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Freya von Korff

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Beschreibung

Sie dachte immer, sie hätte es in sich. Jetzt weiß sie es. Urteil und Strafe liegen allein bei ihr. Die Richterin Emma Anders kann nicht loslassen. Monate nach der Mordserie in ihrer eigenen Familie kennt sie noch immer nur ein Ziel: Aleksander. Wer ist der Mann, der nicht nur ihr Leben verschont, sondern es einst gerettet hat? Seine Spur führt zu einem von der Außenwelt abgeschotteten Herrenhaus. Zwischen Mumien und antiken Schätzen wartet auf Emma und die beiden Kommissare Marcus Winter und Elisabeth Wolf eine schreckliche Wahrheit. Die Schuld für ein altes Verbrechen soll endlich beglichen werden. Und am Ende entscheidet allein Emma über die Strafe.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Blutstrafe

Emma Anders 2

Freya Von Korff

Für Bettina

Das Nächste Kapitel beginnt

Es geht los.

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Nun aber los. Worauf wartest du?

Was bisher geschah

Emma Anders soll sterben. In der Tiefgarage des Verwaltungsgerichts Wandsbek lauert ein Unbekannter der jungen Richterin auf, packt sie von hinten und versucht sie brutal töten. Aber sie überlebt.

MARCUS WINTER und seine Kollegin ELISABETH WOLF übernehmen die Ermittlungen. Frisch vom Dienst suspendiert beschließt Emma jedoch, selbst herauszufinden, was geschehen ist. Sie muss wissen, wer ihren Mord in Auftrag gegeben hat – und wieso. Hat es mit dem Autounfall zu tun, in den sie knapp ein Jahr zuvor verwickelt war?

Nach einem weiteren Anschlag – diesmal auf ihre Tante – wird Emma und den beiden Kommissaren klar, dass es die Täter auf die Siegelringe abgesehen haben, die Emmas Familienmitglieder tragen. Bei dem Versuch ihren eigenen Ring aus dem Haus ihrer Eltern zu holen, gerät Emma in einen Hinterhalt. Ein Mann lauert ihr auf und bedroht sie mit einer Waffe: ALEKSANDER.

Mit Marcus‘ Hilfe entgeht Emma dem Eindringling nur knapp, verliert aber ihren Ring. Nur eine Gewissheit bleibt ihr: Sie kennt Aleksander.

Die weitere Spur führt Emma zum Stammsitz ihrer Familie. Bei einem großen Festakt zu Weihnachten soll dort einem Helden des Widerstandes gegen die Nationalsozialisten und Emmas Vorfahren gedacht werden. Nur widerwillig lässt Kriminaldirektor BLANKENBURG Emma mit seinen beiden Beamten Marcus und Lissy dort hinreisen.

Auch die Täter befinden sich unter den Gästen. Es gelingt Emma und Marcus, Aleksander und seine Komplizen im Turm des Schlosses zu stellen, bevor sie ein weiteres Attentat verüben können. Da gibt sich der Drahtzieher hinter den Morden zu erkennen: Kriminaldirektor Blankenburg hat Aleksander beauftragt, um endlich die schreckliche Wahrheit über Emmas Familie und ihren Vorfahren aufzudecken. Emma stammt nicht von einem Widerstandshelden ab, sondern von dessen Zwilling, der seinen eigenen Bruder einst den Nationalsozialisten auslieferte und nach dem Krieg dessen Identität annahm. Ausgerechnet Emmas Siegelring ist der Beweis.

Es kommt zu einem Schusswechsel und Marcus wird lebensgefährlich verletzt. Emma nimmt die Verfolgung auf, jagt Aleksander quer durch das Schloss und stellt ihn schließlich.

Während sie eine Waffe auf ihn richtet, wird ihr bewusst, woher sie ihn kennt. Er ist derjenige, der sie einst aus dem sinkenden Auto gezogen und damit ihr Leben gerettet hat. Er kennt die Wahrheit über ihren Unfall.

Verstört lässt Emma Aleksander fliehen und kehrt mit dem schwer verletzten Marcus zurück nach Hamburg. Dort nimmt sie scheinbar ihr normales Leben wieder auf. Kaum jemand ahnt etwas von dem Entschluss, den sie gefasst hat: Sie wird Aleksander finden. Sie wird die Wahrheit über jenen Tag erfahren, an dem sie mit ihrem Auto in die Elbe stürzte. Sie wird herausfinden, ob sie bereits damals Opfer eines Mordanschlags war und wie es dazu kam, dass ihr Ehemann an jenem Tag sterben musste …

Haus Seedorff, 23. März – Dieses Jahr

Sie dachte immer, sie hätte es in sich. Es sei ganz leicht. Jetzt weiß sie es besser. Töten ist schwer.

Noch immer ist sie von Finsternis umgeben. Nur das fahle Licht des Mondes wirft lange Schatten in den Raum und lässt alles um sie herum unwirklich, fantastisch, falsch wirken. Nichts von dem, was hier geschieht, ergibt Sinn. Und doch fügt sich in diesem Moment scheinbar alles zusammen. Endlich dämmert ihr, wie es hierzu gekommen ist. Die Teile des Puzzles ergeben allmählich ein Bild.

Sie öffnet den Mund, um etwas zu sagen, als sich das Licht unvermittelt einschaltet. Sie blinzelt nicht, als der grelle Schein sie blendet. Ebenso wenig reagiert sie auf die erschrockenen Schreie. Nicht einmal die Stimme, die entsetzt ihren Namen brüllt, dringt zu ihr durch.

Ihre Aufmerksamkeit gilt allein ihm. Der Mann mit dem dichten schwarzen Haar kniet ruhig vor ihr. Seine hellgrauen Augen erwidern unverwandt ihren Blick, als ginge es ihm wie ihr. Es gibt nur sie. Es gibt nur ihn.

Erst als er vorsichtig nach unten schaut, kann sie sich von ihm lösen. Da entdeckt sie die Gestalt in dem weißen Anzug zu ihren Füßen. Ein greller Blutfleck breitet sich auf dem Rücken aus wie eine Blume, die ihre Blätter entfaltet. Urplötzlich beginnt sie zu zittern, zu wanken. Ihr eigenes Körpergewicht zieht sie hinunter, scheint plötzlich zu schwer für ihre Beine. Sie taumelt nach hinten, sucht nach Halt. Als ihre Hände um sie herum ins Leere greifen, lässt sie den Gegenstand fallen, den sie bis jetzt eisern umklammert hielt. Mit einem Donnern fällt die Pistole zu Boden und bleibt direkt vor ihren Füßen liegen.

Fünf Tage zuvor …

Kapitel1

Aleksander

Der Geruch von Blut stieg ihm in die Nase. Er ignorierte ihn und hielt seinen Blick auf das Panorama vor sich gerichtet. Die Sonne senkte sich über den Horizont und verwandelte die Spitzen der drei Pyramiden in dunkle Silhouetten, deren Schatten sich langsam aber sicher über die Stadt legten.

Die Universität von Kairo hatte für die Unterbringung des Besuchs aus Deutschland keine Kosten gescheut. Anstatt eines der günstigen Business-Hotels im Zentrum der ägyptischen Hauptstadt zu buchen, hatte man sich dazu entschlossen, ihm ein Zimmer in einem eleganten Hochhaus im südwestlichen Gizeh zur Verfügung zu stellen. Von seinem Zimmer aus konnte Aleksander nicht nur die Pyramiden, sondern auch das Nilufer und den Campus der Universität Kairo sehen. Obwohl es wenig gab, das ihn beeindrucken konnte, musste er zugeben, dass ihn der Anblick der drei Grabmäler ins Staunen versetzte. Er ertappte sich dabei, auf die Cheops-Pyramide in der Ferne zu starren und sich vorzustellen, wie sie unter Einsatz von Schweiß, Kraft und Blut erbaut worden war - und das nur, um einem Pharao ein Monument für die Ewigkeit zu setzen. Wie viele Menschen hatten mit ihrem Leben dafür bezahlt, damit ein Einziger sich fühlen durfte wie ein Gott? Soweit Aleksander wusste, rankten sich noch immer allerlei Legenden um den Bau der großen Pyramiden. Niemand kannte die Anzahl der eingesetzten Arbeiter, die Höhe der Todesopfer, geschweige denn ihre Namen. Die an ihnen verübten Verbrechen würden so für immer ungesühnt bleiben.

Einen Augenblick lang fand Aleksander Trost in dem Gedanken, dass es bald ein Verbrechen weniger geben würde, dessen Täter nie die Strafe für seine Vergehen erhielt. Ein winziger Schritt in Richtung Gerechtigkeit.

„Hil ... Hilfe!“

Aleksander rührte sich nicht, als das Stöhnen hinter ihm erklang. Stattdessen holte er noch einmal tief Luft und wartete, bis die Sonne endgültig hinter der Spitze der Cheops-Pyramide verschwand. Erst dann wandte er sich dem Mann zu, der verletzt und gefesselt auf dem Bett des Hotelzimmers lag.

Die Platzwunde an der Stirn des Gefangenen blutete noch immer und hinterließ hässliche Flecken auf dem weißen Laken. Obwohl sein linkes Auge fast zugeschwollen war, fixierte der Mann Aleksander panisch, als dieser mit ruhigen und festen Schritten um das Bett herumging.

„Hilfe!“, stammelte der Gefesselte noch einmal. Er klang verzweifelt und wenig überzeugend. Beiläufig stellte Aleksander fest, dass sich der Mann eingenässt hatte. Er wusste also, was ihm bevorstand. Gut so.

„Sie werden hier keine Hilfe bekommen, Professor Weberling“, erklärte ihm Aleksander ruhig. „Sie können auch schreien. Niemand wird kommen. Aber das ist Ihnen ja sicher bewusst.“

Zur Antwort schluckte der Professor hörbar. Sein Kiefer begann zu beben. Dennoch brachte er es irgendwie fertig zu sprechen. „Wer sind Sie?“

Aleksander versteifte sich bei dieser Frage. Die Erinnerung drängte sich ihm mit einer solchen Gewalt auf, dass er sich kaum beherrschen konnte. Drei Worte reichen aus, um ihn Jahre in die Vergangenheit zu katapultieren. Doch er durfte jetzt nicht daran denken, wie sie halbtot und völlig erschöpft unter ihm gelegen und ihm zugeflüstert hatte: „Wer … wer sind Sie?“

Es wurde schlimmer. Jedes Mal, wenn ihm eines seiner Opfer voller Verzweiflung diese so sinnlose Frage stellte, tauchte sie vor seinem geistigen Auge auf. Und mit jedem Mal fiel es ihm schwerer, Emma Anders wieder zu vergessen.

„Was wollen Sie von mir?“

Professor Weberlings Wimmern holte ihn zurück ins Hier und Jetzt. Von einem Moment auf den anderen war Emma verschwunden und schummrige Vergangenheit verwandelte sich in bittere Gegenwart. „Ich habe Ihnen doch gar nichts getan!“

Aleksander schwieg zur Antwort, ging langsam um das Bett herum und ließ sich auf dessen Kante fallen. Mit einer beiläufigen Bewegung legte er die Waffe mit Schalldämpfer in seinen Schoß, neigte den Kopf und starrte sein Gegenüber ausdruckslos an.

Beim Anblick der Pistole zitterte Weberling noch heftiger. „Was ... was wollen Sie?“, stammelte er noch einmal. „Ich kann Ihnen alles geben. Brauchen Sie Geld? Das kann ich Ihnen beschaffen! Ich tue alles, was Sie wollen. Aber bitte ... lassen ... lassen Sie mich gehen. Bitte!“

Ein unangenehmer Geschmack stieg in Aleksanders Kehle auf. Der Kerl und seine jämmerlichen Verhandlungsversuche widerten ihn regelrecht an.

„Hat sie auch so gefleht?“, fragte er leise. Sein Tonfall war fast geschäftsmäßig, beiläufig.

Weberlings Miene verzog sich. Unverständnis trat in seine Augen. Er hatte keine Ahnung, auf wen Aleksander anspielte.

Dieser schwieg erneut, unterbrach den Blickkontakt und prüfte in aller Ruhe, ob sich eine Kugel im Lauf der Pistole befand. Derweil glaubte er beinahe hören zu können, wie sich die Zahnräder in Weberlings Kopf drehten, bis ihm endlich einfiel, wen Aleksander gemeint haben könnte.

„Von ... von wem sprechen Sie?“, presste Weberling scheinheilig hervor, und Aleksander erkannte, dass der Mann nur abzulenken versuchte.

„Wussten Sie, dass sie mittlerweile tot ist?“, fragte Aleksander noch immer ohne jede Regung in der Stimme.

Weberlings kurzer Atemaussetzer verriet, dass diese Information neu für ihn war. Als Aleksander ihm einen Seitenblick zuwarf, hatte sich sein Mund leicht geöffnet. Er wirkte ehrlich entsetzt.

„Eine Überdosis. Es ist nicht ganz klar, ob sie sich bewusst getötet oder einfach die Kontrolle verloren hat. Ihre Eltern glauben an einen Suizid. Sie sind sich sicher, dass ihre Tochter sich absichtlich das Leben genommen hat.“ Aleksander machte eine Pause. „Ihretwegen!“

Bei dem letzten Wort erhob sich Aleksander und stellte sich direkt vor Weberling. Der starrte entsetzt zu ihm hinauf und schüttelte den Kopf.

„Aber das ist nicht ... damit habe ich doch nichts ... es ist doch nicht meine Schuld, wenn sich die Kleine einen Schuss setzt!“

Aleksanders Lider verengten sich zu schmalen Schlitzen. „Glauben Sie das wirklich? Sie denken also ernsthaft, es hat nichts mit Ihnen zu tun, wenn eine junge aufstrebende Wissenschaftlerin ohne Drogenvergangenheit plötzlich abrutscht und schwere Rauschmittel braucht, um durch den Tag zu kommen?“

Weberling blickte Aleksander fassungslos an. Er blinzelte nicht mehr, stattdessen begann sein Kiefer zu beben.

„Sie glauben, es hat nichts damit zu tun, dass sie Doktorandin an Ihrem Lehrstuhl war? Wussten Sie, dass sie der Universität gemeldet hat, unter welchen Bedingungen sie bei Ihnen arbeiten musste? Sie hat von den langen Nächten berichtet, von den Kolleginnen, die gekündigt haben, weil sie nicht mehr mit Ihnen zusammenarbeiten wollten. Sie hat davon erzählt, wie Sie sie nächtelang unwürdige, anspruchslose Archivarbeiten verrichten ließen, dass Sie ihr dabei stets über die Schulter geschaut haben, ihr nahegekommen sind. Immer näher. Sie haben ihr gegenüber Anspielungen gemacht, sie angefasst. Und eines Nachts ...“

„Das hat sie alles zurückgezogen!“, versuchte Weberling sich zu verteidigen. Er wusste natürlich, was den Ombudsleuten der Hochschule mitgeteilt worden war. Sie hatten ihn schließlich befragt, sämtliche Nachforschungen gegen den Professor jedoch eingestellt. „Und das, was zwischen uns geschehen ist, war einvernehmlich. So wie sie ... Man könnte eher sagen, dass sie mich ...“

„Reden Sie sich das ein?“, ging Aleksander dazwischen. Fast unmerklich schüttelte er den Kopf. „Rechtfertigen Sie es so vor sich, dass Sie eine junge Ägyptologin mit einer glänzenden Zukunft überfallen und brutal vergewaltigt haben?“ Nun wurde Aleksander lauter. Seine Augen begannen regelrecht zu glühen. „Es war nicht genug, dass Sie sich an ihr vergangen haben. Sie haben sie danach eingeschüchtert, bedroht. Sie wusste, dass Sie dafür sorgen würden, dass niemand sie mehr einstellen würde, wenn der anerkannte Professor Weberling ihren Ruf ruiniert. Also hielt sie den Mund, hielt aus, dass Sie ihr auch noch Wochen später nachgestellt haben, bis sie schließlich kündigte und alles, wofür sie ihr Leben lang gearbeitet hatte, hinwarf. Und jetzt ist sie tot. Sie ist gestorben, weil Sie sich in Ihrer ekelerregenden Selbstherrlichkeit eingeredet haben, ein Anrecht auf sie und ihren Körper zu haben. Aber nein. Sie haben nichts damit zu tun.“

Aleksander hob das Kinn und musterte den Mann auf dem Bett nochmals voller Abscheu. Weberling mochte leicht untersetzt und in den Fünfzigern sein. Doch auch jetzt noch besaß er die Ausstrahlung eines elitären Akademikers, dessen Intelligenz und wissenschaftliche Reputation ohne weiteres in der Lage waren, junge Studentinnen zu beeindrucken. Dass er das für sich nutzte, zeigte seine Personalakte, die vor Beschwerden über sexuelle Belästigungen geradezu aus allen Nähten platzte. Niemand in der Universität hatte jedoch die Notwendigkeit gesehen, Schritte gegen den Professor einzuleiten. Dafür war die internationale Anerkennung, die er genoss, zu groß und der Wert, den man ein paar jungen Frauen innerhalb der Fakultät beimaß, zu gering. Weberling war wichtig genug gewesen, um über den Regeln zu stehen und ungehindert tun zu können, was er wollte. Er hatte seine Unantastbarkeit schamlos für sich ausgebeutet – bis jetzt. Bis heute.

„Sind Sie deswegen hier? Haben die Eltern dieser Kleinen Sie etwa auf mich angesetzt? Sollen Sie ihre Tochter etwa rächen?“

„Nein.“ Aleksanders kurze aber deutliche Antwort ließ Weberling augenblicklich verstummen und jede Spur von Spott aus seinen Zügen weichen.

Fast unmerklich schüttelte Aleksander den Kopf, drehte sich um und durchquerte den Raum. Ohne weiter auf Weberling einzugehen, kniete er sich hin, machte sich an dessen Koffer zu schaffen und zog daraus die Sicherheitskarte hervor, die Weberling von der Universität Kairo ausgestellt worden war. Dahinter klemmte eine Einladung zu einem Treffen mit jemandem namens Prof. Dr. Khaleel, um über ein gemeinsames Projekt hier in Kairo zu sprechen. Der Termin sollte am kommenden Tag stattfinden.

„Warum dann?“, forderte Weberling noch einmal und deutete mit einem Kopfnicken auf die Sicherheitskarte und die Einladung. Er verstand nicht.

Aleksander sah keine Veranlassung, Weberling aufzuklären. „Als ich Sie überprüft habe, wusste ich nichts von Ihren zweifelhaften Vorlieben. Dass Sie ein Schwein sind, das sich anderer Menschen bedient wie Spielzeug, war lediglich Zufall.“

Aleksander erhob sich und stellte sich an den Fuß des Bettes. Er sah Weberling nun direkt ins Gesicht.

Dieser wurde genauso weiß wie das Laken, auf dem er lag. Seine bebenden Lippen formten tonlos wieder und wieder: „Bitte!“

Aleksander ließ das kalt. „Ich will, dass Sie wissen, dass ich Sie nicht töten müsste, Professor. Ich könnte Sie für das, was ich tun muss, am Leben lassen. Nichts von dem, was hier gerade geschieht, müsste sein.“

Ganz langsam hob Aleksander seine Waffe. Todesangst stieg in Weberlings jetzt tränennasse Augen. Aleksander seufzte schwer. „Das hier ...“ Er pausierte und legte einen Finger an den Abzug. „... tue ich nur für sie.“ Damit drückte er ab.

Kapitel2

Emma

Die Ketten klirrten. Im selben Moment wurde Emmas Körper von einem so heftigen Stoß zurückgeschleudert, dass sie erst einige Schritte nach hinten taumelte, bevor sie ihr Gleichgewicht wiederfand. Kaum stand sie wieder sicher, warf sie sich mit voller Wucht nach vorne und schlug zu.

Der Sandsack schaukelte heftig, sobald Emmas Faust ihn traf. Als sie nur einen Atemzug später mit ihrem Fuß auf das geschmeidige Leder prallte, schwang er so weit nach hinten, dass er die Person fast am Kopf erwischte, die plötzlich hinter ihm auftauchte. Mit einer fließenden Bewegung wich Kriminalhauptkommissarin Elisabeth Wolf dem Trainingsgerät aus, kam auf Emma zu und blieb mit den Händen in den Taschen vor ihr stehen.

„Was hat der dir denn getan?“, wollte sie in ihrer gewohnt mürrischen Art von Emma wissen, die sich schwer atmend und verschwitzt mit den Händen auf ihren Knien abstützte.

Emma schüttelte den Kopf. „Ich habe schlecht geschlafen“, gab sie ausweichend zu und hoffte, dass Lissy es dabei bewenden lassen würde. Ihr stand nicht der Sinn danach, ausgerechnet der Kommissarin davon zu erzählen, dass sie seit letzter Nacht kaum klar denken konnte.

„So sieht das, was du hier veranstaltest, aber nicht aus. Wenn ich es nicht besser wüsste, würde ich sagen, du verarbeitest da was?“

Lissy hob nur einen Mundwinkel und Emma erwiderte das Lächeln schwach. Ihr war bewusst, dass Lissy sie durchschaute. Und doch zog Emma es nicht einmal für die Dauer eines Herzschlages in Betracht, der Polizistin die Wahrheit zu sagen. Emma konnte Lissy nicht anvertrauen, dass sie letzte Nacht von dem Mann geträumt hatte, der mit Emmas Hilfe wenige Monate zuvor einem Tatort entflohen war. Sie hatte den Mann, der in ein Attentat auf sie und Mitglieder ihrer Familie verwickelt gewesen war, laufen lassen. Trotz der Waffe, die sie auf ihn gerichtet hatte. Bis heute gab ihr eigenes Verhalten Emma Rätsel auf. Sie hätte ihn aufhalten können – ihn aufhalten sollen. Irgendetwas hatte sie davon abgehalten.

Sie ... du warst da, hörte sie ihre eigene Stimme in Gedanken.

Der Mann mit den schwarzen Haaren, Aleksander, war Teil der obskuren Organisation, die letzten Dezember Emmas Ermordung in Auftrag gegeben hatte. Aleksander hatte Emma nachgestellt, war in ihre Wohnung eingebrochen und hatte sie schließlich in ihrem Elternhaus überfallen. All das, um ihr einen Ring abzunehmen, der als alleiniger Beweis für ein unentdecktes Verbrechen in ihrer Familiengeschichte diente. Später waren er, Lissy, Emma und Marcus, Lissys Partner, in ein Gefecht verwickelt worden, bei dem Marcus angeschossen worden war. Emma war ihm gefolgt. Erst als sie Aleksander gestellt hatte, war es ihr bewusst geworden: Sie war ihm schon einmal begegnet: An dem Tag, an dem Emmas Ehemann in den Wassern der Elbe ertrunken war und sie selbst wie durch ein Wunder überlebt hatte.

„Meine Güte, du musst wirklich den Kopf freikriegen, was?“

Emma erwachte aus ihren Gedanken bei Lissys plötzlich so sanfter Stimme. Verlegen schüttelte sie den Kopf. „Nur das Übliche. Sonst nichts“, log sie.

Lissy nahm ihr das nicht ab. Auch wenn sie oftmals einen groben, manchmal sogar arrogant desinteressierten Eindruck machte, steckte in ihr eine scharfsinnige Polizistin, die jede Gefühlsregung wahrnahm, egal wie sehr man sich verstellte.

„Bist du deswegen hier anstatt bei deiner Therapeutin?“ Sie deutete um sich auf die heruntergekommene ehemalige Fabrikhalle. KICK ACADEMY stand in großen Lettern über dem Eingangstor, das direkt zu einem Boxring im Zentrum führte. Daneben befand sich ein Bereich mit Matten und Spiegeln an der Wand, in dem sich eine Gruppe Halbstarker durch Seilspringen gerade aufwärmte. Auf der anderen Seite des Ringes standen die Kraftgeräte. Ein Mann in einem schulterfreien Shirt, dessen Muskeln den dünnen Stoff zu sprengen drohten, bereitete gerade seine Hanteln vor. Die Anzahl Kilogramm, die er dabei auflegte, entsprach mit Sicherheit locker Emmas vollständigem Körpergewicht.

„Netter Laden“, kommentierte Lissy das leicht heruntergekommene Ambiente und wirkte dabei tatsächlich ehrlich anerkennend. Im Gegensatz zur zierlichen Emma mit ihren langen blonden Haaren und der schlanken Gestalt wirkte Lissy in der Halle, die auch aus einem 80er-Jahre Film hätte stammen können, alles andere als exotisch. „Kommen viele deiner vornehmen Richterkollegen nach Feierabend hierher, um sich fit zu halten?“

„Sehr witzig“, gab Emma bissig zurück und ließ sich auf eine abgegriffene Holzbank an der Wand fallen. Erschöpft griff sie nach ihrer Wasserflasche und trank einen großen Schluck.

„Woher wusstest du überhaupt, wo du mich findest?“, wollte Emma wissen, als Lissy neben ihr Platz nahm.

„Ich bin eben eine wirklich gute Ermittlerin“, gab Lissy zurück, während sie den Jugendlichen beim Kickboxtraining zusah.

Emma seufzte, als ihr klar wurde, woher Lissy wusste, dass sie hier trainierte. „Marcus. Ich habe ihm ein einziges Mal davon erzählt, dass ich ab und an hier herkomme, um mich wieder in Form zu bringen.“ Emma war während ihrer Studienzeit eine erfolgreiche Kampfsportlerin gewesen und hatte neben mehreren schwarzen Gürteln auch einige Meistertitel errungen. Danach war sie jahrelang nicht aktiv gewesen - bis zum letzten Dezember. Bis man versucht hatte, sie zu töten.

„Er hört dir eben besser zu, als du denkst. Und er macht sich Sorgen um dich.“

„Das muss er nicht. Mir geht es gut“, murmelte Emma und ließ ihren Blick gedankenverloren durch die Halle schweifen. Dankenswerterweise beging Lissy nicht den Fehler, diese Aussage zu kommentieren.

„Wieso bist du eigentlich hier?“, fragte Emma schließlich und wandte sich Lissy zu. Wenn Elisabeth Wolf persönlich hier auftauchte, konnte das nur eines bedeuten.

„Ich bin da vielleicht auf etwas gestoßen.“

Emma spürte, wie eine Welle der Aufregung ihren Körper erfasste. Eine Gänsehaut breitete sich auf ihrer verschwitzten Haut aus und ließ sie erschaudern.

„Eine Spur?“, fragte sie hoffnungsvoll.

„So kann man das wirklich nicht nennen. Es ist vielmehr eine ... eine Kuriosität. Aber sie würde ins Profil passen und ist der erste Hinweis seit Wochen.“

„Sag schon, Lissy!“

Emma war zum Zerreißen gespannt. Seit Beginn des Jahres bildeten ausgerechnet die elegante Richterin Emma Anders und die beinharte Kommissarin Elisabeth Wolf eine geheime Allianz. Nach den beinahe tödlichen Ereignissen auf Schloss Tremshof im letzten Dezember war jede Erwähnung von Aleksander und seinen Komplizen wie von Geisterhand aus den Polizeiakten getilgt worden. Die verletzte rothaarige Mittäterin war sogar auf dem Weg ins Krankenhaus verschwunden. Im Hintergrund dieses letzten Falles, dem eine ganze Mordserie in Emmas Familie vorausgegangen war, wirkten mächtige Kräfte, die in der Lage waren, ihre Spuren jederzeit zu verwischen. Bis heute war nicht geklärt, wen der ehemalige Kriminaldirektor Blankenburg aus Hass und zur Klärung seiner eigenen Herkunft beauftragt hatte, um das dunkle Geheimnis des alten Adelsgeschlechts Meerblom ans Tageslicht zu bringen. Auch ihm selbst war die Identität der Leute nie bekannt gewesen, die für ein uraltes Verbrechen die lang ersehnte Rache hatten bringen sollen. So hatte Blankenburg es jedenfalls im Rahmen seiner zahlreichen Vernehmungen ausgesagt. Dazu, wie er überhaupt mit ihnen in Kontakt getreten war, schwieg er noch immer beharrlich.

Weder Lissy noch Emma hatten damit ihren Frieden machen können. Lissy konnte den Gedanken nicht ertragen, dass eine unbekannte Gruppierung ungestraft im Verborgenen operierte. Emma hingegen ging es nur um eines. Sie wollte herausfinden, was wirklich am 17. November vor zwei Jahren geschehen war. Sie musste endlich wissen, wie es zu dem Autounfall gekommen war, der ihren Mann das Leben gekostet hatte.

„Ich habe dir doch erzählt, dass ich nachverfolgen wollte, wann Vorgänge aus unseren Datenbanken gelöscht werden.“

Emma erinnerte sich. „Du wolltest dich bei deinem Freund in der IT melden.“ Sie grinste verstohlen und zog das Wort „Freund“ unnötig in die Länge. Damit handelte sie sich von Lissy einen durch und durch genervten Blick ein.

„Mein ... Kontakt macht jeden Tag eine Liste von neu aufgenommenen Vorgängen und sendet sie mir zu. Indem ich sie mit unserer Datenbank abgleiche, kann ich feststellen, ob es Verfahren gibt, die einfach wieder aus dem System verschwinden.“

Emma runzelte die Stirn. Auch sie verfügte im Rahmen ihrer Tätigkeit über ein solches Register noch offener Verfahren. Wurde eines abgeschlossen, verschwand es nicht einfach aus dem System, sondern wurde an einem anderen Speicherort abgelegt, um die gesetzlichen Aufbewahrungsvorschriften zu erfüllen. „Das klingt aber nach einem ziemlichen Aufwand“, murmelte sie. Lissy musste sich jeden Tag durch eine Vielzahl von Listen wühlen, um festzustellen, ob Dinge einfach spurlos aus der Polizeidatenbank verschwanden.

Lissy sagte nichts dazu. „Ich war mir auch nicht sicher, ob wir so jemals vorankommen werden, zumal ich nur Zugriff auf die Datenbanken in Hamburg habe. Aber gestern bin ich auf etwas gestoßen.“

Emma spannte sich an. Ihr Herzschlag beschleunigte sich merklich.

„Es ist eigentlich kein besonderer Vorgang. Ein Mann ist laut eines kurzen Vermerks bei den Kollegen im PK 17 vorstellig geworden. Es ging wohl um einen Einbruch in ein Büro der Universität. In dem Vermerk hieß es: ‘P meldet Einbruch in Büro - Uni.’ Notiert wurden außerdem die Worte ‘Verdächtige Person männlich, schwarze Haare’.“

Die Kälte kroch mit einer solchen Geschwindigkeit über Emmas verschwitzte Haut, dass sie sich kurz schüttelte. Sie wusste haargenau, wen dieser Mann beschrieben haben konnte - haben musste. Aleksander.

„Und der Vorgang ist wieder verschwunden - genau wie die Einträge zum letzten Dezember oder zu meinem Autounfall?“

Lissy nickte. „Vollständig. Kein Löschvermerk, kein leerer Ordner. Nicht einmal ein Aktenzeichen. Ich konnte nur die kurzen Anmerkungen der Kollegen lesen, die in der Vorschau direkt angezeigt werden.“

„So ein ...“ Emma erhob sich stöhnend, als sie es nicht mehr aushielt sitzenzubleiben. Unruhig begann sie Kreise zu ziehen, während Lissy sie von der Holzbank aus beobachtete.

Emma ließ sich die wenigen Informationen, die Lissy ihr gerade gegeben hatte, noch einmal durch den Kopf gehen. „PK 17 ... murmelte sie vor sich hin. „Welche Dienststelle ist das?“

„Das ist das Kommissariat beim Schlump.“

„In der Nähe der Uni?“, hakte Emma nach. „Und der Anzeigenerstatter stand in den Notizen mit ‘P’?“

„Das ist nicht der Name des Mannes. Der lautete anders.“

Emma runzelte die Stirn. „Und wofür steht dann das P?“

Lissy zuckte mit den Achseln. „Keine Ahnung. Das ist kein Kürzel, das wir normalerweise verwenden.“

Emma legte nachdenklich einen Finger an die Lippen. „Und es ist ein Einbruch in der Universität gemeldet worden. Konntest du den Namen der Person notieren, die die Anzeige vorgenommen hat?“

„Ja, aber nur den Nachnamen. Und von dem gibt es einige in Hamburg. Das habe ich schon geprüft.“ Lissy zog ihren altmodischen Notizblock heraus und blätterte durch die Seiten. Emma rollte derweil die Augen, ging zu ihrer Sporttasche und zog ihr schimmerndes Smartphone daraus hervor.

„Wissing, Wimming ... irgendwie so“, nuschelte Lissy in sich hinein, noch immer auf der Suche nach dem Namen in ihrem Notizheft.

„Weberling?“, unterbrach Emma Lissys Mühen und hielt ihr das Handydisplay hin.

„Ja, ganz genau!“, entfuhr es der Kommissarin. Mit großen Augen starrte sie auf das Foto. „Das könnte er sein. Wie hast du ...“

Emma zog das Gerät zurück und scrollte sich durch den Webbrowser. „Professor Doktor Weberling lehrt an der Universität Hamburg. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Ägyptologie im Fachbereich Geschichte.“

Lissy verzog irritiert das Gesicht. „Wenn das wirklich der ist, der den Einbruch angezeigt hat, und das ist trotzdem immer noch ein ziemlich großes ‘Wenn’... Warum sollte jemand in das Büro eines Ägyptologen einbrechen? Die werden ja wohl kaum irgendwelche Schätze darin aufbewahren, oder?“

Emma presste die Lippen aufeinander. „Das weißt du nicht. Der Ring, auf den man es bei mir abgesehen hatte, lag schließlich auch nicht in einer Schatzkiste auf dem Meeresgrund.“

Lissy neigte anerkennend den Kopf. „Sondern zwischen altem Spielzeug im Haus deiner Eltern.“

Bei dem letzten Wort fuhr Emma schreckhaft auf, fasste sich mit den Händen ins Gesicht und prüfte nochmals panisch das Display ihres Handys. Als sie die Flut an Nachrichten sah, die während des Trainings auf ihrem stummgeschalteten Gerät eingegangen war, blieb ihr die Luft weg. „Eltern!“, stöhnte sie entsetzt auf. „Meine Eltern!“

Lissy rückte irritiert von ihr ab. „Eltern? Sag bloß, dieser Weberling ist auch mit dir verwandt?“

Emmas Augen blitzten verärgert auf. „Nein!“, erwiderte sie hastig. „Ich habe meine Eltern vergessen. Meine Mutter hat heute Geburtstag!“

„Und du bist eingeladen?“, gab Lissy schnippisch zurück. „Bist du nicht mehr oder weniger ...“, sie suchte nach dem richtigen Wort, „... verbannt?“

In Windeseile schob Emma ihre Sachen in die Sporttasche. „Das war ich“, gab sie zurück. „Aber seit Weihnachten, seit dieser Sache ... ach egal! Sie haben mich jedenfalls eingeladen und ich müsste jetzt in diesem Moment dort sein.“

Lissy beäugte Emma skeptisch dabei, wie sie sich ihre perfekt sitzende Trainingsjacke über die Schultern schob. „Wo ist das Problem? Sag ihnen einfach, dass du noch länger arbeiten musstest. Ganz falsch ist das schließlich nicht.“

Geräuschvoll schloss Emma den Reißverschluss ihrer Jacke. „Das Problem ist, sie haben mich nicht allein eingeladen. Ich bin in Begleitung angekündigt.“

Bei diesen Worten musste Lissy breit grinsen. Die Schadenfreude stand ihr ins Gesicht geschrieben „Und er ist pünktlich wie immer?“

Emma rief eine der vielen Nachrichten auf, die auf ihrem Handy eingegangen waren. Sie lautete: „Ich bin angekommen. WO BIST DU???“ Sie nickte Lissy verdrossen zu. „Er ist seit mindestens einer halben Stunde da.“

Kapitel3

Marcus

Kriminalhauptkommissar Marcus Winter wusste nicht, ob er sich jemals so unwohl gefühlt hatte. Der einzelne Schweißtropfen, der sich mit quälender Langsamkeit seinen Nacken hinunter arbeitete, erinnerte ihn auf schmerzhafte Weise daran, dass sein weißes Hemd wahrscheinlich längst durchgeschwitzt war.

„Bin ich Ihnen mit der Frage zu nahe getreten?“, erklang Konrad Graf von Meerbloms Stimme und Marcus wusste auch ohne aufzusehen, dass der stattliche, grauhaarige Notar ihn keine Sekunde lang aus den Augen ließ.

„Nein!“, log er schnell und schüttelte hektisch den Kopf. „Alles in Ordnung.“

Er lächelte schwach, schob die Finger ineinander und wünschte sich sehnlichst ein Glas herbei, das er umklammern konnte. Dabei war er sich bewusst, dass jede Regung in seinem Gesicht, jeder Blickkontakt, jeder Atemzug beobachtet, bewertet und mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit missbilligt wurde.

„Und?“, fügte Meerblom hinzu.

Marcus holte tief Luft, hob die Augenbrauen und starrte Emmas Vater verwundert an. Erst da fiel ihm ein, dass er dessen Frage noch immer nicht beantwortet hatte.

„Wie alt waren Sie?“, hakte Meerblom nochmals nach, offenkundig entschlossen, eine Antwort von Marcus zu erhalten.

„Ich war zwölf, als meine Mutter gestorben ist“, antwortete Marcus schließlich und senkte den Blick. Ein ungutes Gefühl breitete sich in seiner Magengrube aus. Normalerweise machte es ihm nichts aus, anderen davon zu erzählen, dass seine Mutter an Krebs erkrankt war, kurz nachdem er das erste Jahr auf dem Gymnasium abgeschlossen hatte. Doch unter den wachsamen Augen von Konrad und Constanze von Meerblom kam die ganze Wucht jener Zeit, in der seine unschuldige Kinderwelt so endgültig durch den Tod seiner Mutter auseinandergebrochen war, wieder zu ihm zurück.

„Und seitdem hat Ihre Tante sich um Sie gekümmert?“ Meerbloms Frage war eigentlich eine Feststellung. Er schien bereits bestens über den Mann im Bilde zu sein, der seit einigen Monaten regelmäßigen Kontakt zu seiner Tochter pflegte. Nichtsdestotrotz oder vermutlich genau deshalb hatte der Graf es sich offenbar zur Aufgabe gemacht, Marcus auszufragen, als bewerbe sich dieser gerade um das höchste Amt im Staat.

„Was ist denn mit Ihrem Vater?“, mischte sich jetzt Constanze von Meerblom ein, als sie ihm gerade das Bier reichte, das sie unter Inkaufnahme des zusätzlichen Aufwandes im Keller des Hauses für ihn gesucht und glücklicherweise gefunden hatte. Dabei hatte sie es sich nicht nehmen lassen, irritiert zu lächeln, als Marcus den Wein abgelehnt und erklärt hatte, diesen eigentlich nie zu trinken.

Marcus nahm sein Getränk entgegen ohne aufzusehen. Stattdessen rutschte er auf dem steifen Sofa mit den edlen Stickereien herum, auf dem man ihn im Salon der Blankeneser Villa platziert hatte und versuchte, seinen Rücken noch gerader zu strecken.

„Den kenne ich gar nicht“, sagte er leise und nahm einen viel zu großen Schluck von seinem Bier.

Die betretene Stille, die sich über den Raum senkte, gab Marcus endgültig das Gefühl, vollkommen deplatziert zu sein. Dass Emma tatsächlich die Tochter von Constanze und Konrad von Meerblom sein sollte, kam ihm von Sekunde zu Sekunde widersprüchlicher vor. Emma besaß eine Art an sich, die anderen Menschen stets das Gefühl gab, gesehen und respektiert zu werden. Vielleicht gerade weil sie Richterin war, entschied sie nicht vorschnell, hörte aufmerksam zu und vermittelte einem nie das Gefühl, etwas Falsches gesagt zu haben – selbst wenn man es tatsächlich getan hatte. Und obwohl ihre Eltern ihm nahezu die gleichen Fragen stellten wie Emma damals, fühlte es sich nun so an, als säße Marcus auf der Anklagebank. Emma ließ sich für ihre Urteile Zeit. Bei ihren Eltern bestand hingegen kein Zweifel daran, dass sie sich bereits eines über ihn gebildet hatten, bevor er auch nur das erste Mal den Mund geöffnet hatte.

„Sie haben ihn nie getroffen?“, fragte Emmas Mutter ungläubig.

Nun sah Marcus zu ihr auf und musterte sie. Die optische Ähnlichkeit zu ihrer Tochter war nicht zu übersehen. Constanze von Meerblom sah mit ihren langen blonden Haaren und den hellen grünen Augen auf den ersten Blick aus wie eine ältere Version von Emma. Doch der misstrauische Ausdruck in ihrem Gesicht blieb Marcus ganz und gar fremd.

„Haben Sie ihn denn nie gesucht? Es kann doch nicht so schwierig sein, den eigenen Vater zu ermitteln. Jedenfalls nicht heutzutage.“

„Hat er Ihrer Mutter denn Geld gezahlt? Und auch Ihrer Tante schuldet er Unterhalt dafür, dass Sie bei ihr leben durften“, schaltete sich jetzt Emmas Vater wieder ein.

„War er denn damit überhaupt einverstanden? Gab es einen Streit ums Sorgerecht?“

Konrad von Meerblom schüttelte angesichts der Fragen seiner Frau den Kopf. „Wenn die Mutter das alleinige Sorgerecht besessen und es an ihre Schwester übertragen hat ...“

„Er lebt in Stade.“ Marcus erschrak selbst über die Schärfe, mit der er das Gespräch der beiden unterbrach. Er wusste selbst nicht, wie sie es geschafft hatten, ihn aus einer Unterhaltung auszuschließen, in der es um ihn und seine Familie ging. „Ich kenne seinen Namen, seine Adresse, seinen Beruf. Aber ich habe ihn nie getroffen und niemals mit ihm gesprochen.“

Das Schweigen von Emmas Eltern, das Marcus sich erkämpft hatte, währte nur kurz.

„Stade?“, murmelte Constanze von Meerblom. „Aber das ist ja gerade einmal ...“

„... eine Stunde von Hamburg entfernt“, ging Marcus barsch dazwischen. „Von hier aus sogar nur eine halbe Stunde, wenn man es auf die andere Seite der Elbe schafft.“ Er deutete zum Fenster, durch das man bei Tageslicht einen exklusiven Blick auf den breiten Fluss haben musste. Heute Abend aber konnte man durch das Glas nur die trübe Dunkelheit der Nacht erkennen.

Dieses Mal erwies sich das Schweigen als nachhaltiger. Marcus bemerkte aus dem Augenwinkel die entsetzten Blicke, die Emmas Eltern miteinander tauschten. Es kümmerte ihn nicht, dass er vermutlich gerade gegen eine Vielzahl von Benimmregeln verstieß. Die beiden hatten es geschafft, ihn binnen weniger Minuten daran zu erinnern, wie schmerzhaft der Verlust seiner Mutter auf ihm lastete und wie grausam es sich anfühlte, dass sein eigener Vater nicht einmal zu ihrer Beerdigung gekommen war. Allmählich verstand Marcus, weshalb Emma ihn angefleht hatte, sie nicht allein hierherkommen zu lassen und sie heute Abend zu begleiten. Allerdings war er pünktlich hier gewesen, während sie sich mittlerweile seit fast einer Stunde verspätete. Emma, dachte er stumm. Wo bist du?

Als hätte der Himmel seine Stoßgebete erhört, öffnete sich in diesem Moment die Tür und eine schlanke Gestalt in einem roten Mantel erschien. Ohne nachzudenken schoss Marcus in die Höhe. Auch Konrad und Constanze von Meerblom erhoben sich, um ihre Tochter zu begrüßen.

„Emma!“, rief Marcus und spürte wie bei ihrem Anblick erleichtert alle Spannung aus ihm wich.

„Entschuldigt bitte die Verspätung!“, keuchte Emma und streifte sich den Schal und Designer-Mantel von den Schultern, um ihn der Haushälterin zu reichen, die hinter ihr in der Tür auftauchte. Unter dem roten Stoff kam ein schlichtes schwarzes Kleid zum Vorschein, das Emma mit einer feinen Strumpfhose und Stiefeln kombinierte, von denen Marcus sicher war, dass sie mehr kosteten, als er im Monat verdiente. Sie sah atemberaubend aus und Marcus spürte ein angenehmes Ziehen in seiner Bauchhöhle. Ihre Schönheit war aber nicht alles, was Marcus auffiel. Obwohl Emma wie immer extravagant gekleidet war, wirkte sie seltsam unaufgeräumt und derangiert, was nichts damit zu tun hatte, dass sie sich offensichtlich abgehetzt haben musste.

Auch Constanze von Meerblom entging das nicht. „Kommst du etwa vom Sport?“, wollte sie entgeistert wissen. Marcus staunte nicht schlecht. So eine gute Auffassungsgabe hätte er der Gräfin nicht zugetraut. Doch Emmas Mutter deutete zielsicher auf die glänzende Schweißschicht über den offensichtlich gut durchbluteten Armmuskeln ihrer Tochter.

Emma wurde rot und schüttelte den Kopf. Sie öffnete gerade den Mund, um sich zu rechtfertigen, doch ihre Mutter kam ihr zuvor. „Und du hast nicht einmal geduscht, bevor du hergekommen bist?“

Emma warf Marcus einen schnellen Blick zu. „Nein“, sagte sie schließlich und stellte sich neben ihn. „Ich musste noch ... Es tut mir wirklich sehr leid, aber ...“

Wieder kam sie nicht dazu, ihren Satz zu beenden. Ihr Vater trat zu ihr und reichte ihr ohne jede Begrüßung ein Glas mit Wein. „Alles in Ordnung im Büro?“, wollte er ohne Umschweife wissen, klang dabei jedoch nicht ganz so missbilligend wie seine Frau.

Dankbar nahm Emma das Weinglas entgegen und lächelte gequält. „Eilantrag gegen eine Abschiebung. Kam heute Abend rein. Die Leute saßen schon im Flieger. Das konnte leider nicht warten.“

Damit wandte sie sich endlich Marcus zu, griff unvermittelt nach seiner Hand und drückte sie. Ein warmer Schauer fuhr über seine Haut. Er erwiderte den Händedruck und verlor sich für einen Augenblick in ihren ebenmäßigen Zügen und dem zarten Lächeln auf ihren Lippen. Dabei erkannte er etwas in ihrem Gesicht, das nicht zu passen schien.

„Und deswegen lässt du uns hier warten? Das Essen wird kalt!“, tadelte ihre Mutter und gab ihr nun zur Begrüßung noch zwei formvollendete Küsschen auf die Wange.

„Da hat sie keine Wahl!“, verteidigte sie Emmas Vater und schob seine Frau in Richtung des Esszimmers. „Bei der Personalknappheit und Ausstattung der Gerichte kommt es bei diesen Entscheidungen auf jede Minute an“, fügte er gönnerhaft hinzu.

Emma wollte ihren Eltern gerade widerwillig folgen, als Marcus sie festhielt. Skeptisch musterte er sie. „Ist alles in Ordnung? Warst du wirklich noch im Büro?“, flüsterte er ihr zu.

Emma benötigte eine Spur zu lange, um auf diese Frage zu antworten. „Ja! Natürlich! Wo sollte ich sonst gewesen sein?“

Sie neigte den Kopf, sah ihm noch einmal tief in die Augen. Auch wenn sie sich sichtlich Mühe gab, es zu kaschieren, entging Marcus die Unruhe in ihrem Blick ebenso wenig wie die Schatten unter ihren Augen oder die Abdrücke der Boxbandagen um ihre Handgelenke. Er sagte aber nichts, sondern folgte Emma stattdessen in das Esszimmer ihres Elternhauses. Er würde sich bis nach der Mahlzeit gedulden müssen, um mit Emma allein zu sprechen. Dann würde sie ihm hoffentlich erklären, weshalb sie gerade log wie gedruckt.

Kapitel4

Aleksander

Professor Weberling?“

Aleksander hob neugierig den Kopf, vergegenwärtigte sich gedanklich des geschäftigen Cafés, in dem er saß und setzte sein breitestes Lächeln auf. Seine Mundwinkel spannten unangenehm. Er konnte sich nicht erinnern, wann er das letzte Mal einem anderen Menschen Freundlichkeit vorgespielt hatte.

„Ja?“, sagte er, legte die Zeitung beiseite, in der er zu lesen vorgegeben hatte und erhob sich zuvorkommend. Anschließend wandte er sich der Person zu, die ihn in makellosem Deutsch angesprochen hatte.

„Professorin Khaleel, nehme ich an?“

Die Frau, die Aleksander gerade einmal bis zur Brust reichte, besaß einen überraschend festen Händedruck. Selbstbewusst sah sie zu Aleksander hinauf und hielt anders als die meisten seinem Blick stand, ohne auch nur den Anschein von Verunsicherung zu erwecken. Das Lächeln auf Aleksanders Lippen verlor ein wenig von seiner Aufgesetztheit. Jasmin Khaleels Körper war eher klein und üppig, wirkte aber athletisch und sehr wohlgeformt. Sie besaß volles langes Haar, das ihr in einem eleganten Zopf über die Schultern fiel, und ausdrucksstarke, fast schwarze Augen. Dass sie angesichts der lockeren Kleidung, die sie trug, ihrer offensichtlichen Schönheit wenig Bedeutung zumaß, tat ihrer Wirkung auf Aleksander keinen Abbruch. Mit jeder Faser ihrer Erscheinung strahlte sie Selbstbewusstsein, Scharfsinn und überragendes Wissen aus.

„Sie sehen anders aus, als ich Sie mir vorgestellt habe.“

„Das kann ich nur zurückgeben“, erwiderte Aleksander und ließ die Hand von Prof. Khaleel los.

Die Frau legte kokett den Kopf schief und musterte Aleksander ungeniert von oben bis unten. „Ich hoffe doch, Sie sind nicht enttäuscht“, erklärte sie lächelnd, nachdem ihre Augen zu Aleksanders Gesicht zurückgekehrt waren.

„Nicht, wenn Sie es nicht sind“, murmelte dieser amüsiert und widerstand dem Drang, sich durch die Haare zu fahren, die nun dank künstlicher Farbe gräulich schimmerten.

„Ganz und gar nicht, Professor“, gab Prof. Khaleel fröhlich zurück. Für einen Moment verharrte sie, schaute ihn an und Aleksander kam es fast vor, als bewegte sich die Welt langsamer um sie herum. Er konnte gar nicht anders, als die Frau vor sich anzustarren.

„Darf ich Ihnen Amun vorstellen?“ Der Augenblick wurde vehement unterbrochen, als ein Mann plötzlich hinter Jasmin Khaleel auftauchte. Er schob sich ein Stückchen vor sie, sodass Aleksander den Kopf wieder heben musste. Der Mann war mindestens so groß wie er, breitschultrig und äußerst kräftig gebaut. Dunkle Locken rahmten ein Gesicht mit einer breiten Nase und tiefliegenden Augen ein, die in einem eigenartigen Grün schimmerten und vor Misstrauen nur so sprühten.

Aleksander spannte sich ungewollt an, als er dem Mann die Hand reichte. Auch ohne eine Vorstellung wusste Aleksander genau, mit wem er es zu tun hatte. Er konnte nicht behaupten, dass ihn diese Begegnung freute.

„Amun?“, fragte er unbeirrt charmant. „Ein großer Name, den man Ihnen da gegeben hat.“

Anstatt des Mannes war es Jasmin Khaleel, die darauf antwortete. „Amun stammt aus einem der ältesten Beduinenvölker Ägyptens. Dort besitzen die alten Götter noch einen festen Platz im Leben der Menschen.“

Aleksander entging nicht, wie ehrfürchtig Jasmin Khaleel von den Göttern des antiken Ägyptens sprach. Sie klang fast, als redete sie über eine noch immer lebendige Religion. Allerdings war dies bei einer der führenden Expertinnen für die altägyptische Mythologie alles andere als erstaunlich.

„Amun ist mein Assistent und meine rechte Hand. Sie müssen ihn entschuldigen. Anders als ich hat er Deutsch vor allem bei den letzten Grabungen gelernt und versteht es besser, als es selbst zu sprechen. Ohne ihn säßen wir beide allerdings wohl nicht hier“, fuhr Prof. Khaleel fort. „Er war derjenige, der entdeckt hat, dass sich Ihr jüngstes Papier geradezu wie ein Mosaikstein in unsere aktuelle Forschung einfügt. Er hat die Puzzleteile quasi zusammengesetzt.“

Aleksander nickte und wandte sich Jasmin zu – allerdings nicht ohne Amun einen vielsagenden Blick zuzuwerfen. „Dann kann ich mich ja glücklich schätzen, dass er uns zusammengebracht hat“, erklärte er und deutete auf zwei Stühle.

Die beiden Ankömmlinge nahmen Platz und bestellten sich sogleich ihre Getränke. Währenddessen ließ Amun Aleksander nicht eine Sekunde lang aus den Augen. Der wiederum vermied jeden Blickkontakt zu dem grimmigen Ägypter.

Prof. Khaleel stellte ihre Tasche neben dem Stuhl ab und zog einen schmalen Tablet-Computer daraus hervor. Nachdem sie einige Sekunden konzentriert auf der Glasoberfläche herumgewischt hatte, drehte sie Aleksander den Bildschirm zu.

„Was sagen Sie dazu, Professor?“

Aleksander ließ sich nicht anmerken, dass sich sein Puls bei dieser Frage beschleunigte. Stattdessen musterte er konzentriert die Vergrößerung eines altägyptischen Reliefs, das das seltsam verformte Gesicht eines Pharaos zeigte, dem eine freischwebende Hand ein Kreuz mit einem Henkel an die Lippen drückte. Er durchwühlte gerade hektisch seinen Verstand nach allem, was er in den vergangenen Tagen über das alte Ägypten und Weberlings Forschung erfahren hatte, als dankenswerterweise die Bedienung kam und die bestellten Getränke brachte.

„Sie entschuldigen“, erklärte er lächelnd und nahm einen ausgiebigen Schluck. „An diese Temperaturen bin ich nicht gewöhnt.“ Damit deutete er auf den tiefblauen Himmel, an dem hoch oben die Mittagssonne stand, deren Strahlen unerbittlich auf die Erde brannten.

Jasmin Khaleel tauschte einen schnellen Blick mit Amun und flüsterte etwas, von dem Aleksander sicher war, dass es „die Deutschen“ bedeutete.

„Auf diesem Relief kann man eindeutig Pharao Echnaton erkennen“, begann Jasmin Khaleel ihre Ausführungen, ohne dass Aleksander etwas sagen musste. „Es ist der Gott Aton, der ihm das Symbol für das ewige Leben spendet.“

Diese wenigen Stichworte genügten Aleksander, um mithilfe seines Halbwissens in das Gespräch einzusteigen. „Der Pharao, der den alten Göttern abschwor und einen einzigen Gott verehrte. Der Ketzerkönig, der nach dem Willen seiner Nachfolger aus den Geschichtsbüchern verschwinden sollte.“ Bei diesen Worten warf er Amun einen langen Blick zu, dessen Miene jedoch völlig ausdruckslos blieb.

„Das ist er ja auch fast. Sie selbst haben ja in Ihrem Papier noch mehr Beweise dafür geliefert, wie Ramses II. den vermeintlichen Gotteslästerer für immer aus dem Gedächtnis seines Volkes radieren wollte.“

Aleksander erinnerte sich, darüber etwas in Weberlings Aufzeichnungen gelesen zu haben, die er vor diesem Treffen in aller Eile studiert hatte. „Wenn ich das richtig sehe, ist ihm das ja auch gelungen. Es gibt nur noch wenige Zeugnisse von Echnatons Herrschaft, seiner Frau Nofretete und seinen Töchtern. So viel zu dem ewigen Leben, das ihnen die heilige Sonnenscheibe gespendet haben soll.“

Als er sich selbstzufrieden zurücklehnte, entdeckte er das Glitzern in Jasmin Khaleels Augen. Einer ihrer Mundwinkel hob sich und sie taxierte Aleksander unverhohlen. „Interessant, dass Sie es so ausdrücken.“

Die Pause, die folgte, war lang und bedeutungsschwer. Jasmin Khaleel sah Aleksander an, als wollte sie ihm allein mit ihren Blicken etwas mitteilen. Er wiederum suchte in ihren Augen nach einem Hinweis darauf, ob sie an dasselbe dachte wie er.

Erst Amuns ungeduldiges Räuspern veranlasste seine Chefin fortzufahren. „Ramses ist es fast gelungen, Echnaton aus den Erinnerungen seines Volkes zu streichen. Doch auch er konnte nicht alles beseitigen, was Echnaton und Nofretete hinterlassen hatten. Auch nach seinem Tod gab es in Ägypten Menschen, die Aton als einzigen Gott verehrten und Amun, Osiris und die anderen ablehnten.“

Aleksander hob die Augenbrauen und musste sich erstaunlich wenig Mühe geben, interessiert zu wirken. „Ich spüre, dass Sie gleich zum Punkt kommen, Professorin.“

Nun hob sich auch Jasmin Khaleels zweiter Mundwinkel. „Wissen Sie, von wo diese Aufnahme stammt?“ Sie deutete auf ihr Tablet.

Aleksander schüttelte leicht den Kopf. Egal, was Jasmin Khaleel ihm nun für einen Ort nennen würde, er würde ihm vermutlich nichts sagen.

„In einem Grab in der Nähe von El-Alamein.“

Aleksander hörte an ihrem Tonfall, dass er nun vollkommen überrascht zu sein hatte. „El-Alamein? Wie bitte? So weit ...“

---ENDE DER LESEPROBE---