Totengericht - Daniel Holbe - E-Book
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Totengericht E-Book

Daniel Holbe

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Beschreibung

Der vierte spannende Kriminalroman mit Ralph Angersbach und Sabine Kaufmann von Bestseller-Autor Daniel Holbe um einen geheimnisvollen Toten Leichenfund im Vogelsberg. Ein Mann liegt nackt auf einem kahlen Felsen, mitten im Nirgendwo, sein Körper verstümmelt. Ihm wurde das Wort "Verrat" auf die Brust gebrannt, sein Kopf offenbar von Wildtieren angenagt, so dass er nicht zu identifizieren ist. Die Symbole auf seinem Körper und die Art der Tötung lassen auf einen Ritual-Mord schließen, doch dann stellt sich heraus, dass es sich bei dem Toten um den Bürgermeister einer Gemeinde handelt, in der ein Windpark gebaut werden soll. Hat der Mord mit diesem umstrittenen Projekt zu tun? Ralph Angersbach beginnt zu ermitteln und stößt bald an seine Grenzen, vor allem als eine weitere Leiche auftaucht. In seiner Not wendet er sich an seine ehemalige Kollegin Sabine Kaufmann, die inzwischen für das LKA tätig ist. Sie kommt auf eine brillante Idee … Ein neuer Fall, den Ralph Angersbach nur mit Hilfe seiner genialen Kollegin Sabine Kaufmann lösen kann! Band 1 = "Giftspur" Band 2= "Schwarzer Mann" Band 3= "Sühnekreuz" Band 4 = "Totengericht"

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Daniel Holbe / Ben Tomasson

Totengericht

Kriminalroman

Knaur e-books

Über dieses Buch

Leichenfund im Vogelsberg. Ein Mann liegt nackt auf einem kahlen Felsen, mitten im Nirgendwo, sein Körper verstümmelt. Ihm wurde das Wort »Verrat« auf die Brust gebrannt, sein Kopf offenbar von Wildtieren angenagt, sodass er nicht zu identifizieren ist. Die Symbole auf seinem Körper und die Art der Tötung lassen auf einen Ritualmord schließen, doch dann stellt sich heraus, dass es sich bei dem Toten um den Bürgermeister einer Gemeinde handelt, in der ein Windpark gebaut werden soll. Hat der Mord mit diesem umstrittenen Projekt zu tun? Ralph Angersbach beginnt zu ermitteln und stößt bald an seine Grenzen. In seiner Not wendet er sich an seine ehemalige Kollegin Sabine Kaufmann, die inzwischen für das LKA tätig ist. Sie kommt auf eine brillante Idee …

Inhaltsübersicht

Prolog1. Kapitel2. Kapitel3. Kapitel4. Kapitel5. Kapitel6. Kapitel7. Kapitel8. Kapitel9. Kapitel10. Kapitel11. Kapitel12. Kapitel13. Kapitel14. Kapitel15. Kapitel16. Kapitel17. Kapitel18. Kapitel19. Kapitel20. Kapitel21. KapitelEpilogNachwort
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Prolog

Zwanzig Jahre zuvor

Vor ihm erstreckte sich der alte Steinbruch. Tiefe Wunden, von Menschenhand in die Felsformationen geschlagen. Am oberen Rand säumten riesige Douglasien den Abgrund. Von seinem Standort aus konnte er über die Wipfel bis nach Bruchfeld im Nordwesten sehen. Die Menschen in dem winzigen Dorf lebten vom Basaltabbau.

Einige Steine lagen zu seinen Füßen, zu einem Ring angeordnet, in dessen Mitte Kohlen glommen. Das Brandeisen steckte dazwischen, das Metall bereits rot glühend. Ein Windstoß entfachte die Glut neu, und eine Rauchwolke trieb an seinem Gesicht vorbei. Trieb weiter in Richtung des Höhenzugs hinter ihm, den man gemeinhin Fuchsrücken nannte.

Er blickte zurück auf den Grat, wo der Douglasienbestand unvermittelt in einen alten, dichten Eichenwald überging. Inmitten der knorrigen Stämme meinte er Gestalten zu erkennen, Männer und Frauen in bunten Gewändern, die zu ihm hinübersahen. Sie wuchsen, bis sie so hoch waren wie die Bäume, und schwebten auf ihn zu. Ihre Gesichter waren grauenhafte Fratzen, hässlich und verzerrt.

Er begann zu zittern. Das Bild vor seinen Augen verschwamm. Bunte Wirbel kreiselten durch sein Sichtfeld, trübten seinen Blick und entfachten einen schmerzhaften Tornado in seinem Kopf. Dann hörte er dumpfe Stimmen, bedrohlich und tröstend zugleich.

Langsam sank er auf die Knie. Er konnte sich nicht erinnern, wie er hierhergekommen war, aber er wusste, dass seit Langem alles auf diesen Moment zugesteuert hatte. Er kniff die Augen zusammen, öffnete sie wieder und blinzelte, doch die roten Schlieren in seinem Blickfeld wollten nicht weichen. Die Stimmen in seinem Kopf wurden zu wütendem Geschrei.

»Bitte«, stammelte er. »Geht weg!«

Er streckte ängstlich die Hände aus, fand die Kapuze.

»Setz sie auf!«, forderten die Stimmen.

Das Leder schmiegte sich weich an Gesicht und Hinterkopf. Die Dunkelheit beruhigte ihn. Das Atmen durch die winzigen Nasenlöcher fiel ihm allerdings schwer. Und die Kordel, mit der die Maske am Hinterkopf festgezurrt wurde, lag ihm wie eine Henkersschlinge um den Hals.

Die Stimmen wurden wieder laut. Er tastete suchend um sich. Schloss die Finger um den Griff des Eisens und roch den aufsteigenden Qualm, der den Sauerstoff aus seiner Nase zu verdrängen schien.

Es zischte, als das heiße Metall auf seine nackte Brust traf, doch er spürte keinen Schmerz. Nur der Geruch war unangenehm, verbranntes Fleisch und noch etwas anderes – warmes Gummi vielleicht.

Er öffnete die Hände. Das Eisen fiel zu Boden, rutschte über die Kante und polterte über die Basaltsteine in den Abgrund, eine schnelle Folge metallischer Schläge, die sich immer weiter entfernten, bis nach einem letzten Knall wieder Ruhe einkehrte.

Mit Mühe kam er auf die Füße. Die Hitze auf seiner Brust grub sich ins Innere, als würde sie ihn zerfressen. Von einer Sekunde auf die andere überrollte ihn der Schmerz, jagte durch jede Faser seines Körpers und bündelte sich in seinem Schädel, der jeden Moment zu zerspringen drohte.

Ein Schrei entrang sich seiner Kehle, so gellend, dass er ihm selbst in den Ohren schmerzte. Er taumelte vorwärts, die Arme Hilfe suchend ausgebreitet. Plötzlich trat er ins Leere.

Kopfüber stürzte er in den Abgrund. Arme und Beine krachten abwechselnd gegen die harte Felswand. Seine Knochen brachen wie morsche Zweige. Es kam ihm vor wie eine Ewigkeit, dabei waren es nur wenige Sekunden, bis sein Körper rücklings am Fuß des Steilhangs aufschlug.

Ein Knacken wie von einer Nuss, deren Schale aufbricht. Danach war es still bis auf das ferne Motorengeräusch einer Maschine, die am südlichen Ende des Abbaugebiets im Einsatz war. Von oben aus dem Wald antwortete ein Dompfaff. Totengesang.

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1

Heute

Ralph Angersbach sah dem Mann nach, der in seinem 5er-BMW davonfuhr. Dann zog er die Tür hinter sich zu. Der Schließbolzen rastete mit dem vertrauten Geräusch ein. Wie ein Stich ins Herz.

Er hätte nicht geglaubt, dass ihm der Abschied so schwerfallen würde. Als ihm das Nachlassgericht vor ein paar Jahren mitgeteilt hatte, dass seine Mutter ihm ein Haus im Karbener Stadtteil Okarben vererbt habe, hätte er am liebsten abgelehnt. Doch es war ja nicht das Haus allein, um das es ging. Ralph hatte seine leibliche Mutter kaum gekannt. Er war im Kinderheim und in Pflegefamilien groß geworden, hatte den Hauptteil seiner Jugend in einem kleinen Dorf im Vogelsberg verbracht. Und er hatte bis dato nicht gewusst, wie viele Halbgeschwister er tatsächlich besaß. Bis zur Testamentseröffnung. Das Haus in einer Seitenstraße Okarbens sei bewohnt, hieß es. Bewohnt von seiner damals sechzehnjährigen Halbschwester Janine, die er quasi miterbte und um die er sich künftig kümmern sollte.

Es war ihm nicht viel übrig geblieben, als ebenfalls in das Haus zu ziehen. Eine neue Stelle bei der Bad Vilbeler Mordkommission, ein neues Zuhause, eine neue, kleine Familie. Am Anfang war es schwierig gewesen. Janine war eine Rebellin durch und durch, doch mit der Zeit hatten sie sich aneinander gewöhnt.

Im letzten Sommer war Janine ausgezogen und nach Berlin gegangen, wo sie ihr Freiwilliges Soziales Jahr im Jugendstrafvollzug ableistete. Ausgerechnet, hatte er gedacht, aber Janine hatte ihn überrascht. Sie kam gut zurecht, und im Herbst würde sie anfangen, ihr Abitur nachzuholen, um anschließend Sozialpädagogik zu studieren, ebenfalls in Berlin. Sie wohnte mit drei jungen Männern in einer WG in Kreuzberg. Mit einem der drei war sie seit einem knappen Jahr zusammen. Morten, ein Jurastudent aus Australien. Auch wenn Ralph so etwas wie Eifersucht verspürte, musste er zugeben, dass der Junge offenbar einen guten Einfluss hatte. Zumindest brauchte Ralph sich keine Sorgen mehr zu machen, dass Janine ins Drogenmilieu abrutschte.

Nachdem sie weg war und es auch die Stelle in Bad Vilbel nicht mehr gab, hatte Ralph sich zunehmend unwohl gefühlt. Allein in einem viel zu großen Haus, bei dem es einen gewissen Instandhaltungsstau gab. Er hatte überlegt, es zu verkaufen, doch keine Interessenten gefunden. Stattdessen hatte er an ein Ehepaar vermietet, das bereits nach einem halben Jahr wieder gekündigt hatte. Der Zustand des Hauses hatte sich seitdem nicht gebessert, doch der Makler, den er dieses Mal mit dem Verkauf beauftragt hatte, war tatsächlich erfolgreich gewesen.

Nun war das Haus verkauft, die Schlüssel waren übergeben, und Ralph stand vor der verschlossenen Tür und fühlte sich seltsam elend. So verschwommen die Erinnerungen auch waren: Es war und blieb sein Elternhaus. Oder, richtiger, das Haus seiner Mutter. Aber immerhin. Das Familienanwesen. Dieses Haus war das Einzige in seinem Leben, das einer Heimat zumindest nahekam.

Ralph rammte die Fäuste in die Taschen seiner Wetterjacke.

Dann such dir eben endlich eine eigene Heimat.

Er träumte ja schon lange davon. Von einem alten Haus im Vogelsberg, ähnlich jenem, in dem sein Vater lebte. Ruhig gelegen, mit viel Holz und einem großen Garten. Ohne Schnickschnack.

Ralph zog die Wagenschlüssel aus der Tasche, schloss den alten dunkelgrünen Lada Niva auf und nickte. Gleich morgen würde er den Makler anrufen. Und am Wochenende vielleicht mit dem Auto durch den Vogelsberg kurven und sich ein bisschen umsehen.

Gedankenverloren steuerte er den Wagen über die B3 in Richtung Gießen, ließ den Blick über die Wiesen und Felder schweifen. Ins nahe Friedberg hätte er sich nach dem Aus der Mordkommission Bad Vilbel gerne versetzen lassen, am liebsten zusammen mit Sabine Kaufmann, obwohl er zunächst geglaubt hatte, er werde nie im Leben mit ihr warm werden. Aber es gab keine passenden Stellen. Ralph war zurück nach Gießen abkommandiert worden, und Sabine hatte vor einem Jahr zum LKA nach Wiesbaden gewechselt. Voneinander gehört hatten sie seitdem kaum. Sie hatte wohl zu viel zu tun. Und er tat sich schwer damit, Kontakt zu halten.

Kurz hinter Butzbach machte sich sein Mobiltelefon bemerkbar. Er nahm den Ruf über die Bluetoothverbindung mit seinem Autoradio an – mit Abstand das Modernste, was sein Neunzigerjahre-Wagen aufwies.

»Ja? Angersbach hier.«

»Nolting, KDD.« Kriminalkommissar Nolting, übersetzte Ralph, vom Kriminaldauerdienst. »Die Kollegen aus Lauterbach haben die Mordkommission angefordert. Leichenfund im Wald bei Fuchshain. Wissen Sie, wo das ist?«

»Sicher«, sagte Ralph und überlegte, wie er am schnellsten dorthin kam. Sollte er die A5 hinaufjagen, wobei der Begriff »jagen« in Verbindung mit seinem schwerfälligen Diesel etwas fehl am Platz war. Oder besser über die Bundesstraße nach Lich und von dort über Laubach? »Wo muss ich genau hin?«, hakte er nach.

»Fuchsrod. Das ist so ein Fünf-Seelen-Dorf oben auf dem Fuchsrücken. Ein Kollege von der Streife erwartet Sie dort. Er zeigt Ihnen den Weg.«

»Gut. Sagen Sie ihm, ich bin in einer halben Stunde da.«

Ralph drückte das Gespräch weg und wendete. Während er seinen Lada über zunehmend kleiner und kurviger werdende Straßen trieb, überlegte er, ob das ein Zeichen war. Hatte er nicht gerade darüber nachgedacht, in den Vogelsberg zu fahren?

***

Eine gute halbe Stunde später rollte er von Laubach und Ulrichstein kommend auf den Fuchsrücken zu. Mit einem Blick auf die Karten-App seines Smartphones stellte er fest, dass er Fuchsrod von dieser Seite nicht erreichen konnte. Von hier aus kam man nur nach Rückenrod im Südosten und nach Bruchfeld und zum Basaltsteinbruch im Nordwesten. Um auf den Hügelkamm nach Fuchsrod zu gelangen, musste er zunächst am Höhenzug entlang in Richtung Bruchfeld fahren und dann auf der anderen Seite des Fuchsrückens bis zur Straße nach Lauterbach. Von dort ging es über den Fuchsbach hinauf in den Wald.

Man hat es hier wohl mit Füchsen, dachte er amüsiert, doch er wusste, wie die Namensgebung im Hohen Vogelsberg funktionierte. Die Silbe -rod bezog sich auf eine Rodung. Das traf hier oben auf einen Großteil der Gemeinden zu. Dörfer an Bachläufen bekamen den Namen der Gewässer verordnet. Letzten Endes war das in der Wetterau nicht anders gewesen. Und eigentlich fast überall im Land.

Ralph verfolgte auf dem Display des Telefons, wie sich der blaue Punkt, der seinen Standort anzeigte, an dem lang gezogenen Hügel vorbeibewegte. Das Original präsentierte steile Hänge und einen dichten Baumbestand. Ralph meinte, Douglasien, vielleicht auch Hemlocktannen zu erkennen. Kurz vor Bruchfeld wies das Schild einer Aktiengesellschaft auf die Einfahrt zum Steinbruch hin. Ein Stück dahinter gelangte er auf die Straße nach Lauterbach. Das Grün auf dem Höhenzug wechselte abrupt, statt der dichten Nadelbäume auf der Südseite zeigte der Norden einen knorrigen Eichenwald.

Ralph erreichte den Fuchsbach und überquerte zwei alte Steinbrücken, die wenig vertrauenerweckend aussahen, offenbar aber die einzige Zufahrt nach Fuchsrod darstellten. Auf der anderen Seite entdeckte er oben im Wald zwischen den Bäumen ein paar rote Dächer. Er hielt darauf zu und schaltete einen Gang zurück, damit der Niva die Steigung bewältigte. Eher zufällig fiel sein Blick nach rechts, und er trat hart auf die Bremse.

Da war es. Das Haus, das er sein Leben lang gesucht hatte. Umgeben von einem Jägerzaun und einer Streuobstwiese, teils aus Holz, teils aus weißen Steinen mit Fachwerk gebaut, mit bunten Fensterläden und kleinen Fenstern mit in der Sonne funkelnden Scheiben, die ihm zuzublinzeln schienen. Ralph wäre am liebsten ausgestiegen, um sich das Gebäude von allen Seiten anzusehen, besann sich jedoch darauf, weshalb er hier war. Im Wald hinter Fuchsrod wartete eine Leiche auf ihn.

Er gab wieder Gas und rollte auf den Ort zu, schwor sich aber, zurückzukommen, wenn er dort fertig war.

Hinter dem Ortsschild standen ein paar vereinzelte Häuser wie hingewürfelt, zehn oder zwölf, schätzte Ralph. Kaum genug, um die Bezeichnung »Dorf« zu rechtfertigen, eher konnte man Fuchsrod als außen liegende Siedlung betrachten. Ein Weiler. Das bedeutete: wenig Nachbarn. Viel Ruhe. Genau das, was Ralph sich wünschte.

Am Ende der einzigen Straße durch den Ort stand der Streifenwagen. Ein uniformierter Beamte lehnte an der Kühlerhaube und beschäftigte sich mit seinem Smartphone. Als er den dumpfen Motor des Lada vernahm, blickte er auf und steckte es weg. Ralph hielt neben ihm an und kurbelte die Seitenscheibe hinunter. »Angersbach, K11, Gießen.«

Sein Gegenüber, Mitte zwanzig, sportlich gestählt, mit blonden Haaren und blauen Augen, legte kurz die Hand an den Mützenschirm. »Röttger, Polizeistation Lauterbach.« Er deutete zum Wald, der gleich hinter dem Weiler begann. »Die Leiche liegt ein Stück von hier in Richtung Westen. Rechtsmedizin und Spurensicherung hat der Kollege vom KDD informiert, aber Sie sind der Erste. Wollen Sie bei mir mitfahren oder mit Ihrem eigenen Wagen?«

»Ich fahre selbst.«

»Gut.« Der Beamte machte ohne weiteren Kommentar kehrt und setzte sich in sein Einsatzfahrzeug. Ralph folgte ihm einen Weg zwischen den Eichenbäumen entlang, der immer schmaler wurde. Die Kronen der dunkelgrün belaubten Bäume wölbten sich über ihm, neigten sich ihm zu, als wollten sie sich auf ihn stürzen. Schön, dachte Angersbach, und zugleich irgendwie beklemmend.

Knapp zwei Kilometer weiter stoppte der Streifenwagen, und der Beamte stieg aus.

»Weiter kommen wir mit dem Wagen nicht. Den Rest müssen wir laufen.« Er zeigte zwischen den Stämmen hindurch. Ralph erahnte eine kleine Lichtung hinter den Bäumen. Ein rot-weißes Plastikband flatterte im Wind.

Angersbach stieg aus. »Wie ist die Lage?«

Der Lauterbacher Kollege bemühte sich um eine abgeklärte Miene, doch Ralph sah für eine Sekunde etwas in seinen Augen aufblitzen. Widerwillen? Ekel? Entsetzen? Ralph hätte es nicht zu sagen vermocht.

Röttger räusperte sich. »Männliche Leiche. Alter vermutlich zwischen vierzig und sechzig. Ablage rücklings auf einem flachen Stein. Das Opfer ist nackt. Multiple Verletzungen und Verstümmelungen, außerdem Spuren von Tierfraß. Wir haben weder Papiere noch persönliche Gegenstände oder Teile seiner Kleidung gefunden.«

Angersbach nickte. »Zeigen Sie es mir.«

Röttger atmete schwer und ging zwischen den Bäumen hindurch auf die Absperrung zu. Dort warteten ein weiterer Polizist und ein älterer Herr mit Dackel, braun gebrannt und faltig, gewandet in einen dunkelgrünen Lodenmantel mit einem passenden Filzhut auf dem Kopf, verziert mit Hutband und Feder. Fehlte nur noch die Plakette mit der Aufschrift »Jäger«, dachte Ralph.

»Riese«, stellte sich der Polizist vor, ebenso jung und sportlich wie sein Kollege, im Gegensatz zu diesem aber dunkelhaarig und mit einem gepflegten Dreitagebart. Sein Gesicht war blass, ein wenig grünlich. Er deutete auf den Jäger. »Das ist Herr Anton Zöllner aus Rückenrod. Er hat den Toten gefunden.«

»Eigentlich war es Lotte«, sagte dieser und blickte auf seinen Hund. »Sie hat im Unterholz gewühlt und dann angeschlagen.«

»Kennen Sie den Toten? Haben Sie ihn angefasst?«

»Nein. Weder noch. Glaube ich jedenfalls. Viel erkennen kann man ja nicht.«

»Gut. Ich sehe mir das an. Warten Sie bitte hier.« Angersbach tauchte unter dem Absperrband hindurch und folgte dem schmalen Pfad aus heruntergetretenen Zweigen zu der kleinen Lichtung. In deren Mitte befand sich ein großer, flacher, weißer Stein, darauf ein regloser nackter Körper. Ein paar Krähen hockten darauf, die aufflogen, als Angersbach näher kam. Ralph schnappte unwillkürlich nach Luft. Sein Magen zog sich schmerzhaft zusammen, und der Inhalt drängte mit einem sauren Brennen nach oben. Angersbach würgte und musste mehrmals schlucken, um die Übelkeit unter Kontrolle zu bekommen.

Er hatte im Laufe der Jahre schon einige schlimm zugerichtete Leichen gesehen, doch ein derartiges Massaker war nicht darunter gewesen. Die in nüchterner, bürokratischer Sprache gefasste Beschreibung des Lauterbacher Kollegen traf es nur unzureichend.

Die Arme und Beine des Mannes hingen schlaff und in seltsamer Stellung herunter wie bei einer kaputten Gliederpuppe. Der Unterleib war aufgeschlitzt, die Gedärme quollen heraus. Das Gesicht war vollkommen zerfressen, Mund, Nase, Augen und Ohren nur noch als zerfetzte Stummel zu erkennen. Überall um den Kopf herum schwirrten dicke Fliegen. Und auf der nackten Brust prangte das Wort »Verrat«, eingebrannt wie mit einem Eisen, das man zum Kennzeichnen von Vieh benutzte. Der Leichnam sonderte einen widerwärtigen Gestank ab, nach verbranntem und verfaultem Fleisch und Exkrementen.

Ralph musste unwillkürlich an die Hausschlachtungen denken, die er als Kind miterlebt hatte. Ein Trauma, das ihm noch heute nachhing. Nicht zuletzt deshalb war er Vegetarier geworden. Doch das hier war viel schlimmer.

Angersbach wandte sich ab und keuchte. Der Mann war so offensichtlich tot, dass es nicht nötig war, nach vitalen Zeichen zu suchen. Und alles Weitere konnten die Kollegen von der Spurensicherung und der Rechtsmedizin übernehmen. Es würde für keinen von ihnen ein leichter Gang werden. Selbst der altgediente und abgebrühte Gießener Rechtsmediziner Professor Hack, von Ralph und seinen Kollegen heimlich Hackebeil genannt, würde an diesem Tatort nicht unberührt bleiben.

Angersbach legte den Kopf in den Nacken und fuhr sich mit den flachen Händen übers Gesicht, als könnte er den Schock damit abwischen. Dabei wusste er schon jetzt, dass er diesen Anblick für den Rest seines Lebens nicht vergessen würde. Zugleich war ihm, als wolle noch eine andere Erinnerung in sein Gedächtnis drängen, doch er bekam sie nicht zu fassen. Da sie vermutlich ebenfalls unappetitlich war, schob er sie beiseite.

Langsam setzte er sich wieder in Bewegung und folgte dem Trampelpfad zurück zu dem Waldweg, wo seine Kollegen Röttger und Riese und der Jäger Zöllner mit Dackel Lotte warteten. Alle drei bemühten sich um Haltung und konnten ihre Erschütterung doch kaum verbergen.

Ralph zog sein zerfleddertes Notizbuch aus der Jackentasche und wandte sich an Zöllner. »Darf ich Ihnen ein paar Fragen stellen?«

»Natürlich.« Der Jäger hob eine Schulter. »Deshalb haben Lotte und ich ja auf Sie gewartet.«

»Gut. Sie machen die Runde hier entlang öfter?«

Zöllner nickte. »Täglich. Bei jedem Wetter. Wir, also Lotte und ich, fahren mit dem Auto hoch und stellen es in Fuchsrod ab.« Er wies nach Norden. »Dann gehen wir hier durch den Wald bis zum Steinbruch und wieder zurück.«

»Sie jagen?«

Zöllner blinzelte verwirrt. »Wie kommen Sie darauf?« Er sah an sich herunter und lächelte flüchtig. »Ach so. Nein. Ich sammele nur Blätter. Für ein Herbarium. Ich war früher Biologielehrer.«

»Aha.« Angersbach notierte sich das. »Ist Ihnen irgendetwas Ungewöhnliches aufgefallen? Heute oder in den letzten Tagen? Abgesehen von dem Toten, meine ich.«

Zöllner dachte nach. Er warf seinem Dackel einen fragenden Blick zu, bekam aber keine Reaktion.

»Nein«, sagte er schließlich. »Da war nichts. Aber die Leiche lag sicher noch nicht lange dort. Sonst hätte Lotte gestern schon angeschlagen.«

»Gut.« Ralph angelte eine Visitenkarte aus der Tasche. »Das war es fürs Erste. Wenn Ihnen noch etwas einfällt …«

Zöllner nahm die Karte entgegen und verstaute sie sorgfältig in seiner Brieftasche. »Dann rufe ich Sie an.« Der Pensionär griff die Hundeleine fester, wirkte aber unschlüssig.

»Sie dürfen jetzt gehen«, erklärte Angersbach.

»Wenn Sie herausfinden, wer das war … warum man ihm das angetan hat … informieren Sie mich dann?«

»Das dürfen wir nicht. Aber ich bin sicher, Sie werden einen entsprechenden Bericht in der Zeitung finden.«

Die Miene des Lehrers, die sich verdüstert hatte, hellte sich wieder auf. Ralph, der das Aufblitzen einer Idee abzulesen glaubte, hob den Finger. »Ich kann Ihnen das nicht verbieten. Aber es wäre für unsere Arbeit hilfreich, wenn Sie sich nicht an die Presse wenden.«

»Das hätte ich ohnehin nicht getan«, protestierte Zöllner eingeschnappt. Er zerrte an der Hundeleine und marschierte mit energischen Schritten davon, sodass der Dackel mit seinen kurzen Beinen Mühe hatte zu folgen.

Ralph wandte sich an die Lauterbacher Kollegen. »Liegt Ihnen eine Vermisstenmeldung vor? Irgendjemand abgängig aus Fuchsrod oder den umliegenden Dörfern?«

Die beiden tauschten einen unbehaglichen Blick.

»Wer?«, fragte Angersbach.

»Unser Bürgermeister«, sagte Riese. »Also, der Bürgermeister der Gemeinde Fuchsrücken. Dazu gehören Bruchfeld, Rückenrod, Fuchsrod und Fuchshain. Da wohne ich. Fuchsrod ist der kleinste Ort, zwanzig oder dreißig Einwohner vielleicht. Insgesamt zählt Fuchsrücken neunhundertsiebenundachtzig Gemeindemitglieder. Wir sind die kleinste Gemeinde Hessens«, fügte er mit unüberhörbarem Stolz hinzu.

»Schön.« Ralph kritzelte die Ortsnamen in sein Notizbuch. »Und was ist nun mit Ihrem Bürgermeister?«

»Er ist gestern Abend nicht zur Gemeinderatssitzung gekommen, obwohl er wichtige Planungen besprechen wollte. Die Sanierung der Brücken über den Fuchsbach und den Zufluss, und noch irgendein anderes Projekt. Und heute Morgen ist er auch nicht bei der Arbeit erschienen. Das ist absolut ungewöhnlich, meint seine Sekretärin. Martin Lubitz ist ein Musterbeispiel an Pünktlichkeit und Zuverlässigkeit. Sagt sie.«

»Kennen Sie Lubitz? Könnte er der Tote da im Wald sein?«

Riese hob die kräftigen Schultern. »Kann ich nicht sagen. Ehrlich nicht. Der Leichnam hat ja«, er rülpste, als wäre er kurz davor, sich zu übergeben, »überhaupt kein Gesicht mehr.«

Angersbach, der sich ebenfalls nur widerwillig an den Anblick erinnerte, nickte. Erneut war da dieser Gedanke, den er nicht zu fassen bekam, und wieder schob er ihn beiseite.

»Wie alt ist dieser Lubitz?«

»Sechsundvierzig«, wusste Röttger.

»Sie leben auch in Fuchshain?«

»Nein. In Bruchfeld, in der Nähe vom Basaltwerk. Wir haben da ein Haus, meine Frau und ich.«

Angersbach knurrte. Warum hatte jeder hier seinen Wohnsitz an diesem herrlichen Fleckchen Erde, während er selbst in einer Mietwohnung in Gießen festsaß? Vielleicht hätte er das Haus in Okarben doch nicht verkaufen, sondern selbst wieder einziehen sollen? Nein. Beim Gedanken an seine Mutter überwogen die negativen Erinnerungen. Außerdem war der verfallene alte Kasten alles andere als schön gewesen. Nein, er wollte etwas anderes. So wie das Haus in Fuchsrod, das er auf dem Weg hierher gesehen hatte.

»Hat Lubitz eine Ehefrau oder Lebensgefährtin? Kinder?«

»Nein.« Riese schüttelte den Kopf. »Ist mit seinem Beruf verheiratet, der Mann. Wirklich engagiert.«

»Man munkelt allerdings, dass ihm seine Sekretärin nachts das Bett wärmt«, fügte Röttger hinzu. »Aber ob das stimmt?«

Ralph schrieb sich auch das auf. Viel mehr konnte er hier vor Ort nicht tun. Er sah auf die Uhr. Als hätten sie nur auf das Signal gewartet, wurden am Waldrand Motorengeräusche laut. Gleich darauf erschienen mehrere Mercedes-Busse auf dem schmalen Waldweg, die Kollegen von der Spurensicherung. Angersbach sprach kurz mit ihnen und ging dann zu seinem Wagen. Im Augenblick wurde er nicht gebraucht. Eine gute Gelegenheit, noch einen Blick auf sein Traumhaus zu werfen. Die würde er nicht ungenutzt verstreichen lassen.

***

Der Mann stand zwischen den Bäumen und schaute zu dem Bereich, den die Polizei mit rot-weißem Flatterband abgesperrt hatte. Bisher hatten sie ihn nicht bemerkt. Einzig eine Schleiereule mit ihrem typisch herzförmigen Gesicht hatte ihm mit einem wütenden Kreischen zu verstehen gegeben, dass er ihr Revier verletzt hatte. Vielleicht war er ihrem Nest zu nahe gekommen? Doch keiner hatte sich nach dem Tier umgedreht, als es aus den Bäumen gestoben war. Niemand würde ihn bemerken, und das sollte auch so bleiben.

Er hätte nicht gedacht, dass sie den Verräter so schnell finden würden. Aber letzten Endes war es nicht wichtig. Schließlich war es nicht der Plan gewesen, ihn zu verstecken. Es hätte nur noch ein wenig gruseliger ausgesehen, wenn ein paar mehr Tage verstrichen wären, in denen die Tiere des Waldes Gelegenheit gehabt hätten, sich an dem Kadaver gütlich zu tun. Doch vermutlich war der Effekt auch so eindrucksvoll genug. Und nur darum war es gegangen. Es war eine Botschaft. Und der, an den sie gerichtet war, würde sie hoffentlich verstehen.

[home]

2

Ralph Angersbach schüttelte blinzelnd den Kopf. Halluzinierte er jetzt schon? Oder stand da im Garten vor seinem Traumhaus tatsächlich ein Schild mit den Worten »Zu verkaufen«?

Er fuhr sich mit beiden Händen durch die Haare und ging auf die Haustür zu. Sein Herz galoppierte in einem unverschämten Tempo. In seinen Ohren rauschte das Blut. Ralph atmete einmal tief durch, ehe er den Finger auf den Klingelknopf legte.

Im Inneren erklang eine leise Glocke. Angersbach wartete auf Schritte, doch nichts geschah. Ratlos schaute er sich um. Was jetzt? Zumindest konnte er sich das Haus ja von außen ansehen.

Er durchquerte den Vorgarten, lief an der Schmalseite vorbei nach hinten und seufzte.

Es war noch viel schöner, als er angenommen hatte. Ein naturbelassener Garten mit hohem Gras, dazwischen wild blühende Blumen. Üppige Büsche und Bäume, in denen ein paar Vögel sangen. Eine aus Holz gezimmerte Terrasse mit Gartenmöbeln, die so bequem aussahen, dass Ralph sich am liebsten sofort hineingesetzt hätte. Und nach Nordwesten ein traumhafter Blick über den Flickenteppich aus Feldern, Wiesen und Waldstücken hinter dem Fuchsrücken.

Wenn das Innere des Hauses auch nur halb so schön war …

Ralph trat auf die Terrasse und spähte durch die großen Fenster hinein. Er sah eine Wand mit frei liegendem Fachwerk und dunkle Deckenbalken, einen Kamin und rustikale Möbel. Der Lesesessel lud ein, die Füße hochzulegen und einfach nur aus dem Fenster zu schauen.

»Was machen Sie hier?«, fragte eine Stimme direkt neben seinem Ohr.

Ralph zuckte schuldbewusst zusammen. Er richtete sich auf und wandte sich dem Sprecher zu.

Ein Mann Ende fünfzig, Anfang sechzig, schlank, bartlos und mit kurz geschorenen grauen Haaren.

»Entschuldigen Sie.« Ralph hob die Hände. »Ich habe das Schild gesehen. Ich war neugierig.«

Sein Gegenüber deutete ein Lächeln an. »Gefällt Ihnen, hm?«

Ralph konnte sich gerade noch zurückhalten, seiner Begeisterung freien Lauf zu lassen. In den letzten Monaten hatte er genug mit Immobilienmaklern zu tun gehabt. Er wusste, dass die Preise stiegen, wenn man erkennen ließ, dass man ein Objekt unbedingt haben wollte.

»Könnte was sein«, brummte er deshalb nur.

Der Hausbesitzer machte eine einladende Geste. »Wenn Sie wollen, zeige ich es Ihnen von innen.«

»Gerne.«

Angersbach folgte dem Mann, der um das Gebäude herumging und die Haustür aufschloss. Für einen Einheimischen, dachte der Kommissar, war er unerwartet freundlich. Man hatte da ja so seine Vorstellungen im Kopf. Wenn er an seinen Freund Neifiger dachte … ein herzensguter Mensch, aber diese Güte lag verborgen unter einer dicken Schicht Raubein und einem beinahe schon abschreckenden Dialekt. Dieser Hausbesitzer dagegen wirkte gänzlich anders. In diesem Augenblick hielt er ein breites Lächeln bereit und wies einladend in den geräumigen Flur.

Auch hier viel Holz, eine breite Garderobe und ein Schuhregal, in dem Wanderstiefel neben Businessschuhen und Pantoffeln standen. Die Tür zum nächsten Raum hatte einen bunten Glaseinsatz. Sie führte in das Wohnzimmer, in das Ralph von der Terrasse aus gespäht hatte. Was er nicht gesehen hatte, war die offene Küche. Die Möbel darin hätten noch aus der Zeit seiner Großmutter stammen können, waren aber offensichtlich erst in jüngerer Zeit aufpoliert worden. Über dem modernen Herd hingen Kochbesteck und mehrere glänzende Kupferpfannen, auf einem Regal daneben drängten sich unzählige Gewürzgläser.

»Ich koche gern«, kommentierte sein Gastgeber das Offensichtliche.

»Hm.« Ralph war durchaus in der Lage, ein paar einfache Gerichte zuzubereiten, doch mit Kochen, wie der Mann es vermutlich meinte, hatte das wenig zu tun.

Der lachte leise. »Kommen Sie. Ich zeige Ihnen das obere Stockwerk und die Badezimmer.«

Ralph lief hinter ihm die Treppe nach oben und fand auch dort alles so, wie er es sich schöner nicht hätte vorstellen können. Das Haus war gemütlich und alt, aber so gut gepflegt wie der Oldtimer eines Autoliebhabers.

»Sind Sie Architekt?«, erkundigte er sich.

»Fast«, erwiderte der Hausbesitzer. »Ingenieur.« Er verzog das Gesicht, schüttelte den Kopf. »Verzeihen Sie. Wo sind nur meine Manieren? Ich habe mich gar nicht vorgestellt.« Er streckte Ralph die Hand hin. »Reinhold Körber. Ich habe für ein regionales Energieunternehmen gearbeitet.«

»Ralph Angersbach.«

Körber hob die Augenbrauen. »Einen Beruf haben Sie nicht?«

»Doch. Beamter«, erwiderte Ralph, der seine Neugier nicht befeuern wollte.

»Ah ja.« Körbers Mundwinkel zuckten. »Darf ich raten? In den letzten beiden Stunden habe ich dreimal einen Streifenwagen gesehen, dazu eine ganze Reihe von Fahrzeugen, die durch Fuchsrod in den Wald gefahren sind. Sie haben dort etwas gefunden, nehme ich an. Diebesgut? Oder eine Leiche?« Er hob die Hände. »Ich will es gar nicht wissen. Aber ich nehme an, Sie sind von der Polizei.«

Ralph kapitulierte. »Ja. Kriminaloberkommissar. Regionalkriminalinspektion Gießen.«

Körber nickte zufrieden. »Dann haben Sie ein geregeltes Einkommen«, sagte er, und Ralph ging auf, dass das für einen Hausverkäufer natürlich wichtig war.

»Ich habe gerade mein Elternhaus in Okarben verkauft«, teilte er deshalb mit. »Und jetzt suche ich etwas Neues.«

»Hier oben?«, fragte Körber, beinahe verwundert. »Na ja, zugegeben, für den Preis finden Sie in der Wetterau nichts. Und bis Gießen lässt es sich ja gut fahren.«

Angersbach hatte es bislang nicht geschafft, das Gespräch auf den Verkaufspreis zu lenken, obwohl dieser ihn natürlich brennend interessierte. Gerade als er sich ein Herz fasste, machte der Hausbesitzer eine ausladende Handbewegung, die das gesamte Gebäude einschloss. »Und? Wäre es denn etwas für Sie?«

Ralph nickte vage. Er hatte den Gedanken noch längst nicht zu Ende gedacht. Irgendetwas in ihm wollte dieses Haus unbedingt haben. Am besten sofort. Aber das ging jetzt doch zu schnell. Es schien ihm daher angebracht, damit ein wenig hinter dem Berg zu halten, ehe Körber auf die Idee kam, den Kaufpreis entsprechend hochzujubeln.

»Ich bin nicht vom Fach«, sagte er daher, »und würde gern einen Baugutachter hinzuziehen. Nur zur Sicherheit. Es macht alles einen guten Eindruck, aber man kann ja nicht hineinsehen. Ich schon gar nicht. Das Haus in Okarben, na …« Er winkte ab. War jetzt der Zeitpunkt, um nach dem Preis zu fragen?

Doch wieder war Körber schneller. »Alles gut«, lächelte er. »Das spricht für Sie. Ich könnte Ihnen ein paar Adressen nennen, aber vielleicht wollen Sie sich da lieber selbst drum kümmern?«

Angersbach nickte. Irgendeinen Haken, dachte er, musste die Sache haben. Sonst würde Körber das Haus doch nicht hergeben. Er gab sich einen Ruck: »Gibt es einen speziellen Grund, weshalb Sie es verkaufen?«

Der Ingenieur lachte. »Ah. Sie sind von Berufs wegen misstrauisch.« Er lud Ralph mit einer knappen Geste ein, ihm wieder nach unten zu folgen. »Aber ich will das Haus nicht abstoßen, weil irgendetwas damit nicht in Ordnung ist.« Er ging mit Ralph durchs Wohnzimmer auf die Terrasse, und Ralph seufzte erneut, als er über die grüne Ebene schaute.

»Ich bin vor einem halben Jahr in den Ruhestand gegangen und habe mich entschieden, meinen Lebensabend in Portugal zu verbringen«, fuhr der Hausbesitzer fort. »Kennen Sie die Ost-Algarve? Verträumte kleine Dörfer, in denen das Leben noch ganz gemächlich vonstattengeht. Mit viel ursprünglichem Flair, nicht so touristisch überlaufen. Da will ich mir eine kleine Villa kaufen. Wenn die Knochen alt und morsch werden, ist es besser, in wärmeren Regionen zu leben. Ich denke nicht, dass ich zurückkommen werde. Höchstens, um ein Zimmer in einem gut ausgestatteten deutschen Altenheim zu beziehen. Dieses Haus brauche ich dann nicht mehr. Viel zu weit weg von Ärzten, Krankenhäusern und Pflegediensten.«

Ralph verspürte ein Grummeln im Magen. Er war noch nicht alt, aber auch nicht mehr jung. Und die Zeit verflog. Umso wichtiger war es, Pläne nicht auf die lange Bank zu schieben. Sonst war es irgendwann zu spät.

»Wie sind denn Ihre Preisvorstellungen?«, fragte er.

Körber spitzte die Lippen. »Ich dachte … nein.« Er winkte ab. »Lassen Sie Ihren Gutachter kommen. Er soll eine begründete Einschätzung abgeben. Und auf der Basis verhandeln wir dann.«

Ralph nickte. Das klang fair. Sie verabschiedeten sich mit Handschlag, und Ralph ging um das Haus herum zu seinem Wagen. Bevor er einstieg, schaute er noch einmal auf das Gebäude. Seine Hände waren feucht, sein Mund war komplett ausgetrocknet, und die Ader an seinem Hals pochte. Sollte sein größter Traum wirklich in Erfüllung gehen?

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3

Sabine Kaufmann stand auf dem Balkon ihrer Wohnung und schaute über die Dächer des Wiesbadener Stadtteils Dotzheim zum Taunus. Buckelige Felsen, dicht bestanden von dunkelgrünen Bäumen. Seit fast einem Jahr lebte sie hier, auf knapp sechzig Quadratmetern. Zwei Zimmer, offene Küche, Bad und Balkon. Erstbezug nach Sanierung, hatte es in der Anzeige geheißen. Dafür zahlte sie fast tausend Euro warm, kein Vergleich zu der Wohnung, in der sie in Bad Vilbel mit ihrer Mutter gelebt hatte. Aber zum Ausgleich war ihr neuer Arbeitsplatz im Zentrum nur gut drei Kilometer entfernt. Lediglich zu der in ihrem Viertel angesiedelten Hessischen Hochschule für Polizei und Verwaltung wäre es noch näher gewesen.

Sabine mochte die Stadt, die so viel sauberer und geordneter wirkte als Frankfurt. Man spürte, dass man sich in der Landeshauptstadt aufhielt. Zugleich war Wiesbaden mit seinen fünfzehn Mineral- und Thermalquellen eines der ältesten Kurbäder Europas. Trotzdem fehlte ihr Bad Vilbel. Oder, vor allem, ihre Mutter. Natürlich war es anstrengend gewesen, sich um die psychisch kranke Frau zu kümmern. Die schizophrenen Phasen hatten ihr Angst gemacht. Oft hatte sie sich gefragt, wie das auf Dauer weitergehen sollte. Wenn ihre Mutter neben ihrer seelischen Verfassung auch noch älter und gebrechlicher würde. Doch diese Fragen hatten sich mit Hedwigs Tod erledigt. Was geblieben war, war Trauer. Und Einsamkeit.

Der Job im Hessischen Landeskriminalamt machte Sabine Spaß, es war eine neue Herausforderung. Weniger gut gefiel ihr, dass sie die meiste Zeit am Schreibtisch verbrachte. Sie vermisste die Arbeit auf der Straße. Und vielleicht auch Ralph Angersbach. Was er wohl gerade tat?

Seit Hedwigs Beerdigung hatte sie, abgesehen von einer SMS zu Weihnachten und einer zu ihrem Geburtstag, nichts mehr von ihm gehört. Sie hatte sich bedankt und ihm zu seinem Geburtstag ebenfalls eine Nachricht geschickt, doch mehr auch nicht. Hätte sie sich wieder bei ihm melden sollen? Aber er wusste doch auch, wie man ein Telefon bediente. Warum musste immer sie es sein, die hinter ihm herlief? Weil er ein grantelnder Sturkopf war? Dann musste er sich eben ändern.

Die Kollegen im LKA waren nett und viel unkomplizierter als Angersbach. So etwas wie eine Freundschaft hatte sich jedoch mit keinem von ihnen entwickelt. Die meisten der jüngeren hatten gerade eine Familie gegründet, manche auch ein Haus gebaut, die älteren hatten seit Langem Familie und Freunde. Sie waren beschäftigt, vergeben, gebunden. Sabine war die Einzige in ihrer Abteilung, die Kapazitäten frei gehabt hätte.

Hatte sie sich nach dem Tod ihrer Mutter zu sehr vergraben? Sich abgeschottet und in ihrem Schneckenhaus verkrochen? Hatte es gar Angebote von den Kollegen gegeben, die sie einfach nur nicht wahrgenommen hatte?

Sabine holte tief Luft. Zwei Wochen Urlaub lagen vor ihr. Sie hatte nichts geplant, nur, ihre Wohnung fertig einzurichten. Eine Reihe von Umzugskartons stand immer noch unausgepackt am hinteren Ende des Flurs. Dort, wo Mirco Weitzel und Levin Queckbörner, die Kollegen aus Bad Vilbel, sie abgestellt hatten. Auch bei den beiden hatte sie sich nicht mehr gemeldet. Dabei hätte sich vor allem Mirco riesig über eine Einladung nach Wiesbaden gefreut. Noch mehr, wenn das Ganze unter der Kategorie »Date« laufen würde. Aber wollte sie das überhaupt?

Vielleicht sollte ich einfach eine Party geben, dachte sie. Ralph und die beiden Kollegen einladen und die Tür zu ihrem sozialen Leben wieder öffnen. Doch Ralph, Mirco und Levin waren ein Stück Vergangenheit. Ihre Zukunft lag in Wiesbaden. Sie musste hier Kontakte knüpfen und neue Freunde finden.

Aber wie? Sollte sie sich in einem Onlineforum anmelden? Eine Kontaktanzeige aufgeben?

Bin neu in Wiesbaden. Suche Gleichgesinnte für gemeinsame Aktivitäten.

Oder einfach in einen Club gehen?

Warum eigentlich nicht? Alles war besser, als jeden Abend zu Hause vor dem Fernseher abzuhängen und Junkfood in sich hineinzuschaufeln.

Sabine nickte entschlossen. Sie ging zurück in die Wohnung, in ihr schick modernisiertes Bad. Sogar ein eingebautes Radio unter dem Lichtschalter gab es. Sie stellte es an, drehte die Musik laut und legte ein flauschiges Handtuch bereit. Sie würde jetzt eine heiße Dusche nehmen und sich hübsch machen. Und anschließend würde sie auf die Piste gehen.

***

Ralph Angersbach betrat zur selben Zeit das Gebäude des Gießener Instituts für Rechtsmedizin. Professor Hack, Koryphäe mit Glasauge, erwartete ihn bereits im Obduktionssaal. Ralph musste wie immer tief durchatmen, bevor er eintrat, und Hack, dem das auch mit einem Auge nicht entging, lachte meckernd.

»Man möchte wirklich meinen, Sie wären mit den Jahren abgehärtet«, kommentierte er und dirigierte Angersbach zu dem Stahltisch, auf dem der Leichnam aus dem Wald lag. Zumindest im Moment noch von einem weißen Tuch bedeckt. Ralph hätte nichts dagegen gehabt, wenn es an Ort und Stelle geblieben wäre. Hackebeil dagegen schien geradezu begierig auf die Sektion. Er lüftete das Laken mit einer Geste wie ein Zauberer, der ein Kaninchen aus dem Zylinder zieht.

»Et voilà. Da haben wir Ihren bemerkenswerten Fund aus dem Wald.«

Angersbach musste erneut schlucken. Der Leichnam war mittlerweile gewaschen worden, was darauf hindeutete, dass die äußerliche Spurensuche abgeschlossen war. Doch statt den Schrecken zu mindern, trugen der Geruch nach Desinfektionsmittel und die stahlglänzende Tischfläche als Kontrast dazu bei, dass der Anblick des furchtbar zugerichteten Toten noch schockierender wirkte.

»Mein Gott. Wer macht so etwas?«, entfuhr es Ralph.

Hackebeil legte den Kopf schief. »Das herauszufinden ist wohl Ihr Job. Und der da oben«, er richtete einen gekrümmten Finger zur Decke, »hat überhaupt nichts damit zu tun. Oder, wenn er die Antwort kennt, wird er sie Ihnen vermutlich nicht mitteilen.«

»Ha, ha.«

»Ja, ja, ich weiß. Humor liegt Ihnen nicht.« Hack beugte sich über den Leichnam. Ralph zog die Schultern hoch. Zumindest Hackebeils Humor lag ihm nicht. Aber Hack machte seinen Job außerordentlich gut. Dafür musste man seine Marotten eben in Kauf nehmen. Und im Grunde mochte er den alten Kauz. Wenn Ralph überhaupt Freunde hatte, waren es Neifiger und Hack. Ein Metzger im Vogelsberg, der seit einem Ausrutscher beim Kotelettschneiden nur noch neun Finger hatte. Und ein Rechtsmediziner mit Glasauge. Der schon in den entlegensten Krisengebieten Leichen obduziert hatte, um Kriegsverbrechen auf die Spur zu kommen, und für den das Öffnen eines Brustkorbs mehr wie das erwartungsvolle Tranchieren eines Geflügelbratens zu sein schien. Und das für einen Vegetarier. Ralph hätte fast gelacht, doch er fand, dass sich das neben einer Leiche nicht gehörte.

Auf dem Weg hierher hatte er mit Neifiger telefoniert. Der Metzger, bei dem er gelegentlich Lammfleisch für seinen Vater besorgte, kannte Gott und die Welt. Er hatte ihm den Kontakt zu einem Baugutachter vermittelt, der sich bereit erklärt hatte, sich gleich am nächsten Morgen das Haus in Fuchsrod anzusehen und eine Beurteilung abzugeben. Ralph fühlte sich fiebrig erregt, was ihm half, das Unbehagen im Obduktionssaal auszuhalten. Ein bisschen jedenfalls.

Als Hack die Gliedmaßen des Toten anhob und demonstrierte, dass sie sich in alle Richtungen bewegen ließen, auch in solche, die beim Menschen anatomisch eigentlich nicht möglich waren, schnürte es ihm den Hals zu.

»Da hat einer gründliche Arbeit geleistet«, kommentierte der Rechtsmediziner. »Ich schätze, da ist kaum noch ein Knochen in den Armen und Beinen heil. Und die Sehnen und Bänder dürften auch zum überwiegenden Teil gerissen sein.« Er zog die linke Schulter hoch, als wollte er dem Patienten sein Bedauern mitteilen. »Ich würde auf einen Vorschlaghammer oder dergleichen tippen.«

Ralph fuhr sich mit der Hand über den Mund. »Hat er da noch gelebt?«

»Kann ich so nicht sagen.« Hack bewegte den rechten Arm des Leichnams. »Wir sehen hier Einblutungen ins Gewebe. Nicht besonders ausgeprägt, das heißt, er hat zumindest nach dem Zufügen der Schläge nicht mehr lange geatmet. Hätte das Herz weitergepumpt, wären massive Blutergüsse entstanden.«

Ralph schluckte. »Aber die Schläge waren nicht die Todesursache?«

»Nein. An gebrochenen Knochen stirbt man nicht.« Hack blinzelte ihm zu. »Man wird höchstens ohnmächtig, weil man die Schmerzen nicht erträgt.«

»Und das da?« Ralph deutete auf das Wort »Verrat«, das schwarz in die Brust des Mannes eingebrannt war. Der Rechtsmediziner fuhr die Buchstaben mit den behandschuhten Fingern nach.

»Da hat sich jemand viel Mühe gegeben. So ein Brandeisen bekommt man nicht im Handel. Muss man vermutlich selbst schmieden. Oder vielleicht gibt es einzelne Buchstaben, die man zusammensetzen kann.«

Ralph nahm sich vor, das zu prüfen. »Das war aber auch nicht die Todesursache?«

»Theoretisch wäre es möglich. Es ist sicher mindestens ebenso schmerzhaft wie das Zertrümmern der Gliedmaßen, wenn einem jemand ein solches Brandzeichen aufdrückt. Und der Schock könnte einen Herzstillstand auslösen. Aber ob das hier so war?« Hacks Augen funkelten, das gläserne vom hellen Licht der Neonröhren, das gesunde aus Neugier. »Um das festzustellen, müssen wir ihn aufmachen.«

Angersbach verspannte sich. Er kannte die Programmpunkte, doch der Fluchtimpuls kam jedes Mal, wenn die Leichenöffnung anstand.

»Was ist mit dem Gesicht passiert?«, fragte er, um den Moment hinauszuzögern, in dem Hack zur Säge griff. »Tierfraß?«

Der Rechtsmediziner tippte mit dem behandschuhten Zeigefinger auf die Stellen, wo sich einmal Mund, Nase und Augen des Opfers befunden hatten und jetzt nur noch leere, blutige Höhlen klafften.

»Könnte man denken«, erklärte Hackebeil und schaute Angersbach an. »Aber ich vermute eher, dass jemand nur diesen Eindruck erwecken wollte, um die Identifikation zu erschweren oder die tatsächliche Liegezeit der Leiche zu verschleiern.«

Ralph schaute auf die grausliche Fratze. »Wie das?«

»Kneifzange«, tippte der Rechtsmediziner. »Einfach beherzt zugegriffen und ein bisschen gezupft. Das ist ja alles weiches Gewebe, da braucht man nicht einmal besonders viel Kraft.«

Angersbach musste würgen. Hack blickte ihn warnend an.

»Wenn Sie etwas Schlechtes gegessen haben, gehen Sie da rüber zu den Waschbecken. Nicht dass Sie hier noch Fehlspuren auf unserem Untersuchungsobjekt verteilen.«

Ralph hob die Hände und befolgte den Rat. Die Übelkeit ließ nach, aber er hatte nichts dagegen, ein wenig Distanz zwischen den verstümmelten Leichnam und sich selbst zu bringen.

Hack zog seine Latexhandschuhe zurecht. »So. Dann wollen wir mal.« Er nahm die kleine Handkreissäge, führte sie am Hinterkopf des Toten entlang und zog anschließend die Kopfschwarte mit einem Ruck über die Gesichtspartie. Dann setzte er erneut an, um den Schädel zu öffnen.

Es war weiß Gott nicht Angersbachs erste Obduktion, doch heute fühlte er sich besonders dünnhäutig. Vor seine Augen trat eine Sau, irgendwo in einem Hinterhof seiner Jugendzeit. Wie sie da kopfüber hing, mit auseinanderklaffendem Bauch. Er schnitt eine Grimasse, zog eilig das Handy aus der Tasche und hielt es hoch.

»Ich gehe kurz vor die Tür und frage, wie weit die Kollegen von der Kriminaltechnik sind.«

Hack grinste wissend. »Ja, ja. Machen Sie nur. Ich komme zurecht. Wenn ich etwas für Sie habe, melde ich mich.«

Ralph nickte dankbar und stürmte aus dem Obduktionssaal. Er rannte die Treppe nach oben, durch den langen Flur, bis er endlich an der Tür war. Stieß sie auf, trat hinaus und schnappte nach Luft wie ein Ertrinkender. Langsam beruhigten sich sein Puls und sein Magen wieder. Erst jetzt merkte er, dass es bereits dämmerte.

Er telefonierte mit der Forensik und erfuhr, dass es wenig verwertbare Spuren gab. Seit Wochen hatte es nicht geregnet, der Boden war selbst im tiefen Wald trocken und hart, sodass man weder Schuhspuren noch Reifenabdrücke fand. Auch schien der Täter nichts Offensichtliches zurückgelassen zu haben, Zigarettenkippen, Papierstücke, Münzen oder dergleichen. Vom Leichnam hatte man selbstverständlich mit einem Kleberoller Faserspuren abgenommen, vielleicht war etwas dabei, das vom Täter stammte. Relativ sicher waren sich die Kollegen, dass der Fundort auch der Tatort war; es gab keine Hinweise, dass der Körper nach Eintritt des Todes bewegt worden war.

»Interessant ist vielleicht Folgendes«, ergänzte der Kriminaltechniker. »Dieser große, flache Stein, auf dem der Leichnam lag. Das ist ein alter Opferstein. Vorchristlich. Solche Stätten gibt es häufiger dort oben, um die meisten ranken sich alte Sagen. Hat uns dieser Jäger mit dem Dackel verraten, der den Toten gefunden hat. Ist extra noch mal zurückgekommen, weil er dachte, das könnte wichtig sein.«

»Er ist kein Jäger«, erwiderte Ralph abwesend. »Nur ein pensionierter Biologielehrer.«

»Wie auch immer.« Der Forensiker verabschiedete sich. »Wir melden uns, wenn wir etwas Neues haben.«

»Danke.« Ralph steckte das Telefon weg und schaute über den menschenleeren Parkplatz hinter dem Institut.

Ein brutal zugerichteter Toter, auf dessen Brust das Wort »Verrat« eingebrannt war, mitten im Wald auf einem vorchristlichen Opferstein. Das schrie geradezu nach einem religiösen oder pseudoreligiösen Hintergrund. Das Wort Ritualmord schoss Angersbach durch den Kopf.

Wollte da jemand nur falsche Spuren legen? Oder hatte er es womöglich mit einer durchgeknallten und gewaltbereiten Sekte zu tun?

Gedanken, die zu nichts führten, solange er nicht sicher wusste, wer das Opfer war. Er musste abwarten und außerdem mehr über das Verschwinden des Bürgermeisters der Gemeinde Fuchsrücken herausfinden. Es war ja zumindest ein plausibler Verdacht, dass er der Tote war. Das gefiel Ralph nicht, doch auf der anderen Seite bot es ihm die Möglichkeit, sich gleich am nächsten Morgen um sein Traumhaus zu kümmern.

***

Über den Fuchsrücken senkte sich die Dunkelheit. Dichte Wolken zogen auf. Nur ab und zu fiel ein Streifen Mondlicht auf die Bäume und die schmalen Wege. Und auf den Mann, der sich von Fuchsrod aus dem abgesperrten Areal näherte. Er achtete sorgsam darauf, wohin er trat, um nicht durch brechende Zweige oder raschelnde Äste auf sich aufmerksam zu machen. Immerhin musste er damit rechnen, dass die Polizei eine Wache an der Absperrung postiert hatte. Doch das war nicht der Fall. Entweder waren die Beamten der Ansicht, dass sie alles gründlich abgesucht hatten, oder es fehlte schlichtweg an Personal.

Ihm konnte das nur recht sein.

Er holte zwei Plastiküberzieher hervor und streifte sie über seine Schuhe. Dann ging er die letzten Meter, hob das Flatterband an und schlüpfte darunter hindurch. Nahm währenddessen Latexhandschuhe aus der Jackentasche und zog sie an. Als er den Opferstein erreicht hatte, ging er in die Hocke und fuhr mit den Fingern über die glatte, blutbesudelte Oberfläche.

Der Verräter hatte bekommen, was er verdiente. Aber er war nicht der Einzige. Es gab andere, die ebenfalls bestraft werden mussten. Wenn sie die Botschaft vernommen und verstanden hatten, würden sie wissen, dass sie als Nächste dran waren. Zumindest einer von ihnen. Er stellte sich vor, wie jener in seinem Wohnzimmer saß, ein Bier oder einen Schnaps vor sich auf dem Tisch, und durch das Fenster in die drohende Dunkelheit starrte, während er sich fragte, wann es so weit sein würde. Ob er sich ergeben, in sein Schicksal fügen oder versuchen sollte zu fliehen. Zittern und schlottern würde er vor Furcht, und dann das alles wieder verdrängen. Natürlich könnte eine Flucht gelingen. Doch dafür würde er sein gesamtes bisheriges Leben opfern müssen. Und das würde ihm fast genauso viel Angst machen wie der mögliche Tod.

Der Mann bleckte die Zähne. Sie hatten geglaubt, dass sie damit durchkommen würden, mit allem, was sie geplant und ihm angetan hatten. Doch sie hatten sich getäuscht.

Er richtete sich wieder auf, machte ein paar Schritte vom Opferstein weg und leuchtete mit seiner Taschenlampe. Ein paar Meter entfernt sah er einen Baum mit einem gebrochenen Ast. Die abgeknickte Spitze steckte im Boden. Der Mann hob einen der Zweige an und zog einen vielleicht zwölf Zentimeter langen, schmalen und weichen Gegenstand aus der Tasche, den er daran befestigte.

Es war kein entscheidender Baustein in seinem Plan, nur ein weiterer kleiner Einsatz, der den Reiz erhöhen würde. Wenn die Polizei das Objekt fand, würde es ihm in die Karten spielen. Falls nicht … würde er sich etwas anderes einfallen lassen. Seine Fantasie war grenzenlos. Und die Sache begann, ihm Spaß zu machen.

Er verließ das abgesperrte Areal so lautlos, wie er gekommen war. Nach fünfzig Metern entfernte er die Plastiküberzieher von den Schuhen und zog die Latexhandschuhe aus. Verstaute beides in der Jackentasche und vergrub die Hände darin. Dann schritt er schneller aus und pfiff lautlos vor sich hin. Der alte Biologielehrer Zöllner, der mit Lotte die letzte Runde des Tages machte, bemerkte ihn nicht. Auch der Dackel schlug nicht an.

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4

Maria Jukovic war Mitte zwanzig und bildhübsch. Lange dunkle Haare, die ihr bis zum Po reichten. Ein schmales Gesicht, hohe Wangenknochen und leicht schräg stehende Augen. Angersbach meinte einen osteuropäischen Einschlag zu erkennen, was ja auch zum Namen passte. Wenn Bürgermeister Lubitz tatsächlich etwas mit ihr hatte, war er zu beneiden. Und er musste selbst auch einigermaßen attraktiv sein. Oder vielleicht genügte auch die Macht, die er hatte, um ihn interessant zu machen. Andererseits: Wie viel Macht konnte ein Bürgermeister einer Neunhundertsiebenundachtzig-Seelen-Gemeinde schon haben?

»Es ist noch nie vorgekommen, dass Martin nicht zur Arbeit und zu einer Sitzung erschienen ist, ohne sich abzumelden.« Die Sekretärin im Gemeindebüro in Fuchshain schluchzte. »Er ruft immer an.«

Angersbach zog eine Packung Taschentücher aus seiner grünen Wetterjacke und hielt sie ihr hin.

»Danke.« Maria Jukovic schnäuzte sich, mit der gebotenen Vorsicht, um ihr Make-up nicht zu verwischen. Sie nahm sich ein zweites Taschentuch und tupfte die Tränen ab.

»Wann haben Sie Herrn Lubitz zuletzt gesehen?«, fragte Angersbach.

»Vorgestern am frühen Nachmittag. Er wollte schnell noch einmal nach Hause fahren vor der Gemeinderatssitzung am Abend.« Ein flüchtiges Lächeln schlich sich auf ihre Lippen. »Er hatte seine Krawatte mit Tomatensoße bekleckert und wollte sie rasch wechseln. Normalerweise hat er Ersatz in seinem Büro, aber den hatte er am Tag zuvor schon gebraucht. Er war in den letzten Tagen ein wenig fahrig.«

»Weil etwas Wichtiges anlag?«

Die Sekretärin nickte heftig. »Auf der Tagesordnung stand die Brückensanierung. Die beiden Brücken über den Fuchsbach und den Zufluss sind brüchig und müssen dringend ausgebessert werden. Wenn sie noch ein- oder zweimal Starkregen oder Hochwasser überstehen müssen, sind sie wahrscheinlich nicht mehr passierbar. Aber der Gemeinde hat das Geld gefehlt.« Sie kam hinter ihrem Schreibtisch hervor und trat ans Fenster, von dem aus man auf den Hügel sehen konnte, hinter dem der Fuchsrücken mit den Gemeinden Fuchsrod, Bruchfeld und Rückenrod lag. »Jetzt allerdings meinte Martin, es gäbe die perfekte Lösung. Zwei Projekte, die wechselseitig voneinander profitieren.«

»Und welches war das zweite?«, fragte Angersbach und stellte sich neben die Sekretärin. Der Blick war herrlich, die sauberen roten Dächer von Fuchshain und dahinter die knorrigen Eichen auf dem Hügel, genau wie auf dem Fuchsrücken.

Maria Jukovic schniefte. »Er hat nicht mit mir darüber geredet. Wollte ein Geheimnis daraus machen. Nur gegrinst hat er und von einem Knalleffekt gesprochen. Aber ich habe ein paar Unterlagen gesehen. Da ging es um einen Windpark.«

»Aha?« Bei Ralph klingelten die Alarmglocken. Wo Windräder geplant oder gebaut wurden, kam es oft zu Konflikten. Zwischen denen, die den Profit sahen, und jenen, die sich vor der verschandelten Landschaft fürchteten. Oder sauer waren, dass die Räder eben nicht auf ihrem Grund und Boden aufgestellt wurden. Er hatte es in der Wetterau erlebt. Eine Bürgerinitiative hatte verbissen gegen die angebliche Verschandelung ihrer alten römischen Kulturlandschaft durch drei »Spargel« gekämpft. Und dieselben Mitglieder hatten sich in einer anderen Bürgerinitiative für die Zerschneidung desselben Landes zugunsten einer Ortsumgehung starkgemacht.

»Und der Windpark soll hier in der Gegend errichtet werden?«, hakte er nach und zog einen Kreis mit dem Finger.

Die Sekretärin hob die Hände und ließ sie wieder fallen. »Das hat er mir nicht verraten.«

Angersbach zog sein Notizbuch aus der Tasche »Wer könnte denn Genaueres wissen?«

Das Schulterzucken war beinahe bockig. »Sein Freund Dietmar vielleicht. Dietmar Schultheiß. Mit dem hat er in letzter Zeit ständig zusammengehangen.«

Auch zu Zeiten, die für gewöhnlich für die Sekretärin reserviert gewesen waren, hörte Angersbach heraus und schrieb sich den Namen auf. »Wo finde ich diesen Herrn Schultheiß?«

»In Lauterbach. Er ist der Geschäftsführer der Rücken-Wind AG.«

»Ach.« Interessant, dachte Angersbach. Es war wohl nicht allzu weit hergeholt, wenn man annahm, dass die Rücken-Wind AG mit dem geplanten Windpark zu tun hatte.

»Danke.« Er stopfte das Heft zurück in die Jackentasche. Das war eine Spur, der er folgen wollte, aber Lubitz’ Verhältnis zu seiner Sekretärin interessierte ihn auch. Er wusste nur nicht so recht, wie er das Thema anschneiden sollte. Sabine Kaufmann hatte ihm oft vorgeworfen, dass er ein grober Klotz sei, der einfach in eine Vernehmung hineintrampele und kein Gespür für die Situation habe. Und so ganz falsch lag sie damit wohl nicht. Aber er hatte auch keine Ahnung, wie er es ändern sollte.

»Komisch, dass Sie nichts Näheres wissen, obwohl Sie doch eigentlich Lubitz’ engste Vertraute sind«, stichelte er. »Oder vielleicht sogar noch mehr?«

Maria Jukovic funkelte ihn an. »Was wollen Sie damit andeuten?«

»Wie man hört, besteht zwischen Ihnen und Ihrem Chef eine … hm … besondere Beziehung.«

»So? Hört man das?« Die Sekretärin rochierte zu ihrem Schreibtisch und verschanzte sich dahinter. »Das ist nur das übliche Gerede. Herr Lubitz ist zwanzig Jahre älter als ich. Und außerdem bin ich verlobt.«

»Okay.« Angersbach hob die Hand. »War nur eine Frage.« Er dachte nach. »Gibt es sonst jemanden, der etwas über den Verbleib von Herrn Lubitz wissen könnte? Angehörige, Freunde, Vertraute?«

»Nein. Da ist niemand.« Die Abwehr fiel plötzlich von der Sekretärin ab, und die Tränen flossen wieder. »Glauben Sie, dass er das ist? Der Tote, den Sie auf dem Fuchsrücken gefunden haben?«

»Dazu kann ich noch nichts sagen.« Ralph hatte am frühen Morgen bereits mit Professor Hack telefoniert und erfahren, dass nicht der Schock durch das Anbringen des Brandzeichens die Todesursache gewesen war, sondern der Schlag mit einem schweren Hammer auf den Schädel. Er hatte auch herausgefunden, dass man Brandeisen mit einzelnen Buchstaben ohne Mühe im Internet bestellen konnte, dazu gedacht, das heimische Grillgut mit Initialen oder Wörtern zu versehen. Ein einzelnes Eisen kostete knapp vierzig Euro, die fünf Buchstaben, die man für Verrat brauchte, also zweihundert. Das Wort musste demzufolge wichtig sein, wenn es dem Täter so viel wert war. Ralph hatte einen Beamten in der RKI gebeten, alle infrage kommenden Händler anzuschreiben und sie zu bitten, ihre Bestelllisten daraufhin durchzusehen, ob jemand die Buchstaben V, E, R, A und T gekauft hatte. Bis sie dazu eine Rückmeldung bekamen, konnte es allerdings dauern.

Zur Identität des Toten hatte der Rechtsmediziner noch kein abschließendes Ergebnis. Er wartete noch auf die Röntgenbilder des Zahnarztes von Martin Lubitz. Davon abgesehen allerdings passte alles: Der Tote hatte in etwa Lubitz’ Alter, und die noch sicht- und messbaren Merkmale wie Größe und Gewicht stimmten mit den Angaben seines Hausarztes überein. Doch das würde er der Sekretärin nicht auf die Nase binden.

»Ich bete, dass es ein Irrtum ist«, sagte Maria Jukovic.

»Tun Sie das«, erwiderte Ralph unverbindlich und reichte ihr seine Visitenkarte, um zu signalisieren, dass er fürs Erste keine weiteren Fragen hatte. Er verabschiedete sich und verließ das Vorzimmer des Bürgermeisters der Gemeinde Fuchsrücken. Als er die Tür hinter sich zuzog, hörte er, wie die Sekretärin laut aufschluchzte. Vermutlich, dachte Ralph, hatte sie hinsichtlich ihrer Beziehung zu Martin Lubitz gelogen, Verlobter hin oder her. Wenn es sich bei dem Toten tatsächlich um den Bürgermeister handelte, würde er sie erneut befragen müssen. Auch wenn die Auffindesituation auf einen Ritualmord hindeutete; Neid und Eifersucht waren nach wie vor die gängigsten Mordmotive. Und alles andere konnte genauso gut eine Inszenierung sein, die keinen anderen Zweck hatte, als von den wahren Hintergründen abzulenken.

***