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Sie dachte immer, sterben sei einfach… … jetzt weiß sie es besser. Das Attentat hat die Richterin Emma Anders zwar überlebt, doch wer wollte ihren Tod? Und warum? Was hat sie verbrochen? Die Suche nach Antworten führt Emma zurück in den Schoß ihrer entfremdeten Familie, von der ein Mitglied nach dem anderen einem furchtbaren Geheimnis zum Opfer fällt. Nur allmählich wird klar, dass es den Tätern um ein legendäres Erbstück geht und um ein Verbrechen. Dabei ahnt Emma nicht, dass sie die Lösung zu allem in sich selbst trägt. Die Wahrheit liegt in ihrem Blut.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Die Blutrecht-Reihe
Für Edmund
Es geht los.
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Nun aber los. Worauf wartest du?
SIE DACHTE IMMER, sterben sei einfach. Jetzt weiß sie es besser.
Die raue Hand schließt sich um ihren Hals und lässt keine Luft mehr in ihre Lungen. In ihren Ohren rauscht es, als ihr Peiniger vor Anstrengung nach Luft schnappt. Seine Lippen sind ihrem Gesicht so nah, dass sie seinen warmen Speichel auf ihrer Haut spürt. Der beißende Gestank nach Alkohol und Fäulnis raubt ihr fast den Verstand.
Es wäre so einfach. Sie müsste nur still halten und sich ergeben. Binnen weniger Augenblicke wäre alles vorbei. Der Sauerstoffmangel würde ihr das Bewusstsein rauben und sie müsste nie wieder aufwachen. Alles hätte ein Ende. Der Schmerz, die Trauer und die Verzweiflung würden endlich der Vergangenheit angehören. Sie wäre frei. Diese grenzenlose Erschöpfung, die jeden Tag in ihr lauert und nach ihr ruft, dürfte endlich gewinnen. Sie könnte loslassen. Es ist ganz leicht.
Doch bereits während sie jämmerlich keucht und sogar noch denkt, dass sie sich endlich ihrem Schicksal überlässt, übernimmt ihr Instinkt ihre Handlungen. Es geht alles ganz schnell – so schnell, dass sie glaubt, sich bereits im nächsten Augenblick umringt von Polizisten wiederzufinden. Vor ihr streckt sich der leblose Körper eines Mannes aus.
Frau Dr. Anders?
Emma hörte die Stimme, die immerzu ihren Namen rief. Sie entschied sich aber, nicht zu reagieren. Sie wollte nicht wegsehen oder sich von dem abwenden, was vor ihr lag – von dem, was sie getan hatte.
„Frau Dr. Anders!“
Ein sanfter Druck auf ihrer Schulter ließ sie zusammenzucken. Instinktiv riss sie die Arme hoch und wich hastig einen Schritt zur Seite.
„Fassen Sie mich …“, wollte sie rufen, doch ihre Stimme erstarb, bevor sie den Satz beenden konnte. Sie erschrak, wie heiser und rau sie klang. Erst jetzt wurde ihr bewusst, dass sie hastig nach Luft schnappte. Ihre Lungen schmerzten vor Kälte.
„Entschuldigen Sie bitte.“ Der Beamte in Zivil machte einen vorsichtigen Schritt auf sie zu und hielt beide Hände geöffnet vor seiner Brust, sodass Emma sie sehen konnte. Sie waren bis auf die Handschuhe und den Dienstausweis, den er hochhielt, leer.
„Sie sind außer Gefahr. Es ist alles gut.“
Endlich sah Emma auf und blickte dem jungen Polizisten ins Gesicht. Das blaue Licht der Polizeiwagen tanzte auf seinen Zügen und verlieh ihnen etwas Gespenstisches. Der Ausdruck in seinen dunklen Augen war eine merkwürdige Mischung aus Anteilnahme und Entsetzen.
„Was …“ Emma setzte erneut an, etwas zu sagen, doch wieder brachte sie nur ein Krächzen zustande. Sie versuchte sich zu räuspern, aber da fiel ihr der scharfe Schmerz in ihrem Hals auf. Nur mit Mühe gelang es ihr zu schlucken.
„Sie sollten jetzt nicht sprechen!“, ertönte eine andere Stimme. Weiblich. Sie kam von hinten.
Erschrocken wandte Emma sich um und entdeckte die Frau in der Uniform einer Notfallsanitäterin, die sich ihnen mit einem Koffer näherte.
Emma schloss den Mund und zwang sich durch die Nase Luft zu holen, doch ihre Atemzüge blieben kurz und unregelmäßig. Sie fühlte sich, als kämpfe sie gegen das Ersticken an. Ihr Herz hämmerte gegen ihre Rippen.
Ohne jede Hemmung trat die Sanitäterin an Emma heran, fasste ihr unters Kinn und begutachtete ihren Hals. Emma ließ es über sich ergehen, während ihr Blick wie von selbst zur Seite wanderte. Der Mann lag noch immer regungslos da.
„Schauen Sie mich bitte an!“, befahl die Sanitäterin, während sich weiße Wolken um ihren Mund bildeten.
Emma reagierte wieder nicht. Wie hypnotisiert nahm sie den Anblick des Mannes in sich auf. Sein Gesicht war ihrem abgewandt und ein weiterer Notfallsanitäter versperrte ihr die Sicht. Dennoch entdeckte sie das Blut, das sich langsam über den kalten Beton der Tiefgarage ausbreitete.
„Nicht hinsehen!“ Emma schrak auf, als die Sanitäterin ihr Gesicht umfasste und es nun grob drehte. Schnaufend erwiderte Emma den Blick der jungen Frau.
„Konzentrieren Sie sich allein auf mich.“
Emma gehorchte nur widerwillig. Sie hielt vollkommen still, während die Frau ihr mit einer Lampe in beide Pupillen leuchtete und Emma anschließend bedeutete, ihrem Finger mit dem Blick zu folgen. Währenddessen lauschte sie den vielen anderen Stimmen um sie herum.
„Ich brauche hier sofort noch ein paar Hände!“
„KTW ist gleich hier!“
„Schweres Schädelhirntrauma. Keine Pupillenreaktion.“
Emma registrierte nur mit Mühe, dass man nicht von ihr sprach.
Gerade wollte sie zu einem neuen Versuch ansetzen, etwas zu sagen, als der zivile Beamte neben die Sanitäterin trat und einen ernsten Blick mit ihr tauschte.
„Sie steht unter Schock“, erklärte die junge Frau. Sie sprach, als könnte Emma sie gar nicht hören, als wäre sie gar nicht hier. „Zungenbein und Kehlkopf sehen aber gut aus. Sie scheint keine Brüche oder sonstigen Traumata zu haben. Aber sie muss in die Notaufnahme, um sicherzugehen.“
„Meinen Sie, wir können Sie heute noch vernehmen?“
Die Sanitäterin zuckte mit den Achseln. „Das wird ein Arzt entscheiden müssen.“
Der Polizist nickte verstehend und musterte Emma ausführlich. Die starrte ihn unverwandt an, ohne sich zu regen. Erst jetzt bemerkte sie die Kälte, die an ihr hochkroch.
„Bringen Sie sie von hier weg. Wir stoßen dann im Krankenhaus zu Ihnen.“
Ohne ein weiteres Wort trat der junge Polizist aus Emmas Sichtfeld. Die Sanitäterin legte ihr einen Arm um die Hüften und schob sie langsam in Richtung eines rotweißen Kombis mit grellem Blaulicht.
Doch Emma gelang es nicht, sich vom Anblick des schwer verletzten Mannes zu lösen. Sie kam gerade mal einen Schritt weit, bevor sie erneut innehielt und wie gebannt zu den Polizisten und Sanitätern starrte, die den leblosen Körper umringten. Er war groß und massig gebaut, seine Kleidung rabenschwarz. Noch immer konnte Emma nur seinen Hinterkopf sehen. Kurze Stoppel ragten aus dem glänzenden Blut hervor, das daran klebte. Schuld, dachte Emma benommen. Das ist meine Schuld. Das Gefühl breitete sich in ihr aus wie das Blut, in dem der Mann lag.
„Kommen Sie, bitte!“, drängte die junge Frau.
Emma rührte sich nicht. „Le…“, setzte sie an. Sie musste sich erst räuspern und schlucken, ehe sie einen hörbaren Satz zustande brachte. „Lebt er noch?“
Sie erntete einen verständnislosen Blick der Sanitäterin, die daraufhin jedoch kurz zu ihren hektischen Kollegen schaute, die den Mann auf eine Trage wuchteten. Einer von ihnen stopfte gerade rote, tropfende Bandagen in einen Beutel.
„Ja, er lebt noch.“
Emma hörte sich selbst lautstark ausatmen. Schwindel überkam sie. Sie hatte nicht gemerkt, dass sie den Atem angehalten hatte.
„Kommen Sie jetzt bitte, Frau Dr. Anders. Hier entlang.“
Emma leistete keinen Widerstand mehr. Sie richtete ihren Blick zu Boden, ließ sich auf die Rückbank eines Wagens bugsieren und schnallte sich wie in Trance an. Nur Sekunden später setzte sich das Auto in Bewegung und fuhr aus der Tiefgarage hinaus ins Freie.
Er lebt noch, schoss es ihr während der Fahrt immer wieder durch den Kopf. Er lebt noch. Emma wusste nicht, weshalb sie bei diesem Gedanken so zitterte. Vor Erleichterung? Oder Panik?
Er zog sich tiefer in die Schatten zurück. Seine Silhouette verschmolz mit der Finsternis, während er sich gegen die kalte Säule drückte. Dabei hafteten seine Augen unverändert an dem Geschehen, das sich einige Meter von ihm entfernt abspielte.
In der gesamten Tiefgarage wimmelte es mittlerweile nur so vor Polizei und Sanitätern. Beamte in Uniform riegelten einen Bereich großzügig mit Klebeband ab, während ihre Kollegen in Zivil dicht beieinander standen und hektische Worte miteinander wechselten. Dabei schauten sie angestrengt auf einen Punkt am Boden, an dem jetzt eine kleine Armee von Einsatzkräften hockte und wie wild einen Mann versorgte, der auf dem rauen Beton lag und noch immer blutete.
Seine Aufmerksamkeit galt aber nicht dem Verletzten. Der Kerl interessierte ihn nicht. Eigentlich sollte er beobachten, was nun mit ihm passierte. Vermutlich erwartete man von ihm, dass er später über den Verbleib des Mannes Bericht erstattete. Doch er konnte nicht. Ihn beschäftigte jemand anderes.
Wie gebannt starrte er zu der Frau mit dem langen blonden Haar und roten Mantel, die sich in diesem Augenblick mit vorsichtigen Schritten einem Notarztwagen näherte. Eine Sanitäterin hatte den Arm um sie gelegt und stützte sie, als wäre sie kaum in der Lage, allein zu gehen. Dabei vermutete er, dass die Frau nicht verletzt war. Sie zitterte. Doch selbst ihre unbeholfenen Bewegungen besaßen etwas Geschmeidiges und Kräftiges. Sie ist stark.
Als die blonde Frau auf der Rückbank des Wagens Platz nahm, schweifte ihr Blick in seine Richtung. Er rührte sich nicht von der Stelle, auch als sie ihn direkt anzusehen schien. Sie konnte ihn nicht sehen. Sein Puls beschleunigte sich dennoch, während sich eine Gänsehaut über seinem ganzen Körper ausbreitete. Eigentlich, nein, sogar ganz bestimmt dürfte es ihr nicht möglich sein, ihn in seinem Versteck zu entdecken. Auch für ihn war ihr Gesicht aus der Ferne kaum auszumachen. Und doch …
Erst als der Notarztwagen brausend aus der Tiefgarage fuhr, konnte er sich von ihrem Anblick lösen. Er schloss kurz die Augen, wie um sich aus einer Trance aufzuwecken und besann sich wieder auf das Geschehen vor ihm.
Der blutende Mann wurde in diesem Moment auf einer Trage weggeschoben. Ein Krankenwagen rollte die Rampe der Tiefgarage hinab. Kaum kam er zum Stehen, wurden die hinteren Türen geöffnet und weitere Sanitäter sprangen heraus, um den Mann hineinzurollen.
Er holte tief Luft und überprüfte auf seinem Smartphone, wo sich genau das nächste Krankenhaus befand. Als er den Kopf wieder hob, sah er, wie einige Schutzpolizisten damit begannen, mit Taschenlampen die umherstehenden Fahrzeuge auszuleuchten auf der Suche nach Insassen. Ihr seid zu spät. Nahezu geräuschlos huschte er die Säulen entlang und eilte durch die Lücken zwischen den parkenden Autos. Lange bevor die Lichtkegel der Taschenlampen auch nur in seine Nähe kamen, trat er bereits durch eine Notausgangstür und Sekunden später hinaus in die eisige Luft der Hansestadt.
Kriminalhauptkommissar Marcus Winter starrte dem Krankenwagen nach, als dieser die steile Auffahrt zurück in die Oberwelt fuhr. Durch die kleinen Fenster auf der Rückseite konnte er noch sehen, wie sich die Sanitäter hektisch über den Mann beugten.
„Kommt er durch?“, wollte eine finstere Stimme in einem barschen Tonfall wissen.
Marcus hob die Schultern und drehte sich langsam zu seiner Kollegin um, die in diesem Moment zu ihm trat. Elisabeth Wolf, von allen nur Lissy genannt, schob ernst die Hände in die Taschen ihres Parkas. Weißer Nebel umspielte ihre Lippen.
„Die Ärzte wollten noch keine Prognose abgeben. Sie können nicht sagen, ob er noch einmal aufwacht oder nicht.“
„Mist“, fluchte Lissy leise und presste die Lippen aufeinander. „Das heißt, mit einer baldigen Vernehmung können wir erst einmal nicht rechnen.“
Marcus beobachtete aufmerksam wie sich Lissys stechende Augen zu schmalen Schlitzen verengten. Trotz ihres mädchenhaften Namens war Winters Partnerin eine in jeder Hinsicht ernstzunehmende Erscheinung. Sie war hochgewachsen, durchtrainiert und trug das graue Haar raspelkurz. In ihrem markanten, wenn auch nicht unattraktivem Gesicht ließen sich die vielen Jahre bei der Hamburger Kriminalpolizei ablesen, die sie Winter voraus hatte. Nie standen ihre großen klugen Augen still, nie entging ihnen etwas.
„Ich schätze, wir müssen uns erst an die Frau halten“, stimmte Marcus ihr zu.
„Die Überwachungskameras?“, wollte Lissy wissen.
„Ich habe veranlasst, dass wir die Dateien bekommen. Allerdings gibt es nur welche bei der Auffahrt und den Kassenautomaten. Gut möglich, dass unser Täter auf den Aufnahmen nicht zu sehen sein wird.“
„Hast du schon eine Liste mit Zeugen erstellt?“
Marcus verkniff sich den Kommentar, der ihm angesichts Lissys lehrhaftem Tonfall auf der Zunge lag. „Es gab eigentlich niemanden, der etwas gesehen hat. Das Opfer war wohl eine der letzten im Büro. Nur einer der Wachtmeister hat mitbekommen, wie sie gegen 20 Uhr allein durch den Personaleingang zu den Fahrstühlen gegangen ist. Er konnte mir auch sagen, wie sie heißt.“
Marcus blätterte sich gerade durch sein winziges Notizbuch, um den Namen, den er aufgeschrieben hatte, herauszusuchen, als Lissy seinen Satz vollendete: „Emma Anders.“
Erstaunt sah Marcus auf. „Ja“, sagte er zögernd. „Dr. Emma Anders.“
Lissy sah ihn nicht an, während sie weitersprach. „Sie ist Richterin hier am Verwaltungsgericht Wandsbek. Zuständig für Polizeirecht und Gefahrenabwehr.“
Marcus war verwirrt. „Kennst du sie etwa?“, fragte er schnell.
Lissy ging nicht auf seine Frage ein. Ihre Augen suchten unverändert die Umgebung ab. Sie blieben an der Blutlache auf dem Boden hängen. Noch glänzte die rote Flüssigkeit grell im Schein der Parkhausbeleuchtung. Es sah seltsam surreal auf dem grauen Beton aus. „Wir müssen mit ihr sprechen. Noch heute.“
Marcus sah prüfend auf sein Handgelenk. Die schlichte Digitaluhr zeigte fast 21 Uhr an, woraufhin er den Kopf schüttelte. „Sie ist gerade erst ins Krankenhaus gebracht worden. Ich glaube nicht …“
„Noch heute!“ Lissy fixierte ihn mit ihren stechenden Augen. Unwillkürlich wich Marcus einen Schritt zurück.
„Hat das nicht Zeit bis morgen?“, protestierte er vorsichtig.
Lissy hob einen Mundwinkel. „Die Erinnerungen von Zeugen sind direkt nach der Tat am präzisesten. Bereits eine Nacht Schlaf kann wichtige Details aus dem Gedächtnis löschen. Das gilt insbesondere nach traumatischen Erlebnissen.“
Marcus schluckte. Die Worte seiner Partnerin ergaben vielleicht Sinn und entsprachen dem Protokoll. Dennoch kam es ihm unmenschlich vor, eine Frau, die gerade einen Angriff überstanden hatte, nach den grausamen Details zu fragen, ohne ihr wenigstens ein wenig Ruhe zu gönnen.
„Aber brauchen wir hier wirklich jedes Detail?“, versuchte er sich diplomatisch. „Der Fall ist doch klar, oder? Das Opfer wollte nach der Arbeit zu seinem Auto gehen, der Kerl hat ihr aufgelauert, sie überfallen und sie hat sich gewehrt. Ende der Geschichte.“
Lissy trat einen Schritt zurück und verschränkte die Arme. „Das denkst du?“
Marcus ließ sich alle bisherigen Fakten noch einmal durch den Kopf gehen. Etwas anderes kam ihm nicht in den Sinn.
„Warum hat er sie angegriffen?“, fragte Lissy suggestiv.
Marcus spürte, dass ihm warm wurde. „Naja, weil …“, setzte er an, doch seine Partnerin ließ ihn nicht ausreden.
„Der Kerl wollte weder ihr Geld noch etwas anderes von ihr. Sonst hätte er sie nicht direkt am Hals gepackt und gewürgt.“
Marcus verstand. „Willst du damit sagen, dass er sie …“
„Außerdem hat er ihr ausgerechnet hier aufgelauert, in der Tiefgarage eines Gerichts. Das ist ein öffentliches Gebäude mit Wachschutz. Warum hier?“
„Weil er genau wusste, dass er sie hier unten alleine antreffen würde“, spann Marcus den Gedanken weiter.
Jetzt lächelte Lissy. Sie sah aus wie eine Lehrerin, deren Schüler endlich eine Gleichung gelöst hatte. „Emma Anders arbeitet gerne spät abends. Sie ist oft die Letzte, die das Gericht verlässt. Unser Täter wusste das. Das bedeutet entweder, dass er sie über einen längeren Zeitraum beobachtet hat, oder …“
„…, dass er sie kannte“, stieg Marcus ein. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Das war ein geplanter Anschlag.“
Lissys Blick schweifte weiter durch die Tiefgarage. Die Sanitäter hatten den Tatort mittlerweile verlassen. Nur noch eine Handvoll Schutzpolizisten wanderte zwischen den Säulen umher. Marcus legte den Kopf schief.
„Woher weißt du das über sie? Dass sie gerne spät abends arbeitet, meine ich. Kennst du das Opfer?“
Lissy beäugte ihn wieder streng. „Das Opfer“, murmelte sie leise vor sich hin. Bevor Marcus aber darauf eingehen konnte, klingelte bereits ihr Telefon und Marcus erhaschte einen kurzen Blick auf die Nummer auf dem Display. „Was will denn der Chef von dir?“, fragte er, doch Lissy hob einen Zeigefinger und deutete auf das Telefon.
„Sorg dafür, dass wir Frau Anders gleich befragen können“, rief sie ihm noch zu, ehe sie den Anruf entgegennahm und sich von ihm wegdrehte.
Sie begab sich außer Hörweite. Marcus zog derweil sein eigenes Smartphone hervor, um herauszufinden, wohin man Emma Anders gebracht hatte, als ihm etwas ins Auge fiel. Er trat an eine der Betonsäulen heran und betrachtete den leuchtenden roten Fleck darauf. Blut. Hier war der Täter mit dem Kopf aufgeschlagen. Marcus musste kein Forensiker sein, um zu erkennen, mit welcher Wucht das geschehen sein musste. Der Mann würde vielleicht nie wieder aufwachen. Emma Anders hingegen war kaum sichtlich verletzt gewesen. Was ist hier passiert?, ging es ihm durch den Kopf. Und warum?
Oh Nein!“
Emma stöhnte leise auf, als die Tür aufgestoßen wurde. Sie hatte sich ihren roten Mantel gerade über die Schultern geschoben, da traten die beiden Gestalten mit ernsten Mienen und ohne zu klopfen durch die Tür. Dass es sich bei ihnen um Polizeibeamte in Zivil handelte, verriet bereits die dreiste Selbstverständlichkeit, mit der sie in Emmas Krankenzimmer eindrangen.
„Guten Abend, Frau Dr. Anders.“
Emma erwiderte den Gruß nicht, sondern schüttelte stattdessen ihr langes blondes Haar auf.
Eine große und kräftige Beamtin blieb verdutzt vor ihr stehen und tauschte einen verwirrten Blick mit ihrem Kollegen. Es war derselbe junge Polizist, dem Emma schon in der Tiefgarage begegnet war.
„Wollen Sie irgendwo hin?“, fragte die Frau.
Emma seufzte. „Ich möchte nach Hause. Ich bin eigentlich gerade dabei zu gehen.“ Noch immer schmerzte es sie, zu reden und ihre Stimme klang dünn. Die Ärzte hatten sie angewiesen, so wenig wie möglich zu sprechen. Emma ignorierte dies jedoch ebenso wie den dringenden Rat der Ärzte, wenigstens diese Nacht im Krankenhaus zu bleiben.
„Hat man Sie etwa schon entlassen? Sie sind gerade einmal vor zwei Stunden eingeliefert worden.“
Emma schloss die Knopfleiste ihres Mantels. Die goldenen Knöpfe mit der Aufschrift „Prada“ schimmerten im grellen Licht der Deckenleuchten. „Ich wurde auf eigenen Wunsch entlassen. Es gibt medizinisch keinen Grund, weshalb ich heute Nacht beobachtet werden müsste.“
Emma registrierte die erstaunte Stille, die auf ihre Worte folgte. Es war ihr egal. Sie war fest entschlossen, dieses Krankenhaus sowohl gegen ärztlichen Rat als auch gegen die Vernunft noch heute zu verlassen. In den grell beleuchteten Räumen hielt sie es kaum noch aus und ihr schwante, dass es nicht mehr lange dauern würde, bis sie ihre Fassung gänzlich verlor. Dann würde über sie nicht nur hereinbrechen, was an diesem Abend mit ihr geschehen war, sondern auch die Erinnerungen an ihren letzten Aufenthalt in dieser Klinik. Ihr blieben vielleicht nur noch Minuten, bis sie sich nicht mehr zusammenreißen konnte.
„Entschuldigen Sie mich.“ Mit diesen Worten schob Emma sich an den beiden Beamten vorbei in das kleine Badezimmer direkt neben der Eingangstür. Dort fischte sie nach ihrem Haargummi und band sich in Windeseile einen strengen Zopf. Sie wollte gerade nach dem anderen Gegenstand auf dem Waschbecken greifen, als der junge Polizist hinter sie trat.
„Halten Sie das wirklich für eine gute Idee?“ Emma konnte aus seinen ernsten Zügen echte Sorge um sie erkennen. Er war vermutlich nicht älter als fünfunddreißig. Anders als seine Kollegin, die mit Sicherheit deutlich mehr Dienstjahre auf dem Buckel hatte, schien ihm seine Empathie noch nicht vollständig abhanden gekommen zu sein.
Emma wollte gerade antworten, als der Beamte auf den Spiegel über dem Waschbecken deutete. „Wissen Sie eigentlich, wie Sie aussehen?“, fragte der Polizist.
Ohne nachzudenken hob Emma den Blick und sah sich zum ersten Mal an diesem Abend ihre Reflektion an. Ihr war, als bliebe die Zeit stehen.
Ich sehe aus wie der Tod.
Der Gedanke schoss Emma so schnell durch den Kopf, dass sie ihn nicht aufhalten konnte. Anders ließ sich aber nicht beschreiben, wer sie da von der anderen Seite des Glases aus anstarrte. Ihr Gesicht war kreideweiß und ihr Hals mit Hämatomen übersät. Tiefschwarze Ringe rahmten blutunterlaufene, weit aufgerissene Augen ein. Sie sah aus wie jemand, dem fast alles Leben ausgehaucht worden war. Ihre Miene prägten Schmerz, Pein und eine Leere, von der Emma aber wusste, dass sie nicht erst seit heute Abend in ihr lauerte.
Ich sterbe. Sie wusste, dass sie so etwas nicht denken durfte. Etliche Male war sie in der Therapie angehalten worden, nicht mehr an den Tod oder das Sterben zu denken. Sie konnte nicht anders. Nicht heute.
Schnell, bevor sie sich vollends in diesem Mahlstrom aus Gedanken verlieren konnte, spannte Emma sich an und wandte sich mit Schwung um. Der junge Beamte machte einen Schritt zurück und verlor fast sein Gleichgewicht.
„Ich will in mein Bett. Wenn Sie also nichts dagegen haben, dann würde ich jetzt gerne gehen!“
Ihre Worte klangen abweisend und unnötig scharf. Doch Emma war zu aufgewühlt, als dass sie ihr leid täten. Sie musste hier weg. Jetzt.
Gehetzt verließ sie das Badezimmer und griff sich ihre Tasche. Als sie sich jedoch zum Ausgang aufmachen wollte, versperrte ihr die Beamtin den Weg. Sie stand genau zwischen ihr und der Tür.
Emma starrte zu ihr hinauf. Die Polizistin war gut einen halben Kopf größer als sie und sehr breitschultrig. Ihre Züge wirkten übertrieben grimmig und wurden von kurzem grauen Haar noch unterstrichen. Kurz fragte sich Emma, ob die Frau vor ihr tatsächlich so unnahbar und hart war, wie sie sich ganz offenbar zeigen wollte.
„Wie Sie sich sicherlich vorstellen können, haben wir eine ganze Reihe Fragen an Sie, was den heutigen Abend betrifft.“
„Bitte lassen Sie mich durch! Ich möchte jetzt nach Hause gehen.“
Die Beamtin bewegte sich keinen Zentimeter, sondern richtete ihren stechenden Blick auf Emma und musterte sie einmal von Kopf bis Fuß, wobei sich ihre Augen verengten. Ihr Kollege stellte sich derweil neben sie, sah allerdings unsicher zwischen seiner Partnerin und Emma hin und her.
„Sie sind heute Abend wie durch ein Wunder mit dem Leben davon gekommen! Dieser Mann hat versucht, Sie umzubringen.“
Wieder erstarrte Emma. Die Worte der Polizistin hallten wie ein Echo durch ihren Kopf. Trotz des Mantels kroch eine eisige Kälte über ihren Rücken. Dennoch blieb sie ganz ruhig, presste nur die Lippen aufeinander und schüttelte den Kopf, bevor sie sich erneut an der Polizistin vorbeizuschieben versuchte.
„Frau Anders!“
„Was?“, gab Emma jetzt plötzlich überraschend laut zurück. Ihre Stimme brach und ein hässlicher Schmerz breitete sich in ihrem Hals aus. Langsam aber sicher gingen ihr die Kräfte aus. „Ich will jetzt nach Hause gehen!“ Sie reckte ihren Hals, nahm sich zusammen und zwang sich, dem Blick der Polizistin standzuhalten.
„Aber schön, Sie glauben, ich hätte wie durch ein Wunder überlebt? Das habe ich nicht!“
Dramatisch hob Emma ihre Hände und zeigte die frischen Bandagen, die sie auf beiden Seiten trug. Ihre Handgelenke waren geprellt und verbunden. Der Stoff über den blutigen Knöcheln färbte sich bereits rot.
Die Beamtin öffnete verblüfft den Mund.
„Ich war auf dem Weg zu meinem Wagen, als mich jemand von hinten gepackt hat. Ich habe mich aus seinem Griff gelöst und konnte ihm mehrere Schläge versetzen. Als er mich wieder packen wollte, habe ich ihm das Bein weggezogen. Er hat das Gleichgewicht verloren und ist mit dem Schädel gegen einen der Pfeiler geprallt. Ich habe den Mann weder jemals zuvor gesehen, noch habe ich eine Ahnung, weshalb er mich angegriffen hat. Ich habe den Notruf gewählt und wenige Minuten später ist Ihr Kollege mit einem Krankenwagen aufgetaucht.“
Die Worte sprudelten nur so aus Emma heraus. Sie sprach so schnell, dass sie kaum dazu kam, Luft zu holen.
„Reicht Ihnen das?“
Emma schnaufte kurz, als sei sie gerade gelaufen. Ihre Gedanken rasten und sie hatte zunehmend Mühe, sich noch auf die Unterhaltung mit den Polizisten zu konzentrieren. Sie hatte nun alles erzählt, was sie auch in einer zähen Vernehmung im Kommissariat zu Protokoll gegeben hätte. Jetzt musste man sie doch endlich gehen lassen.
Die Beamtin schwieg jedoch beharrlich und nahm Emma einmal von oben bis unten ab. „Wie viel wiegen Sie, Frau Anders?“, fragte sie schließlich.
Emma spürte ihre Wangen heiß werden. „Wie bitte?“
„Sie wiegen doch mit Sicherheit keine 60 Kilogramm.“
„Und?“ Emma wurde lauter, wütender. Ihre Stimme war allerdings immer nur noch ein armseliges Kratzen.
„Und da wollen Sie mir erzählen, dass Sie es mit einem Mann aufgenommen haben, der sicher das Doppelte ihres Gewichts auf die Waage bringt? Sie haben den Kerl ins Koma befördert!“
Emma glaubte, ihren Ohren nicht zu trauen. Ihr Herzschlag beschleunigte sich und ihre Atemzüge wurden noch kürzer.
„Lissy …“, setzte der Kollege der Beamtin an und legte ihr eine Hand auf die Schulter. Sie ließ sich jedoch nicht beirren, sondern machte einen bedrohlichen Schritt auf Emma zu.
„Und das obwohl er Sie von hinten angegriffen hat und Sie nicht damit gerechnet haben? Wollen Sie mir das wirklich weis machen?“
Emma brachte ihre kreisenden Gedanken nur mit Mühe unter Kontrolle und zwang sich, weiter kontrolliert durch die Nase zu atmen. „Ist das hier noch eine Zeugenvernehmung, oder beschuldigen Sie mich?“
„Das kommt ganz auf Sie an“, gab die Polizistin warnend zurück.
Emma schloss für einen Moment die Augen, um sich zu konzentrieren. Wenn sie nach Hause wollte, musste sie wohl oder übel zeigen, dass sie sich nicht so einfach einschüchtern ließ. Ihr blieb keine andere Wahl – und kaum noch Zeit.
„Wohl kaum. Wenn Sie einen Verdacht gegen mich hegen, würde ich vorschlagen, dass Sie ihn mir jetzt eröffnen und mich über meine Rechte belehren. Ihnen sollte doch klar sein, dass sonst alles, was ich sage, vor Gericht nicht verwertbar ist, oder?“
Die Polizistin presste irritiert die Kiefer aufeinander.
Emma setzte nach. „Im Übrigen würde ich mich freuen, wenn Sie mir jetzt Ihren Dienstausweis zeigen könnten.“
Knurrend griff sich die Beamtin in die Hosentasche und zog ihr Portemonnaie hervor. „Ich glaube nicht, dass ich Sie über Ihre Rechte belehren muss, Frau Richterin.“
Sie übergab Emma eine Visitenkarte der Polizei Hamburg.
„Kriminalhauptkommissarin Elisabeth Wolf“, las Emma vor. „Das passt ja.“
Bevor Wolf auf Emmas Kommentar reagieren konnte, wandte die sich allerdings deren Kollegen zu. Stolz hob sie das Kinn und fragte: „Und Sie sind?“
Der jüngere Beamte hatte seine Visitenkarte schon gezückt und überreichte sie Emma mit einem gezwungenen Lächeln. „Kriminalhauptkommissar Marcus Winter.“
Emma hob einen Mundwinkel, als sie die Karte entgegennahm. „Wolf und Winter?“, murmelte sie vor sich hin. Sie wollte amüsiert klingen, scheiterte aber und schob schließlich sowohl die Visitenkarten als auch beide Hände in die Taschen ihres Mantels. „Wenn dann weiter nichts mehr ist, werde ich jetzt gehen.“
Endlich ließen die beiden Polizisten Emma passieren und zur Krankenhaustür gehen, allerdings nicht ohne ihr noch etwas zum Abschied zuzurufen.
„Halten Sie sich bitte zu unserer Verfügung“, brummte Wolf.
Emma verbiss sich jeden Kommentar dazu, griff nach der Türklinge und verließ das Krankenzimmer. Doch das Gefühl, den Beamten, der Vernehmung und nicht zuletzt dieser schrecklichen Klinik fast entkommen zu sein, währte nur kurz. Sie kam gerade einmal drei Schritte weit.
„Frau Dr. Anders!“
Es war Marcus Winter, der ihr folgte und ihr den Arm entgegenstreckte. „Ich glaube, Sie haben etwas vergessen.“
Fast wie in Trance ließ Emma zu, dass er ihr einen kleinen Gegenstand reichte. Als sie den abgetragenen Weißgoldring entgegennahm, fuhr ihr erneut ein Schauer über den Rücken. Sie hatte ihren Ring vergessen.
„Danke!“, hauchte sie und versuchte sich an einem schwachen Lächeln, doch ihre Mundwinkel blieben, wo sie waren. Ihr Mimik fühlte sich an wie eingefroren. Hastig steckte sie sich den Ring wieder an ihren rechten Ringfinger.
„Er war leider so, als ich ihn im Badezimmer gefunden habe“, sagte Winter und deutete schuldbewusst auf das Schmuckstück. „Kann es sein, dass das bei dem Überfall passiert ist?“
Emma verstand nicht, worauf Winter hinauswollte, bis sie auf ihre Hand sah und begriff, was er meinte. Mit dem Daumen strich sie über die Leiste aus Diamanten in der Ringschiene, in der ein Stein fehlte und eine auffällige Lücke hinterließ.
„Nein“, antwortete sie kopfschüttelnd und sah zu Boden. So leise, dass man sie kaum verstehen konnte, fügte sie hinzu: „Das war schon so.“
Ohne ein weiteres Wort des Abschieds ließ Emma Marcus Winter stehen und eilte durch die Flure nach draußen. Endlich in Freiheit und im Schutz der Dunkelheit der Hamburger Nacht ließ sie zu, dass sie ein hemmungsloses Zittern erfasste.
Sie lebt noch!“
„Wie bitte?“
Aleksander wiederholte sich nur ungern. Er knirschte mit den Zähnen und rollte die Augen. „Ich sagte: Sie lebt noch.“
Am anderen Ende der Leitung herrschte kurz Stille. Aleksander nutzte die Gelegenheit, ließ das Smartphone in seine andere Hand wandern und presste es sich wieder ans Ohr. Mit dem jetzt freien rechten Arm bahnte er sich einen Weg durch die dichte Menschenmenge, während die Geräusche von Glöckchen, klappernden Punschbechern und ausgelassenem Gelächter ihn wie eine Wolke umhüllten.
„Dieser Versager!“
„Ich war immer dagegen, ihn auf diese Sache anzusetzen“, gab Aleksander zurück. Es tat gut, Recht behalten zu haben.
Sein Gesprächspartner ging darauf nicht ein. „Hatte sie ihn bei sich?“
Aleksander blieb kurz stehen, bis sich eine Gruppe grölender Halbstarker an ihm vorbei geschoben hatte. Einer der Jungs grinste ihn schief an, während er lautstark auf einer rot-weißen Zuckerstange herumkaute. Der Bommel einer Nikolausmütze fiel ihm über die Stirn. Aleksander reagierte nicht darauf, bog schweigend um eine Ecke und blieb in einer halbwegs ruhigen Ecke des Marktes stehen. Der penetrante Duft von fettigen Backwaren und billigem Glühwein stieg in seine Nase.
„Kann ich nicht sagen. Es gab keine Gelegenheit, sie zu durchsuchen. Ich bin nicht einmal in ihre Nähe gekommen. Wie ich schon sagte: Sie lebt noch.“
Ein wütendes Grunzen dröhnte durch die Leitung. „Und Dennis?“
Aleksander ließ einen aufmerksamen Blick zu allen Seiten wandern. Nicht unweit von ihm stand eine Gruppe kichernder junger Frauen mit Tassen in den Händen. Er konnte nicht verstehen, was sie miteinander sprachen, aber eine von ihnen warf ihm ein schelmisches Lächeln zu. Aleksander ließ es sich nicht nehmen, ihr mit einem vielsagenden Blick zu antworten.
„Kann ich auch nicht sagen. Die Polizei war direkt vor Ort und hat alles abgeriegelt. Sie haben ihn mit dem Krankenwagen abtransportiert. Ich weiß aber noch nicht, wohin.“
„Dennis ist verletzt?“
Aleksander ließ sich Zeit mit einer Antwort. Die Verwunderung seines Gesprächspartners war nachvollziehbar. Auch er hätte niemals damit gerechnet, dass dieser Abend so für Dennis ausgehen würde. Das bedeutete nicht, dass er auch nur die Spur von Mitleid für den groben Kerl empfand. Ganz im Gegenteil. „Sie ist ganz offenbar nicht so harmlos, wie sie aussieht. Sie hat kaum mehr als einen Kratzer davongetragen.“
„Hast du sie gesehen? Wo ist sie jetzt?“
Aleksander überlegte kurz. „Man hat auch sie ins Krankenhaus gebracht. Die Polizei ist ihr direkt hinterhergefahren. Heute Abend kommen wir nicht mehr an sie ran.“
„Wieso waren die so schnell vor Ort?“ Das Misstrauen in der Stimme von Aleksanders Gesprächspartner war kaum zu überhören.
„Tja, vielleicht war es nicht die schlaueste Idee, eine Richterin in der Tiefgarage eines Gerichts zu überfallen.“
Aleksander lauschte der Ruhe am anderen Ende der Leitung. Irgendwo in der Nähe ertönten die Klänge von „Stille Nacht“. Sein Puls beschleunigte sich. Er fragte sich, ob er mit seiner schnippischen Bemerkung dieses Mal zu weit gegangen war. Er atmete kaum merklich aus, als sein Gesprächspartner fortfuhr.
„Hefte dich an ihre Fersen. Lass sie nicht aus den Augen und erstatte mir Bericht. Sie ist jetzt gewarnt. Wenn wir noch einmal an sie rankommen wollen, dürfen wir sie nicht eine Sekunde aus den Augen lassen.“
„Ich finde heraus, wo sie behandelt wird und wo sie sich aufhält.“
„Tu das.“
Aleksander spürte, dass das Gespräch kurz vor seinem Ende stand, darum beeilte er sich zu sagen: „Eine Sache noch!“
„Ja?“
„Heißt das, ich übernehme von hier an? Meine Operation?“
Das Schweigen am anderen Ende der Leitung ließ Aleksander die Kiefer vor Ungeduld aufeinander pressen. Noch immer war in der Ferne „Stille Nacht“ zu hören.
„Sie gehört dir.“
Aleksander schloss kurz die Augen. Ohne ein Wort des Abschieds nahm der das Smartphone vom Ohr und beendete das Gespräch, während sich ein triumphierendes Grinsen auf seine Züge schlich. Endlich.
„Entschuldigung?“
Aleksander fuhr herum und blickte in ein freundliches Gesicht. Die junge Frau, die ihm vorhin zugelächelt hatte, stand vor ihm und strahlte ihn an. In ihren Händen hielt sie zwei dampfende Tassen, die nach Zimt und Rum dufteten.
Es kostete Aleksander nur einen Herzschlag, um umzuschalten und in eine andere Rolle zu schlüpfen. „Ja?“, fragte er in vollkommen verändertem Tonfall und grinste zuvorkommend zurück. Beiläufig schob er sein Telefon in die Manteltasche.
„Tut mir echt leid. Ich mache sowas sonst eigentlich nicht. Aber ich habe dich gesehen und … deine Augen sind wirklich, also … Ich habe mich gefragt, ob ich dir vielleicht einen Glühwein ausgeben kann?“ Sie streckte ihm die Tasse entgegen. Die Seiten waren mit dem Schriftzug „Wandsbeker Winterzauber 2021“ bedruckt.
Aleksander nahm die Tasse entgegen und musterte die Frau. Sie war jung, vermutlich kaum älter als zwanzig und sehr hübsch. Perfekte blonde Locken lugten unter einer weißen Pudelmütze hervor. An ihren großen Augen konnte Aleksander erkennen, dass sie leicht beschwipst war.
„Oh, das ist ja lieb“, antwortete er und senkte, wohl wissend um die Wirkung dieser Geste, verlegen seinen Blick nach unten. Anschließend sah er der Frau wieder tief in die Augen und beobachtete zufrieden, wie sich ihre Wangen rot färbten.
„Ich habe aber eine Regel“, erklärte er verheißungsvoll. Die Pupillen der jungen Frau weiteten sich fast unmerklich. „Ich trinke nicht mit Fremden.“ Aleksander hob die Tasse wie zum Anstoßen und grinste noch breiter. „Du musst mir erst sagen, wie du heißt.“
Es dauerte einen Moment, ehe sie begriff. Sie machte so etwas wohl tatsächlich nicht oft. „Oh!“, lachte sie herzhaft. Es klang melodisch, wohltuend und unkompliziert. „Lily! Ich heiße Lily.“
„Dennis“, erwiderte Aleksander ohne mit der Wimper zu zucken und stieß seine Tasse gegen ihre. Lily glühte förmlich vor Begeisterung.
„Lily, warum gehst du nicht schon einmal zu deinen Mädels zurück, damit du sie mir gleich vorstellen kannst. Ich komme in einer Sekunde nach.“
Er zwinkerte ihr zu, was ein eifriges Nicken nach sich zog. Leichtfüßig tänzelte sie zu ihren kichernden Freundinnen zurück, die Aleksander allesamt interessiert beäugten. Eine von ihnen klopfte ihr anerkennend auf die Schulter.
Aleksander zog sein Smartphone wieder aus der Tasche und gab in Windeseile einen Namen in seine Browser-Suchmaschine ein.
„Emma Anders“, murmelte er vor sich hin, als auf seinem Telefon eine Reihe von Bildern erschien. Geschwind wählte Aleksander ein Foto von einem sozialen Netzwerk für berufliche Kontakte aus und vergrößerte es.
Ein eiskalter Schauer fuhr ihm über die Haut. Für einen Moment kam es ihm vor, als verdichtete sich die Luft um ihn herum, wie um ihn in diesem Moment festzuhalten. „Süßer die Glocken nie klingen!“, schallte es zu ihm herüber. Er atmete nicht einmal, während sich das Bild der jungen Frau in dem schicken Hosenanzug auf seine Netzhaut brannte. Mit verschränkten Armen lächelte sie selbstbewusst in die Kamera. Erst nach Sekunden, die ihm wie Minuten vorkamen, erwachte er aus seiner Betäubung. Kann das wirklich sein?
Er machte einen Screenshot von dem Foto, auch wenn das eigentlich unnötig war. Aleksander wusste auch so, dass ihm jedes Detail dieses Bildes im Gedächtnis bleiben würde.
Erst nachdem er mehrmals tief durchgeatmet hatte, gelang es ihm, sein charmantestes Lächeln aufzusetzen und das Telefon in die Tasche zu stecken. Fest entschlossen, sich wenigstens die nächsten Stunden versüßen zu lassen, gesellte er sich zu Lily und ihren Freundinnen. Das Bild von Emma in seinen Gedanken jedoch blieb.
Was hältst du von ihr?“
Marcus beobachtete seine Kollegin aus dem Augenwinkel, während er das Bonbon in seinem Mund hin und her schob. Lissy starrte stumm auf die Straße. Hamburg schlief. Kaum ein Auto fuhr um diese Uhrzeit. Dennoch konzentrierte sich Lissy so eisern auf die Straße, als lenke sie den Dienstwagen durch einen Orkan. Obwohl er sie noch nicht lange kannte, wusste Marcus mittlerweile, was in ihr vorging, wenn sie ihr Gesicht so grimmig verzog.
„Dich stört irgendetwas an ihr“, stellte er fest.
„Dich nicht?“ Endlich warf Lissy ihm einen kurzen Blick zu.
Marcus hob die Schultern. „Die Frau steht unter Schock. Auf so etwas reagiert doch jeder anders.“
„Die stand nicht unter Schock!“
Marcus‘ Puls beschleunigte sich kurz, als Lissy Gas gab und eine Ampel bei ‚Orange‘ passierte.
„Hey! Mach mal langsam!“, tadelte er seine Kollegin.
„Die war total abgebrüht. Man hätte meinen können, die macht das jeden Tag.“
Marcus verschränkte auf dem Beifahrersitz die Arme. „Den Eindruck hatte ich nicht. Hast du nicht gesehen, wie mitgenommen sie aussah? Ich habe mich gewundert, dass die Ärzte sie überhaupt haben gehen lassen. Ich glaube eher, dieses taffe Gehabe war nur gespielt.“
Lissy ging auf seinen Einwand nicht ein. „Die Frau ist Richterin, sitzt also den ganzen Tag hinter dem Schreibtisch. Dann wird sie vollkommen unvermittelt in einer Tiefgarage überfallen, schlägt ihren Angreifer krankenhausreif und kommt selbst fast ohne einen Kratzer davon.“
Marcus konnte dem nicht zustimmen. Die Spuren des Kampfes waren Emma Anders deutlich anzusehen gewesen. Lissy hatte sie außerdem nicht kurz nach der Tat erlebt. Marcus gingen die panischen Blicke, die sie ihrem Angreifer immer wieder zugeworfen hatte nicht aus dem Kopf.
„Da stimmt etwas nicht!“ Die Art und Weise, wie Lissy ihre Nasenflügel bei diesen Worten aufblähte, verriet Marcus, dass es hier noch um etwas anderes ging. Kurz erinnerte er sich an den Anruf, den Lissy in der Tiefgarage von ihrem Chef erhalten hatte, verdrängte den Gedanken aber. Marcus kannte seine Partnerin mittlerweile gut genug, um erahnen zu können, was in ihr vorging.
„Du kannst sie nicht leiden“, stellte er verdrossen fest.
„Wie bitte?“
„Sie hat dich vorhin provoziert, weil sie sich nicht vernehmen lassen wollte. Du bist sauer, weil wir quasi umsonst im Krankenhaus waren.“
Marcus war erst vor wenigen Wochen vom Sondereinsatzkommando zur Kriminalpolizei versetzt worden. Dass er ausgerechnet Lissy Wolf an die Seite gestellt worden war, hatte ihm erst gar nicht gefallen. Sie war in der gesamten Hamburger Polizei für ihre scharfen Vernehmungsmethoden, ihre hohe Aufklärungsrate und ihren schwierigen Charakter bekannt. Sie hatte es sich aber zur Aufgabe gemacht, Marcus auszubilden, was er sehr zu schätzen wusste. Aus diesem Grund hatte er Loyalität gegenüber Lissy entwickelt. Sie hatte ihn unter ihre Fittiche genommen und nahm ihn trotz all seiner Unerfahrenheit stets ernst, auch wenn sie ab und an mit ihm sprach wie mit einem Anfänger. Marcus fiel es zunehmend schwer, mit Lissys Befehlston klarzukommen. Sie war es gewohnt, Leute einzuschüchtern und sie liebte es. Gelang es einmal nicht, brachte sie das nur allzu schnell aus dem Konzept.
„Bei einer Richterin kommst du mit deiner üblichen Methode nicht weit. Das muss dir doch klar sein. Die Frau kennt sich aus“, fuhr Marcus fort.
„Erklär‘ du mir nicht, wie ich meinen Job machen soll“, fuhr Lissy ihn verärgert an. „Wir können uns gerne über Ermittlungstaktiken unterhalten, wenn du dir deine Sporen verdient hast. Bis es soweit ist, folgen wir meinem Gespür, verstanden?“
Lissy musste bemerken, wie Marcus betreten die Lippen aufeinander presste. Seine Partnerin erinnerte ihn bei jeder Gelegenheit daran, dass er ein Quereinsteiger bei der Kripo war und in Sachen Ermittlungstechnik lediglich eine Grundausbildung genossen hatte. Marcus redete sich selbst ein, dass sie ihm auf diese Art so viel wie möglich von ihrem Wissen vermitteln wollte. Das bedeutete jedoch nicht, dass es ihn nicht jedes Mal schmerzte, wenn Lissy ihn daran erinnerte, dass er bis vor wenigen Wochen noch SEK-Beamter gewesen war.
Sie sah ihn kurz schuldbewusst an, ehe sie deutlich sanfter ergänzte: „Emma Anders ist Verwaltungsrichterin. Das letzte Mal, als die eine Strafakte in der Hand hatte, war sie wahrscheinlich noch in der Ausbildung. Die kümmert sich sonst um Baugenehmigungen oder Führerscheine. Für dreckiges Strafrecht ist die sich doch sonst zu fein.“
Daher weht der Wind also. Marcus konnte es sich nicht verkneifen mit den Augen zu rollen. Er schnappte sich ein neues Bonbon aus der Mittelkonsole und befreite es von seinem Papier. Emma Anders bediente gleich mehrere von Lissys Feindbildern. Die hübsche Richterin und ihre teure Garderobe stammten definitiv aus den besten Hamburger Kreisen. Emma Anders war Lissy aber nicht nur durch ihren Designer-Mantel und die hochnäsige Art auf die Füße getreten. Viel schlimmer noch: Sie hatte Lissy überrascht. Marcus hegte keinen Zweifel daran, dass seiner Kollegin dieser Fehler nicht noch einmal passieren würde.
„Aber jetzt denk doch einmal nach.“ Der Tonfall in Lissys Stimme änderte sich und wurde sachlicher. Missbilligend sah sie dabei zu, wie Marcus sich das neue Bonbon in den Mund schob und das knisternde Papier lautstark zerknüllte. „Dieser Kerl in der Tiefgarage wollte Emma Anders töten. Das war kein einfacher Raubüberfall. Er hat ihr aufgelauert und sie gezielt angegriffen. Selbst wenn wir ihr abnehmen, dass sie sich einfach nur gewehrt hat: Warum? Wieso will jemand vielleicht sogar ihren Tod?“
Marcus dachte nach. „Du bist dir sicher, dass es jemand gezielt auf sie abgesehen hat.“
„Ganz sicher.“
„Kommt es bei Richtern nicht ab und an mal vor, dass sie zur Zielscheibe werden? Vielleicht hat sie sich im Rahmen einer ihrer Verfahren mit den falschen Leuten angelegt.“
„Als Verwaltungsrichterin?“ Lissy klang nun wieder abschätzig. „Wieso will jemand eine Richterin umbringen, deren Job darin besteht, Bürokratie noch bürokratischer zu machen? Für die interessiert sich sonst eigentlich niemand.“
Da hatte Lissy natürlich nicht ganz unrecht – auch wenn Marcus dem nicht vollends zustimmen konnte. Sein Leben war erst kürzlich durch die Arbeit der Verwaltungsrichter auf den Kopf gestellt worden. Daher konnte er sich gut vorstellen, weshalb jemand nicht gut auf sie zu sprechen sein könnte. Trotzdem lag Lissy richtig. Wenn Verwaltungsrichter sich unbeliebt machten, dann zumeist bei Beamten wie ihm. Mörder sollten sie eigentlich nicht auf den Plan rufen.
„Unser Täter ist jedenfalls bis auf weiteres nicht vernehmungsfähig. Den können wir nicht befragen.“ Lissy brachte den Wagen an einer Ampel ordnungsgemäß zum Stehen und drehte sich zu Marcus um. „Wir müssen trotzdem so viel wie möglich über unseren Würger herausfinden. Wenn sich die Anders weiter so stur verhält, ist er der einzige Anhaltspunkt, hier weiterzukommen.“
Marcus nickte. „Ich kann seine Fingerabdrücke durch die Datenbank jagen. Mal gucken, ob er drin ist. Bis ich seine DNA-Probe aber abgleichen kann, wird es ein bisschen dauern. Ich bezweifle, dass das Labor da schon dran ist.“
„Mach das!“
Marcus beäugte Lissy nachdenklich, gab sich dann einen Ruck und sprach das aus, was sie vermutlich jetzt von ihm hören wollte. „Wir könnten damit heute noch anfangen.“
Anstelle des Lobes, das er für seine Einsatzbereitschaft erwartet hatte, erntete er nur ein schlichtes Nicken.
„Du wirst das allein machen“, beschloss Lissy kurz und knapp nach einigen Sekunden.
Sie konnte nicht sehen, wie Marcus‘ Augen sich vor Verwunderung weiteten. „Allein?“, rief er, als sie den Wagen mit heulendem Motor wieder in Bewegung setzte. „Und du?“
„Ich habe etwas anderes im Sinn“, entgegnete sie geheimnisvoll und ohne ihn anzusehen.
Marcus war allerdings nicht bereit, sich von seiner Partnerin so abspeisen zu lassen. „Was hast du vor?“
Lissy warf ihm einen kurzen Seitenblick zu. Ihr war deutlich anzusehen, dass sie mit sich haderte und überlegte, ob sie ihm reinen Wein einschenken sollte. Zögerlich erklärte sie schließlich: „Wir wissen nicht, ob ihr Angreifer alleine gehandelt hat. Aber mein Gefühl sagt mir, dass der noch Komplizen hat. Auch wenn unsere Frau Rechtsexpertin es nicht wahrhaben will, war es ziemlich unklug von ihr, einfach alleine nach Hause zu gehen.“
Marcus begriff. „Das heißt, ich durchforste die Datenbanken, während du …“
„… ich lege mich vor ihrer Wohnung auf die Lauer.“
„Können wir nicht einfach eine Streife vor ihrem Haus platzieren?“
Lissy schüttelte den Kopf.
Marcus stöhnte. Eine lange Nacht lag vor ihnen. Er schwieg jedoch, während Lissy den Dienstwagen schwungvoll auf den Parkplatz des Polizeireviers lenkte. Zwischen zwei Streifenwagen kamen sie zum Stehen.
Lissy schnallte sich gerade ab und öffnete die Tür, als Marcus sie aufhielt. „Dir geht es nicht nur darum, auf sie aufzupassen, stimmt‘s?“, fragte er.
Lissy grinste ihn verschwörerisch an. Ein Paar seltener Grübchen zeigte sich auf ihren Wangen. „Es ist unser Job, sie zu beschützen – im Zweifel auch vor sich selbst.“
Damit stieg sie aus dem Wagen und knallte die Fahrertür hinter sich zu.
Emma war allein.
Nie zuvor war ihr die Wohnung dunkler erschienen. Nie war ihr die Leere und Stille wie ein Loch, vorgekommen in das sie sich geradewegs hineinstürzte.
Sie hatte es zu keiner Zeit gemocht, in eine leere Wohnung heimzukehren. Das Haus, in dem sie aufgewachsen war, war immer von Leben erfüllt gewesen. Manchmal ein bisschen zu viel davon. Nach ihrem ersten Umzug nach Hamburg hatte sie gelernt, damit umzugehen, dass sie nicht gleich an der Tür begrüßt wurde, dass nicht sofort jemand mit ihr sprechen wollte, kaum dass sie eingetreten war. Die Einsamkeit hatte ihr bisweilen gut getan – damals. Seit sie aus dem hübschen Einfamilienhaus in dem schicken hanseatischen Vorort ausgezogen und wieder nach Hamburg zurückgekehrt war, sah es anders aus. Heute fraß die Finsternis Emma auf.
In Windeseile schaltete sie das Licht ein. Surrend erwachten die Deckenleuchten zum Leben und tauchten die Räume in ein grelles Licht, das lange Schatten auf den Fußboden warf.
Emma blieb wie angewurzelt in der Tür stehen, ohne sie zu schließen. Mit weit aufgerissenen Augen suchte sie jeden Winkel, jede Ecke ihrer großzügigen Dachgeschosswohnung ab. Sie lauschte. Regen prasselte auf die Dachfenster. Das Geräusch der Wassertropfen hallte zwischen den leeren Wänden gespenstisch wider. Sonst war da nichts.
Vorsichtig arbeitete Emma sich durch ihre Wohnung vor. Obwohl sich alles in ihr dagegen sträubte, ließ sie die Eingangstür geöffnet, um im Ernstfall die Flucht ergreifen zu können. Mit klopfendem Herzen ging sie erst in die geräumige Wohnküche, kontrollierte die Ecken hinter dem Tresen und dem Sofa, um anschließend im Badezimmer nachzusehen. Die Stille und die Einsamkeit blieben. Es schien sich niemand hier zu verstecken. Trotzdem verfluchte Emma sich innerlich dafür, dass noch eine Vielzahl nicht ausgepackter Umzugskartons herumstanden. Jeder von ihnen bot einem Eindringling einen potentiellen Unterschlupf. Jeder war eine Gefahr.
Zuletzt ging Emma ins Schlafzimmer. Doch auch nachdem sie hier das Licht eingeschaltet hatte, wurde sie nur von einem kahlen Raum begrüßt, in dessen Mitte ein Bett stand, das viel zu groß für sie war. Einen Moment lang starrte Emma auf die Decken und Kissen. Das Bett war auf einer Seite – Emmas Seite – zerwühlt und unordentlich, die andere wirkte dagegen geradezu rebellisch zurecht gemacht. Nichts wies darauf hin, dass jemand die Decken und die Kissen auch nur berührt hatte. Niemand hier.
Tief Luft holend wandte Emma sich ab, kehrte zur Haustür zurück und schloss sie erleichtert hinter sich. Sorgfältiger als sonst verriegelte sie das Schloss und kontrollierte zweimal, ob sich die Tür auch nicht öffnen ließ. Nur beiläufig stellte sie fest, dass ihre Finger nicht zitterten. Sie war ganz ruhig. Zu ruhig.
Seit den Vorfällen in der Tiefgarage war ihr Geist in eine seltsame Starre verfallen. Sie kam sich vor wie ein Roboter, der zwar menschliche Emotionen wahrnehmen aber nicht verarbeiten konnte. Doch nach dem Besuch der Polizisten bei ihr im Krankenhaus wusste sie, dass die Gefühle in ihr nur darauf warteten auszubrechen. Doch noch war der Moment nicht gekommen. Noch funktionierte sie.
Sie ließ jede einzelne Lampe in ihrer Wohnung eingeschaltet und ging ins Bad. Dort streifte sie sich fast mechanisch die Kleider vom Leib, ließ das Wasser ihrer Dusche heiß werden und stellte sich darunter.
So stand sie einige Minuten unter dem heißen Strahl, rieb sich die Haut mit Seife ab und wusch ihr Haar gründlich. Schließlich kamen die Tränen. Wie von selbst dachte sie an die unzähligen Filme, die sie gesehen hatte, in denen Menschen unter der Dusche standen und zusammenbrachen. Sie hatte das immer für ein billiges Klischee gehalten. Doch jetzt, da sich ihre salzigen Tränen mit dem dampfenden Leitungswasser mischten, begriff sie. Sie spürte die Wärme des Wassers, die doch nicht in ihr Innerstes vordringen wollte. Sie erinnerte sich dunkel an das Gefühl von Entspannung und Komfort, das sie sonst unter dem Wasserstrahl umfing. Emma wurde klar, dass Seifen und Schwämme Dreck nur oberflächlich entfernen konnten. Die Spuren auf der Seele ließen sich nicht wegspülen.
Als ihr Körper vom Schluchzen geschüttelt wurde, ging Emma in die Knie. Vorsichtig betastete sie ihren wunden Hals, während wirre Bilder durch ihren Geist zuckten. Sie hörte sich selbst erstickt schreien, spürte den Widerstand dieses riesigen fremden Körpers, der sie mit seiner schieren Masse beinahe zerdrückt hätte. Der Schmerz in ihren Handgelenken kehrte zurück, während die Schürfwunden an den Knöcheln wieder zu bluten begannen. Das dumpfe Echo eines Schädels, der auf Beton knallt, fuhr ihr erneut durch Mark und Bein.
Emma hatte Todesangst verspürt. Nackte, blanke Angst. Das wurde ihr in diesem Moment klar. Sie hatte um ihr Leben gefürchtet, um keinen Preis sterben wollen und all ihre Kraft dafür eingesetzt.
Sie hatte um ihr Leben gekämpft und gewonnen. Das jahrelange Kampfsport-Training ihrer Jugend hatte ihre Bewegungen gesteuert und sie sich wehren lassen. Emma war trotz ihrer schmalen Gestalt eine gefürchtete Wettkämpferin gewesen, hatte Turniere in ganz Deutschland bestritten und viele Meistertitel errungen. Auch nach jahrelanger Pause hatte ihr Körper nicht vergessen, wie er sich zu verteidigen hatte.
Ich dachte doch, ich sterbe, wisperte eine Stimme in ihren Gedanken. Ich dachte, es sei endlich vorbei. Das war alles, woran Emma denken konnte. Sie wusste, dass es viel drängendere Fragen gab. Jemand hatte ihr aufgelauert, sie gewürgt und versucht sie zu töten. Wer war er? Warum hatte sie sterben sollen? Lauerten da draußen noch weitere Menschen, die ihr nach dem Leben trachteten? Musste sie noch immer Angst haben? Emma wusste, dass sie Antworten auf diese Fragen finden musste, dass es nichts Wichtigeres geben sollte als das.
Geben Sie sich nicht Ihrer Depression hin. Konzentrieren Sie sich auf die Realität, auf das Hier und Jetzt, hatte ihre Therapeutin stets zu ihr gesagt. Zwingen Sie sich dazu, wenn es sein muss! Es gelang Emma nicht. Stattdessen ergab sie sich und ließ zu, dass ihr gequälter Geist begann, sich unablässig um etwas anderes zu drehen.
Ich sterbe. Diese beiden Worte begleiteten sie seit einiger Zeit jeden Tag. Sie warteten auf Emma, wenn sie aufwachte, überkamen sie in den banalsten Alltagssituationen und waren das letzte woran sie beim Einschlafen dachte. Emma hatte ihnen etwas Wahres, Tröstliches abgerungen. Jetzt aber traf sie die bittere Erkenntnis, die ihr kein Psychotherapeut jemals hatte vermitteln können: Sie waren eine Lüge.
Emma starb nicht. Sie fühlte sich nur so, weil sie sich so fühlen wollte. Als sie die kalte Hand um ihren Hals gespürt hatte, war sie sich ganz kurz sicher gewesen, bereit zu sein – bereit zu sterben. Der Tod, das Ende, die Erlösung waren so nah gewesen, und doch unerreichbar geblieben.
Da begriff Emma, dass ihr Verstand in seiner Not eine simple Erklärung für den unerträglichen Schmerz präsentiert hatte, der von ihrem Herz Besitz ergriffen hatte und es ihr unmöglich machte, ein normales Leben zu führen.
Wie von selbst glitten Emmas Finger zu dem Ring an ihrem rechten Ringfinger. Mit dem Daumen strich sie über die Lücke in der Reihe der Edelsteine, während die Erinnerungen an dunkles Wasser, stumme Schreie und unendliche Einsamkeit ihren Körper vor Übelkeit zum Wanken brachten.
Sie hätte es zulassen können. Sie hätte nicht gegen diesen Mann und um ihr Leben kämpfen müssen. Vermutlich wäre es schnell gegangen und hätte nicht einmal besonders geschmerzt. Aber sie hatte nicht aufgegeben. Sie hatte sich gewehrt und einen anderen Menschen dafür vielleicht für immer aus der Welt gerissen.
Es gab also doch noch Leben in ihr. Ein Leben, das ihr jetzt hässlich, brutal und vor allem schwer vorkam. Sterben ist nicht einfach, begriff sie. Doch das machte das Leben kein bisschen leichter. Für Emma bestand es aus nichts anderem als Kummer, Selbstverachtung und Verlust.
Lange nachdem Emma zu schluchzen aufgehört hatte, dachte sie an die vielen Filme zurück, deren Hauptdarsteller unter der Dusche zusammenbrachen. Zumeist kam eine andere Figur dazu, las den gebrochenen Helden auf und trug ihn mit starken Armen in Sicherheit. Emma würde niemand aufhelfen. Sie war allein. Nichts hatte sich geändert.
Irgendwann rappelte sie sich auf. Jede Faser ihres Körpers und ihrer Seele schmerzte, als Emma das Wasser abstellte, sich abtrocknete und halbherzig in ihren Bademantel hüllte. Langsam und ohne auch nur eine einzige Lampe auszuschalten, schleppte sie sich ins Wohnzimmer, ließ sich auf die mit Kissen ausstaffierte Fensterbank sinken und kauerte sich zusammen.
Tränen liefen über ihre Wangen, während sie die Augen offen hielt. Sie wagte es nicht, sie zu schließen. Sonst würde ein Mann mit blutigen Bartstoppeln auf sie warten, mit Händen, die sich unbarmherzig um ihren Hals schlossen. Wer war er? Emma hatte ihn niemals zuvor gesehen. Warum er ihr aufgelauert und versucht hatte, sie zu töten, blieb ihr ein Rätsel. Doch heute Nacht war nicht der Zeitpunkt für erste Erklärungsversuche. Das waren Fragen für morgen, vielleicht erst übermorgen. Zunächst einmal musste sie sich damit abfinden, dass sie offenbar noch nicht mit dem Leben abgeschlossen hatte.
Stumm beobachtete sie den Regen, wie er im fahlen Schein der Fenster in dicken eisigen Tropfen auf die Erde fiel. Je länger sie dort so saß, desto mehr kribbelte es in ihrem Brustkorb. Sie konnte nicht sagen, ob es an den düsteren Bildern in ihrem Kopf lag, oder an dem Gefühl, das mit jeder Sekunde stärker wurde, bis sie sich schließlich vollkommen sicher war: Sie wurde beobachtet.
Ich kenne dich.
Emmas Gestalt war kaum mehr als eine dunkle Silhouette, die sich vor dem grellen Licht des Fensters finster abhob. Im Gegensatz zu allen anderen Fenstern des Wohnhauses, in denen vereinzelt nur geschmackvolle Lichterketten und Weihnachtssterne schienen, blieben ihre hell erleuchtet. Sie hockte zusammengesunken vor der Scheibe und starrte in die Finsternis hinaus.
Aleksander gelang es kaum, sich abzuwenden. Das Bild von Emma Anders blieb vor seinem geistigen Auge haften und schien ihn geradewegs zu provozieren. In seinen Erinnerungen regte sich etwas, doch er zwang sich, diesem dumpfen Gefühl der Vertrautheit nicht nachzugehen. Es gab Wichtigeres in diesem Moment. Dennoch wusste er bereits jetzt eines mit Sicherheit: Er war Emma Anders schon einmal begegnet. Irgendwo. Irgendwann.
Aleksander schlug den Kragen seines Mantels hoch, während er mit dem Smartphone in der Hand die Straße entlang ging, in der Emma wohnte. Er gab sich übertrieben gestört vom eisigen Regen und starrte dabei allein auf sein Telefon, mit dem er ein Video von den Fenstern machte, die zu Emmas Wohnung gehörten.
Als er an der Polizistin in ihrem Auto vorbeiging, warf er blitzschnell einen Blick ins Wageninnere. Er musste sich zusammenreißen, um nicht mit dem Kopf zu schütteln.
Die grauhaarige Beamtin mit dem kurzen Militärhaarschnitt schien es regelrecht darauf anzulegen, bei ihrer Beschattung bemerkt zu werden. Kauend und gelangweilt hockte sie in ihrem Wagen und starrte immerzu auf das schicke Wohnhaus, in dem ihr Zielobjekt lebte. Dabei schenkte sie allem anderen um sich herum kaum Beachtung.
Amateurin, dachte Aleksander stumm und sah wieder auf sein Telefon. Er hielt es sich so vor den Körper, dass die Selfie-Kamera nach oben zeigte und ein Video von Emmas Fenstern aufzeichnen konnte. Auf diese Art und Weise konnte Aleksander jede Bewegung hinter den Scheiben erkennen, ohne auch nur den Kopf heben zu müssen. So genügte bereits ein kurzer Spaziergang, um von der Polizei unerkannt festzustellen, was in Emmas Wohnung geschah.
Emma rührte sich nicht von der Stelle. Aleksander spürte, wie sich sein Puls beschleunigte, als er glaubte, ihre Blicke auf sich zu spüren. Dabei wusste er, dass es vollkommen unmöglich sein sollte, von ihr entdeckt zu werden. Dennoch genoss er für einen Moment die Vorstellung, wie ihr bewusst wurde, dass man sie beobachtete.
Es gibt kein Entkommen, dachte er. Und das weißt du. Wie durch ein Wunder war sie ihm heute Abend entwischt. Sie musste wissen, dass sie nicht noch einmal so viel Glück haben würde.
Nach ein paar Sekunden schoss Aleksander zügig ein Foto, ging um eine Ecke und öffnete mit seinem Funkschlüssel die Türen eines SUV, dessen Innenraum dank der Standheizung herrlich warm war. Dankbar ließ er sich in den Vordersitz fallen. Im Trockenen angekommen streifte er sich den von nassen Schneeflocken bedeckten Mantel von den Schultern und warf ihn achtlos auf die Rückbank. Dort lagen bereits eine blaue Daunenjacke und eine Schirmmütze bereit. Er holte beides nach vorne, zog die Klamotten jedoch noch nicht an. Er hatte wenigstens zehn Minuten, ehe er einen neuen Spaziergang vor Emmas Haus starten würde. Angesichts der Tatsache, dass die Polizistin ihn überhaupt nicht beachtet hatte, fragte er sich allerdings, ob es überhaupt nötig war, sich zu verkleiden. Dennoch beschloss er, kein Risiko einzugehen. Zu lange hatte er auf eine Gelegenheit wie diese gewartet, als dass er zulassen würde, dass die Polizei ihnen jetzt auf die Schliche kam. Dieser Auftrag war zu wichtig. Genau wie sie.
Für einen Moment kniff Aleksander die Augen zusammen und fuhr sich mit beiden Händen durch die nassen Haare. Immer wieder schob sich Emmas Gesicht in seine Gedanken, doch er drängte es zurück. Er durfte sich jetzt nicht ablenken lassen – selbst wenn die Erinnerung etwas in ihm erwachen ließ, von dem er längst geglaubt hatte, es sei verloren.
Kurzerhand griff er nach dem Tablet auf dem Beifahrersitz, entschlüsselte es und rief die Fallakte auf.
Das erste Bild zeigte eine Reihe unterschiedlicher Ausführungen eines alten Familienwappens. Aleksander hatte sie sich unzählige Male angesehen und schenkte ihnen keine besondere Aufmerksamkeit. Stattdessen fuhr er mit dem Finger über den Glasbildschirm und scrollte sich durch die weiteren Seiten. Als er bei den Fotos ankam, wurde er langsamer.
Mit aufmerksamem Blick scannte er die Porträts der verschiedenen Frauen. Neben den Gesichtern standen kurze Vermerke, teilweise ebenfalls mit Bildern. Die meisten enthielten in Kapitallettern die Worte: ERLEDIGT, TREFFER und KEIN FUND. Mehr als nur einmal war daneben ein Foto eines leblosen Körpers angeheftet.
Aleksander sah sich die Leichen nüchtern an. Ihm war der Tod zwar nicht fremd, doch er gehörte nicht zu den Menschen, die gerne das Leben anderer beendeten. Bereits zum wiederholten Mal fragte er sich, weshalb ausgerechnet Dennis statt seiner mit diesem Fall betraut worden war. Der grobe Klotz mochte vielleicht kein Sadist sein, zog es aber eindeutig vor, seine Opfer gänzlich auszuschalten, wenn es ihn schneller ans Ziel brachte. Sie bereiteten ihm auf diese Art und Weise weniger Mühe. Aleksander war oftmals nur für die Spurenbeseitigung gerufen worden. Dabei hatte er immer wieder das ganze Ausmaß von Dennis‘ erbarmungsloser Brutalität erlebt. Der Riese war ihm gnadenlos und unaufhaltsam erschienen – bis heute. Bis Emma.
Aleksander scrollte weiter nach unten, bis er bei Emmas Eintrag angekommen war. Der Vermerk neben ihrem Foto war noch leer mit Ausnahme von drei Fragezeichen. Erneut blieb Aleksanders Blick an ihren ebenmäßigen Zügen hängen. Sie strahlte auf dem Foto und ihr Lächeln besaß etwas Ansteckendes, Unbeschwertes. Aleksander kam es fast so vor, als könne er sie lachen hören. Es war schwierig, diese fröhliche junge Frau mit der blassen Gestalt aus der Tiefgarage in Einklang zu bringen.
Ich kenne dich.
Aleksander blickte hinaus. Um ihn herum waren auch die letzten Lichter in den Häusern erloschen. Der elegante Stadtteil im Norden Hamburgs fand zu seiner Nachtruhe. Obwohl er sie nicht sehen konnte, vermutete Aleksander jedoch, dass die Fenster in Emmas Wohnung nicht dunkel sein würden.
Die Uhr im Armaturenbrett zeigte Mitternacht an. Aleksander könnte seine Verkleidung überwerfen und Emmas Straße erneut ablaufen, doch er bezweifelte, dass er außer der Polizistin etwas von Interesse bemerken würde. Emma würde die Sicherheit ihrer Wohnung heute nicht mehr verlassen.
Also widmete er sich wieder dem Tablet und scrollte weiter durch die Akte. Unter Emmas Eintrag fanden sich noch ein weiterer Name und ein weiteres Foto. Der dazugehörige Vermerk war genau wie Emmas nur mit Fragezeichen versehen.
Aleksander biss sich auf die Unterlippe. Die Anweisungen sahen eindeutig vor, dass er in diesem Fall erst Emmas Spur zu Ende verfolgen sollte, ehe er sich einem neuen Ziel zuwandte. Doch Emma hatte sich nicht nur als unvorhergesehenes Hindernis entpuppt, sie stand jetzt zudem unter der genauen Beobachtung der Polizei und war gewarnt. Es würde schwierig werden, unentdeckt an sie heranzukommen, wenn nun auch noch Beamte vor ihrer Haustür stationiert waren. Außerdem gab es überhaupt keine Sicherheit, dass sie ihn überhaupt hatte.
Andererseits bestand die Möglichkeit, dass die Ermittler ihnen nun auf die Spur kamen. Dennis lag zwar bewusstlos im Krankenhaus, trotzdem konnte er eine Gefahr für ihre Operation bedeuten, sollte die Polizei herausfinden, wer er war – und vor allem für wen er arbeitete. Das könnte alles aufs Spiel setzen. Sie mussten die Sache „Emma Anders“ so schnell wie möglich erledigen.
Aleksander seufzte und traf eine Entscheidung. Dies war jetzt seine Operation. Möglicherweise würde es sie weiter bringen, wenn er Emma zunächst ausließ und sich das nächste Ziel auf der Liste vornahm.