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Daniel Holbe

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Beschreibung

Ein neuer spannender Kriminalroman vom Bestseller-Autor Daniel Holbe um das Ermittlerteam Sabine Kaufmann und Ralph Angersbach Volksfest mit Todesfolge Mord auf dem Bad Vilbeler Markt . Die Vorbereitungen für das alljährliche Volksfest laufen auf Hochtouren. Da trifft bei der Polizei eine Nachricht mit einer Drohung ein: Auf dem Volksfest soll sozusagen als krönender Abschluss ein Attentat auf die Ordnungshüter verübt werden. Sofort werden alle Kräfte in höchste Alarmbereitschaft versetzt, das LKA wird angefordert, darunter Sabine Kaufmann, und zur Verstärkung muss auch Ralph Angersbach anrücken, dem solche Großveranstaltungen eigentlich ein Gräuel sind. Sabine und Ralph versuchen mit ihren Kollegen das Schreckliche zu verhindern. Zunächst scheint nahe zu liegen, dass die Drohung mit den Ermittlungen zusammenhängt, die gerade in Bad Vilbel durchgeführt werden und bei denen es um den Verdacht der Bestechung und Korruption bei der Vergabe der Lizenzen für die Schausteller geht. Doch dann führen die Spuren plötzlich in eine ganz andere Richtung … Der fünfte Fall in der Krimi-Reihe um das Team Sabine Kaufmann und Ralph Angersbach. Die vorigen Bände: Band 1: "Giftspur" Band 2: "Schwarzer Mann" Band 3: "Sühnekreuz" Band 4: "Totengericht"

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Daniel Holbe / Ben Tomasson

Blutreigen

Kriminalroman

Knaur eBooks

Über dieses Buch

Mörderisches Volksfest

 

Die Vorbereitungen für den alljährlichen Bad Vilbeler Markt laufen auf Hochtouren. Da erreicht die Polizei eine tödliche Drohung: Auf dem Volksfest soll, sozusagen als krönender Abschluss, ein Attentat auf die Ordnungshüter verübt werden. Sofort werden alle Kräfte in höchste Alarmbereitschaft versetzt. Neben Sabine Kaufmann muss auch Ralph Angersbach anrücken, dem Massenveranstaltungen eigentlich ein Gräuel sind. Zunächst scheint der Zusammenhang mit einem Fall von Bestechung und Korruption bei der Vergabe der Lizenzen für die Schausteller offensichtlich. Doch dann führen die Spuren plötzlich in eine ganz andere Richtung ...

Ein neuer Fall für Sabine Kaufmann und Ralph Angersbach, der die beiden Ermittler an ihre Grenzen führt.

Inhaltsübersicht

Vorbemerkung

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

8. Kapitel

9. Kapitel

10. Kapitel

11. Kapitel

12. Kapitel

13. Kapitel

14. Kapitel

15. Kapitel

16. Kapitel

17. Kapitel

18. Kapitel

19. Kapitel

20. Kapitel

21. Kapitel

22. Kapitel

23. Kapitel

24. Kapitel

25. Kapitel

26. Kapitel

27. Kapitel

28. Kapitel

In eigener Sache

Leseprobe »Strahlentod«

 

 

 

 

Die Handlung dieses Buches ist um den Bad Vilbeler Markt angesiedelt, ein Volksfest mit langer Tradition. Ganz bewusst haben wir dabei Sachverhalte und Zusammenhänge verfälscht, um zu vermeiden, mit realen Personen oder Begebenheiten in Konflikt zu geraten. Vergessen Sie also bitte nicht: Diese Geschichte und sämtliche Beteiligte sind frei erfunden!

1

Zehn Tage vor dem Bad Vilbeler Markt

Der Vogelsberg ließ ihn nicht los. Nachdem sich der Traum vom eigenen Haus in Fuchsrod zerschlagen hatte, konnte er seiner Mietwohnung in Gießen noch weniger abgewinnen als zuvor. Das einzig Positive war der kurze Weg zum Präsidium. Aber jedes Mal wenn Ralph Angersbach seinen Vater besuchte und durch die herrliche Landschaft mit ihren ansteigenden Hügeln und den bewaldeten Bergrücken, den Flickenteppichen aus Wiesen und Feldern und den schmalen, gewundenen und wenig befahrenen Straßen unterwegs war, blutete ihm das Herz. Hier gehörte er hin, hier wollte er leben.

Das Geld dafür hätte er; nach dem Verkauf des Hauses in Okarben, das ihm seine Mutter vermacht hatte, war zumindest für eine Anzahlung genügend Kapital vorhanden. Für seine Halbschwester Janine, die er zusammen mit jenem Haus in der südlichen Wetterau geerbt hatte, musste er nicht mehr sorgen. Sie lebte in einer Wohngemeinschaft in Berlin, zusammen mit Morten, einem australischen Jurastudenten. Seit dem letzten Herbst besuchte sie die Abendschule, um ihr Abitur nachzuholen. Sie hatten nur selten Kontakt; er mochte sich nicht aufdrängen, und Janine hatte so viel anderes zu tun, aber er war froh, dass es sie gab. Wenn er daran dachte, dass sie plante, nach dem Abitur und Mortens Abschluss mit ihm nach Australien zu gehen, zog sich ihm der Magen zusammen. Und das nicht nur wegen allerlei giftiger Tiere und der immer heißer werdenden Sommer. Aber noch waren das zum Glück ungelegte Eier.

Weitaus mehr beschäftigte ihn der Wunsch nach einem eigenen Haus. Eines, das so aussah wie das seines Vaters. Sein alter Herr hatte schon einige Male vorgeschlagen, ebenfalls eine Wohngemeinschaft zu gründen, aber das war ihm dann doch zu eng. Zumal die anderen Mitbewohner, an die sein Vater dachte, als ergraute Hippies und Altachtundsechziger im Hinblick auf den Konsum von Rauschmitteln nicht unbedingt gesetzestreu waren; etwas, das Ralph nicht akzeptieren konnte.

Nein, er wollte etwas Eigenes.

Deshalb fuhr er jedes Wochenende kreuz und quer durch den Vogelsberg, in der Hoffnung, irgendwo die Perle zu entdecken, von der er träumte. Schließlich war er schon einmal auf ein Schmuckstück gestoßen, das gerade zum Verkauf stand, damals in Fuchsrod. Dass aus dem Hauskauf nichts geworden war, stand auf einem anderen Blatt.

Angersbach steuerte den alten grünen Lada Niva über eine holprige Nebenstraße, während er den Blick über die Häuser rechts und links seines Wegs schweifen ließ.

Tatsächlich war die Suche nach der Perle eher eine nach der Nadel im Heuhaufen. Je länger er sich damit beschäftigte, desto mehr beschlich ihn das Gefühl, dass es das, was er sich erträumte, gar nicht gab. Es mangelte freilich nicht an leer stehenden Immobilien, doch mittlerweile wusste Ralph recht gut zu entschlüsseln, was sich hinter blumigen Begriffen wie »Heimwerker-Paradies« oder »Schmuckstück zum Wiederbeleben« verbarg. An die eine Ausnahme, die seinen Traum noch übertroffen hätte, dachte er lieber nicht. Dieses Haus wäre selbst dann unerschwinglich gewesen, wenn man ihn schon vor Jahren ein paar Gehaltsklassen höher eingestuft hätte.

Er zuckte zusammen, als sein Smartphone auf dem Beifahrersitz zu vibrieren begann. Mit einer Handbewegung, die inzwischen in Fleisch und Blut übergegangen war, schaltete er das Gespräch per Bluetooth auf sein Autoradio; eine Modernisierung, die er sich vor einiger Zeit gegönnt hatte. Aufs Display sah er nicht. Deshalb traf ihn die Stimme, die aus dem Lautsprecher erschallte, wie eine Sturmbö.

»Angersbach?«, schnarrte der Anrufer.

Es war Kriminaloberrat Horst Schulte, Koordinator der Abteilung für Gewaltdelikte bei der Regionalen Kriminalinspektion Friedberg. Derselbe Mann, der auch verantwortlich für das Projekt »Mordkommission in Bad Vilbel« gewesen war. Das Experiment, zwei Außenstellen des K10 in der Polizeistation Bad Vilbel zu schaffen, hatte nicht überall für Begeisterung gesorgt. Schon gar nicht beim dortigen Dienststellenleiter. Ralph Angersbach war einer der beiden Kommissare gewesen, gemeinsam mit Sabine Kaufmann. Seine Gedanken kehrten zu dem Anrufer zurück, der in der Leitung auf eine Antwort wartete.

»Ja! Am Apparat.« Obwohl er dank Bluetooth beim Fahren telefonieren konnte, lenkte Ralph den Wagen an den Straßenrand und stellte den Motor ab. Er hatte den Verdacht, dass er für das Gespräch seine gesamte Konzentration brauchen würde.

Schulte kam sofort auf den Punkt, er war kein Mann, der lange um den heißen Brei herumredete. »Ich nehme an, Ihnen ist bekannt, dass der Bad Vilbeler Markt vor der Tür steht?«

»Ja.« Auch wenn Ralph mittlerweile wieder in Gießen und damit einem anderen Bezirk zugeordnet war, bekam er von den umfangreichen Vorbereitungen immer etwas mit. Das Volksfest blickte auf eine fast zweihundertjährige Tradition zurück und wurde Mitte August ausgerichtet. Nach mehreren furchtbaren Anschlägen auf feiernde Menschen in verschiedenen Städten war in den vergangenen Jahren das Sicherheitskonzept für diesen Markt deutlich ausgebaut worden. Immer wieder wurden externe Beamte angefordert, und immer mehr versuchte man dennoch, einen normalen Anschein zu wahren. In seiner Zeit in Bad Vilbel hatte Ralph Angersbach den Markt allerdings gemieden. Er hatte diesen Massenveranstaltungen noch nie etwas abgewinnen können, zu viele Menschen auf viel zu engem Raum: um Aufmerksamkeit heischende Marktschreier, kreischende Jugendliche in den Fahrgeschäften, grölende Betrunkene, plärrende Kinder, schimpfende Eltern … Und dazu die laute Musik, die einen von allen Seiten beschallte und sich, zusammen mit den surrenden Motoren der Karussells, zu einer Kakophonie mischte, die nichts als ohrenbetäubender Lärm war.

»Das betrifft auch Ihre ehemalige Dienststelle. Die Kollegen spielen im Sicherheitsmanagement eine wichtige Rolle. Ich habe die Koordination übernommen. Der Kollege Möbs ist ja mittlerweile im Ruhestand.«

Ralph war für einen Moment überrascht, obwohl es ihm hätte bewusst sein müssen. Konrad Möbs, der damalige Dienststellenleiter, hatte zwar seit vielen Jahren immer wieder seinen neunundvierzigsten Geburtstag gefeiert, aber jeder hatte gewusst, wie alt er wirklich war. Ralph rechnete nach. Inzwischen musste Möbs fünfundsechzig sein. Möbs war froh gewesen, als man das K10 zunächst auf eine Stelle reduziert und schließlich ganz eingestampft hatte und erst Ralph Angersbach und ein Jahr später Sabine Kaufmann aus Bad Vilbel weggegangen waren, Angersbach zurück zum K11, der Mordkommission der RKI Gießen, Kaufmann nach Wiesbaden zum LKA.

»Hm«, brummte Ralph. Was sollte er auch dazu sagen? Doch ihm schwante nichts Gutes.

Schulte räusperte sich. »Weshalb ich Sie anrufe: Wir haben ein Problem.«

»Aha?« Was immer es sein mochte, es ging ihn nichts an. Auch wenn die Polizeistation Bad Vilbel genau wie die RKI Gießen zum Polizeipräsidium Mittelhessen gehörte – sein Job waren Kapitalverbrechen, nicht die Erstellung von Sicherheitskonzepten für Großveranstaltungen.

Schulte hörte offenbar die Ablehnung in seiner Stimme. »Ich weiß, dass Sie damals nicht im Frieden auseinandergegangen sind. Aber Konrad ist nicht mehr da. Und mit den anderen Kollegen haben Sie sich doch gut verstanden?«

Das musste Angersbach einräumen.

»Also, die Sache ist die: Wir haben ein Drohschreiben erhalten. Von einem unbekannten Absender.«

»So?« Ralph verspürte ein unangenehmes Kribbeln im Nacken. »Was steht darin?«

»Der Absender kündigt an, dass es einen Anschlag geben soll. Auf die Polizei Bad Vilbel. Er schreibt, das Attentat solle den krönenden Abschluss des diesjährigen Marktes bilden.«

Angersbach wurde innerlich kalt. Das war nichts, was man auf die leichte Schulter nehmen durfte.

»Ich komme«, sagte er rau.

»Danke.« Obwohl Schulte vermutlich nichts anderes erwartet hatte, wirkte er erleichtert. »Sie finden mich in meinem Büro in Friedberg.«

 

Sabine Kaufmann drehte den Hahn über der Wanne zu und goss ein wenig von dem teuren Badezusatz ins Wasser, den sie sich gegönnt hatte. Ein angenehmer Duft nach Lavendel breitete sich aus. Sie legte ihre Kleidung ab, faltete sie auf dem Hocker neben dem Waschbecken und steckte den rechten großen Zeh ins Wasser. Die Temperatur war perfekt. Mit einem Seufzen ließ sie sich in die Wanne gleiten.

Auf diesen Moment hatte sie sich schon die ganze Woche gefreut. Sie fühlte sich überarbeitet und ausgelaugt. Zu viele Fälle, zu viele undurchsichtige Geschäfte, zu viel Zeit am Schreibtisch. Die Jagd nach Tätern, die in die Zuständigkeit des Landeskriminalamts fielen, war eine deutlich trockenere Angelegenheit als die Suche nach gewöhnlichen Mördern. Häufig ging es um Organisierte Kriminalität. Ehe eine Festnahme erfolgen konnte, mussten Verdächtige oft monatelang observiert werden. Es gab Unmengen von Papieren durchzuarbeiten. Alles in allem kam sie zu selten auf die Straße.

Kaufmann lehnte den Hinterkopf an den Wannenrand und schloss die Augen. Die Wärme löste die verkrampfte Muskulatur in Schulter und Nacken, und sie spürte, wie sie sich entspannte. Aus dem eingebauten Radio neben der Tür ihres Badezimmers perlte leise Musik. Es war eine der Annehmlichkeiten der Wohnung im Wiesbadener Stadtteil Dotzheim, die sie direkt nach der Grundsanierung und Renovierung bezogen hatte. Entsprechend hoch war die Miete, fast tausend Euro warm. Aber da sie ansonsten so gut wie keine Ausgaben hatte, konnte sie sich den Luxus leisten.

Ihr Kopf wurde schwer und füllte sich mit einer angenehm dumpfen Leere. Beinahe wäre sie eingedöst, doch da schrillte das Telefon im Wohnzimmer. Sabine öffnete die Augen und stöhnte.

Nein. Nicht jetzt, beschloss sie.

Es klingelte fünf-, sechs-, siebenmal, dann brach der Klingelton ab.

Na also.

Kaufmann lehnte sich lächelnd zurück und schloss die Augen wieder.

Im Wohnzimmer erklang die Melodie ihres Handys.

»Verdammt.« Warum hatte sie das Gerät nicht mit ins Bad genommen und auf den Hocker neben der Wanne gelegt?

Weil sie nicht telefonieren, sondern ihre Ruhe haben wollte, antwortete sie sich selbst. Doch der Anrufer war hartnäckig. Das Klingeln des Smartphones brach ab, als sich die Mailbox einschaltete, setzte aber zehn Sekunden später erneut ein.

Offenbar war es wichtig.

Sabine stieg seufzend aus der Wanne, rieb sich notdürftig mit dem flauschigen Handtuch ab, das sie bereitgelegt hatte, und schlüpfte in den Bademantel. Dann lief sie ins Wohnzimmer, gerade als das Smartphone zum dritten Mal zu klingeln begann. Sie nahm es zur Hand und sah, dass der Anrufer ihr Vorgesetzter war, Kriminaloberrat Julius Haase.

Was vermutlich bedeutete, dass es Arbeit gab.

 

Eine halbe Stunde später fuhr sie mit ihrem silberfarbenen Renault Zoe auf der A66 von Wiesbaden in Richtung Frankfurt. Am Nordwestkreuz wechselte sie auf die A5 nach Norden. Gut fünfzehn Kilometer, dann kam die Abfahrt zur B455 nach Friedberg. Sabine durchfuhr die erste Stadt, Rosbach, um festzustellen, wie sehr sich alles verändert hatte. Neue Straßen, ein ganz neues Wohnviertel. Der äußerste Speckgürtel des Rhein-Main-Gebiets mit direkter Anbindung an die Autobahn. Sie erreichte Friedberg und passierte einen Kreisel, der so gebaut worden war, dass die US-Panzer der hiesigen Kaserne ihn bei Manövern über eine Schranke direkt überfahren konnten, und nahm die erste Ausfahrt, die sie entlang eines Industriegebiets zur Regionalen Kriminalinspektion führte. Ein Weg, den sie immer noch auswendig beherrschte. Während sie ohne Eile die letzten paar Hundert Meter fuhr, dachte Sabine darüber nach, was ihr Chef Julius Haase ihr mitgeteilt hatte.

Kriminaloberrat Horst Schulte aus Friedberg hatte sich ans Landeskriminalamt gewandt, weil bei der Polizeistation Bad Vilbel ein Drohbrief eingegangen war. Man kündigte einen Anschlag auf die Polizei im Zusammenhang mit dem Vilbeler Markt an. Für solche Dinge war das LKA zuständig.

Es rührte sie, dass ihr ehemaliger oberster Vorgesetzter aus ihrer Zeit in der Mordkommission in Bad Vilbel explizit darum gebeten hatte, sie für diesen Fall abzustellen. Trotzdem widerstrebte ihr dieser Ausflug in die Vergangenheit. Nicht nur, weil sie und Konrad Möbs, der Bad Vilbeler Dienststellenleiter, alles andere als freundschaftlich auseinandergegangen waren. Bad Vilbel beschwor noch eine Reihe anderer unangenehmer Erinnerungen herauf.

An die letzten Jahre, die sie dort zusammen mit ihrer Mutter gelebt hatte, weil diese nicht allein zurechtkam – paranoide Schizophrenie, die sich auch mit Medikamenten nicht hundertprozentig kontrollieren ließ. Ihre Mutter hatte Betreuung und Hilfe gebraucht. Das war oft schwer gewesen, und Sabine hatte sich manches Mal gewünscht, die Dinge wären anders. Bis zu dem Tag, an dem man Hedwig Kaufmann ermordet hatte.

Seit ihre Mutter tot war, vermisste sie sie schmerzlich. Statt sich der Trauer zu stellen, war sie geflohen. Es war einer der Gründe für ihre Entscheidung gewesen, zum LKA nach Wiesbaden zu gehen. Nach Bad Vilbel kam sie nur noch, um das Grab ihrer Mutter zu besuchen, und das tat sie nicht oft. Es wühlte zu vieles auf, und sie konnte nicht gut damit umgehen.

Als sie die ersten Häuser von Friedberg erblickte, kamen ihr die Tränen. Vielleicht hätte sie doch auf Haase hören sollen, der ihr bei ihrem Dienstantritt beim Landeskriminalamt geraten hatte, sich Hilfe bei einem Psychotherapeuten zu holen. Den Mord an der eigenen Mutter zu verkraften war nichts, was man allein gut bewältigen konnte. Sie hatte seine Empfehlung in den Wind geschlagen, weil sie nicht noch mehr aufwühlen wollte. Ohnehin hatte sie sich schon wie ein leckgeschlagenes Schiff gefühlt. Ein Therapeut hätte sich nicht damit zufriedengegeben, ihre Gefühle in Bezug auf den Tod ihrer Mutter zu besprechen. Er hätte auch in ihrer Vergangenheit gewühlt und über den Vater reden wollen, der die Familie verlassen hatte, als Sabine ein kleines Mädchen gewesen war, um irgendwo in der spanischen Sonne ein neues Leben anzufangen. Doch mit diesem Thema wollte sie sich nicht auseinandersetzen, wie mit so vielen anderen auch nicht. In der letzten Zeit hatte sie allerdings der Verdacht beschlichen, das wachsende Gefühl der Leere, das sie von innen heraus aufzufressen schien, könnte womöglich etwas damit zu tun haben, dass sie alle Probleme in die dunklen Kellerräume ihrer Seele verbannte, statt sich ihnen zu stellen.

Doch jetzt gab es zunächst anderes zu tun. Bad Vilbel stand der Marktbeginn bevor, und nun drohte ein Verrückter mit einem Anschlag auf die Polizei. Sie musste herausfinden, wer derjenige war, und ihn unschädlich machen, im besten Fall, ehe das Volksfest begann. Das Letzte, was die Stadt brauchte, war eine blutige Katastrophe, die sich ausgerechnet hier abspielte. Sie lenkte den Zoe auf den Parkplatz der Regionalen Kriminalinspektion und blinzelte. Neben dem silbernen E-Klasse-Mercedes, der, wie sie wusste, Horst Schulte gehörte, parkte ein dunkelgrüner Lada Niva.

Kaufmann kannte nur einen Menschen, der eine derart in die Jahre gekommene, schlecht gefederte und hässliche Schrottkiste fuhr.

2

Ostdeutschland, vier Jahre vor der Wende

Die Zeit verrann unerbittlich. Kostbare Sekunden, Minuten. Wenn sie sich nicht bald auf den Weg machten, würden sie zu spät kommen. Aber die Männer in den grauen Uniformen hatten keinen Grund, sich zu beeilen. Sie genossen ganz offensichtlich, was sie taten.

Schubladen und Schranktüren wurden aufgerissen, der Inhalt herausgezerrt und auf dem Boden verteilt. Papiere wurden durchwühlt, Dokumente gründlich geprüft. Es klirrte, als einer der Volkspolizisten die Besteckschublade umdrehte und Messer, Gabeln und Löffel zu Boden fielen.

Rico ballte die Fäuste, öffnete und schloss die Hände immer wieder. Er hörte den eigenen Herzschlag, und das Blut rauschte ihm in den Ohren. Sein ganzer Körper kribbelte. Warum waren sie ausgerechnet heute gekommen?

Sein Vater stand an der Wand, schmal und stocksteif, die Arme verschränkt, das Gesicht wachsweiß. Die Haare hingen ihm strähnig ins Gesicht. Er wollte es sich nicht anmerken lassen, aber Rico kannte seinen Vater. Er wusste, dass er Angst hatte.

Wenn sie etwas fanden, das ihr Misstrauen erregte, wenn sie sie mitnahmen, war alles verloren.

Rico schloss die Augen. Er musste an etwas anderes denken. An die Zukunft. Wie er mit seinen neuen Fußballschuhen über den Platz stürmte, den Ball eng führte, die gegnerische Abwehr spielerisch umdribbelte und abzog. Tor! Er riss die Arme hoch, hörte das begeisterte Johlen der Zuschauer. Dann waren seine Mitspieler bei ihm, klatschten ihn ab, schlugen ihm auf die Schulter, rannten ihn fast über den Haufen. Er schaute zur Ehrentribüne, wo Franz Beckenbauer saß. Der Bundestrainer hob den Daumen für ihn!

Ein harter Knall.

Rico riss die Augen auf.

Einer der Volkspolizisten schlug mit seinem Gewehrkolben auf das Schloss der Schreibtischschublade. Es sprang auf, und der Mann riss die Unterlagen heraus. Der Anführer blätterte sie durch. Er hatte ein hässliches Mopsgesicht, tief liegende Augen und dicke Tränensäcke darunter, dazu einen breiten Mund mit wulstigen Lippen, die sich jetzt wütend verzerrten. Er warf die Papiere auf den Boden und gab seinen Männern einen Wink.

»Wir ziehen ab.«

Schwere Stiefel auf den Holzbohlen, das Scheppern der Ausrüstung, finstere Mienen. Dann war nur noch der Anführer im Raum. Er hob drohend den Zeigefinger. »Dieses Mal hast du Glück gehabt. Aber verlass dich nicht darauf. Wir haben ein Auge auf dich.«

Damit wandte er sich ab und folgte seinen Männern. Ricos Vater stöhnte auf. »Verdammt.« Sein Blick wanderte zur Uhr über der Anrichte. »Schon so spät.«

Er öffnete die Wohnungstür einen Spalt, lauschte ins Treppenhaus. Rico hielt die Luft an. Es war nichts mehr zu hören.

Sie sahen aus dem Fenster.

Vor dem Haus stiegen die Volkspolizisten in ihre Wagen und fuhren davon.

»Los jetzt. Schnell!«

Sein Vater riss die Tür weit auf. Rico beeilte sich, ihm zu folgen.

Hastig liefen sie die Stufen hinunter bis in den Keller. Der Hinterausgang war nicht verschlossen, dafür hatten sie schon am frühen Abend gesorgt. Sie huschten hinaus, kletterten über die Mauer aufs Nachbargrundstück und rannten zu dem kleinen Verschlag, in dem der Nachbar seine Gartengeräte verwahrte. Sein Vater öffnete die Tür und holte die beiden Rucksäcke heraus, die sie am Nachmittag dort deponiert hatten. Darin befand sich alles, was sie mitnehmen wollten. Geld, ein paar Klamotten, einige Erinnerungsstücke. Es war nicht viel, aber Rico war das gleichgültig. Im Austausch für das, was sie zurückließen, würden sie eine Zukunft bekommen.

***

Kriminaloberrat Horst Schulte war alt geworden. Das früher volle braunschwarze Haar und die buschigen Augenbrauen, die an einen Habicht erinnerten, waren grau, die Tränensäcke schwerer, die Haut um den Mund herum faltiger. Kein Wunder, dachte Ralph Angersbach. An ihm selbst gingen die Jahre ja ebenfalls nicht spurlos vorbei. Mittlerweile war auch sein Haar von etlichen grauen Strähnen durchzogen, und seit einiger Zeit beobachtete er vermehrten Haarausfall.

Angersbach überlegte, wann er Schulte zuletzt gesehen hatte, und stellte fest, dass die Begegnung bereits einige Jahre zurücklag. Schade eigentlich. Er hatte den energischen und geradlinigen Kollegen immer geschätzt.

Schulte und er hatten in der Sitzgruppe in Schultes Büro Platz genommen. Die Sekretärin hatte Kaffee und Kekse gebracht. Ralph trank einen Schluck. Der Kaffee war zu stark, doch hieß es in der Werbung nicht immer, dass Koffein das Haarwachstum stärke? Mit einem flüchtigen Schmunzeln nahm er sich das Schreiben vor, das die Bad Vilbeler Kollegen an Schulte gefaxt hatten.

In diesem Jahr wird der Vilbeler Markt mit einem Feuerwerk der besonderen Art enden. Der Tod wird den krönenden Abschluss bilden. Denkt daran: Ich habe euch im Visier. Eure Tage sind gezählt. Auf den Sünder wartet das Höllenfeuer. Macht euch bereit und sprecht euer letztes Gebet. Ihr entkommt mir nicht.

Natürlich ohne Unterschrift. Auf dem Umschlag, von dem Schulte ebenfalls eine Kopie erhalten hatte, stand in fetter Arial Black die Anschrift der Polizeistation, der Riedweg in Bad Vilbel, dem Schriftbild nach zu urteilen mit einem Laserdrucker ausgedruckt. Ein Absender fehlte.

Ralph hielt den Zettel hoch. Sein Schmunzeln war verschwunden. »Sicher, dass das nicht nur ein Dummejungenstreich ist?«

Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Wir haben selbstverständlich sofort das LKA kontaktiert. Es gibt dort Kollegen, die auf linguistische Analysen spezialisiert sind.«

Schulte stand auf und nahm ein Blatt von seinem Schreibtisch. »Der Verfasser zeichnet sich durch eine sichere und differenzierte Verwendung der deutschen Sprache aus«, las er vor. »Der Text lässt auf einen umfangreichen Wortschatz schließen, der gut beherrscht wird. Er ist grammatikalisch korrekt und fehlerfrei. Die hohe Stilsicherheit und Eloquenz deuten auf einen Schreiber mit höherem Bildungsniveau hin, der wenigstens die allgemeine Hochschulreife, eventuell auch einen Hochschulabschluss erworben hat.«

Schulte ließ die Hand mit dem Papier sinken. »Das klingt nicht nach dummen Jungen, oder was meinen Sie?«

»Nein.« Angersbach kniff die Augen zusammen. Wenn man das Schreiben ernst nahm, stand ein gewalttätiger Anschlag auf die Polizeistation zu befürchten. Wäre es dann nicht angebracht, nicht nur die Analyse des Schriftstücks, sondern den ganzen Fall dem Landeskriminalamt zu überlassen, statt einen einzelnen Beamten der Gießener Mordkommission zurate zu ziehen? Er wollte gerade eine entsprechende Bemerkung machen, als es an der Tür klopfte.

Horst Schulte lächelte. »Herein«, rief er.

Ralphs Herz machte einen Satz, als sie eintrat. Obwohl er sich nach den gemeinsamen Ermittlungen in Fuchsrod geschworen hatte, den Kontakt aufrechtzuerhalten, war er wieder abgerissen. Er war einfach unglaublich schlecht in diesen Dingen. Vielleicht hatte er auch Angst davor gehabt, zu hören, wie es Sabine mit den Verletzungen erging, die sie erlitten hatte. Seine gebrochene Rippe war längst verheilt, aber die Erinnerung an den Fall verfolgte ihn oft nachts in seinen Träumen. Wer wusste schon, wie es bei ihr war?

Erst jetzt ging ihm auf, dass er sie vermisst hatte. Das Lächeln entfaltete sich wie von selbst auf seinen Lippen, wurde aber nicht erwidert.

»Ralph.« Kaufmann nickte ihm ernst zu. Sie hatte Berufliches und Privates schon immer besser zu trennen gewusst als er.

Angersbach wusste nicht genau, was er tun sollte. Aufzustehen und sie zu umarmen war zu viel, ein einfaches Händeschütteln im Sitzen zu wenig. Am Ende tat er gar nichts. Es fiel nicht weiter auf, weil Horst Schulte mit großen Schritten auf Sabine zuging. Er fasste sie an den Schultern und schaute sie mit väterlicher Neugier an.

»Frau Kaufmann. Gut sehen Sie aus.« Er ließ sie wieder los. »Ich bin froh, dass Julius meinem Wunsch entsprochen hat.« Schulte wandte sich zu Angersbach um. »Kriminaloberrat Julius Haase, Frau Kaufmanns Vorgesetzter im LKA. Ich habe ihn gebeten, Frau Kaufmann für diese Ermittlung abzustellen. Bei Bedarf werden weitere Kollegen dazukommen. An die Herren Schmittke und Rahn erinnern Sie sich vielleicht noch?«

Ralphs Laune verschlechterte sich zusehends. Natürlich erinnerte er sich. Die beiden LKA-Beamten hatten sie bei einem Fall in ihrer Zeit bei der Bad Vilbeler Mordkommission unterstützt. Zwei aufgeblasene Wichtigtuer, die alles besser wussten und wenig hilfreich waren. Einer rothaarig, einer blond, fiel ihm wieder ein, aber beide gleichermaßen blasse und verwaschene Charaktere. Ralph hatte sie nie auseinanderhalten können. Wozu auch? Nun gut, korrigierte er sich im Stillen, am Ende hatte sich ihre Mitarbeit doch noch als nützlich erwiesen. Trotzdem verspürte er nicht das geringste Bedürfnis, die beiden wiederzusehen.

Er stellte die Kaffeetasse beiseite und stand auf. »Schön. Wenn das LKA die Sache übernimmt, werde ich ja nicht gebraucht. Es fällt ohnehin nicht in meine Zuständigkeit.«

Schulte hob die Hand, Kaufmann die Augenbrauen.

»Das ist alles mit Ihrem Vorgesetzten besprochen«, stoppte ihn der Kriminaloberrat. »Die Regionalkriminalinspektion Gießen stellt Sie für die Zeit der Ermittlungen in Bad Vilbel frei, also bis zum Ende des Vilbeler Marktes.« Er wedelte mit den Armen, als wollte er eine Hühnerschar in den Stall treiben. Ralph und Sabine verstanden es als Aufforderung, sich zu setzen, und nahmen in den grauen Schwingsesseln Platz. Schulte nickte zufrieden und gesellte sich dazu.

»Uns allen ist daran gelegen, dass diese Sache möglichst wenig Staub aufwirbelt. Dieses Volksfest ist das bedeutendste der südlichen Wetterau, ein Aushängeschild und von erheblicher wirtschaftlicher Bedeutung. Und die Kollegen in Bad Vilbel sollen nicht mehr als nötig beunruhigt werden. Deshalb möchten wir, dass jemand die Angelegenheit bearbeitet, der sich dort auskennt und mit dem sie vertraut sind.«

Angersbach dachte, dass er außerordentlich beunruhigt wäre, wenn er einen solchen Brief bekäme, sagte aber nichts. Kaufmann kräuselte die Nase. »Ich weiß nicht, ob Möbs sich besonders freut, uns wiederzusehen.«

Schulte schaute sie nachsichtig an. »Konrad ist seit einigen Jahren im Ruhestand. Wo ich im Übrigen in drei Monaten auch sein werde. Die Landesregierung hat zwar meinem Antrag zugestimmt, meine Dienstzeit über das vorgesehene Rentenalter hinaus zu verlängern, weil ich nicht im exekutiven, sondern im administrativen Bereich tätig bin, aber mit zweiundsechzig ist endgültig Schluss.«

»Ach so.« Angersbach sah, dass Kaufmann sich entspannte. Mit Konrad Möbs war es zu einigen unschönen Zusammenstößen gekommen. »Dann sind also nur noch Mirco Weitzel und Levin Queckbörner in Bad Vilbel?«

»Gemeinsam mit einigen neuen Kollegen. Die Polizeistation ist wieder gut besetzt. Aber das werden Sie ja sehen.« Schulte schien keinen Zweifel zu haben, dass sie die Aufgabe übernahmen. Es war ja auch gar nicht ihre Entscheidung. Man hatte sie längst abgeordnet.

Ralph tauschte einen Blick mit Sabine.

»Okay«, sagte sie. »Dann fahren wir jetzt nach Bad Vilbel.«

»Mit deinem oder meinem Wagen?«, frotzelte Angersbach. Das war ein ständiger Streitpunkt zwischen ihnen. Kaufmann verurteilte seine veraltete Benzinschleuder, er belächelte ihr elektrisches Spielzeugauto. Ein Wagen, der nicht aufheulte und röhrte, wenn man Gas gab – das war doch kein Auto.

»Jeder mit seinem«, gab Kaufmann zurück. »Ich will anschließend nach Hause. Du nicht?«

Schulte ging dazwischen. »Es wäre mir lieber, wenn Sie vor Ort wären. Ich habe Ihnen bereits Zimmer in Bad Vilbel reserviert.«

Sabine wehrte ab. »So weit ist es nicht von Wiesbaden aus.«

»Von Gießen aus auch nicht«, stimmte Angersbach ein. Knapp vierzig Kilometer vielleicht, eine halbe Stunde Fahrzeit, solange man nicht im Stau stand.

Schulte ging zu seinem Schreibtisch und nahm einen Prospekt zur Hand, den er zwischen Ralph und Sabine auf den Tisch legte.

»Es wäre das Golfhotel Lindenhof in Dortelweil, drei Kilometer bis zur Polizeistation Bad Vilbel. Moderne und bestens ausgestattete Zimmer mit Balkon, weitläufige Anlage mit gepflegten Grünflächen, Terrassenrestaurant mit Blick auf den See.«

Angersbach schaute auf das Titelbild des Prospekts. Es weckte ohne Zweifel Begehrlichkeiten. Und warum eigentlich nicht? Auf diese Weise konnte man die Arbeit mit ein wenig Entspannung verbinden. In Gießen wartete niemand auf ihn. Sabine und er könnten im Hotelrestaurant zu Abend essen, ein, zwei Gläser Wein zusammen trinken und ein wenig von dem nachholen, was sie im vergangenen Jahr versäumt hatten.

Kaufmann blätterte den Prospekt durch. Ihr gingen wohl ähnliche Gedanken durch den Kopf, jedenfalls lächelte sie.

»Wenn das so ist … Dann fahre ich nur nach Hause, um zu packen.« Sie schaute zu Ralph. »Es ist vermutlich trotzdem besser, wenn jeder mit dem eigenen Auto fährt. Wir können uns anschließend gleich auf den Rückweg machen und schon heute Abend im Hotel sein.«

Horst Schulte lächelte zufrieden. »Machen Sie sich ein Bild. Erstatten Sie mir regelmäßig Bericht. Und versuchen Sie, so behutsam wie möglich zu agieren.«

»Klar.« Angersbach stand auf. Kaufmann tat es ihm gleich, allerdings warf sie ihm einen skeptischen Seitenblick zu.

Ralph ahnte, weshalb. Seine Kollegin glaubte, dass es ihm an Sensibilität mangelte. Dass er nicht in der Lage wäre, subtil vorzugehen. Ganz falsch lag sie damit nicht. Aber er würde ihr beweisen, dass er auch anders konnte.

Schulte hielt sie auf, ehe sie den Raum verließen. »Eine Sache noch: Bisher wissen nur die Kollegen Weitzel und Queckbörner von dem Drohbrief. Queckbörner hat ihn in Empfang genommen und geöffnet. Die beiden waren zu diesem Zeitpunkt allein in der Polizeistation. Ich habe sie angewiesen, mir das Dokument zuzuschicken und ansonsten Stillschweigen über das Schreiben zu bewahren. Es wäre mir sehr lieb, wenn das so bliebe.«

Angersbach schaute rasch zu Kaufmann und sah, dass sie die Stirn runzelte.

»Wäre es nicht besser …«, setzte er an, doch Schulte unterbrach ihn mit einer unwirschen Handbewegung.

»Nein. Es gibt keinen Grund, das gesamte Revier in Angst und Schrecken zu versetzen, solange wir nicht wissen, was an der Sache dran ist.« Die buschigen Augenbrauen zogen sich zusammen. »Nur für den Fall, dass wir uns nicht richtig verstanden haben: Das ist keine Empfehlung, sondern eine Dienstanweisung.«

Ralph lag einiges auf der Zunge, das er Schulte entgegenzusetzen gehabt hätte, doch er schluckte es hinunter. Besser, er stiftete nicht gleich in den ersten Stunden der Ermittlungen Unfrieden. Vielleicht hatte der Kriminaloberrat ja recht, und es gab tatsächlich keinen Grund, Panik zu verbreiten. Sie würden sich zunächst einen Überblick verschaffen, und dann konnte man Schultes Entscheidung immer noch diskutieren.

»Zu Befehl.« Angersbach tippte sich nachlässig mit zwei Fingern an die Stirn. Schultes Blick wurde noch ein wenig grimmiger.

»Nun gehen Sie schon«, forderte er.

Ralph hielt Sabine die Tür auf und folgte ihr durch den Flur nach draußen. An ihrem steifen Rücken konnte er ablesen, dass ihr die Sache ebenso wenig gefiel wie ihm.

 

Sabine Kaufmann startete ihren Renault Zoe und fuhr mit einem leisen Surren vom Hof der Regionalen Kriminalinspektion. Hinter ihr dröhnte der Motor von Ralphs Lada auf. Kaufmann rollte mit den Augen. Es war ihr ein Rätsel, was Ralph an dieser stinkenden Dreckschleuder fand. Vom ökologischen Aspekt einmal ganz abgesehen.

Sie lenkte den Wagen in Richtung Bad Vilbel. Mit jedem Meter, den sie der Stadt näher kam, verstärkte sich das mulmige Gefühl. Es gefiel ihr nicht, dass Horst Schulte die ganze Angelegenheit unter dem Deckel halten wollte. Wenn es nach ihr ginge, würden alle Vilbeler Kollegen sofort informiert werden. Schließlich mussten sie wissen, dass es eine Bedrohung gab.

Aber die Entscheidung lag nicht bei ihr. Schulte war zwar nicht mehr ihr direkter Vorgesetzter, aber er war der höherrangige Beamte. Sie war ihm gegenüber weisungsgebunden. Sich über seine Anordnung hinwegzusetzen würde ihr ein Disziplinarverfahren einbringen. Im schlimmsten Fall könnte es eine Degradierung und die Versetzung in eine unbedeutende Dienststelle zur Folge haben.

Dass sie in den nächsten Tagen und Wochen in der Stadt arbeiten würde, in der sie zuletzt mit ihrer Mutter gelebt hatte, bereitete ihr zusätzlich Bauchschmerzen. Sie würde an jeder Ecke mit Erinnerungen konfrontiert werden. Ein paar schönen vielleicht, vor allem aber schmerzlichen.

Ein Stück voraus tauchte am Straßenrand ein verwittertes Steinkreuz mit weißem Flechtenbewuchs auf. Das Sühnekreuz, jener Ort, an dem Hedwig Kaufmann ermordet worden war. Sabine spürte den Druck hinter den Augen, und heiße Tränen rannen ihr über die Wangen. Ungeduldig wischte sie sie weg.

Sie durfte jetzt nicht daran denken, sonst war sie nicht arbeitsfähig. Sie wollte auch nicht, dass einer der Kollegen merkte, wie aufgewühlt sie immer noch war. Es war ein hartes Stück Arbeit gewesen, sich in der Männerwelt der Polizei Respekt zu verschaffen. Gerade für eine kleine und zart gebaute Frau wie sie. Sie weckte bei Männern den Beschützerinstinkt, nicht das Gefühl, eine verlässliche Partnerin an ihrer Seite zu haben. Die Kollegen vom Gegenteil zu überzeugen hatte sie einiges gekostet. Auf keinen Fall wollte sie, dass sich daran etwas änderte. Trotzdem schaute sie immer wieder in den Rückspiegel, bis das Sühnekreuz nach einer lang gezogenen Kurve endlich ihren Blicken entschwand.

Sie passierte die Ortseinfahrt von Bad Vilbel, durchquerte den Kreisel, an dem die Friedberger Straße zur Kasseler Straße wurde, bog am nächsten in die Homburger Straße ab und fuhr am dritten Kreisel in die Straße Am Sportfeld. Von dort zweigte nach knapp hundertfünfzig Metern der Riedweg ab, in dem sich die Polizeistation befand.

Sabine parkte den Zoe auf dem Hof hinter dem L-förmigen, zweistöckigen Gebäude. Das weiße Haus mit den türkisen Fensterrahmen, in dem man auf den ersten Blick ein Ärztehaus aus den Neunzigerjahren vermuten konnte, hatte sie schon damals angesprochen. Mit dem hohen, über zwei Etagen reichenden Fenster über dem Eingang und den zahlreichen Gauben im mit hellroten Ziegeln gedeckten Dach sah es freundlich, solide und vertrauenerweckend aus.

Hinter ihr röhrte Angersbachs dunkelgrüner Lada Niva auf den Hof. Ralph stellte den Motor ab, kletterte aus dem Wagen und wartete neben seinem Fahrzeug.

Kaufmann atmete noch einmal tief durch und wischte sich mit einem Taschentuch die letzten Tränenspuren vom Gesicht. Dann griff sie nach ihrer Handtasche, hängte sie sich über die Schulter und stieg ebenfalls aus.

Eine neue Herausforderung wartete auf sie, und Sabine war bereit, sie anzunehmen.

3

Ostdeutschland, vier Jahre vor der Wende

Sie setzten die Rucksäcke auf und schlichen durch den Nachbargarten zur Straße. Es war absolut still, die Gegend war abgeschieden, kein Mensch war zu dieser späten Stunde unterwegs. Auf ein Zeichen seines Vaters überquerten sie die Straße und tauchten auf der anderen Seite in den Wald ein.

Der Weg zum vereinbarten Treffpunkt war nicht weit. Sein Vater hob den Arm und versuchte, auf dem Ziffernblatt seiner Armbanduhr etwas zu erkennen.

»Wir sind zu spät«, flüsterte er.

Rico wurde es flau. Er blickte sich suchend um. »Wo ist Mama?«

»Sie ist sicher schon im Wagen.« Sein Vater gab sich große Mühe, ruhig zu klingen, das hörte Rico. »Sie wollte gleich nach der Spätschicht hierherkommen und sich verstecken.«

»Aber …« Rico versuchte mit den Augen die Dunkelheit zu durchdringen. »Ich sehe keinen Wagen.«

»Wir gehen noch ein Stück weiter. Irgendwo müssen sie ja sein.« Die Stimme seines Vaters zitterte leicht, und Rico fröstelte. Er hätte sich jetzt gern an seinen Vater geschmiegt, aber dafür war er längst zu alt. Immerhin war er zwölf. Schon fast erwachsen.

Irgendwo heulte ein starker Motor auf. Im nächsten Moment brach ein gepanzertes Fahrzeug zwischen den Bäumen hervor und hielt auf die Grenze zu.

»Da sind sie!« Rico ruderte aufgeregt mit den Armen. Sein Vater riss ihn zurück.

Rico spürte, wie ihm die Tränen kamen. »Sie müssen uns doch mitnehmen.«

»Dafür ist es zu spät. Sie können jetzt nicht mehr anhalten.«

Rund um sie herum flammten starke Scheinwerfer auf. Das Licht brach sich in den Nebeltropfen, die wie ein weißer Schleier über den Wiesen hingen. Es sah unwirklich aus, eine Szene wie hinter einem halb durchsichtigen Vorhang.

Der Panzerwagen raste mit hoher Geschwindigkeit über die Rasenfläche. Ein Knall ertönte, so laut, dass er Rico schmerzhaft in den Ohren dröhnte. Unter dem linken Vorderrad des Fahrzeugs flog die Erde auf, ein kurzer, rötlicherSchimmer blitzte durch die weißen Schwaden. Doch derWagen stoppte nicht, er fuhr geradewegs durch das Minenfeld. Weitere Detonationen zerrissen die Stille in immerschnellerer Folge. Die Luft, die der Wind zu ihnen herübertrug, war erfüllt vom Geruch nach Rauch und Sprengmitteln.

Am Rand der Wiese formierte sich ein Trupp Grenzbeamter. Sein Vater zog Rico tiefer ins Gebüsch.

»Pass auf. Wenn sie uns entdecken, sind wir geliefert.«

Rico sah dem Wagen nach, der sich immer weiter entfernte, bis er hinter der Nebelwand verschwunden war. Es waren nur knapp zweihundert Meter, doch er hätte auch zum Mond katapultiert worden sein können. Dort drüben, wo sich seine Mutter nun befand, war eine andere Welt. West und Ost, dazwischen eine Mauer.

Er konnte die Tränen nicht länger zurückhalten.

»Was tun wir denn jetzt?«

Sein Vater legte ihm die Hand auf die Schultern. »Wir warten. Bis die Vopos abgezogen sind und die Scheinwerfer wieder ausgeschaltet werden. Dann rennen wir. Genau den Weg entlang, den der Wagen genommen hat. Jetzt ist es nicht mehr gefährlich. Die Minen sind alle explodiert, als er darübergefahren ist. Wir müssen nur schnell sein. Du bist doch schnell?«

Rico wischte sich die Tränen ab und nickte.

Oh ja. Er war schnell, schnell wie ein Pfeil. Deswegen entkam er jedem Gegenspieler. Niemand konnte ihn aufhalten.

***

Es war ein merkwürdiges Gefühl, das Polizeigebäude in Bad Vilbel wieder zu betreten, das vor Jahren sein Dienstort gewesen war, vertraut und fremd zugleich. Mirco Weitzel kam hinter dem Tresen hervor, als er sie erblickte. Er strahlte Sabine an und schloss sie in die Arme. Ralph verspürte einen leichten Stich der Eifersucht. Dabei konnte es ihm doch gleich sein. Er wollte nichts von Sabine. Wenn sie auf Männer wie Mirco stand, hatte er ohnehin keine Chance. Mirco war ein Frauentyp, groß, schlank, athletisch gebaut, das kurze, blonde Haar stets korrekt gestylt. Außerdem war er fast fünfzehn Jahre jünger als Ralph, viel eher in Sabines Alter also als er selbst. Zehn Jahre trennten ihn von ihr, er fast fünfzig, sie noch keine vierzig.

Weitzel führte sie in den kleinen Besprechungsraum, in dem der Tisch bereits gedeckt war. Levin Queckbörner, mit Anfang zwanzig der jüngste Beamte der Polizeistation, faltete Servietten und stellte sie auf die Teller. Er war füllig und wirkte ein wenig schwerfällig, doch Ralph wusste, dass der Eindruck täuschte. Levin war ausgesprochen flink im Kopf und außerdem zuverlässig und freundlich. Sie hatten nie zusammengearbeitet, aber Angersbach war sich sicher, dass er jemand war, mit dem man auskommen konnte.

»Es gibt Kuchen«, verkündete Mirco. »Schwarzwälder Kirschtorte mit echtem Kirschwasser.«

Kaufmann hob abwehrend die Hand. »Wir hatten schon Kaffee und Kekse bei Kriminaloberrat Schulte.«

Mirco blinzelte ihr zu. »Aber Levin hat extra für euch gebacken.«

Der junge Kollege mit dem rundlichen Gesicht, den dunklen, widerspenstigen Haaren und dem spärlichen Bartwuchs errötete leicht und wehrte bescheiden ab. »Nur wenn ihr wollt.«

Die eindrucksvolle Bassstimme passte nicht zu seiner kindlichen Erscheinung, das leicht pubertäre Krächzen darin schon eher.

»Ich nehme auf jeden Fall ein Stück«, verkündete Angersbach und ließ sich auf einem der Stühle nieder. Kaufmann setzte sich ihm gegenüber, und Weitzel nahm neben ihr Platz. Ralph verspürte schon wieder einen Stich. Der Neid auf die Leichtigkeit, mit der sich Mirco Frauen gegenüber verhielt, hatte sich im Laufe der Jahre kein bisschen abgenutzt.

Queckbörner verteilte Kaffee und Kuchen und hockte sich auf den letzten freien Stuhl.

»Schön, dass ihr hier seid«, eröffnete Mirco die Tafel. »Auch wenn der Anlass nicht so erfreulich ist.«

Sabine probierte den Kuchen und verdrehte genüsslich die Augen. »Lasst uns erst mal essen. Alles andere wäre eine Sünde.«

Levins Gesicht wurde flammend rot. Er schlug die Augen nieder. »Das Rezept ist von meiner Oma«, murmelte er verlegen. »Ich habe nur die Anleitung befolgt.«

»Das muss man auch können«, kommentierte Weitzel, und Angersbach fragte sich, ob er auf den selbst gebackenen Kuchen anspielte, den Ralph einmal anlässlich seines Geburtstags mitgebracht hatte. Er war zu lange im Ofen gewesen, und Angersbach hatte reichlich Kuvertüre auftragen müssen, um die dunklen Stellen zu verdecken. Aber zumindest hatte er sich Mühe gegeben.

Kaufmann jedenfalls konnte sich offensichtlich gut an sein kulinarisches Experiment erinnern. Sie grinste und zwinkerte ihm zu. Ralph versuchte, die Geste zu erwidern, doch es war wohl mehr eine Grimasse. Er war keiner, der gut über eigene Schwächen lachen konnte.

Mürrisch vertilgte er das Tortenstück. Es war exquisit, das musste der Neid Levin lassen. Als alle fertig waren und Queckbörner die Teller abgeräumt hatte, legte er die Kopie des Drohbriefs auf den Tisch.

Weitzel deutete darauf. »Das Original ist schon bei den Kollegen in Wiesbaden. Sie haben ihre Untersuchungen noch nicht abgeschlossen, aber soweit sie es bisher sagen können, handelt es sich um handelsübliches Druckerpapier. Ausgedruckt worden ist der Brief mit einem Laserprinter, zu Hause oder in irgendeinem Copyshop. Sie analysieren den Toner, um eventuell auf die Marke des Geräts rückschließen zu können. Aber das wird kaum reichen, um uns zu einem Verdächtigen zu führen.«

Er zeigte auf die Kopie des Umschlags. »Der wurde im Briefzentrum in der Gutleutstraße in Frankfurt abgestempelt. Dorthin gelangen alle Briefe aus den sogenannten Leitregionen sechzig und einundsechzig. Er wurde demzufolge in Frankfurt – das ist die sechzig – oder in Bad Homburg, Friedberg, Bad Vilbel oder Oberursel – das ist Region einundsechzig – eingeworfen. Viel zu viele Möglichkeiten, das hilft uns kein Stück weiter.«

Angersbach zog sein zerfleddertes Notizheft hervor. Kaufmann warf einen kurzen Blick darauf und schüttelte den Kopf. Sie öffnete ihre Handtasche, der sie ein dickes Notizbuch mit sauberem Einband und weißen Seiten entnahm. Ralph deutete ein Schulterzucken an. Welche Rolle spielte es, wie man seine Gedanken festhielt? Entscheidend war der Inhalt.

»Wir müssen uns dem Problem folglich von der anderen Seite nähern. Nicht über die Spuren, sondern über das Motiv. Wer könnte einen Grund haben, einen Anschlag auf die Polizeistation zu planen?«

Levin Queckbörner stand auf und verschwand kurz. Als er zurückkehrte, hatte er einen dicken Ordner in der Hand.

»Wir haben uns schon Gedanken darüber gemacht.« Er setzte sich und schlug den Ordner auf. »Es könnte jemand sein, der von uns festgenommen und verurteilt wurde und Rache geschworen hat. Häftlinge, die in den letzten Monaten entlassen wurden. Aber viel ist da nicht zu finden. Im Grunde gibt es nur zwei Möglichkeiten …«

Weiter kam er nicht.

Von draußen war ein Poltern zu hören. Ein dumpfer Knall, der, wie sie alle wussten, von der schweren Glastür zu den Diensträumen stammte, die nur mit der passenden Schlüsselkarte oder von innen mit dem Summer zu öffnen war. Die vier schauten einander alarmiert an. Weitzel sprang auf.

Harte Schritte erklangen, und dann wurde die Tür zum Besprechungsraum aufgestoßen. Mirco, der eben seine Hand nach der Klinke ausstrecken wollte, stoppte und zog seine Dienstwaffe. Auch Ralph, Sabine und Levin schnellten hoch und richteten ihre Pistolen auf die Tür.

Der Mann, der dort erschien, runzelte die Stirn. Dann lachte er höhnisch.

»Du liebe Güte. Machen Sie sich etwa ins Hemd wegen dieses albernen Briefchens?«

Ein kollektives Aufatmen, erleichtert und entnervt zugleich. Die vier Beamten ließen ihre Waffen sinken und steckten sie zurück in die Holster. Weitzel starrte den Mann böse an. »Wie sind Sie hier hereingekommen?«

Der Besucher hielt eine Plastikkarte hoch. »Mit der Schlüsselkarte natürlich.«

Mirco kniff die Augen zusammen. »Die hätten Sie eigentlich abgeben müssen!«

Konrad Möbs, Kriminalrat im Ruhestand, wischte den Tadel mit einer Handbewegung beiseite wie eine lästige Fliege. Er war mittlerweile komplett ergraut, hatte sich ansonsten jedoch kaum verändert. Die fünfundsechzig Jahre sah man ihm nicht an, dabei hatte er sich nie gesundheitsbewusst ernährt oder Sport getrieben. Er war wohl mit guten Genen gesegnet. Der Blick, mit dem er Ralph und Sabine maß, war so widerwillig wie immer.

»Dass wir uns noch mal über den Weg laufen«, schnaubte er und versuchte dabei, sarkastisch zu klingen. »Ich hätte jedenfalls nicht gedacht, dass wir uns wiedersehen.«

Kaufmann verschränkte die Arme vor der Brust. »Ging mir genauso.«

Möbs zog seinen langen Mantel aus und hängte ihn an die Garderobe. Dann setzte er sich an den Tisch und deutete auf die Kaffeetassen. Levin verstand die Aufforderung. Er eilte los und kehrte gleich darauf mit einer sauberen Tasse und einem Stück Schwarzwälder Kirschtorte für Möbs zurück.

»Mhm.« Möbs’ finstere Miene hellte sich ein wenig auf. »Selbst gebacken?«

Queckbörner legte zackig die Hand an den nicht vorhandenen Mützenschirm. »Jawohl, Chef. Rezept von meiner Großmutter.«

Möbs probierte und hob den Daumen. »Sehr gut. Wenn Sie Ihre Arbeit genauso machen …« Seinem Tonfall war zu entnehmen, dass er nicht daran glaubte.

Angersbach, der fassungslos neben seinem Stuhl gestanden hatte, setzte sich wieder und legte die Hände auf den Tisch.

»Um noch einmal auf die Eingangsfrage zurückzukommen: Was tun Sie hier?«

Sein ehemaliger Vorgesetzter schob sich ein weiteres Stück Torte in den Mund. »Horst hat mich angerufen«, schmatzte er. »Mich sozusagen auf Knien angefleht, Ihnen bei den Ermittlungen unter die Arme zu greifen. Niemand kennt sich schließlich mit dieser Polizeistation besser aus als ich. Und dass Ihre Kompetenzen begrenzt sind, haben Sie ja mehr als ein Mal unter Beweis gestellt.«

Ralph verspannte sich. »Wir haben alle Fälle, mit denen wir hier zu tun hatten, lückenlos aufgeklärt.«

»Weil Sie mehr Glück als Verstand hatten.«

Angersbach schnaufte. Seine Hände ballten sich wie von selbst zu Fäusten. Dieser verdammte aufgeblasene Fatzke!

Er spürte eine Bewegung an seiner Seite. Sabine rückte einen Stuhl heran, ließ sich neben ihm nieder und legte ihm die Hand auf den Arm. Noch einmal holte er tief Luft und ließ sie dann ganz bewusst entweichen. Er wusste ja, dass Möbs ihn provozieren wollte. Trotzdem brachte es ihn auf die Palme. Gut, dass Kaufmann eingegriffen hatte, sonst hätte er sich am Ende noch in Schwierigkeiten gebracht.

Er staunte, dass sie so gelassen blieb, dabei hatte sie in ihrer Vilbeler Zeit noch mehr unter Möbs zu leiden gehabt als er. Sie war wohl doch reifer und abgeklärter als er, und das, obwohl sie zehn Jahre jünger war.

»Ich nehme an, er hat Sie nicht dazugebeten, damit Sie hier Unfrieden stiften«, sagte sie betont ruhig.

Möbs funkelte sie an. »Er meinte, wir sollten uns zusammenreißen und über unsere alten Animositäten hinwegsehen. Weil es hier um etwas Größeres und Wichtigeres geht.«

»Richtig.« Kaufmann schob ihm die Kopie des Drohbriefs hin. »So wie ich das verstehe, wird hier der Mord an einem Polizisten angekündigt. Oder an mehreren, schließlich sind auch einige Formulierungen im Plural dabei. Und das Ziel ist vermutlich diese Polizeistation, sonst hätte der Absender das Schreiben wohl anders adressiert.«

»Ja, ja.« Möbs warf nur einen kurzen Blick darauf. »Das hat mir Horst schon erzählt.«

Ralph erinnerte sich, dass die beiden Männer befreundet waren, auch wenn Schulte in beruflicher Hinsicht nicht viel von Möbs gehalten hatte. »Möbs ist ein Blödmann«, hatte er einmal im Vertrauen zu Kaufmann und Angersbach gesagt, als sie während einer Ermittlung heftig mit ihrem Vorgesetzten aneinandergeraten waren. Schulte hatte ihnen empfohlen, Möbs nicht zu ernst zu nehmen. Schlussendlich schien er aber doch von seinen Fähigkeiten überzeugt, sonst hätte er ihn wohl jetzt kaum zurate gezogen.

Sabine machte Levin ein Zeichen. »Herr Queckbörner wollte gerade referieren, was seit Eingang des Drohschreibens unternommen wurde.«

»Sehr gut.« Möbs lehnte sich in seinem Stuhl zurück und winkte jovial. »Schießen Sie los.«

Levin zog den Ordner wieder zu sich heran.

»Wir haben nach einem Motiv gesucht. Wer hätte einen Grund, unsere Arbeit zu blockieren und sich an uns zu rächen?«

»Ja, natürlich. Das versteht sich doch von selbst.« Möbs ruderte mit den Armen. »Kommen Sie auf den Punkt, Mann.«

Queckbörner senkte den Blick. Seine Wangen färbten sich feuerrot. »Also, da wären zunächst mal die Ermittlungen, die wir zurzeit durchführen. Also eigentlich nicht wir, sondern die Dezentrale Ermittlungsgruppe.« Diese Abteilung hatte man neben der normalen Schutzpolizei in Bad Vilbel eingerichtet, um auf schwerere Delikte schneller reagieren zu können, als es der Fall wäre, wenn jedes Mal Beamte aus Gießen angefordert werden müssten. Das Experiment K10, jenes kleine Zwei-Personen-Kommissariat, das Ralph und Sabine zwei Jahre lang gebildet hatten, war dieser Ermittlungsgruppe zugeordnet gewesen.

Sabine beugte sich neugierig vor. »Worum geht es da?«

Queckbörner fuhr sich durch die dunklen Haare und brachte sie damit noch mehr in Unordnung. »Das hat alles mit dem anstehenden Markt zu tun. Da will ja jeder dabei sein, von den Leuten, die ein Fahrgeschäft oder eine Würstchenbude oder dergleichen betreiben, meine ich, aber es können unmöglich alle zugelassen werden. So viel Platz haben wir hier gar nicht. Deswegen werden Lizenzen vergeben. Neben der Stadt kümmert sich da vor allem eine Eventagentur aus Frankfurt darum, die sich auf große Volksfeste spezialisiert hat.«

Ralph rieb sich die Augen, während er versuchte, bei Queckbörners umständlichen Ausführungen den Faden nicht zu verlieren.

»Und wo ist das Problem?«

Levin schnitt eine bedauernde Grimasse. »Bei der Vergabe der Lizenzen ist möglicherweise nicht alles mit rechten Dingen zugegangen.«

»Wir reden von Bestechung und Korruption«, präzisierte Mirco Weitzel.

»Oh, oh.« Konrad Möbs hob abwehrend die Hände. »Das ist ein Minenfeld. Passen Sie bloß auf, was Sie da wem vorwerfen. Solche Schüsse können ganz leicht nach hinten losgehen.«

»Deswegen ermitteln die Kollegen von der Dezentralen Ermittlungsgruppe ja gründlich. Mit Betonung auf dezentral. Denn in Bad Vilbel gibt’s genau denselben Filz wie in allen anderen Städten, das wissen Sie ja selbst. Millionäre, Vereine, Mäzene. Netzwerke und Seilschaften. Jeder mischt da auf seine Weise mit, und keiner von uns möchte da dem Falschen auf die Füße treten. Trotzdem müssen wir in alle Richtungen ermitteln.«

»Haben sie schon etwas herausgefunden?«, mischte sich Angersbach ein.

Weitzel machte eine vage Geste. »Sie setzen uns natürlich nicht über alles in Kenntnis. Aber ich glaube, viel ist dabei bisher nicht herausgekommen.«

»Weil an der Sache nichts dran ist«, dröhnte Möbs, der schon die ganze Zeit über dreinblickte, als wären das alles nur Phantastereien. »Man kennt das doch. Große Ereignisse werfen ihre Schatten voraus. Wer sein Geschäft hier auf dem Vilbeler Markt aufstellen darf, macht ordentlich Reibach, und diejenigen, die abgelehnt werden, gucken in die Röhre. Das war schon immer so und wird immer so bleiben, warum soll das ausgerechnet bei uns anders sein? Das hat deshalb nicht zwingend mit irgendwelchen Amigos oder Seilschaften zu tun! Dieses ganze Schlechtgerede geht mir ziemlich auf den Geist.«

Möbs sagte das mit solcher Überzeugung, dass Ralph fast geneigt war, ihm zuzustimmen. Zugleich schüttelte er innerlich den Kopf. Wie konnte man so naiv sein? Lügner und Betrüger gab es überall, in der Großstadt ebenso wie auf dem Land und in den kleineren Orten, das sollte Möbs nach fast vierzig Jahren Polizeiarbeit wissen.

Weitzel und Queckbörner starrten ihren ehemaligen Chef aufgebracht an. Mirco öffnete den Mund, doch Sabine Kaufmann kam ihm zuvor.

»Wir werden mit den Kollegen sprechen«, sagte sie, bevor sich die explosive Stimmung im Raum entzünden und in einem Knall entladen konnte. »Sind sie im Haus?«

»Nein. Die sind heute in Frankfurt. Eine Besprechung mit dem Sicherheitsbeauftragten für den Vilbeler Markt, Eckard Roth. Sie stellen ein Team zusammen, das die Schaustellerbetriebe auf mögliche Mängel überprüft. Morgen früh sind sie wieder hier.«

»Okay. Kannst du dafür sorgen, dass wir uns dann zusammensetzen und sie uns über ihre Ermittlungen in Kenntnis setzen?«

»Klar.« Weitzel nickte und machte sich eine Notiz. »Um neun?«

Kaufmann nickte. Sie schenkte Queckbörner ein Lächeln. »Du hattest eine zweite Möglichkeit erwähnt. Welche ist das?«

Levin senkte den Kopf und warf Mirco einen raschen Seitenblick zu. »Das … äh … hat etwas mit uns zu tun.«

»Aha?« Möbs’ Oberkörper schoss vor. Seine Augen blitzten. Er fixierte Levin wie ein Raubvogel, der fette Beute entdeckt hatte.

Weitzel richtete sich auf. »Wir haben nichts falsch gemacht. Das hat das Gericht bestätigt.«

Queckbörner zupfte an seinen Fingern. »Na ja. Schon. Aber …« Er sprach nicht weiter.

»Vielleicht klärt ihr uns auf, worum es geht?«, schlug Kaufmann freundlich vor.

Weitzel räusperte sich. »Wir hatten im letzten Jahr einen Einsatz auf dem Hessentag. Wir waren abgeordnet, um die Kollegen dort zu unterstützen. Man hat uns gerufen, weil bei einer Händlerfamilie der Verdacht auf häusliche Gewalt bestand. Sie betreiben einen Verkaufswagen, Fleisch- und Wurstspezialitäten, aber das spielt ja erst mal keine Rolle. Als wir bei ihnen eintrafen, war die Lage unübersichtlich. Ein vollkommen außer Kontrolle geratener Mann und sein Sohn, der ebenfalls wie von Sinnen war. Er hat mit einer Eisenstange auf seinen Vater eingedroschen, und als wir dazwischengegangen sind, hat er uns angegriffen. Wir haben unsere Gummiknüppel benutzt, und dabei …«

Mirco keuchte. Er hatte so schnell gesprochen, dass er darüber das Atmen vergessen hatte. Jetzt schnappte er zischend nach Luft. »Dabei hat Levin den Jungen unglücklich am Kopf getroffen«, fuhr er dann fort. »Er ist gestürzt und mit dem Gesicht auf einen Stein geprallt.« Weitzel schluckte. »Nase und Kiefer sind gebrochen. Und er hat … ein Auge verloren.«

Ralph musste unwillkürlich an Professor Wilhelm Hack von der Gießener Rechtsmedizin denken, von den Kollegen heimlich Hackebeil genannt. Auch er hatte nur noch ein Auge.

Weitzel schluckte und räusperte sich. »Es gab eine Anzeige. Der Fall ist vom Frankfurter Landgericht verhandelt worden. Vor drei Wochen war die Urteilsverkündung.« Er schaute seinen Kollegen an. »Levin und ich sind in allen Punkten freigesprochen worden.«

Der junge Schutzpolizist schniefte. »Trotzdem … Wenn wir nicht gleich die Knüppel benutzt hätten …«

»Dann hättest du jetzt vielleicht eine gebrochene Nase und einen gebrochenen Kiefer und ein Auge weniger«, versetzte Weitzel schroff.

Levin vergrub das Gesicht in den Händen. »Ich weiß ja.«

Mirco schaute Ralph an, dem es schwerfiel, den Blick von Queckbörner zu lösen. Der junge Mann tat ihm leid.

»Die Familie war sehr wütend über das Urteil. Sie wollten Schmerzensgeld für das verlorene Auge. Aber das Gericht war der Ansicht, dass der Sohn der Familie selbst für die Ereignisse verantwortlich war. Da er uns angegriffen hat, blieb uns keine andere Wahl, als ebenfalls Gewalt anzuwenden.«

»Vollkommen richtig«, schnarrte Möbs. »Wie man in den Wald hineinruft, so schallt es heraus.«

Queckbörner lachte unfroh, sagte aber nichts.

»Der Vater hätte uns am liebsten noch im Gericht den Hals umgedreht«, erklärte Weitzel. »Und dann hat er uns Rache geschworen. Wir würden die Sache noch bereuen, hat er uns hinterhergebrüllt. Auge um Auge, Zahn um Zahn.«

Kaufmann blätterte eine neue Seite in ihrem Notizbuch auf und schrieb etwas hinein.

»Wie heißt diese Familie? Wo finden wir sie?«

»Der Name ist Metzger«, sagte Mirco.

Konrad Möbs prustete los. »Das passt ja.«

Angersbach hatte Mühe, nicht mitzulachen, aber er beherrschte sich. Das Schicksal des Jungen war nichts, worüber man sich lustig machen sollte, selbst verschuldet hin oder her.

Kaufmann warf Möbs einen wütenden Blick zu. »Pietätvoll wie immer.«

Möbs machte eine unwirsche Handbewegung. »Sie sind zu zart besaitet«, grummelte er. »Das waren Sie schon immer.« Ohnehin fand er, dass Frauen nichts bei der Polizei verloren hatten, außer vielleicht zum Strafzettelschreiben. Das konnte man an seiner Miene mühelos ablesen, und daraus hatte er auch nie einen Hehl gemacht; Kostproben dieser Haltung hatten Sabine und Ralph in ihrer Vilbeler Zeit oft genug miterleben müssen.

Weitzel knirschte mit den Zähnen. Er holte sein Tablet hervor und malte das Muster zum Entsperren aufs Display. Anschließend wischte er ein paarmal darüber und sagte dann: »Die Familie hält sich zurzeit in Heldenbergen auf. Da findet gerade ein Markt mit regionalen Spezialitäten statt, eine Menge der dortigen Händler werden dann auch hier bei uns stehen.« Er schaute auf das Gerät. »Der Betrieb heißt ›Metzgers Stracke – die hessische Traditionswurst‹.«

Ralph biss sich auf die Lippen und starrte einen Fettfleck auf der Fensterscheibe an, aber es nützte nichts. Jetzt musste er doch lachen.

 

Sie gingen in den Hof zu ihren Autos. Kaufmann kniff die Augen zusammen und rechnete nach. Wann hatte sie zuletzt Strom getankt? Vor drei Tagen, und danach war sie zweimal ins LKA gefahren, außerdem zum Einkaufen und gestern und vorgestern zum Joggen. Bis zu ihrer Wohnung und zur Ladestation würde die Energie noch reichen, aber die knapp zwanzig Kilometer nach Heldenbergen und zurück könnten das entscheidende Stück zu viel sein. Am Ende würde sie womöglich kurz vor ihrer Wohnung liegen bleiben, weil der Akku leer war.

Auf der anderen Seite war ihr nur allzu klar, was passieren würde, wenn sie Angersbach mitteilte, dass sie bei ihm mitfahren wollte. Schließlich wusste er, dass sie seine Klapperkiste nicht mochte. Er würde sofort durchschauen, was das Problem war. Und auf seine dummen Sprüche hatte sie überhaupt keine Lust. Nicht hier in Bad Vilbel, wo sie sich ohnehin besonders dünnhäutig fühlte.

Sie kannte sie ja auswendig.

Ach ja, die Reichweite.

Also, ich kann nicht stundenlang warten, bis die Batterie voll ist. Ich brauche ein Fahrzeug, das jederzeit einsatzbereit ist.

Trotzdem, es war das geringere Übel. Sie beschloss, in den sauren Apfel zu beißen. »Fahren wir mit deinem?«

Ralph hob die Augenbrauen. Belustigt? Sein Blick huschte zu ihrem silberfarbenen Zoe, dann zu seinem dunkelgrünen Lada.

»Klar«, sagte er und öffnete ihr galant die Beifahrertür.

Sabine schaute ihn überrascht an. Keine Bemerkung über die Nachteile eines Elektroautos? Keine Aufrechnung, dass der ökologische Fußabdruck einer Batterie auch nicht gerade klein war? Dazu der Ladestrom, der noch immer zu vierzig Prozent aus fossilen Brennstoffen gewonnen wurde …

Aber nein. Nichts von alldem. Stattdessen bemerkte sie einen seltsamen Schimmer in seinen Augen. Sie waren dunkel, nachdenklich. Wärme lag darin – und noch etwas anderes, das sie nicht einordnen konnte. Zuneigung?

Ihr Herz machte einen kleinen Satz. Sie wollte die Sache genauer ergründen, doch da hatte sich Angersbach schon abgewandt und ging um den Wagen herum zur Fahrertür.

Kaufmann kletterte auf den Beifahrerplatz und wusste sofort wieder, warum sie das Auto nicht mochte. Der Sitz war hart und unbequem. Außerdem schlecht gefedert, was sich bemerkbar machen würde, sobald sie unterwegs waren.

Ralph startete schweigend den Motor, lenkte den Niva vom Parkplatz und steuerte ihn durch die Kreisel in Richtung B521.

Sie betrachtete ihn heimlich von der Seite. Bisher hatte sie eigentlich nie bewusst darüber nachgedacht, doch jetzt fragte sie sich plötzlich, was Ralph eigentlich in ihr sah. Nur die Kollegin – oder auch die Frau? Und was sah sie in ihm?

Am Anfang, als sie sich kennengelernt hatten, hatte sie gedacht, sie würde nie mit ihm warm werden. Ein Raubein, unsensibel und schnodderig. Einer dieser hartgesottenen Landtypen, die zwar eins mit der Natur waren, aber menschlich nicht viel hermachten. Überhaupt nicht der Typ Mann also, auf den sie stand, weder privat noch beruflich. Inzwischen wusste sie es besser. Unter der harten Schale verbarg sich ein weicher Kern. Sie hatte sich nicht nur an ihn gewöhnt. Inzwischen mochte sie ihn gern. Oder war da noch mehr?

Sabine horchte in sich hinein, doch die Antwort versteckte sich irgendwo hinter den Mauern, die sie zu ihrem Schutz errichtet hatte.

Vielleicht lag sie ja auch völlig falsch, und seine nachdenkliche Miene war nur dem Fall geschuldet.

Und wenn nicht?

Sie schob den Gedanken beiseite. Es gab Wichtigeres, worum sie sich kümmern musste. Alles andere konnte warten.

»Was meinst du?«, fragte sie, als sie über die Landstraße in Richtung Heldenbergen fuhren. Rechts und links erstreckten sich Wiesen und Felder, dahinter Wald und ein bewaldeter Höhenzug. »Haben die Metzgers etwas mit dem Drohbrief zu tun? Oder geht es eher um Bestechung und Korruption?«

Angersbach wich einem entgegenkommenden Traktor aus und rumpelte über den Seitenstreifen. Kaufmann wurde auf ihrem Sitz durchgeschüttelt.

»Keine Ahnung«, erwiderte er, als er den Wagen wieder in der Spur hatte. »Aber eines sage ich dir gleich: Wir machen das hier zu zweit. Wenn Schmittke und Rahn dazukommen, bin ich raus.«

Sabine wusste nicht recht, was sie von dieser Ansage halten sollte. Ging es ihm darum, mit ihr allein zu sein, ohne Beobachter? Oder waren seine Vorbehalte gegen die LKA-Kollegen noch immer nicht ausgeräumt, obwohl man am Ende relativ gut zusammengearbeitet hatte? Sie kannte Bernhard Schmittke und Holger Rahn mittlerweile etwas besser und wusste ihre ruhige, akribische Art zu schätzen. Aber sie sah wenig Sinn darin, dieses Argument zum jetzigen Zeitpunkt zu diskutieren. Wenn sich herausstellte, dass sie Unterstützung brauchten, konnte man das immer noch tun.

»Von mir aus«, entgegnete sie deshalb nur.

Angersbach nickte zufrieden und kam auf ihre Frage zurück. »Besser wäre es wohl, wenn es die Metzgers waren. Dann würde ich annehmen, dass es nur darum ging, Mirco und Levin ein bisschen Angst zu machen. Bellende Hunde, die nicht beißen. Wenn es dagegen etwas mit der Lizenzvergabe für den Bad Vilbeler Markt zu tun hat …«

Er sprach nicht weiter, doch Sabine ahnte, was er sagen wollte: Beim Geld hörte der Spaß auf. Wer sich bestechen ließ oder andere bestach, hatte mit empfindlichen Strafen zu rechnen, nicht zuletzt mit dem Verlust seines Arbeitsplatzes. So jemand stand unter erheblichem Druck. Der Brief sollte möglicherweise die ermittelnden Beamten davon abhalten, zu tief zu stochern. Wenn der Verfasser merkte, dass diese Strategie nicht von Erfolg gekrönt war, würde er handeln. Das war etwas, das sie in Erwägung ziehen mussten. Sie mussten einen Weg finden, die Kollegen von der Dezentralen Ermittlungsgruppe zu schützen. Aber wie sollte das gehen?

 

Heldenbergen war ein Stadtteil von Nidderau. Es war einige Jahre her, dass Ralph zuletzt hier gewesen war; seitdem hatte sich das Städtchen verändert. Begonnen beim Ausbau der Bundesstraßen und diverser Zubringer, die selbst ihn als Ortskundigen zunächst irritierten. Vielleicht auch gerade deshalb, weil er sich in der Gegend auskannte und plötzlich alles so anders war. Etliche Neubauten waren hinzugekommen. Daneben gab es den alten Kern, mittelalterlich wirkende Gebäude und gut erhaltene Fachwerkbauten. Im Süden befand sich das Schloss, im Norden die katholische Pfarrkirche, in der Mitte das Einkaufszentrum an der Konrad-Adenauer-Allee. Dort war auch die sogenannte Neue Mitte, ein gepflasterter Platz mit ordentlich in Reihen gepflanzten Bäumen, den Angersbach zum ersten Mal in seinem Leben sah. Vor ein paar Jahren war das alles noch was gewesen – eine Wiese? Nun war es ein Marktplatz, auf dem sich allerlei Spezialitätenhändler eingefunden hatten. Er stellte den Lada auf dem Parkplatz des Nidder Forums ab und ging mit Sabine Kaufmann um das große Gebäude herum dorthin.