Blutroter Schatten - Patricia Walter - E-Book
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Blutroter Schatten E-Book

Patricia Walter

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Beschreibung

Deinem Schatten kannst du nicht entkommen

Innerhalb weniger Tage werden in München mehrere Leichen gefunden, bei denen jeweils ein Zettel liegt: "Mit den besten Empfehlungen von Thomas Rohde." Die Polizei steht vor einem Rätsel. Denn der verurteilte Serienmörder Rohde sitzt seit Jahren im Hochsicherheitstrakt der Psychiatrie. Weiß er, wer der Täter ist? Rohde ist bereit zu sprechen - aber nur mit einer einzigen Person: seiner Tochter Sam. Obwohl sie den Kontakt zu ihrem Vater vor langer Zeit abgebrochen hat, willigt Sam ein - und gerät bald selbst ins Visier des Killers ...

Der neue Psychothriller von Patricia Walter - jetzt als eBook bei beTHRILLED. Mörderisch gute Unterhaltung.


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Seitenzahl: 427

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

Kapitel 44

Kapitel 45

Kapitel 46

Kapitel 47

Kapitel 48

Kapitel 49

Kapitel 50

Kapitel 51

Kapitel 52

Kapitel 53

Kapitel 54

Kapitel 55

Kapitel 56

Kapitel 57

Kapitel 58

Kapitel 59

Kapitel 60

Kapitel 61

Kapitel 62

Kapitel 63

Kapitel 64

Kapitel 65

Kapitel 66

Kapitel 67

Kapitel 68

Kapitel 69

Kapitel 70

Kapitel 71

Kapitel 72

Kapitel 73

Kapitel 74

Kapitel 75

Kapitel 76

Kapitel 77

Kapitel 78

Kapitel 79

Kapitel 80

Kapitel 81

Epilog

Danksagung

Weitere Titel der Autorin:

Kalte Erinnerung

Dunkle Vergangenheit

Tote Asche

Über dieses Buch

Innerhalb weniger Tage werden in München mehrere Leichen gefunden, bei denen jeweils ein Zettel liegt: »Mit den besten Empfehlungen von Thomas Rohde.« Die Polizei steht vor einem Rätsel. Denn der verurteilte Serienmörder Rohde sitzt seit Jahren im Hochsicherheitstrakt der Psychiatrie. Weiß er, wer der Täter ist? Rohde ist bereit zu sprechen – aber nur mit einer einzigen Person: seiner Tochter Sam. Obwohl sie den Kontakt zu ihrem Vater vor langer Zeit abgebrochen hat, willigt Sam ein – und gerät bald selbst ins Visier des Killers ...

Über die Autorin

Patricia Walter, geboren 1974, studierte in München Statistik und arbeitet in der Versicherungsbranche. In ihrer Freizeit betreibt sie neben dem Schreiben Kampfsport, insbesondere Judo und Kung Fu. In Judo hat sie den zweiten Schwarzgurt und ist ehrenamtlich als Trainerin tätig. »Blutroter Schatten« ist nach »Kalte Erinnerung«, »Dunkle Vergangenheit« und »Tote Asche« ihr vierter Psychothriller.

Patricia Walter

BLUTROTERSCHATTEN

Psychothriller

Originalausgabe

»be« – Das eBook-Imprint der Bastei Lübbe AG

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann.

Copyright © 2020 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Nadine Buranaseda

Lektorat/Projektmanagement: Kathrin Kummer

Covergestaltung: Massimo Peter-Bille unter Verwendung von Motiven von © shutterstock: ZRyzner | littlesam | Maryna Tyshchenko

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar (www.3wplusp.de)

ISBN 978-3-7325-9416-0

be-ebooks.de

lesejury.de

Für Alex und Johanna

Prolog

Dienstag, 7. Juli

Er hätte die Schlampe am liebsten gleich an Ort und Stelle umgebracht. Sich auf sie gestürzt, zu Boden gerissen und mit bloßen Händen erwürgt oder ihren Kopf so lange gegen den aschgrauen Betonboden geschlagen, bis ihr dämliches Grinsen für immer aus dem Gesicht verschwunden wäre.

Nicht jetzt, dachte er. Zu viele Zeugen im Gerichtssaal.

Er musste sich zusammenreißen, aber er schaffte es, seine Wut zu kontrollieren.

Sein Mandant, ein hochrangiger Politiker, war vor ein paar Minuten von den Justizvollzugsbeamten aus dem Saal geführt worden, zurück ins Gefängnis, wo ihn eine mehrjährige Haftstrafe wegen Steuerhinterziehung erwartete. Der Gesichtsausdruck des Angeklagten bei der Urteilsverkündung war genauso überrascht gewesen wie sein eigener. Sie hatten mit einem Freispruch gerechnet.

Er stopfte die Unterlagen in seine schwarze Lederaktentasche und verließ schnellen Schrittes den Tisch der Verteidigung, vorbei an Oberstaatsanwältin Julia Wagner, die ihn angrinste.

Loser!, schien sie zu sagen.

Verdammte Schlampe!

Er stieß den Mann zur Seite, der gerade zur Tür hinaus wollte, und eilte in den Flur. Wenn er länger hierblieb, würde er doch noch auf Julia Wagner losgehen. Die Wut ihn ihm brodelte wie ein Vulkan kurz vor der Eruption. Der Druck war so stark, dass es nur ein falsches Wort, eine falsche Bemerkung brauchte und er für nichts mehr garantieren konnte. In seiner ganzen Laufbahn war er noch nie so gedemütigt worden, schon gar nicht bei einem solch aufsehenerregenden Fall und erst recht nicht von einer Frau.

Er war Thomas Rohde, der beste Verteidiger, den man für Geld kaufen konnte. Und er war es gewohnt zu gewinnen. »Verlieren« existierte nicht in seinem Wortschatz. Zwar hatte es in der Vergangenheit Fälle gegeben, die er nicht gewonnen hatte, allerdings war das nicht seine Schuld gewesen, sondern in befangenen oder gar korrupten Richtern begründet gewesen. Er setzte seinen Willen durch. Immer. Koste es, was es wolle.

Rohde trat ins Freie, wo ihn etwa ein Dutzend Reporter erwartete. Er verdrehte die Augen, trotzdem ging er auf die Journalisten zu.

Eine Frau in einem kurzen schwarzen Rock und einer aufreizenden weißen Bluse, unter der sich ihre festen Brüste abzeichneten, streckte ihm ein Mikrofon entgegen. Er roch ihr blumiges Parfüm, das sie wie ein zarter Hauch umgab.

»Herr Rohde, haben Sie mit dem Urteil gerechnet?«

Nein, verdammt noch mal! Damit hatte er nicht gerechnet.

»Das Urteil hat mich doch sehr erstaunt. Alle Fakten lagen auf dem Tisch, und ein Freispruch wäre die einzig logische Konsequenz gewesen.«

»Werden Sie in Revision gehen?«

»Selbstverständlich.«

»Die Partei des Angeklagten hat seit Bekanntwerden der Vorwürfe zwei Prozentpunkte eingebüßt«, meinte der Mann neben ihr. Er hatte trockene, raue, verdickte Haut. Schilddrüsenunterfunktion, vermutete Rohde. »Glauben Sie, dass die Umfragewerte nach dem Urteil weiter sinken werden und es Konsequenzen in Berlin geben wird?«

»Darüber kann ich nur spekulieren. Fest steht, dass ich von der Unschuld meines Mandanten überzeugt bin und diese in der Revision beweisen werde. Und nun bitte ich Sie, mich zu entschuldigen.«

Er schob sich an den Reportern vorbei, ignorierte die Fragen, mit denen sie ihn weiterhin bombardierten, und lief zu seiner Mercedes-S-Klasse, die in einer Seitenstraße parkte. Er warf die Aktentasche auf den Beifahrersitz und sah auf die Uhr, eine teure Breitling, die ihm seine Frau letztes Jahr zum sechzehnten Hochzeitstag geschenkt hatte. Es war kurz vor elf.

Rohde beschloss, nach Hause zu fahren. In die Kanzlei konnte er jetzt nicht, er musste allein sein, bevor er am helllichten Tag die Beherrschung verlor. Seine Frau war auf der Arbeit und seine Tochter Sam bis nachmittags in der Schule. Er hatte Zeit, um sich ein wenig zu beruhigen. Aber heute Abend musste er im Schutz der Dunkelheit unbedingt Dampf ablassen. Das letzte Mal lag schon viel zu lange zurück.

Er startete den Motor und fädelte sich in den Verkehr ein. Auf der Prinzregentenstraße wechselte er so abrupt die Spur, dass der Fahrer schräg hinter ihm wild hupte. Rohde streckte den Arm zum Fenster hinaus und zeigte ihm den Mittelfinger, bevor er Gas gab und mit deutlich mehr als den erlaubten fünfzig Stundenkilometern auf den Friedensengel zufuhr.

Wenig später hatte er Bogenhausen im Osten von München erreicht. Er stellte den Wagen in der Doppelgarage neben dem Einfamilienhaus ab und lief den mit roten Pflastersteinen ausgelegten Weg zum Hauseingang entlang. Zwei Nachbarinnen, die sich ein Haus weiter am offenen Gartentor angeregt miteinander unterhielten, unterbrachen ihr Gespräch und winkten ihm zu.

»Hallo, Herr Rohde«, grüßten sie ihn.

»Tolles Wetter, nicht wahr?«, sagte die ältere.

Er schenkte ihnen ein charmantes Lächeln.

»Ein herrlicher Tag«, log er.

Er hasste dieses Wetter. Die Sonne brannte vom wolkenlosen Himmel, und er schwitzte unter seinem schwarzen Designeranzug. Die dunkelrote Krawatte hatte er auf der Rückfahrt ein wenig gelockert. Er brauchte jetzt dringend einen eiskalten Martini.

»Kommen Sie und Ihre Frau zum Sommerfest in zwei Wochen?«, wollte die andere wissen.

»Wir freuen uns schon darauf«, antwortete er geistesabwesend.

In Gedanken war er immer noch im Gerichtssaal, vernahm das skandalöse Urteil und sah Julia Wagners übertriebenes Grinsen. Er warf dem kleinen schwarzen Hund, der hinter dem Zaun hochsprang und ihn anbellte, einen drohenden Blick zu. Der Hund hielt kurz inne, drehte sich unsicher einmal um die eigene Achse und bellte weiter.

»Ich wünsche Ihnen beiden noch einen schönen Tag«, sagte er und schloss die schwere Eingangstür aus dunkelbraunem Mahagoniholz mit darin eingelassenen Glaselementen auf.

Er betrat das Haus und stellte die Aktentasche im weiträumigen Eingangsbereich ab. Im Wohnzimmer blieb er abrupt stehen, als er die Frau bemerkte, die mit dem Rücken zu ihm vor dem Schrank tanzte. Sie hatte Kopfhörer auf und wippte mit den Hüften, während sie mit einem Staubtuch über die Flächen fuhr.

Was hat die bescheuerte Putze denn hier zu suchen?

Montag und Donnerstag waren ihre Termine, nicht heute. Er musste jetzt allein sein.

Erneut überrollte ihn eine Welle aus Wut und Hass, tief und grollend.

»Was tun Sie hier?«, schrie er.

Die Putzfrau zuckte zusammen und wirbelte herum. Dabei erwischte sie mit der Hand die teure Vase im Regal. Sie fiel zu Boden und zerbrach klirrend in mehrere Teile.

Es war, als würde in Rohde jemand ein Feuerzeug an Benzin halten. Ein Feuerball explodierte in seinem Inneren. Im Bruchteil einer Sekunde breitete sich eine Hitze in seinem gesamten Körper aus, und der aufgestaute Druck bahnte sich unkontrolliert einen Weg nach oben. Mit einem Wutschrei stürmte er auf die Frau zu, die immer noch erschrocken und peinlich berührt zugleich dastand. Er griff nach der Steinfigur auf dem Wohnzimmertisch, holte aus und schlug sie der Frau mit voller Wucht auf den Kopf. Es gab ein dumpfes Geräusch, Blut quoll aus der Platzwunde an der Stirn.

Die Frau stolperte rückwärts, bis sie gegen den Schrank stieß. Ihre Konturen verschwammen vor seinen Augen, und als er wieder klar sehen konnte, schaute er in das Gesicht von Oberstaatsanwältin Wagner, die ihn triumphierend angrinste. Sämtliche Sicherungen in ihm brannten auf einmal durch. Erneut schlug er zu, traf sie an der Schläfe. Sie kippte wortlos zur Seite. Ihr Kopf prallte hart auf dem Parkettboden auf, wo sie reglos und mit leerem Blick liegen blieb. Rohde ging in die Knie und hämmerte wie von Sinnen mit der Steinfigur auf ihren Kopf ein, immer und immer wieder, bis das Grinsen hinter einer breiigen Masse aus Blut, Hirn und Knochensplittern verschwunden war.

Keuchend hielt er inne.

Die gesichtslose Frau lag in einer Blutlache, die sich unaufhaltsam ausbreitete. Die Steinfigur war mit einem zähflüssigen roten Film überzogen, genau wie Rohdes Hand. Blutspritzer klebten am Schrank und an der Decke, und sein Anzug hatte dunkle Flecke angenommen. Er spürte das warme Blut, das über sein Gesicht lief, und lächelte.

Der Druck war verschwunden, das Urteil und die Niederlage vergessen. Ein Gefühl von Macht durchströmte ihn, und er fühlte sich befreit und berauscht. So wie jedes Mal, wenn er ein Leben auslöschte.

Er ließ die Steinfigur zu Boden fallen, erhob sich und sog den metallischen Geruch ein, der verführerisch in der Luft hing.

Es war das erste Mal, dass er sich zu früh Erleichterung verschafft hatte, aber bis zum Abend hätte er keinesfalls durchgehalten.

Er drehte sich um – und erstarrte.

Das berauschende Glücksgefühl wich lähmendem Entsetzen, als er seine sechzehnjährige Tochter sah, die wie versteinert und mit vor Angst weit aufgerissenen Augen im Türrahmen stand und ihn anstarrte.

»Sam«, keuchte er.

Kapitel 1

Zehn Jahre später

Sonntag, 24. November

Nadine Herfurth hielt an der Polizeiabsperrung, zeigte ihren Ausweis dem diensthabenden Beamten, der sie durchließ, und stellte ihren Dienstwagen, einen schwarzen 5er-BMW, am Straßenrand ab. Sie stieg aus und atmete die frische Novemberluft ein. Es war kalt geworden, die Temperaturen näherten sich allmählich dem Gefrierpunkt. Der dichte Nebel vom Morgen hatte sich mittlerweile gelichtet, wenngleich noch einzelne Schwaden in der Luft hingen.

Sie schaute zu dem Mehrfamilienhaus hinüber, dessen Eingang von zwei Beamten bewacht wurde. Direkt vor dem Haus parkte der weiße Van der Kriminaltechnik, daneben ein Krankenwagen, flankiert von mehreren Streifenwagen mit flackerndem Blaulicht. Hinter den Fenstern im Haus versuchten Anwohner, ihre Neugierde zu befriedigen. Einige hatten sich hinter den Vorhängen versteckt, andere hingegen die Fenster geöffnet, um besser sehen zu können. Nadine hatte sich im Laufe ihrer sechzehn Dienstjahre an derartige Anblicke gewöhnt, sodass es ihr nicht einmal mehr ein Augenrollen abrang.

Sie wollte gerade auf den Eingang zugehen, als jemand hinter ihr rief: »Nadine, auf ein Wort bitte.«

Beim Klang der Stimme griff sie sich automatisch ans linke Schlüsselbein, an die Stelle, an der damals die Kugel ein- und auf dem Rücken über dem Schulterblatt wieder ausgetreten war.

Christian Kehl. Dieser Schmierfink fehlt mir jetzt gerade noch!

Betont langsam drehte sie sich um und verschränkte die Arme vor der Brust. Der Mann war Anfang vierzig, mit kurzen hellbraunen Haaren und stahlblauen Augen, die sie selbst aus der Entfernung vor Sensationsgier blitzen sehen konnte.

Wie war der schon wieder durch die Absperrung gekommen?

»Für Sie Kriminalhauptkommissarin Herfurth«, sagte sie, als er sie erreicht hatte. »Ich glaube, das habe ich Ihnen schon öfter gesagt.«

»Und hab ich Ihnen schon gesagt, dass Sie schöne Augen haben?«

Nadine bedachte ihn mit einem gelangweilten Blick. Sie hatte die mandelförmigen Augen von ihrer Mutter, einer Thailänderin, geerbt, im Gegensatz zu ihren vier älteren Brüdern, die nach ihrem deutschen Vater kamen.

»Heute nur die Augen?«, fragte sie höhnisch. »Kein Kommentar zu meiner schicken Kurzhaarfrisur, die farblich perfekt zu meinen«, sie grinste übertrieben, »mokkabraunen Augen passt? Sie lassen nach, Herr Kehl.«

»Ich will ja nicht abgedroschen klingen.«

»Seit wann das?« Sie zog die Brauen hoch und sah ihn herausfordernd an.

Christian Kehl war Reporter beim Boulevardblatt Blitz, das sich in den letzten Jahren zur ernsthaften Konkurrenz der BILD-Zeitung entwickelt hatte. Er hatte ein Talent dafür, zur richtigen Zeit am richtigen Ort zu sein – oder vielmehr einen Informanten bei der Polizei, den er entsprechend bezahlte, vermutete Nadine. Was mitunter zu gefährlichen Situationen führen konnte, so wie vor drei Jahren.

Sie hatte damals in einem Doppelmord im rechten Milieu ermittelt. Zusammen mit ihrem Partner fuhr sie zu einem Zeugen, dem sie ein paar Fragen stellen wollten. Kehl traf kurz vor ihnen ein. Sie forderte ihn auf, sofort zu verschwinden.

Doch er filmte den Zeugen mit seinem Smartphone. »Ich weiß, dass Sie mit den Kessler-Morden in Verbindung stehen. Was können ...?«

Weiter kam er nicht, denn im nächsten Moment zog der Mann eine Waffe und schoss. Die Kugel traf Nadine über dem Schlüsselbein. Sie ging zu Boden, genau wie ihr Partner, der einen lebensgefährlichen Bauchschuss erlitt. Bevor der Mann auf Kehl zielen konnte, gab sie mehrere Schüsse auf ihn ab und traf ihn tödlich. Kehl hatte alles auf Video aufgenommen und die Dreistigkeit besessen, weiterhin zu filmen und ihr Fragen zu stellen, während sie, selbst stark blutend, ihre Jacke auf die Wunde ihres Partners gepresst und ihm damit das Leben gerettet hatte.

Jetzt holte Kehl ein Diktiergerät aus der Tasche und hielt es ihr entgegen. »Hat der Schlitzer erneut zugeschlagen?«

Sie ignorierte seine Frage und betrachtete belustigt das Aufnahmegerät. »Kein Handy? Haben Sie Angst, dass wir es Ihnen wieder wegnehmen?«

Der Reporter hatte damals versucht, sich vor der eintreffenden Verstärkung aus dem Staub zu machen, doch sie hatten ihn noch vor dem Haus abgefangen und ihm das Smartphone mit dem Video als Beweismittel abgenommen. Er war vor Gericht gezogen, um es zurückzuerhalten, stattdessen war er wegen Behinderung eines Polizeieinsatzes und Widerstand gegen die Staatsgewalt zu einer Geldstrafe verurteilt worden.

Nadine registrierte das kurze hasserfüllte Aufblitzen in seinen Augen.

»Sie wissen genau, dass Sie mir damals die Karriere versaut haben«, sagte er. »Es wäre mein Sprungbrett zum Fernsehen gewesen.«

»Mit Sicherheit«, entgegnete sie und drehte sich zu den beiden Schutzpolizisten um, die sicherstellten, dass nur Mitarbeiter der Mordkommission Zutritt zum Tatort hatten. Bevor sie ihnen ein Zeichen geben konnte, Kehl wegzuschaffen, ergriff der erneut das Wort.

»Aber Sie können es wiedergutmachen. Und ich kann Ihnen helfen. Ist bestimmt von Vorteil, wenn Sie Erste Kriminalhauptkommissarin werden wollen.«

Nadine fuhr herum. »Okay, Herr Kehl, jetzt reicht's! Sie verschwinden auf der Stelle von hier. Und wenn ich Sie noch einmal unbefugt an einem Tatort antreffe, werde ich persönlich dafür sorgen, dass Sie in Zukunft höchstens noch für eine Schülerzeitung schreiben. Haben Sie mich verstanden?«

»Wollen Sie mir drohen?«

»Das können Sie auffassen, wie Sie wollen.«

Sie winkte einen der Beamten herbei, der den protestierenden Reporter hinter die Absperrung schob.

Was für eine Nervensäge!

Sie überquerte die Straße und ging zum Haus hinüber, wo sie sich erneut auswies und vor der Wohnung im ersten Stock einen Ganzkörperschutzanzug anzog.

Ihr Vorgesetzter, Erster Kriminalhauptkommissar Frank Krüger, war bereits vor Ort und hatte sie telefonisch über den Leichenfund informiert. Wie immer verspürte sie ein gewisses Unbehagen, wenn sie einen Tatort betrat. Es war nicht der Anblick eines Toten, damit konnte sie professionell umgehen, sofern die Person nicht besonders bestialisch getötet oder zerstückelt worden war. Vielmehr war es die Vorstellung des damit verbundenen Leids für die Angehörigen und Freunde des Opfers, der Schmerz und die Fassungslosigkeit, wenn sie ihnen mitteilen musste, was passiert war.

Nadine straffte sich, konzentrierte sich auf die Arbeit, die vor ihnen lag, und trat über die Schwelle. Krüger, der ebenfalls in einem weißen Overall steckte, sprach im Flur mit einem der Kriminaltechniker. Als er sie bemerkte, entschuldigte er sich und kam auf sie zu.

»Wieder der Schlitzer?«, wollte sie wissen.

»Sieh es dir am besten selber an«, entgegnete er.

Er führte sie ins Schlafzimmer. Der stechende Geruch nach getrocknetem Blut ließ sie für eine Sekunde lang den Atem anhalten. Sie erkannte sofort, dass sie es mit einem weiteren Opfer des »Schlitzers« zu tun hatten, dem vierten innerhalb von neun Tagen.

Auf dem Bett lag eine Frau mit schulterlangen, schmutzverklebten blonden Haaren. Eine tiefe Wunde klaffte an ihrer Kehle, die Ohren fehlten. Die Bettdecke war zurückgeschlagen und legte das blutdurchtränkte Laken und Nachthemd frei. Ihre Hände waren auf dem Bauch gefaltet und hielten ein Stück laminiertes rotes Papier in der Größe einer Visitenkarte. Die Schrift war von den Fingern verdeckt, aber Nadine wusste auch so, was darauf geschrieben stand.

»Wir haben die Leiche noch nicht abtransportieren lassen«, sagte Krüger. »Ich wollte, dass du dir zuerst selbst ein Bild machst. Vier Augen sehen mehr als zwei.«

»Wer ist sie?«

»Stefanie Reichart, fünfundvierzig Jahre alt, ledig, Angestellte bei einer Versicherung. Ihr gehört die Wohnung. Ihre Mutter, die einen Zweitschlüssel besitzt, hat sie gefunden, nachdem sie nicht geöffnet hat. Sie waren zum Frühstück verabredet.«

»Hast du schon mit ihr gesprochen?«

Krüger schüttelte den Kopf. »Sie hat einen Nervenzusammenbruch erlitten und ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Regner fährt nachher zu ihr, um ihre Aussage aufzunehmen.«

Nadine ließ ihren Blick durch das ordentlich aufgeräumte Zimmer schweifen. Ein großer weißer Kleiderschrank an der Wandseite gegenüber dem Bett, in der Ecke eine silberfarbene Wäschetonne und ein Nachttisch, auf dem neben einem samtüberzogenen Schmuckkästchen ein Buch lag – Todesmal von Andreas Gruber. Sie hatte den Krimi über den eigenwilligen Profiler Maarten S. Sneijder erst kürzlich selbst gelesen.

Wie Sneijder die Szene hier wohl deuten würde?

»Keine Spuren eines Kampfes«, sagte sie zu Krüger. »Selbst das Bettlaken ist relativ glatt. Er hat sie vermutlich im Schlaf überrascht.«

»Ja. Eingedrungen ist er über die Balkontür im Wohnzimmer. Hat sie einfach aufgehebelt. Hochgeklettert ist er an der Regenrinne.«

»Irgendwelche Zeugen?«

»Bis jetzt nicht. Wir sind mit der Befragung der Nachbarn zwar noch nicht fertig, aber ich rechne, ehrlich gesagt, nicht damit, dass jemand was beobachtet hat. Er muss mitten in der Nacht gekommen sein. Die Totenstarre ist noch nicht komplett ausgeprägt, ich würde daher schätzen, dass sie vor etwa neun bis zwölf Stunden gestorben ist. Er hat ihr die Kehle aufgeschlitzt und die Ohren abgeschnitten und mitgenommen, genau wie bei den anderen drei Opfern.«

Nadine begutachtete den hellblauen Teppich, der abgesehen von den Blutflecken sehr sauber war.

»Die KT hat alles eingesammelt«, sagte Krüger, der ihrem Blick gefolgt war. »Hier im Schlafzimmer sowie draußen im Flur und Wohnzimmer. Wie immer hat er den Tatort mit Fremdspuren verunreinigt. Staub, Schmutz, Haare – es war alles dabei.«

Er beugte sich zur Leiche hinunter, öffnete mit seinen behandschuhten Fingern vorsichtig die Hände der Frau und zog die laminierte Karte heraus.

»Die übliche Nachricht«, meinte er trocken, und Nadine spürte, wie sich ihre Nackenhaare aufstellten.

Mit den besten Empfehlungen von Thomas Rohde.

Thomas Rohde, wiederholte sie in Gedanken. Der Serienmörder, der damals elf Menschen getötet hatte und seit über neun Jahren im Hochsicherheitstrakt der Psychiatrie saß.

»Es wird Zeit, dass wir seine Tochter um Hilfe bitten«, sagte sie.

Kapitel 2

Sam war mit ihrer Ausbeute mehr als zufrieden. Sie saß im hintersten Waggon der nur spärlich besetzten U2 und hatte ihren geöffneten Rucksack auf dem Schoß. Lächelnd zählte sie sieben Bücher, die sie vorhin auf dem Bücherflohmarkt gekauft hatte, viermal Fantasy und drei Dystopien. Die Eleria-Trilogie hatte schon lange auf ihrem Wunschzettel gestanden.

Sie überlegte, mit welchem sie anfangen sollte, sobald sie die Tribute von Panem beendet hatte, ihre absolute Lieblingsreihe, die sie mittlerweile zum dritten Mal las. Sie bewunderte Katniss Everdeen für ihren Mut, mit dem sie in den Hungerspielen gegen die Ungerechtigkeit und für ihre große Liebe kämpfte, und wünschte, sie wäre genauso stark wie ihre Heldin.

Sie beugte sich vor und sog den unverwechselbaren Geruch von Papier und Druckerschwärze ein. Dieser Geruch war der Grund, warum sie immer noch gedruckte Bücher bevorzugte. Sie liebte es, durch die Seiten zu blättern und in fremde Welten abzutauchen, genoss es, Abenteuer zu erleben und Gefahren zu überstehen – alles, wozu sie in der Realität nicht den Mut hatte. Doch in ihren Büchern war sie wie Katniss.

Sie zog den ersten Band der Eleria-Trilogie heraus und strich sanft über den schwarz-weißen Einband. Leider hatte er in der rechten oberen Ecke einen Knick, was Sam einen Stich ins Herz versetzte.

Bis sie zu Hause war, konnte sie zumindest einen Blick hineinwerfen. Nur ein paar Zeilen lesen.

Sie schlug das Buch auf.

Mehrere Seiten und U-Bahn-Stationen später sah sie auf und war im ersten Moment irritiert, dass es außerhalb der zukünftigen Sphärenwelt um Ria noch eine im Hier und Jetzt gab. Dann entdeckte sie das Stationsschild Dülferstraße und sprang von ihrem Sitz auf. Gerade rechtzeitig stieg sie aus.

Sie fuhr die Rolltreppe nach oben und ging auf das Buswartehäuschen zu, als ihr Handy klingelte.

»Samantha Davis«, meldete sie sich.

»Hallo, Frau Davis«, antwortete eine weibliche Stimme. »Bettina Osterbeck hier. Ich wollte Sie fragen, ob Sie Donnerstagabend um sechs Zeit für die Schlüsselübergabe hätten?«

Sam sah auf.

Und ob es da bei ihr ginge. So könnte sie gleich das Wochenende nutzen und streichen. Sie wollte ein bisschen Farbe in ihrer neuen Wohnung haben, ein helles Grün vielleicht oder ein dezentes Blau.

»Das passt mir sogar sehr gut«, antwortete sie.

»Wunderbar. Dann bis Donnerstag.«

Sie verabschiedete sich und schickte ihrer Freundin Jenny eine SMS, ob sie Zeit hätte, sie zu dem Termin zu begleiten. Es dauerte keine Minute, bis die Antwort kam.

Klaro! Ich lass dich doch nicht im Stich. :-)

Erst vor sechs Wochen hatte Sam den Mietvertrag unterzeichnet. Die Wohnung hatte ihr auf Anhieb gefallen, sie hätte allerdings nicht gedacht, dass sie sich gegen die zahlreichen Mitbewerber würde durchsetzen können. Zwar musste sie für zwei Monate doppelt Miete zahlen, aber das war ihr der deutlich kürzere Arbeitsweg wert.

Sam hatte im Sommer ihr Architekturstudium abgeschlossen. Ursprünglich wollte sie Erzieherin werden und zusammen mit Jenny eine Kindertagesstätte eröffnen, nach den Ereignissen damals war sie dazu jedoch nicht mehr in der Lage. Und weil ihr nichts Besseres einfiel, schrieb sie sich an der Uni für BWL ein, bis ihr nach drei Semestern klar wurde, dass es das Falsche für sie war. Anschließend hatte sie mit dem Architekturstudium begonnen.

Nach unzähligen Bewerbungen hatte sie zwei Monate später endlich die Zusage eines mittelständischen Architekturbüros zum Jahresanfang erhalten. Sie freute sich darauf und hatte gleichzeitig Angst davor.

Du schaffst das schon, versuchte sie, sich Mut zuzureden. Du verdienst endlich dein eigenes Geld, und die Kollegen werden bestimmt nett sein.

Der Bus kam, und wenig später betrat Sam ihre Wohnung. Im Wohnzimmer, dessen rechte Wandseite ein riesiges Regal einnahm, sortierte sie ihre neuen Errungenschaften ein. Glückselig betrachtete sie die vielen Bücher.

Im nächsten Moment klingelte es an der Tür, und sie betätigte die Gegensprechanlage.

»Ja bitte?«

»Kripo München«, sagte eine männliche Stimme, die ihr irgendwie bekannt vorkam.

Sofort spannte sich Sam an. Die Freude über ihre Ausbeute vom Bücherflohmarkt und den frühen Termin für die Schlüsselübergabe wich einer diffusen, lähmenden Angst.

»Machen Sie uns bitte auf?«

Sam öffnete die Tür. Als sie den Mann erblickte, den eine Frau Mitte dreißig begleitete, hatte sie das Gefühl, als würde sich ein dichter schwarzer Nebel um sie herum ausbreiten.

»Hallo, Samantha«, begrüßte der Mann sie. »Ich hoffe, ich darf Sie noch beim Vornamen nennen. Krüger. Ich weiß nicht, ob Sie sich noch an mich erinnern.«

Sie nickte stumm. Natürlich erinnerte sie sich an ihn. Wie könnte sie ihn jemals vergessen? Er hatte damals die Ermittlungen gegen ihren Vater geleitet, sie und ihre Mutter stundenlang vernommen und sie so gut wie möglich unterstützt. Die Furchen auf seiner Stirn schienen seit ihrer letzten Begegnung ein wenig tiefer geworden zu sein, und sein Dreitagebart wies einige graue Haare mehr auf, ansonsten hatte er sich kaum verändert.

»Das ist meine Kollegin, Kriminalhauptkommissarin Herfurth. Können wir reinkommen?«

Sie trat zur Seite und ließ sie ein.

Der Nebel wurde dichter, packte mit seiner kalten Klaue ihre Kehle und schnürte sie mit eisernem Griff zu.

»Entschuldigen Sie bitte, dass wir Sie am Sonntag stören, aber wir müssen etwas Dringendes mit Ihnen besprechen«, sagte Krüger.

»Geht es um meinen ...?« Sie stockte, wollte das Wort »Vater« nicht aussprechen.

»Vielleicht sollten wir uns erst einmal setzen«, schlug Krüger vor.

Sam nickte und führte die beiden Beamten ins Wohnzimmer, wo sie ihr gegenüber auf der Couch Platz nahmen. Sie ließ sich auf den kleinen Hocker nieder und klemmte ihre Hände zwischen die Knie.

»Schön haben Sie es hier«, sagte die Polizistin, vermutlich, um ihr die Nervosität zu nehmen. »Kein Fernseher, dafür viele Bücher. Gefällt mir.«

Sam blickte unsicher zu Krüger.

Der räusperte sich. »Ich möchte Ihnen versichern, dass wir lange gezögert haben, mit Ihnen zu sprechen, Samantha. Aber die Dringlichkeit des Falls lässt uns leider keine andere Wahl.«

»Worum geht es?«, fragte sie mit leiser Stimme.

»Haben Sie von dem Serienmörder gehört, der gegenwärtig in München sein Unwesen treibt? Die Presse nennt ihn den ›Schlitzer‹.«

»Ich lese weder Zeitung noch schaue ich Nachrichten. Schon seit zehn Jahren nicht mehr.«

Krüger nickte verständnisvoll.

Die Presse hatte sich damals mit Berichten über die Tat ihres Vaters überschlagen, einer erstunkener und erlogener als der andere. Sie sah die Schlagzeilen noch immer vor sich, als wären sie erst gestern erschienen.

Die elf Opfer von Tom the Ripper.

Die Wahrheit über das Horrorhaus.

Selbst sie und ihre Mutter waren in den Dreck gezogen worden.

Verheiratet mit Tom the Ripper – Was wusste sie wirklich?

Ahnungslos oder Komplizin?

Und der Gipfel des Ganzen: Die Brut des Rippers.

Damit war sie gemeint gewesen.

Nichts hatten sie gewusst, gar nichts! Nicht einmal geahnt. Bis an jenem Tag zwei Unterrichtsstunden ausfielen. Sam fuhr über Mittag nach Hause und wurde deshalb Zeugin, wie ihr Vater die Putzfrau zu Brei schlug. Die war aus familiären Gründen einen Tag früher zum Putzen erschienen, ansonsten wäre sie vielleicht noch am Leben. Eine gefühlte Ewigkeit hatten sich Sam und ihr Vater gegenübergestanden, bevor sie schreiend aus dem Haus gerannt war – direkt in die Arme ihrer beiden Nachbarinnen, die sofort die Polizei gerufen hatten.

Als das ganze Ausmaß seiner Morde ans Tageslicht gekommen war, hatten Reporter wochenlang das Haus belagert und eine regelrechte Hetzjagd auf sie und ihre Mutter veranstaltet. Sie interviewten die Nachbarn, die zum Teil bereitwillig erzählten, was die Journalisten hören wollten, und veröffentlichten Artikel, die nicht einmal im Ansatz stimmten, sich aber gut verkauften. Als jemand mit schwarzer Farbe »Mörder« an ihre Hauswand gesprüht hatte, war das ein gefundenes Fressen für die Medien gewesen.

Sam hatte diese dunkle Zeit in die hinterste Ecke ihrer Seele verbannt und seitdem nie wieder eine Zeitung aufgeschlagen oder den Fernseher angeschaltet.

»Der Schlitzer hat innerhalb von neun Tagen vier Menschen getötet«, erklärte Krüger. »Das jüngste Opfer haben wir heute Morgen gefunden. Und bis jetzt haben wir keine brauchbaren Spuren oder Anhaltspunkte zum Täter.«

»Was hat das mit mir zu tun?«

Krüger zögerte. »Es gibt ernst zu nehmende Hinweise, dass Ihr Vater weiß, wer der Mörder ist. Dass ein möglicher Zusammenhang zwischen ihm und dem Schlitzer besteht.«

»Das Monster sitzt in der Psychiatrie.«

»Ich weiß. Wir haben ihn dort bereits aufgesucht.«

Für einen Moment herrschte Schweigen.

»Was ... was hat er gesagt?«, wollte Sam wissen.

»›Ach, sieh mal einer an‹«, antwortete Krüger.

Sam runzelte die Stirn.

»Das war alles, danach hat er geschwiegen. Nach dem dritten Opfer sind wir erneut zu ihm gefahren. Diesmal hat er Bereitschaft gezeigt, über den Schlitzer zu reden. Allerdings nicht mit uns.«

Sam spürte den Kloß in ihrem Hals. »Was soll das heißen?«

»Er ist nur bereit, mit einer einzigen Person zu reden. Mit Ihnen, Samantha.«

Es war, als würde ihr jemand eine glühend heiße Nadel in die Schläfe jagen. Ein stechender Schmerz schoss durch ihren Kopf und pulsierte hinter den Augen.

Da war so viel Blut gewesen. So viel Blut.

Sie presste die Hände gegen ihre Schläfen.

»Ich will mit ihm nichts mehr zu tun haben!«, schrie sie. »Er hat alles zerstört. Mama und ich haben damals sogar ihren Mädchennamen angenommen, um uns von ihm zu distanzieren. Er ist nicht mehr mein Vater.«

Sie waren noch weitergegangen und hatten überlegt, in die USA auszuwandern, die Heimat ihrer Mutter. Doch dann hatte sie sich umgebracht, und Sams Welt war endgültig zusammengebrochen.

»Wir würden Sie nicht um Hilfe bitten, wenn wir eine andere Möglichkeit sähen.« In Krügers Stimme schwang ein sanfter Unterton mit. Der gleiche wie vor zehn Jahren, als sie ihm zitternd und völlig unter Schock im Präsidium gegenübergesessen hatte. »Wir müssen den Schlitzer unbedingt fassen, bevor er noch mehr Menschen tötet. Und wir sind uns sicher, dass er weitermorden wird. Unsere wichtigste Spur ist Ihr Vater. Wir bitten Sie nur um ein einziges Gespräch mit ihm, Samantha. Bringen Sie ihn dazu, uns zu sagen, wer es ist.«

Sie schüttelte den Kopf.

Krüger stützte seine Arme auf den Oberschenkeln ab und beugte sich zu ihr vor. »Ich weiß, dass Sie Angst vor ihm haben, aber er kann ihnen nichts tun. Er wird die ganze Zeit gefesselt sein, und wir werden nicht von Ihrer Seite weichen. Wir werden Sie nicht mit ihm allein lassen, Samantha, das verspreche ich Ihnen.«

Sam wand sich auf ihrem Hocker. Die bloße Vorstellung, diesem Monster gegenüberzusitzen, egal wer noch zu ihrem Schutz mit im Raum war, versetzte sie in lähmendes Entsetzen. Sie wusste, sobald sie ihm auch nur für den Bruchteil einer Sekunde in die Augen blickte, würde alles wieder hochkommen. Sie würde das Blut sehen, das ihm übers Gesicht gelaufen war, würde sein Keuchen hören, als er mit der Steinfigur auf die Frau am Boden eingedroschen hatte, den widerlichen Gestank des Todes riechen und erneut die Dunkelheit spüren, die sie damals überfallen hatte und seitdem nicht wieder verschwunden war.

»Ich kann nicht«, sagte sie tonlos und starrte zu Boden. »Es tut mir leid, aber ich kann nicht.«

Krüger atmete leise aus. Bleiernes Schweigen legte sich über das Wohnzimmer.

»Mir ist bewusst, dass wir Sie gerade überfahren haben, dafür möchte ich mich in aller Form entschuldigen«, sagte er nach einer Weile. »Bitte überdenken Sie noch einmal in Ruhe Ihre Entscheidung. Wir sind auf Ihre Hilfe angewiesen.« Er griff in die Innentasche seiner Jacke und holte eine Visitenkarte hervor, die er vor Sam auf den Tisch legte. »Meine Handynummer steht hier drauf. Sie können mich jederzeit anrufen, egal zu welcher Uhrzeit.«

Sam reagierte nicht. Sie hätte ihnen gerne geholfen, doch sie konnte dem Monster, das einmal ihr Vater gewesen war, nicht gegenübertreten. Geschweige denn, mit ihm reden.

Kapitel 3

»Tut mir leid, dass ich so reinplatze«, entschuldigte sich Sam. »Aber ich muss dringend mit dir reden.«

»Was ist passiert?«, wollte Jenny wissen. »Du siehst aus, als hättest du einen Geist gesehen.«

Sie hängte Sams Jacke an den Garderobenhaken. Auf dem Schuhschrank daneben lag ein kleines schwarzes Etui, gleich neben dem Stapel ungeöffneter Briefe und einem Schlüsselbund.

Selbst im Winter hat sie ihr Notfallset griffbereit.

Jenny Gruber, die eigentlich Jennifer hieß, war hochallergisch gegen Bienen. Weder sie noch ihre Eltern hatten davon gewusst, bis sie mit vierzehn bei einem Badeausflug mit Sam auf eine Biene getreten und mit einem anaphylaktischen Schock zusammengebrochen war. Sam rief sofort den Rettungsdienst und begann mit einer Herzdruckmassage. Sie hatte das noch nie zuvor gemacht, der Mann von der Rettungsleitstelle erklärte ihr jedoch alles übers Handy, und Sam rettete ihrer Freundin das Leben. Sie kannten sich bereits aus dem Kindergarten, seit dem Unfall waren sie unzertrennlich. Jenny war die Einzige, die sich nach der Verhaftung ihres Vaters nicht von ihr abgewandt hatte, im Gegensatz zu ihren anderen Freunden. Und nach dem Tod ihrer Mutter hatten Jennys Eltern sie bei sich aufgenommen und ihr damit das Leben gerettet.

Sie gingen ins Wohnzimmer, das mit den vielen Schränken, Pflanzen, Bildern und Dekogegenständen ein wenig überladen wirkte, und setzten sich nebeneinander auf die Couch. Jenny schaltete die Musik leiser, die im Hintergrund lief.

»Die Polizei war vorhin bei mir«, sagte Sam und fasste das Gespräch zusammen. Selbst das fiel ihr schwer, doch sie musste es einfach loswerden.

»Nun ja, ist vielleicht gar keine schlechte Idee, wenn du mit deinem Vater redest«, meinte Jenny, nachdem sie geendet hatte.

»Wie bitte?« Sam war entsetzt. Sie hatte erwartet, dass ihre Freundin ihr den Rücken stärken und etwas in der Art sagen würde wie: Du hast vollkommen recht, Sam. Ich würde auch nicht mit diesem Monster reden.

»Das ist nicht dein Ernst!«

»Warum? Du hilfst der Polizei, einen gefährlichen Mörder zu fassen. Ich weiß, du liest keine Zeitung, aber google mal nach ihm. Die Leichen müssen ziemlich übel ausgesehen haben. Drei gehen bereits auf sein Konto.«

»Vier«, korrigierte Sam sie. »Heute Morgen haben sie die vierte Leiche gefunden.«

»Umso mehr ein Grund, ihnen zu helfen.«

Sam geriet ins Stocken.

Und wir sind uns sicher, dass er weitermorden wird.

Was, wenn er wie ihr Vater elf Menschen tötete und elf hilflose und verzweifelte Familien hinterließ, die mit ihrer Trauer nicht fertigwurden?

»Ich kann das nicht.«

Jenny sah sie eindringlich an. »Du hast die ganze Sache damals nie aufgearbeitet, vielleicht ist das jetzt deine Chance, endgültig damit abzuschließen und dich endlich von deinem Vater zu lösen.«

»Er ist nicht mein Vater.«

»Doch, das ist er. Und er wird es immer sein.«

Sam spürte, wie sich ihr Herz verkrampfte. Tief im Inneren war ihr klar, dass Jenny recht hatte, wenngleich ihr Verstand es vehement zu leugnen versuchte.

»Sam, du musst dich endlich deiner Angst stellen. Selbst deine Therapie hast du damals abgebrochen.«

»Weil sie nichts gebracht hat.«

»Nein, weil du nicht darüber reden wolltest. Du hast einfach dichtgemacht und es verdrängt. Das funktioniert auf Dauer nicht.« Jenny zog den Fuß auf die Couch hoch. »Du kannst dich nicht ewig verstecken. Nicht vor deinem Vater und schon gar nicht vor dir selbst.«

Sam schwieg, weil sie nicht wusste, was sie darauf erwidern sollte. Ihr war schlecht, und sie fühlte sich erschöpft und schlapp wie vor einer Grippe.

»Du sollst nur einmal mit ihm reden. Ein einziges Mal. Du kannst der Polizei helfen, weitere Opfer zu verhindern. Und vor allem kannst du dir selbst helfen.«

Sam biss sich auf die Unterlippe. Langsam begann ihr Widerstand zu bröckeln, doch ihre Angst war zu groß.

Jenny legte ihr beruhigend die Hand auf den Arm. »Schlaf eine Nacht drüber und triff morgen eine Entscheidung. Ich bin jederzeit für dich da, du musst das nicht allein durchstehen.«

Sam blieb noch eine Stunde bei Jenny. Sie bestellten sich eine Pizza, obwohl ihr der Appetit vergangen war, dann fuhr sie heim. Sie hatte das Auto genommen und stellte den alten grünen VW Golf in einer Parklücke direkt vor dem Haus ab. Es war bereits dunkel, der Schein der Straßenlaterne flackerte leicht. Als sie das Haus betrat, traf sie im Flur ihren Nachbarn Jakob Seidel, der mit einer Yogamatte unterm Arm seine Wohnung verließ. Er war ein paar Jahre älter als sie, hatte wuschelige braune Locken und ein umwerfendes Lächeln. Noch umwerfender als das ihres damaligen Freundes Lucas, der nach den schrecklichen Ereignissen per SMS mit ihr Schluss gemacht hatte.

Sorry, aber das ist mir too much. Wir sollten uns nicht mehr sehen.

Jakob war vor fünf Monaten neben ihr eingezogen, bis auf ein paar Worte hatten sie nicht viel geredet. Sie hätte ihn gerne näher kennengelernt, fürchtete sich allerdings davor, dass er herausfand, wer sie wirklich war: die Tochter eines brutalen Serienmörders.

Nach Lucas hatte sie keine Beziehung mehr gehabt. Sie wollte nicht erneut verletzt werden. Zwar hatte es damals geholfen, dass sie ihren Nachnamen und später die Schule gewechselt hatte, die Angst vor einer Entdeckung hing jedoch seitdem wie ein Damoklesschwert über ihr. Und der Faden war verdammt dünn.

»Hi, Sam«, grüßte er sie freudestrahlend.

Es war wirklich ein umwerfendes Lächeln.

»Hallo.« Sie deutete auf seine Yogamatte. »Du gibst so spät noch Unterricht?«

Er nickte. »Ja, die letzte Stunde für heute.«

»Dann viel Spaß«, sagte sie und schloss schnell ihre Wohnungstür auf, bevor er ein Gespräch anfangen konnte.

Sie zog ihre Jacke aus und ging in die Küche, wo sie sich ein Glas Wasser einschenkte und in einem Zug austrank. Sie blickte aus dem Fenster. Jakob hatte die Yogamatte auf den Gepäckträger seines Fahrrads geschnallt und radelte davon. Gedankenverloren schaute sie ihm nach.

Und bekam auf einmal eine Gänsehaut.

Sie fühlte Beklommenheit, fast Angst. Als würde da draußen jemand sein und sie beobachten.

Angestrengt stierte sie in die Dunkelheit. Ein Auto fuhr auf der Straße vorbei, ansonsten war niemand zu sehen.

Mach dich nicht verrückt, mahnte sie sich selbst und lief ins Wohnzimmer, wo sie vor dem gerahmten Foto an der Wand verharrte. Ihre Mutter Deborah und sie standen im Garten und lachten in die Kamera. Sie war hübsch, mit den gleichen hellbraunen Haaren und leuchtenden Augen, die zum Schluss stumpf und leer gewirkt hatten. Die ganze Sache hatte ihr sehr zugesetzt, vor allem die Anschuldigungen, dass sie von dem Treiben ihres Mannes gewusst und ihn gedeckt haben sollte. Am Ende hatte sie keinen anderen Ausweg mehr gesehen, als sich das Leben zu nehmen, vier Monate nach seiner Verhaftung. Nie würde Sam vergessen, wie sie von der Schule heimgekommen war und diese unerträgliche Stille vorgefunden hatte.

»Mama?«, hatte sie gerufen, jedoch keine Antwort erhalten. Mit einer unterschwelligen Vorahnung hatte sie das ganze Haus nach ihr abgesucht und sie schließlich im Badezimmer gefunden. Sie hatte sich mit einer Überdosis Schlaftabletten umgebracht. Für Sam war in jenem Moment endgültig eine Welt zusammengebrochen.

Sanft strich sie mit dem Finger über das Foto ihrer Mutter.

»Ich kann nicht mit diesem Monster reden, das dich auf dem Gewissen hat«, flüsterte sie.

Kapitel 4

Er war hinter ihr, verfolgte sie schon die ganze Zeit. Sie traute sich nicht, sich umzudrehen, doch sie spürte ihn im Rücken und beschleunigte ihre Schritte. Es war stockdunkel, nur am Ende des Flurs schimmerte Licht unter dem Türspalt hindurch.

Er näherte sich, sie hörte seinen keuchenden Atem. Sie begann zu laufen und hatte dennoch das Gefühl, keinen Millimeter voranzukommen. Der Weg vor ihr wurde länger und länger, die Tür schien plötzlich unerreichbar. Sie sah nach links und stieß einen Schrei aus. Eine klebrige Masse tropfte von der Decke, leuchtend rot in der Dunkelheit, lief die Wand hinunter und ergoss sich über dem Parkettboden. Blut. Sie versank bis zu den Knöcheln darin. Voller Panik wollte sie weiterlaufen, aber die Masse hielt ihre Füße wie mit Geisterhand fest. Sie sackte immer tiefer in den blutigen Morast. Mit Leibeskräften versuchte sie, sich daraus zu befreien, je mehr sie sich allerdings bewegte, desto schlimmer wurde ihre Lage, bis sie bis zu den Hüften eingesunken war. Ekel überkam sie, als die schleimige Masse die Kleidung durchweichte und ihre Haut berührte. Der Gestank war fürchterlich.

Dann hatte er sie erreicht. Sein warmer Atem streifte ihren Nacken.

»Du kannst mir nicht entkommen«, sagte die Stimme ihres Vaters, die so kalt war, dass ihr das Blut in den Adern gefror. »Ich werde immer da sein.«

Sam schrie auf und fuhr senkrecht in die Höhe. Schweißgebadet und am ganzen Körper zitternd, saß sie in ihrem Bett, während die Fragmente ihres Albtraums langsam verblassten.

O Gott, es geht wieder los. Es geht alles wieder los.

Verzweifelt vergrub sie das Gesicht in ihren Händen.

Damals war sie jede Nacht von diesem fürchterlichen Albtraum heimgesucht worden, bis ihr ein Arzt ein leichtes Beruhigungsmittel verschrieben hatte. Daraufhin hatte sie endlich wieder durchschlafen können, und die Albträume waren weniger geworden, bis sie schließlich ganz aufgehört hatten.

Sie wollte das nicht noch einmal durchmachen.

Du kannst dich nicht ewig verstecken. Nicht vor deinem Vater und schon gar nicht vor dir selbst.

Jennys Worte kamen ihr in den Sinn, und diesmal konnte sie es nicht länger leugnen.

Mit leerem Blick sah sie zum Fenster. Der Rollladen war heruntergelassen, schwach schimmerte das Licht der Straßenlaterne durch die Ritzen.

Sam blieb noch ein paar Minuten in der Dunkelheit sitzen, bis sie sich beruhigt hatte, dann stand sie auf und zog ein frisches Nachthemd und darüber einen Pulli an. Nebenan im Wohnzimmer setzte sie sich auf die Couch. Die Visitenkarte lag wie ein kontaminierter Gegenstand auf dem Tisch.

Wir bitten Sie nur um ein einziges Gespräch mit ihm, Samantha. Bringen Sie ihn dazu, uns zu sagen, wer es ist.

Der Schlitzer, dachte sie und griff nach ihrem Laptop. In die Suchmaschine tippte sie Schlitzer München Mord ein und erhielt sofort Hunderte Treffer. Sie klickte auf den ersten, einen Artikel von gestern Abend im Blitz, verfasst von Christian Kehl.

Das vierte Opfer des Schlitzers!

Der Schlitzer hat wieder zugeschlagen und sein mittlerweile viertes Opfer innerhalb von nur neun Tagen getötet. Die grausam zugerichtete Leiche der Versicherungsangestellten Stefanie R. (45) wurde heute Morgen mit aufgeschlitzter Kehle von deren Mutter gefunden. Wie Blitz aus zuverlässiger Quelle erfahren hat, ist der Täter nachts über die Balkontür in ihre Wohnung im ersten Stock eingedrungen. Die ermittelnde Kriminalhauptkommissarin Herfurth war zu keiner Stellungnahme bereit. Langsam macht sich Unmut in der Bevölkerung breit.

»Ich habe Angst um mein Leben«, sagt eine Frau (65), die namentlich nicht genannt werden möchte. »Die Polizei ist ja offenbar nicht in der Lage, uns zu beschützen. Wie viele Opfer soll es denn noch geben, bis sie diesen gefährlichen Geisteskranken endlich fassen?«

Blitz hat exklusiv für Sie Tipps zusammengestellt, wie Sie sich vor dem Schlitzer schützen und verhindern können, dass er in Ihre Wohnung eindringt.

Sam brach ab und öffnete den nächsten Link, einen Artikel der Süddeutschen Zeitung von Mitte November.

Am gestrigen Abend fand ein Spaziergänger die Leiche eines 72-jährigen Mannes in der Allacher Lohe. Wie die Polizei mitteilte, wurde ihm die Kehle durchgeschnitten. Zeugen, die zwischen dem 15. und 16. November etwas Verdächtiges bemerkt haben, werden gebeten, sich an die nächste Polizeidienststelle zu wenden.

Der dritte Zeitungsartikel war erneut vom Blitz.

Der irre Schlitzer!

Nach den bestialisch zugerichteten Leichen eines 72- und 37-jährigen Mannes wurde gestern ein weiteres Opfer des Schlitzers gefunden. Es handelt sich um die 21-jährige Studentin Katharina F. aus Giesing, die mit aufgeschlitzter Kehle in ihrer Wohnung lag.

»Sie wollte in Kürze für ein Jahr als Austauschstudentin nach Australien«, klagte ihre Freundin Caroline N. (22) unter Tränen. »Und jetzt ist sie tot. Es ist schrecklich.«

Wer ist der unheimliche Killer, der seit sechs Tagen ganz München in helle Aufruhr versetzt und scheinbar wahllos Menschen tötet? Lesen Sie hier weiter und erfahren Sie alles, was Blitz für Sie in diesem Fall recherchiert hat. Für das Interview mit Deutschlands bekanntestem Profiler und Serienmörderexperten Horst Schwabach klicken Sie hier.

Sam klappte den Laptop zu und atmete tief durch. Jenny hatte recht gehabt. Der Schlitzer war ein gefährlicher Psychopath, der so lange weitermorden würde, bis ihn jemand stoppte.

Du kannst der Polizei helfen, weitere Opfer zu verhindern. Und vor allem kannst du dir selbst helfen.

Konnte sie das wirklich? Sich selbst helfen?

Sam geriet ins Grübeln. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihre Vergangenheit endlich hinter sich zu lassen und frei zu sein – von der Erinnerung an den schrecklichen Mord und vor allem von ihrem Vater.

Erneut fiel ihr Blick auf Krügers Visitenkarte.

Sie haderte mit sich. In ihr tobte eine Schlacht.

Für einen Moment schloss sie die Augen und dachte an Katniss Everdeen, die sich freiwillig anstelle ihrer kleinen Schwester gemeldet hatte, um an den Hungerspielen teilzunehmen und sie so vor dem sicheren Tod zu bewahren.

Sie konnte so sein wie Katniss.

Sam gab sich einen Ruck, griff nach der Karte und wählte Krügers Nummer. Es war zwar mitten in der Nacht, aber wenn sie ihn jetzt nicht anrief, würde sie es nie tun.

Es ist nur ein einziges Gespräch, sagte sie zu sich selbst, als das Rufzeichen ertönte.

Kapitel 5

Damals

»Okay, Sportsfreund.« Sein Vater klopfte ihm auf die Schulter. »Hast du alles im Griff?«

»Na logo, Paps«, antwortete Paul und richtete sich auf, um noch ein bisschen größer zu wirken, als er es mit fünfzehn ohnehin schon war.

Seine Mutter kniete vor seiner zehn Jahre jüngeren Schwester und zog ihr einen Pullover über.

»Das Essen steht im Kühlschrank«, sagte sie. »Du musst es nur in der Mikrowelle warm machen. Drei Minuten auf Stufe zehn. Und denk dran, dass Emily um halb acht ins Bett muss, sonst ist sie morgen wieder so unausgeschlafen. Vergiss bitte nicht, dass sie vorher ihre Zähne putzt und ...«

Paul verdrehte die Augen. »Mama, ich weiß. Ich pass nicht zum ersten Mal auf sie auf.«

Sie zupfte Emilys Pullover zurecht und erhob sich. »Ja, aber diesmal gehen wir nicht nur essen, sondern danach auch noch ins Kino.«

Sein Vater schaute auf die Uhr. »Wenn du dir weiterhin so viel Zeit lässt, werden wir es nur ins Kino schaffen.«

Sie ignorierte ihn. »Ich lass mein Handy an, Paul. Wenn irgendetwas sein sollte ...«

»... ruf ich dich sofort an«, beruhigte er sie.

Seine Mutter drückte ihm einen Schmatzer auf die Wange. »Bis später. Und danke, dass du auf sie aufpasst.«

»Klar«, entgegnete er und sperrte die Tür hinter ihnen ab.

»Okay, Emily, worauf hast du Lust?«

»Malst du mich?«, schlug sie vor und blickte ihn gespannt an.

Er lächelte und strich ihr eine Strähne ihrer blonden Haare aus dem Gesicht. »Wie soll ich dich denn malen? Wer möchtest du sein?«

»Eine Prinzessin«, quiekte sie und klatschte vor Begeisterung in die Hände.

»Na schön, Prinzessin«, sagte er und machte im Wohnzimmer eine einladende Geste in Richtung Sessel. »Nehmt bitte auf Eurem Thron Platz, holde Schönheit.«

Während sie umständlich auf den schwarzen Ledersessel kletterte, griff Paul nach Block und Bleistift und setzte sich im Schneidersitz vor sie auf den Teppichboden. Für ein paar Sekunden betrachtete er sie schweigend und mit fachmännischem Blick. Sah sich erst im Groben ihre Proportionen an und ging dann zu den Details über wie dem kleinen Leberfleck auf ihrer rechten Wange oder den leichten Schatten unter ihren Augen, weil sie heute keinen Mittagsschlaf gehabt hatte.

Während er die ersten Striche setzte, glühten ihre Wangen vor Freude.

»Bist du schon fertig?«, wollte sie nach fünf Minuten wissen. Langsam wurde sie unruhig auf ihrem Thron.

»Ich bin Hofzeichner und nicht Magier«, antwortete er zu ihrer Belustigung. »Erzählt mir doch von Eurem Einhorn, das Ihr im Garten haltet, Prinzessin.«

Mit kindlicher Begeisterung begann sie, ihm von dem rosafarbenen Einhorn Lisa zu erzählen, das sie auf der eingezäunten Weide im Innenhof hielt und mit Äpfeln fütterte. Stroh mochte es nicht, da wurde ihm schlecht davon. Und auf seinen Einwand hin, dass sich Lisa recht einsam fühlen müsse, fügte sie ein männliches Einhorn namens Elias hinzu.

»Elias?«

»So heißt mein Freund im Kindergarten«, erklärte sie und fuhr mit ihrer Erzählung fort.

»Okay, fertig«, sagte er, als sich ihre ausschweifende Fantasie allmählich dem Ende näherte.

»Lass mich sehen!« Sie sprang vom Sessel und ließ sich neben ihm nieder.

Paul reichte ihr den Block und beobachtete mit einem gewissen Stolz, wie sich ihre Augen in Ehrfurcht weiteten.

Er musste zugeben, dass er sie wirklich gut getroffen hatte. Ihre Schönheit strahlte förmlich aus dem Blatt heraus. Anstelle des Ledersessels hatte er einen Thron mit einer hohen Lehne und verschnörkelten Armstützen gemalt, und statt Jeans und Pulli trug sie ein langes, mit Blumen verziertes Kleid.

»Das ist ... wunderschön«, stammelte sie und verlor sich in der Zeichnung.

»Du kannst es behalten«, meinte er und stand auf. »Und jetzt lass uns was essen, ich hab Hunger.«

Einen Nudelauflauf und mehrere Brettspiele später brachte er sie ins Bett. Es war schon nach acht, aber sie war so aufgedreht gewesen, und außerdem sah er es ein wenig lockerer als seine Mutter.

»Schlaf gut, Emily.«

»Nacht, Paul«, sagte sie und warf einen sehnsüchtigen Blick auf die Zeichnung, die er mit Tesafilm neben dem Bett an die Wand geklebt hatte.

Sie schmiegte sich an ihr blaues Kuschelkissen und schloss die Lider. Sekunden später war sie eingeschlafen.

Paul schaltete die Nachttischlampe aus und zog leise die Tür hinter sich zu. Er ging nach unten ins Wohnzimmer und legte Spiderman in den DVD-Player ein. Sein Vater hatte ihm den Film als Dankeschön geschenkt, weil er auf Emily aufpasste und seinen Eltern einen Abend nur für sie allein ermöglichte.

Zwei Stunden später schaltete er den Fernseher aus und schlich in Emilys Zimmer, um nach ihr zu schauen. Sie schlief friedlich.

Im schwachen Lichtkegel, der durch die halb geöffnete Tür ins Zimmer fiel, bemerkte er, dass ihr Kuschelkissen auf den Boden gefallen war. Er bückte sich und hob es auf.

Wie es wohl wäre, es ihr aufs Gesicht zu drücken und sie zu ersticken?

Der Gedanke war so plötzlich in seinem Kopf, dass Paul zusammenzuckte und das Kissen fallen ließ. Verwirrt verharrte er in der Stille der Nacht, lediglich das leise Atmen von Emily war zu hören.

Wie konnte er nur an so etwas denken?

Es dauerte eine Weile, bis er sich wieder gefangen hatte. Dann wollte er das Kissen zurücklegen.

Wie würde es sich anfühlen?

Erneut war er über sich selbst erschrocken, tief in seinem Inneren mischte sich jedoch ein Funken Neugierde hinzu.

Ja, wie würde es sich anfühlen?

Mit dem Kissen in der Hand stand er da und blickte auf Emily hinab. Auf das unschuldige Gesicht, das im Halbdunkeln nur schemenhaft zu erkennen war.

Na los, probier es aus!

Ich kann doch nicht meine Schwester töten!, protestierte die Stimme der Vernunft in ihm.

Warum nicht? Du musst ihr nur das Kissen aufs Gesicht drücken.

Paul zögerte und versuchte sich vorzustellen, wie es sich anfühlen würde.

Er trat einen Schritt vor, sodass er mit dem Schienbein gegen das Bett stieß.

Mach schon!

Er streckte die Arme aus und hielt das Kissen über Emilys Kopf.

Tu es!

Langsam ließ er das Kissen sinken, bis es nur noch wenige Zentimeter über ihrer Nase schwebte.

Gerade als er es ihr aufs Gesicht pressen wollte, vernahm er unten im Erdgeschoss das Geräusch eines Schlüssels im Schloss.

Seine Eltern!

Rasch legte er das Kissen neben Emily ins Bett, die sich mit einem Seufzer zur Seite drehte, und verließ leise das Zimmer.

Kapitel 6

Montag, 25. November

»Danke, dass Sie gekommen sind«, sagte Krüger, als Sam aus dem Auto stieg.

Sie schwieg und sah mit gemischten Gefühlen an ihm vorbei zum Eingang der psychiatrischen Krüssmannklinik. Fünf Minuten nachdem sie Krüger heute Nacht angerufen hatte, hatten sich die ersten Zweifel an ihrer Entscheidung in ihr geregt. Jetzt, da sie vor dem weitläufigen Gelände mit der sechs Meter hohen, stacheldrahtbewehrten Mauer und den zahlreichen Überwachungskameras stand, schlugen ihre Zweifel in Angst um. Am liebsten wäre sie wieder in den Wagen gestiegen und heimgefahren.