewesen, dass sein Leben am seidenen Faden hing. Spätestens seit Emma ihm bei ihrem ersten Besuch davon berichtet hatte, dass Roman – Aleksanders früherer Auftraggeber und der gefährlichste Mann, dem er jemals begegnet war – noch lebte, wartete Aleksander auf den Tod. Nun war er da. Doch noch wollte, durfte Aleksander nicht sterben. Es gab noch so viel, was er ihr sagen musste.
Als Aleksander begriff, dass er zum ersten Mal seit Jahren Angst vor dem Tod hatte, leben wollte, setzte er sich in Bewegung. Wie in Trance wankte er zu dem schmalen Bett seiner kargen Zelle und hob die dünne Matratze von ihrem Rost. Zum Vorschein kam der Fund, den er erst vor wenigen Tagen auf dem Hof des Dammtors gemacht hatte: Der Stein war klein, kaum mehr als ein Kiesel. Doch eine seiner Kanten war schnurgerade und beinahe scharf. Mit genug Druck wäre er in der Lage menschliche Haut zu durchschneiden wie ein Messer.
Als Aleksander den Stein in seiner Hand wog und schließlich die Faust um ihn ballte, spürte er den Schmerz in seiner Handfläche, konzentrierte sich allein auf dieses Gefühl und erkannte das Leben darin. War es nun an der Zeit, dem Ende entgegenzutreten? Oder lohnte es sich, einen letzten Kampf zu führen? Wenn nicht für sich selbst, dann vielleicht für sie? Damit wenigstens sie leben konnte?
Als er die Hand wieder öffnete, klebte Blut an seinen Fingern. Er schmunzelte.
„Poetisch“, wisperte er und dachte an all die Menschen, denen er das Leben genommen hatte. Eines blieb noch, das er beenden musste.
Damit ging Aleksander in die Knie, lehnte mit dem Rücken an die Wand und setzte die scharfe Kante des Steins auf seinem nackten Unterarm kurz unterhalb des Ellenbogens an. Ihm wurde warm. Schweiß bildete sich auf seiner Stirn und rann ihm die Schläfen hinab. Sein Herz pumpte das Blut heiß und schnell durch seine Adern.
Aleksander schloss die Augen, hielt die Luft an und dachte allein an Emma Anders. Blitzschnell presste er den Stein auf seinen Arm und schlitzte sich mit einer einzigen schnellen Bewegung die Pulsader auf.
So viel Blut.
Kriminalhauptkommissar Marcus Winter konnte sich nicht erinnern, jemals eine so große Blutlache gesehen zu haben. Ihm kam es vor, als breitete sich die zähflüssige Masse immer weiter auf dem eleganten Parkettfußboden aus, dunkel und bedrohlich. Der Geruch nach Eisen war überwältigend. Das grelle Licht der Spots, die zur Ausleuchtung dienten, warf lange und unruhige Schatten über den Boden.
Weder Marcus noch seine Partnerin Elisabeth Wolf – die trotz ihres hohen Körperbaus und des grimmigen Gesichtsausdrucks nur Lissy genannt wurde – sprachen auch nur ein Wort. Stattdessen standen sie im Rahmen der doppelflügeligen Tür und schauten dem Team der „SpuSi“ zu, wie sie emsig ihre schrecklich nüchterne Arbeit verrichteten. Marcus war sich nie bewusst gewesen, wie leise sie dabei eigentlich waren. Lediglich das stetige Klicken der Kameras hallte zwischen den mit dunklen Bücherregalen bedeckten Wänden wider.
„Was denkst du?“ Lissys Worte waren alles andere als laut. Und doch zerrissen sie die Luft wie zerspringendes Glas.
„Ich ...“, setzte Marcus an, kam aber nicht weit. Er suchte nach einem klaren Gedanken, etwas an dem er sich festhalten konnte. Ohne Erfolg. „Ich weiß es nicht“, gab er unverhohlen zu. Lissy kannte ihn mittlerweile zu gut, als dass er ihr etwas hätte vormachen können. Er wollte es auch nicht. Sie wusste längst, dass er alles andere als unbefangen war.
„Dann denk nicht.“ Sie schaute ihn mit geneigtem Kopf an, nickte ihm auffordernd zu. „Sondern beobachte. Ein guter Ermittler schaut erst ganz genau hin, ohne voreilige Schlüsse zu ziehen. Je weniger du denkst, desto mehr siehst du. Also ...“ Sie schaute wieder in das Arbeitszimmer der feinen Villa in Blankenese. „Was siehst du?“
Marcus holte tief Luft, befreite sich noch einmal von allem, was seinen Verstand vernebeln konnte. Er fühlte nicht, vermutete nicht. Er sah nur hin.
„Ich sehe Blut. Viel Blut.“
„Und?“ Lissy klang nicht sarkastisch oder herablassend, vielmehr ermutigend. „Wie viel genau?“
„Die Menge ist kritisch. Lebensbedrohlich.“
„Weiter?“
„Ich sehe Hinweise auf eine Auseinandersetzung. Kurz und heftig.“
„Wie kommst du darauf?“ Lissy verschränkte skeptisch die Arme.
Marcus aber ließ sich nicht beirren. „Der Schreibtisch wurde leergefegt. Alles, was darauf war, liegt auf dem Boden verstreut. Als hätte jemand sämtliche Gegenstände herunter gewischt.“
„War das vor oder nach dem Kampf?“
Marcus zögerte kurz, ließ sich für seine Antwort Zeit. „Davor“, sagte er schließlich leise. „Da sind einzelne Blutspritzer auf den Papieren zu sehen. Das heißt, der Kram muss schon dort gelegen haben, als es zu dem Kampf gekommen ist.“
Lissy hob überrascht die Augenbrauen. „Nicht schlecht“, murmelte sie und machte ganz den Anschein, als wäre ihr dieses Detail noch nicht aufgefallen. „Dasselbe gilt für den Stuhl“, spann sie den Gedanken weiter. „Er ist umgefallen, als hätte jemand in ihm gesessen und wäre ruckartig aufgestanden. Dabei ist er auf den Papieren am Boden gelandet. Das heißt sie müssen schon dort gelegen haben, als es passiert ist.“
In Marcus Kopf formten sich Bilder. „Der Streit ist ausgebrochen, als das Opfer noch gesessen hat. Der Täter hat vor Wut den Schreibtisch leergefegt, das Opfer wollte ihn aufhalten ...“
Lissy schnalzte ungeduldig mit der Zunge. „Du schlussfolgerst wieder“, ermahnte sie ihn. „Wir wissen nicht, wer den Schreibtisch abgeräumt hat. Es kann genauso gut das Opfer selbst gewesen sein. Oder aber der Täter ist überrascht worden und hat zuvor beim Durchsuchen des Zimmers alles runtergeworfen. Konzentriere dich jetzt allein darauf, was du sehen kannst.“
Marcus presste die Lippen aufeinander und ließ sich nochmals auf die Leere in seinem Kopf ein. „Ich sehe Spuren im Chaos, die um den Schreibtisch herumführen. Große Schritte, wie von jemandem, der schnell geht.“
Lissy nickte. „Der Schreibtisch steht nicht auf einem Teppich.“
Marcus begriff blitzartig, was sie meinte. „Der Boden macht Geräusche.“ Wie zur Bestätigung tat er einen kleinen Schritt zur Seite und lauschte dem verräterischen Knarzen des feinen Eichenholzes. „Das heißt, das Umfallen des Stuhls und das Leerfegen des Schreibtisches waren laut.“
„Was bedeutet, dass wir unsere Zeugen danach befragen müssen, was sie gehört haben“, spann Lissy den Gedanken weiter.
Marcus griff den Faden auf. „Lissy“, sagte er nun in einem plötzlich gedämpften Ton. „Dieser Teil des Hauses ist ja insgesamt total hellhörig.“
„Schön, dass Ihnen das auch auffällt“, rief ihnen einer der Kollegen von der Spurensicherung zu. Marcus fuhr zusammen, als ihnen der leitende Forensiker einen missbilligenden Seitenblick zuwarf. Der ältere Mann, der dank seiner vietnamesischen Herkunft und des stechenden Blicks an den Schauspieler Pat Morita aus den Karate Kid Filmen erinnerte, zog sich schwungvoll die Kapuze seines weißen Plastikoveralls herunter und kam auf sie zu. „Es wäre wirklich nicht nötig gewesen, uns an Ihrer Schulstunde für den jungen Kommissar teilhaben zu lassen, Frau Wolf.“
Marcus hielt verlegen die Luft an. Es war ihm unangenehm, dass Philipp Rose mitbekam, wie Lissy ihn förmlich unterrichtete. Nach ihrem letzten – inoffiziellen – Fall, hatte Marcus sich ein Herz gefasst und Lissy eine Bitte angetragen. Nachdem er einst Mitglied des SEK und nicht der Kriminalpolizei gewesen war, hatte er sich eingestanden, dass es ihm an dem Feinsinn eines echten Ermittlers mangelte. Seine Partnerin endlich darum zu bitten, diesen bei ihm zu schärfen, war ihm alles andere als leichtgefallen. Doch zu Marcus’ Erleichterung hatte Lissy sich jeden Kommentars enthalten und in völliger Gelassenheit versprochen, ihm alles beizubringen, was sie wusste. Seitdem tat sie es ohne jede Herablassung oder Erniedrigung. Nicht einmal die gehässigen Bemerkungen anderer brachten sie aus der Fassung.
„Eine kleine Auffrischung schadet nie, Doc“, gab sie kühl an Rose gewandt zurück. „Außerdem will ich nur verhindern, dass Sie gleich Ihre kostbare Zeit damit verschwenden, uns Dinge zu sagen, auf die wir selbst kommen können.“
Roses Stirn legte sich in tiefe Falten, doch er schien die Retourkutsche, die ihm auf der Zunge lag, herunterzuschlucken. Stattdessen streifte er sich lässig die Gummihandschuhe von den Fingern und ratterte die Fakten emotionslos herunter: „Wir haben alle auffindbaren Spuren gesichert. Die Fingerabdrücke sind auf dem Weg zur Auswertung. Darüber hinaus haben wir jede Menge DNA sicherstellen können, bei der wir von Ihnen zu gegebener Zeit Gegenproben brauchen. Aber ansonsten gehört der Tatort Ihnen.“
„Haben Sie noch Erkenntnisse zum Tathergang?“, fragte Marcus schnell.
„Sie meinen andere als die, die Sie schon dank genauen Hinsehens erlangt haben?“ Rose warf einen herablassenden Blick in Richtung Lissy. „Die Profis warten erst einmal auf belastbare Laborergebnisse, bevor sie wissenschaftlich gesicherte Aussagen zum Tathergang treffen, die Sie dann gerne für Ihre Berichte abschreiben können.“
Lissy öffnete gerade den Mund, um Roses offensichtlichen Seitenhieb zu quittieren, als Marcus ihr zuvorkam: „Und die Kommissare verlassen sich nicht allein auf diese Ergebnisse, weil sie genau wissen, dass nicht immer alles genauso ist, wie es aussieht.“
Roses Augen verengten sich zu kleinen Schlitzen, während Lissy ihrem Partner ein verstohlenes Grinsen zuwarf. Wäre die Situation, in der sie sich befanden, nicht so absurd gewesen, hätte auch Marcus sich zu einem Lächeln hinreißen lassen. Doch dazu war das Geschehen, das er nun aufklären musste, zu ernst, zu schrecklich. Marcus kannte das Opfer nur flüchtig. Dafür stand er seiner Tochter umso näher.
„Ich denke, Sie haben das Wesentliche. Es gibt deutliche Spuren einer körperlichen Auseinandersetzung zwischen dem Opfer und mindestens einer weiteren Person. Das Opfer wurde dabei überwältigt und ist mit dem Kopf dort auf den Tisch gestürzt. Laut dem Notarzt kam es zu einer schweren Blutung am Hinterkopf. Wir haben Haare sichergestellt, die nicht vom Opfer stammen können, sowie Fasern von Kleidungsstücken, von denen wir glauben, dass sie ebenfalls zum Täter und nicht zum Opfer gehören. Genaueres werden wir aber erst durch die Laborergebnisse wissen.“
Marcus ließ sich die Informationen durch den Kopf gehen. „Wie kommen Sie darauf, dass die Kleidungsfasern nicht vom Opfer stammen?“, wollte er wissen.
Rose hob die Achseln. „Das ist natürlich nur eine Vermutung. Aber ich schließe darauf wegen der Farbe. Die ist eher untypisch für das Opfer.“
Rose trat zurück zu seinen Kollegen, die gerade die gesammelten Spuren ordentlich verstauten. Aus einem silbern schimmernden Koffer zog er ein kleines Tütchen, in dem hauchdünne Textilfasern steckten.
„Diese hier schwammen auf der Blutlache, sind also nach dem Kampf darauf gefallen und hatten sich auch noch nicht vollgesaugt. Wir hätten sie beinahe übersehen, denn sie sind ...“
„Rot“, beendete Marcus den Satz. Noch während er das Wort aussprach, fuhr ihm ein eisiger Schauer über den Rücken. Blutrot, ergänzten seine Gedanken unwillkürlich. Die Farbe war ihm eigentümlich vertraut.
„Marcus?“
Eine zittrige Stimme hinter ihm ließ ihn zusammenfahren. Er erkannte sie augenblicklich, auch wenn sie seltsam heiser und dünn klang. Sein Herzschlag beschleunigte sich, während er sich umdrehte. Nur wenige Meter entfernt, leichenblass, mit weit aufgerissenen Augen und wie immer in ihren roten PRADA-Mantel gehüllt, stand Emma.
Wo ist er?“
Emma nahm die Hände, die sich um ihre Schultern legten, nur entfernt wahr. Die Stimme, die immerzu rief „Sie dürfen nicht hier sein!“ klang so entfernt, dass sie sie kaum verstand. Emmas Aufmerksamkeit lag allein bei Marcus, der aus einigen Metern Entfernung zu ihr zurückstarrte.
„Emma!“, begrüßte er sie mit rauer Stimme.
„Wo ist er?“ Die Frage kam Emma zu schnell über die Lippen, als dass sie sich bewusst machen konnte, was sie sagte. Darüber konnte sie nicht nachdenken. Alles, was ihren Verstand beherrschte, war das tiefe Rot, das sich hinter Marcus auf dem Parkett ausbreitete. Es sah so fremd und unwirklich in einem Zimmer aus, das Emma ansonsten so vertraut war. Marcus stand im Arbeitszimmer ihres Elternhauses – im Büro ihres Vaters.
„Was macht sie denn hier?“ Erst jetzt bemerkte Emma aus dem Augenwinkel, dass Lissy neben Marcus stand. Sie sah erstaunt und kritisch aus, offenbar überrumpelt von Emmas plötzlichem Erscheinen.
„Ich muss Sie jetzt auffordern ...“, begann der uniformierte Polizist und machte erneut Anstalten, nach Emmas Schultern zu greifen. Doch sie entzog sich ihm mit einer geschmeidigen Bewegung, ohne den Beamten auch nur anzusehen. Bevor er nochmals versuchen konnte, sie wieder hinter das rotweiße Absperrband zu schieben, das mitten durch die Eingangshalle führte, hob Marcus beschwichtigend die Hand. Emma sah noch, wie er Lissy einen energischen Blick zuwarf, als er dem Schutzpolizisten mit aller Autorität zunickte.
„Lassen Sie, Schneider. Das ist in Ordnung.“ Leiser und nur für Lissy fügte er hinzu: „Ich habe sie angerufen.“
Der Beamte ließ von ihr ab und Emma taumelte sogleich einen Schritt nach vorne. Marcus kam ihr entgegen und umfasste ihre zitternden Hände.
„Wo ist er?“, hauchte sie, als ihr Gesicht nur noch Zentimeter von seinem entfernt war. Ihr Blick zuckte an ihm vorbei zurück in das Zimmer – zurück zu der Blutlache.
„Emma“, sagte Marcus noch einmal.
Die schüttelte irritiert den Kopf, vollkommen fixiert darauf, endlich eine Antwort auf ihre Frage zu erhalten.
„Wo ist mein Vater, Marcus. Wo ist er?“
Sie spürte eine fremde Hand an ihrem Unterarm. Schreckhaft zog sie sich zurück, starrte panisch zur Seite. Auch Lissy verharrte mitten in der Bewegung. „Sie steht unter Schock, Marcus“, raunte sie ihrem Kollegen zu.
Emma wollte protestieren, Lissy anfahren, doch da spürte sie Marcus’ Blick. Sie schaute zurück und ließ zu, dass ihr Blickkontakt tief und fast schon intim wurde. Ihr kam es beinahe vor, als wollte er in ihr Innerstes sehen. Sie leistete keinen Widerstand. Sie versteckte sich nicht vor ihm.
„Nein“, sagte Marcus schließlich an Lissy gewandt. „Sie kann das, Lissy.“
Skeptisch musterte Lissy Emma nochmals, sagte aber nichts weiter. Auch Elisabeth Wolf hatte gelernt, dass Emma deutlich robuster war, als sie den Anschein erweckte.
Marcus ließ Emmas Hände los, holte einmal tief Luft und Emma tat es ihm nach. Sie streckte ihren Rücken durch und fragte nochmals, aber dieses Mal kontrolliert und gefasst: „Wo ist mein Vater?“
„Auf dem Weg ins Krankenhaus“, gab Marcus knapp und sachlich zurück.
„Er lebt also?“ Es schwang keine Erleichterung in ihren Worten mit. Sie wusste, dass es dafür zu früh war.
„Sein Zustand ist kritisch.“
Emma stellte überrascht fest, dass Marcus nicht einmal versuchte, die Dinge schönzureden. Er zögerte nicht, Emma genau das zu sagen, was sie wissen musste – ungeachtet, wie schwer sie die Informationen treffen würden. Tief in sich spürte Emma, wie dankbar sie Marcus einmal dafür sein würde.
„Er hat eine schwere Kopfverletzung davongetragen und viel Blut verloren. Genaueres konnte uns der Notarzt nicht sagen. Er geht aber davon aus, dass dein Vater sofort operiert werden muss. Er schwebt in akuter Lebensgefahr.“
Es dauerte eine ganz Weile, bis Emma das Gehörte verarbeitete. Kopfverletzung. Operiert. Lebensgefahr.
„Hirnblutung?“, fragte sie beinahe so leise, dass sie kaum zu verstehen war.
Marcus nickte dennoch. „Davon gehen sie bislang aus. Mehr erst nach einem CT. Deine Mutter ist bei ihm. Sie ist im Krankenwagen mitgefahren.“
Emma bemerkte erst jetzt, wie schwindelig ihr eigentlich war. Jeder ihrer Atemzüge klang so laut in ihren Ohren, als befände sie sich unter einer Glashaube. Mit Gewalt zwang sie sich, ihre Gedanken zu ordnen. Sie durfte nicht daran denken, dass es ihr Vater war, von dem sie sprachen. Gestattete sie sich auch nur für einen Moment die Erkenntnis, dass Konrad von Meerblom vielleicht im Sterben lag, während ihre Mutter Constanze neben ihm saß, würde sie die Fassung verlieren. Sie musste sich auf etwas anderes konzentrieren!
„Was ist passiert?“, fragte sie. „Was hat sich hier abgespielt?“
Anstatt zu antworten, trat Marcus zur Seite, sodass Emma eine freie Sicht auf das Arbeitszimmer ihres Vaters erhielt. Er stellte sich neben sie, gab ihr Raum und Zeit, den Anblick auf sich wirken zu lassen. Sie beide ignorierten das vehemente Kopfschütteln, mit dem Lissy sie bedachte.
„Einen genauen Tathergang haben wir noch nicht. Bislang deutet aber alles auf eine gewaltsame Auseinandersetzung hin. Dein Vater ist gestürzt und hat sich an der Schreibtischkante den Kopf aufgeschlagen.“
Marcus deutete auf eine spitze Ecke des schweren Eichenschreibtisches, der Emma in ihrer Kindheit riesengroß, geheimnisvoll und wunderbar vorgekommen war. Die Spuren von Bluttropfen klebten am dunklen Holz.
„Zuvor könnte es einen Streit gegeben haben. Jemand hat dieses Chaos angerichtet“, ergänzte nun Lissy etwas widerwillig. „Wahrscheinlich hat dein Vater an seinem Schreibtisch gesessen und gearbeitet, als jemand hier eingedrungen ist.“
Wie von selbst begann Emma mit dem Kopf zu schütteln. Es kostete sie einige Sekunden, bis sie begriff, was an dieser Annahme falsch war. „Mein Vater saß nicht an seinem Schreibtisch.“
„Wie kommst du darauf?“ Marcus’ Frage war offen. Er zweifelte nicht an Emma, sondern schien ehrlich an ihrer Einschätzung interessiert.
„Riecht ihr das?“, gab Emma zurück. Sowohl Lissy als auch Marcus hoben prüfend die Nasen.
„Was ist das?“, wollte Marcus wissen. „Riecht irgendwie nach Kräutern?“
„Zigarillos“, erklärte Emma schlicht und schluckte die aufwallenden Gefühle mit Mühe hinunter. „Der Blutgeruch gibt eine komische Note, aber das sind die Zigarillos, die mein Vater früher immer geraucht hat. Wenn er das macht, dann sitzt er in seinem Sessel, weil er da ...“ Sie pausierte und traute sich, den Kopf durch den Türrahmen zu stecken, um zum anderen Ende des Arbeitszimmers schauen zu können. „..., weil er dort das Fenster öffnen kann. Meine Mutter soll nicht mitbekommen, dass er ... Sie hasst es, wenn er ... Sie ...“
Emma zog sich zurück, während Marcus und Lissy sich ebenfalls davon überzeugten, dass das schmale Fenster am Ende des Raumes gekippt war, um tatsächlich frische Luft hereinzulassen. Emma schob sich derweil langsam nach hinten, während sich in ihrem Kopf die Vorstellung festsetzte, wie ihr Vater nachdenklich in seinem Sessel saß und an seinen Zigarillos zog. Sie hatte angenommen, dass er diese Gewohnheit schon vor Jahren aufgegeben hatte. Geraucht hatte er nur, wenn er unter hohem Druck stand. Warum heute?
„Emma, fällt dir irgendetwas Ungewöhnliches auf? Irgendeine Abweichung vom Normalen?“, fragte Marcus und drehte sich um. Erst da schien ihm aufzufallen, dass Emma schon längst nicht mehr den Tatort betrachtete. Gerade als sie glaubte, der Strudel aus Bildern, Erinnerungen und Vermutungen würde sie von den Füßen reißen, stand er bei ihr und ergriff wieder ihre Hände. Wärme ging von seinen Fingern aus und sie klammerte sich an seinen Unterarmen fest, als müsste sie sich davon abhalten zu fallen.
„Ich weiß es nicht“, flüsterte sie Marcus erstickt zu. „Ich war ... Ich war seit Jahren nicht in diesem Zimmer. Ich weiß nicht ... Ich weiß nicht, wo alles hingehört.“
„Emma! Emma, das ist in Ordnung. Du hast uns schon sehr geholfen.“
Lissy trat neben sie. Auch sie nickte Emma aufmunternd zu. „Soll ich dich nach draußen begleiten?“
„Darum möchte ich doch bitten!“
Emma, Marcus und Lissy fuhren beinahe gleichzeitig herum und wandten sich der kräftigen Stimme zu. Noch bevor Emma das Gesicht des hochgewachsenen Mannes sehen konnte, der jetzt in Begleitung des Schutzpolizisten auf sie zuschritt, wusste sie, wer sich ihnen näherte. Sie würde diese Stimme überall und jederzeit erkennen.
„Ricky“, wisperte sie in sich hinein.
Als sich Richard von Meerblom zu ihnen gesellte, würdigte er Emma keines Blickes. Stattdessen schob er arrogant die Hände in die Taschen seiner Cordhose und blickte tadelnd von Marcus zu Lissy.
„Bringen Sie sie bitte hinaus. Soweit ich weiß, hat sie kein Recht hier zu sein.“
Marcus schob sich fast unmerklich vor Emma, während Lissy unbeeindruckt die Arme ineinander verschränkte. „Und Sie sind?“
„Graf von Meerblom“, kam die kurze, entschiedene Antwort. „Ich bin der Sohn.“
Bei diesen Worten sah er Emma zum ersten Mal an. Ihr fuhr ein so kalter Schauer in die Glieder, dass sie kurz sicher war, eine Eisschicht auf ihrer Haut zu spüren.
„Und nun bitte ich Sie, meine Schwester hinaus zu eskortieren. Sie sollte nicht hier sein. Das ist nicht ihr Haus.“
Nach einer kurzen Pause, in der er seine Schwester einmal von oben bis unten begutachtete, fügte er hinzu: „Nicht mehr.“
Sie waren schneller, als er gedacht hatte. Es konnte nicht einmal Minuten gedauert haben, bis sie bei ihm gewesen waren. Lange bevor Aleksander in Gefahr geriet, tatsächlich das Bewusstsein zu verlieren, hatte er Stimmen auf dem Flur vor seiner Zelle gehört, die aufgeregt durcheinander riefen. Nur Sekunden später hatten sie ihn mit mehreren umringt und sich seiner Pulsschlagadern angenommen, aus denen Blut strömte. Keiner von ihnen hatte geprüft, ob er wirklich ohnmächtig war. Keiner hatte geahnt, wie hellwach er dalag.
Es machte Aleksander noch immer ein wenig fassungslos, wie leicht alles gewesen war. Man hatte seine Arme verbunden und nicht einmal geprüft, wie lang die Schnitte eigentlich waren. Sie hatten ihn auf eine Trage gewuchtet und umgehend weggebracht – weg aus seiner Zelle. Weg von dem Ort, an dem er ohne jeden Zweifel bald sein wirkliches, unwiederbringliches Ende gefunden hätte.
Das Dammtor besaß ein eigenes Krankenhaus, in dem nicht nur die Gefangenen der U-Haftanstalt, sondern auch aus Gefängnissen aus dem Umland behandelt wurden. Sogar chirurgische Eingriffe konnten hier vorgenommen werden. Genau dorthin hatte man Aleksander verbracht, ihn auf einem Bett abgelegt und den vermeintlich Bewusstlosen, noch bevor man ihn fixieren konnte, mit nur einem einzelnen Krankenpfleger im Raum allein gelassen.
Ohne jedes Bedauern blickte Aleksander nun auf den jungen Mann hinab, der zu seinen Füßen am Boden lag. Anders als Aleksander war er nicht mehr bei Bewusstsein, atmete aber noch – trotz des schweren Trittes gegen seinen Kopf.
Aleksander blieben nur Minuten, wenn nicht Sekunden. In Windeseile streifte er sich seine Gefängniskleidung vom Leib und begann den Pfleger auszuziehen. Jeder seiner Handgriffe saß, er war bestens auf Situationen wie diese vorbereitet. So dauerte es nur Augenblicke, bis Aleksander sich im Kittel des Krankenpflegers über diesen beugte, um ihm das Shirt seiner Haftkleidung über den Kopf zu ziehen. Schließlich packte Aleksander den Mann unter den Achseln, wuchtete ihn auf das Krankenbett, drehte sich mit dem Rücken zur Tür und fixierte den Mann.
„Haben Sie alles im Griff?“
Just in dem Moment, als Aleksander den falschen Verband am Arm des Bewusstlosen fixierte, erklang die Stimme des Vollzugsbeamten direkt hinter ihm.
Aus dem Augenwinkel nahm er wahr, wie der Beamte den Kopf in das Krankenzimmer steckte. Ohne sich umzudrehen, hob Aleksander eine Hand und winkte beschwichtigend ab.
„Ich komme gleich und helfe Ihnen. Aber da ist wohl unten was los. Irgendein Problem mit den ID-Karten. Ich bin gleich wieder da.“
„Keine Eile!“, versicherte Aleksander dem Wärter und beugte sich noch etwas tiefer über das Krankenbett. Er gab vor, den Arm des ‚Patienten‘ hochzuschieben, damit ein Zugang gelegt werden konnte.
„Das passiert, wenn wir unterbesetzt sind!“, schimpfte der Beamte, dem offensichtlich bewusst war, dass er einen Häftling eigentlich nicht mit einem Pfleger allein lassen durfte. Dabei hatte er nicht die geringste Ahnung, dass Aleksander die politisch ignorierte, viel zu dünne Personaldecke der Hamburger Haftanstalten längst für sich genutzt hatte.
Als der Beamte endlich verschwand, ließ Aleksander von dem Pfleger ab und eilte ohne jede Umschweife auf das vergitterte Fenster des kleinen Raumes zu.
Es gehörte zu seiner Ausbildung, dass er für verschiedene Situationen einen Fluchtplan besaß. Dies galt auch für eine Haft im Dammtor. Er wusste alles über das Gebäude am Holstenglacis, seine Fassade und die Maßnahmen zur Sicherung der Häftlinge. Daher kostete es ihn nur einen einzigen Blick aus dem Fenster, um zu wissen, wo und in welchem Stockwerk er sich aufhielt und welche Hindernisse zwischen ihm und der Freiheit lagen.
Aleksander holte tief Luft. Sein Krankenzimmer befand sich im zweiten Stock des Zentralkrankenhauses. Das Fenster, durch das er schaute, war mit denselben Gittern versperrt wie auch die Zellen der Häftlinge. Er besah sich die Befestigung und identifizierte mit geübtem Auge die Schwachstellen in der Fassade.
„Dann mal los!“
Aleksander lief zurück zur Tür des Krankenzimmers, schob sie zügig aber leise in ihren Rahmen zurück und schob einen Stuhl mit der Lehne genau unter die Klinke. Anschließend riss er eine der Schubladen auf und nahm eine lange Chirurgenschere heraus. Mit geübten Fingern ließ er sie aufspringen, sodass sie noch länger wurde, und riss das Fenster auf. Mit einer weiten Ausholbewegung rammte er die Klinge der Schere auf der rechten Seite in den Mörtel zwischen Rahmen und Mauerwerk – genau dort wo das Gitter befestigt war.
Das Geräusch von scharfem Metall, das auf groben Zement traf, kratzte laut und unangenehm in seinen Ohren. Doch Aleksander blieb keine Zeit sich darüber Gedanken zu machen, ob und wer gerade hörte, was hier vor sich ging. Eigentlich hatte er sich während des Feuerwerks anlässlich der Feierlichkeiten des Frühjahrsdoms auf dem nahe gelegenen Heiligengeistfeld am Mauerwerk seiner eigenen Zelle zu schaffen machen wollen. Doch seine Befürchtung, dass noch heute jemand aus Romans Organisation in die U-Haftanstalt eindringen und ihn töten würde, ließ ihn diesen Plan über Bord werfen. Die Information, dass die Justizbeamten gerade wegen eines ID-Kartenproblems gerufen wurden, schien seinen Verdacht zu bestätigen. Irgendjemand, der hier nichts zu suchen hatte, versuchte sich Zutritt zu verschaffen. Höchste Zeit für Aleksander endlich zu verschwinden.
Putz und Mörtel lösten sich aus dem Mauerwerk. Staub wehte Aleksander ins Gesicht und raubte ihm für einen Augenblick die Sicht. Hustend legte er die Schere beiseite und rüttelte prüfend an dem Gitter. Laut quietschend löste es sich auf der rechten Seite ruckartig aus der Wand.
„Das muss reichen“, wisperte Aleksander, als er den dünnen Spalt zwischen Metall und Klinker betrachtete. Er hatte keine Ahnung, ob er sich hindurchquetschen konnte, doch ihm lief schlicht die Zeit davon. Noch herrschte Ruhe vor der verriegelten Tür hinter seinem Rücken. Jede Sekunde aber könnte ein Mitarbeiter der Haftanstalt Aleksander erwischen. Er musste fliehen! Jetzt!
Schwungvoll hüpfte Aleksander von der Fensterbank, lief zu einem der Schränke und riss zielsicher einen Schwung Fixiergurte aus den Fächern. Im Falle der vollen Auslastung des Krankenzimmers hatte die Gefängnisleitung für mehr als genug Fesseln gesorgt. Flink verband Aleksander die fest gewebten Gurte miteinander und wickelte die provisorische Leine schließlich um das schwere Bettgestell, in dem noch immer der bewusstlose Pfleger lag. Das Bett stand auf Rollen und würde sich trotz seiner Bremsen vermutlich bewegen, wenn es mit dem Gewicht von Aleksanders Körper belastet wurde. Der Halt, den es ihm geben würde, musste aber ausreichen.
Als Aleksander einen Fuß auf die Fensterbank setzte und zuließ, dass der noch frische Maiwind der Hansestadt sein Haar zerzauste, lauschte er noch einmal. Doch nach wie vor waren weder Rufe noch Schritte zu hören. Hatte niemand bemerkt, was Aleksander im Begriff war zu tun? Sollte er wirklich so viel Glück haben?
Aleksander schob den Gedanken beiseite. Er würde sich später mit dieser Frage auseinandersetzen – wenn er dann noch am Leben war. Jetzt aber gab es nur eine Sache, auf die er sich konzentrieren musste.
Er biss die Zähne zusammen, packte das nun etwas gelockerte Fenstergitter und drückte es nochmals von der Wand weg. Anschließend schob er ein Bein nach draußen und zwängte sich mit dem Kopf durch den schmalen Spalt. Zentimeter um Zentimeter arbeitete er sich vor, hielt dabei mit einer Hand den Gurt und ertrug die Schmerzen, als das Metall mit Druck über seine Haut fuhr. An seinen Wangenknochen spürte er, wie der raue Klinker blutige Striemen hinterließ.
Mit einem Ruck gelangte Aleksander schließlich hindurch und landete auf dem Mauersims. Beinahe hätte er das Gleichgewicht verloren und wäre in die Tiefe in Richtung des Anstaltshofes gestürzt. Doch er fing sich gerade eben noch, zog langsam sein anderes Bein durch den Spalt, bis er schließlich vollends in Freiheit war. Er hatte es geschafft.
„Schritt eins“, murmelte Aleksander und erlaubte sich einen zaghaften Blick in die Tiefe. Außerhalb der Sicherheit des Fenstergitters kam ihm die Distanz zum Boden schlagartig unendlich lang und fatal vor. Einen Sturz aus dieser Höhe konnte ohne Zweifel sein Ende bedeuten.
„Schritt zwei“, sprach Aleksander sich Mut zu und umfasste jetzt vorsichtig mit beiden Händen das Ende des Gurtes, das er mit sich führte.
Er war nicht bereit für das, was er jetzt tun musste. Er wusste jedoch, dass es schlussendlich nicht darauf ankam, für was man bereit war. Wichtig war allein, ob er leben wollte, und das tat er. Nach Jahren, in denen er seinen Tod geradezu begrüßt hätte, wollte er wieder leben. Endlich gab es etwas, für das er leben wollte. Es gab jemanden. Ein Gedanke, der ihn zeitgleich berauschte und ängstigte.
Aleksander schloss die Augen, dachte an Emma und all das, was er ihr noch sagen musste, und ließ sich in die Tiefe fallen.
Der hat ja wohl einen Knall!“
Emma nahm von dem Kommentar kaum Notiz. Stattdessen spürte sie die Blicke ihres jüngeren Bruders auf sich, während sie sich von einem widerwilligen Marcus durch ihr Elternhaus und die Eingangstür führen ließ. Sie hatte darauf verzichtet, sich gegen ihren Rauswurf zu wehren. Eigentlich hätte es sie verletzen sollen, wie kalt und aggressiv ihr Bruder gewesen war. Vielleicht hätte es ihr sogar das Herz brechen sollen. Sie spürte nichts von alledem. Innerlich war sie noch immer bei ihrem Vater und der Frage, ob er die nächsten Stunden überleben würde.
„Was hat der eigentlich für ein Problem?“, wollte Marcus wissen, als er und Emma auf dem Hof vor dem Haus innehielten. „Wie kann der nur so mit dir umgehen? Und mit welchem Recht wirft er dich aus deinem eigenen Haus?“
Emma sah traurig zu Marcus auf. „Das ist nicht mein Haus“, sagte sie leise und wurde sich dabei schmerzlich bewusst, dass sie Rickys Worte wiederholte, mit denen er sie gerade rausgeworfen hatte. „Ich bin enterbt. Schon vergessen?“
„Seins aber auch nicht!“ Marcus verschränkte trotzig die Arme.
„Das sieht der zurückgekehrte Kronprinz sicher anders.“
Emma wusste nicht wie, aber irgendwie gelang es ihr einen Mundwinkel zu heben und den Schatten eines Lächelns auf ihr Gesicht zu zwingen.
Auch Marcus‘ strenge Miene wich einem weicheren Ausdruck und er streckte fragend die Hand nach Emma aus.
Die zögerte einen Moment. Sie hatte damit gerechnet, dass Marcus keine Hemmung haben würde, sie von sich aus zu berühren. Nun aber wartete er auf ihre Zustimmung. Das war ungewohnt, doch nach der übergriffigen Anmaßung ihres Bruder, fühlte es sich erstaunlich gut an. Zaghaft griff Emma nach Marcus‘ Fingern und ließ zu, dass er sie fest drückte.
„Es tut mir leid, dass ich dich so früh hierher gerufen habe. Aber ich dachte ...“
„Nein!“, unterbrach Emma ihn hastig. „Ich ... ich hätte es genauso gewollt. Danke!“
Ein Augenblick der Stille trat zwischen sie und sie taten nichts außer einander anzusehen. Blaulicht tanzte auf Marcus‘ Zügen. Ein Anblick, der Emma an ihre erste Begegnung erinnerte. Damals hatte Marcus sie genauso angesehen, während sie inmitten von Streifenwagen gestanden hatten. So viel war seitdem passiert. Zu viel.
„Hast du schon mit deiner Mutter gesprochen?“, beendete Marcus den Moment.