Tote Asche - Patricia Walter - E-Book

Tote Asche E-Book

Patricia Walter

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Beschreibung

Traue niemandem - schon gar nicht dir selbst!

Kira Roth ist entsetzt, als sie in ihrer Wohnung die ausgegrabene Urne mit der Asche ihrer kürzlich verstorbenen Mutter findet. Daneben ein Zettel mit der Aufschrift: "Sie war nicht deine Mutter. Und du verdienst es nicht zu leben!" Doch Kiras Albtraum fängt erst an. Auf dem Friedhof entdeckt sie ein frisch ausgehobenes Grab - auf dem Kreuz stehen ihr Name und ein Todesdatum: in fünf Tagen. Ein perfider Countdown beginnt. Kira macht sich auf die Suche nach ihrer Herkunft und stößt dabei auf ein schreckliches Geheimnis ...

eBooks von beTHRILLED - mörderisch gute Unterhaltung.

"Tote Asche ist eines dieser Bücher, die man kaum mehr aus der Hand legen kann. ... Die Auflösung hat mich regelrecht umgehauen. WoW! Großes Kino!" (Igela, Lesejury)

"Dieses Buch strotz vor Spannung." (Kupfis_Bücherkiste, Lesejury)

"Ich liebe solche Thriller, die mich bis zum Schluss fesseln und es undurchsichtig ist, wer der wahre Täter ist. ... Deshalb gibt es von mir eine klare Leseempfehlung!" (Ninchen90x, Lesejury)

"Das ist ein wirklich packendes spannendes rasantes Buch, in das man förmlich eingesogen wird. ... So schnell war ich selten mit dem Lesen." (Venice, Lesejury)


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EPUB

Seitenzahl: 408

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Inhalt

Cover

Weitere Titel der Autorin

Über dieses Buch

Über die Autorin

Titel

Impressum

Widmung

Prolog

1

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3

4

5

Tag 1: Mittwoch, 10. Oktober 2018

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8

9

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Tag 2: Donnerstag, 11. Oktober 2018

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Tag 3: Freitag, 12. Oktober 2018

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Tag 4: Samstag, 13. Oktober 2018

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Tag 5: Sonntag, 14. Oktober 2018

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Epilog

Danksagung

Weitere Titel der Autorin

Kalte Erinnerung

Dunkle Vergangenheit

Über dieses Buch

Traue niemandem – schon gar nicht dir selbst!

Kira Roth ist entsetzt, als sie in ihrer Wohnung die ausgegrabene Urne mit der Asche ihrer kürzlich verstorbenen Mutter findet. Daneben ein Zettel mit der Aufschrift: »Sie war nicht deine Mutter. Und du verdienst es nicht zu leben!« Doch Kiras Albtraum fängt erst an. Auf dem Friedhof entdeckt sie ein frisch ausgehobenes Grab – auf dem Kreuz stehen ihr Name und ein Todesdatum: in fünf Tagen. Ein perfider Countdown beginnt. Kira macht sich auf die Suche nach ihrer Herkunft und stößt dabei auf ein schreckliches Geheimnis …

Über die Autorin

Patricia Walter, geboren 1974, studierte in München Statistik und arbeitet in der Versicherungsbranche. In ihrer Freizeit betreibt sie neben dem Schreiben Kampfsport, insbesondere Judo und Kung Fu. In Judo hat sie den zweiten Schwarzgurt und ist ehrenamtlich als Trainerin tätig. «Tote Asche« ist nach »Kalte Erinnerung« und »Dunkle Vergangenheit« ihr dritter Psychothriller.

www.patricia-walter.de

www.facebook.com/AutorinPatriciaWalter

www.instagram.com/autorin_patricia_walter

Patricia Walter

Tote Asche

beTHRILLED

Originalausgabe

»be« - Das eBook-Imprint von Bastei Entertainment | Bastei Entertainment in der Bastei Lübbe AG

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Literaturagentur Kai Gathemann.

Copyright © 2019 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Dr. Ulrike Brandt-Schwarze

Lektorat/Projektmanagement: Anne Pias

Covergestaltung: Christin Wilhelm, www.grafic4u.de unter Verwendung von Motiven © Serg Zastavkin/shutterstock, © Michelle Mealing/shutterstock, © Media Whalesstock/shutterstock

eBook-Erstellung: 3w+p GmbH, Rimpar

ISBN 978-3-7325-6318-0

www.be-ebooks.de | www.bastei-entertainment.de

www.lesejury.de

Für Max, Moritz und Clementine

Prolog

Januar 2005

Der Schrei ließ sie erschrocken zusammenfahren. Sie bremste scharf, und die Kufen ihrer Schlittschuhe gruben sich ins Eis.

Was war das?

Sie schirmte ihre Augen mit der Hand gegen die grelle Sonne ab und schaute sich um. Etwas entfernt von ihr war eine Gruppe anderer Jugendlicher auf dem zugefrorenen See ebenfalls mit Schlittschuhen unterwegs. Ein Mädchen lag auf dem Boden, ein Junge streckte ihr die Hand hin und half ihr wieder auf die Beine.

Sie schüttelte den Kopf. Musste man so schreien, wenn man hinfiel?

Sie sah zum Ufer, wo ihre Eltern und ihr jüngerer Bruder standen und sie beobachteten. Ihr Vater winkte ihr fröhlich zu, und sie erwiderte lachend seine Geste.

Nach dem tristen, bewölkten Wetter in den letzten Tagen war es eine Wohltat, wieder draußen zu sein. Der Heimstettener See war zum ersten Mal seit Jahren zugefroren, und so hatte sie nicht lange gezögert, ihre Schlittschuhe aus dem Schrank geholt und ihre Familie zu einem Spaziergang überredet. Im Sommer war der See, der von allen nur »Fidschi« genannt wurde, ein beliebter Badesee, und sie war oft mit ihrer Familie oder Freunden dort.

Sie bemerkte, dass die Jugendlichen sich rasch von der Mitte des Sees entfernten. Einer von ihnen rief den Menschen, die am Ufer standen, etwas zu – aufgrund der Entfernung verstand sie jedoch kein Wort.

Egal, sie war hier, um ein paar Runden zu drehen.

Sie zog sich die Mütze tiefer über die Ohren und warf ihrer Familie noch einen Blick zu. Während ihr Bruder mit den Händen in den Hosentaschen im knöcheltiefen Schnee stand und von einem Bein aufs andere wippte, hatten sich ihre Eltern den Jugendlichen zugewandt. Der erste von ihnen erreichte soeben das Ufer.

Sie fuhr los, beschleunigte, und der Fahrtwind strich ihr kalt übers Gesicht. Ein herrliches Gefühl! Sie vollführte eine elegante Drehung um die eigene Achse und glitt in einer lang gezogenen Kurve wieder zurück. Geradewegs auf ihre Eltern zu, die auf einmal wild gestikulierten und zusammen mit den anderen Menschen am Seeufer etwas schrien.

Meinen die mich?

Sie drehte den Kopf und sah sich um – außer ihr war niemand mehr auf dem Eis.

Aus der Konzentration gebracht, verlor sie das Gleichgewicht und fiel hart zu Boden. Ein stechender Schmerz schoss durch ihre Hüfte.

Das Schreien der Menschen wurde lauter. Sie versuchte zu verstehen, was sie riefen, vernahm in dem Durcheinander aber nur einzelne Wortfetzen.

»Zurück … Eis … Runter!«

Irgendetwas stimmte nicht.

Sie wollte sich gerade aufrappeln, als sie ein seltsames Knacken hörte.

Was war das?

Erschrocken blickte sie sich um. Erneut knirschte und knackte es.

»Runter, komm runter!«, hörte sie nun deutlich die Stimme ihres Vaters, der über den zugefrorenen See auf sie zugerannt kam. Aber das Eis war so glatt, dass er auf halbem Weg ausrutschte und in hohem Bogen auf den Rücken fiel.

Sie verzog das Gesicht, aber ihr Vater war schon wieder auf den Beinen und lief weiter, wobei er sichtlich Mühe hatte, das Gleichgewicht zu halten. »Komm sofort zurück!«

Sie rappelte sich auf, und wieder war dieses Knacken zu hören.

Was …?

Im nächsten Moment brach das Eis unter ihr. Es geschah so schnell, dass sie nicht einmal Zeit hatte zu schreien. Sie stürzte in eine eisige Nässe, und die Kälte raubte ihr augenblicklich den Atem. Sie geriet in Panik, schluckte Wasser und wurde noch panischer. Wie wild paddelte sie mit Armen und Beinen, versuchte verzweifelt, sich am Rand des Eises festzuhalten. Doch ihre nassen Handschuhe rutschten auf der glatten Oberfläche ab. Ihr Anorak und ihre Jeans saugten sich voll und wurden immer schwerer. Zusammen mit dem Gewicht der Schlittschuhe zog ihre Kleidung sie in die Tiefe. In Todesangst stieß sie sich wieder nach oben und japste nach Luft, sobald sie den Kopf aus dem Wasser bekam. Sofort wurde sie wieder hinuntergezogen, als würde ein Ungeheuer vom Grund des Sees sie packen, um sie zu sich in sein dunkles, kaltes Reich zu holen.

Ihr Körper wurde allmählich taub, sie spürte kaum mehr ihre Gliedmaßen. Noch immer kämpfte sie strampelnd um ihr Leben, aber ihre Kraft schwand mit jeder Bewegung. Unter größter Anstrengung schaffte sie es zurück an die Wasseroberfläche. Sie griff nach dem Eis, rutschte ab, griff wieder danach, bis ihre Muskeln erschlafften und sie erneut untertauchte.

Plötzlich wurde sie am Handgelenk gepackt. Ihr Vater lag bäuchlings auf dem zugefrorenen See und versuchte, sie aus dem Wasser zu ziehen. Als sie mit dem Oberkörper auf dem Eis lag, ließ er mit einer Hand ihren Arm los und wollte ihren Anorak packen, doch sie rutschte zurück. Im letzten Moment bekam er ihren Arm zu fassen und zerrte sie weiter hinauf. Die Anstrengung stand ihm ins Gesicht geschrieben.

Nach Luft schnappend und unkontrolliert zitternd blieb sie liegen. Ihr war so kalt, dass sie ihren Körper nicht mehr spürte.

«Hoch mit dir!«, brüllte ihr Vater und packte sie unter den Achseln.

Kraftlos hob sie den Kopf und sah in sein entsetztes Gesicht.

Dann brach das Eis unter ihnen beiden weg.

Mit weit aufgerissenen Augen fiel sie zurück in die klirrende Kälte des Wassers und tauchte unter, zu erschöpft, um dagegen anzukämpfen.

Ein Arm legte sich um ihre Hüfte. Zusammen mit ihrem Vater kam sie zurück an die Oberfläche.

»Halt … dich … fest«, hörte sie seine Stimme. Aber sie fand nichts, woran sie sich hätte festhalten können.

Ihr Vater hielt sie umklammert. Immer wieder wurde er unter Wasser gezogen, aber er ließ sie nicht los und stemmte sie nach oben, sodass sie Luft bekam.

Wie durch einen Nebelschleier bemerkte sie den Mann, der auf dem Bauch auf sie zugerobbt kam. Er hatte sie fast erreicht.

Dann war er bei ihr. Er griff nach ihrem Arm und zog sie aus dem Wasser und weg von dem Loch. Weg von ihrem Vater, der dort noch immer um sein Leben kämpfte.

Der Mann kroch ein ganzes Stück weiter und schleifte sie mit eisernem Griff um ihr Handgelenk mit sich. Irgendwann stand er auf und hob sie hoch. Sie konnte sich nicht auf den Beinen halten und taumelte gegen ihn. Er nahm sie auf seine Arme und stolperte auf das rettende Ufer zu. Mehrere Menschen kamen ihnen auf dem zugefrorenen See entgegen.

Sie wandte den Kopf und sah, wie ihr Vater verzweifelt versuchte, sich am Eis festzuhalten und aus dem Wasser zu stemmen. Immer wieder rutschte er ab und tauchte unter.

Und kam schließlich nicht mehr zurück an die Oberfläche.

Sie stieß einen schrillen Schrei aus.

»Papa!«

1

Dienstag, 9. Oktober 2018

Kira Roth trat ins Freie und atmete einmal tief durch. Sie hasste Zahnarzttermine!

Seit bei ihr als Kind ein Loch ohne Betäubung gebohrt worden war, hatte sie panische Angst vor Zahnärzten. Von da an hatte sie ihre Zähne so gründlich geputzt, dass nie wieder etwas zu beanstanden war. Trotzdem war sie jedes Mal nervös.

Sie strich sich ihre kurzen schwarzen Haare aus der Stirn und warf einen Blick auf ihr Handy. Es war bereits halb zwei. Zeit, sich wieder auf den Weg zur Arbeit zu machen. Noch einmal konnte sie es sich nicht leisten, unpünktlich zu sein, oder sie würde mit Sicherheit ihre zweite Abmahnung kassieren. So wie vor knapp acht Monaten, als Manuel in einen Autounfall verwickelt gewesen und deshalb zu spät zu ihrer pflegebedürftigen Mutter gekommen war.

Kira geriet auch heute noch in Wut, wenn sie daran zurückdachte. Sie hatte ihrem Chef die Situation erklärt, doch Hagedorn hatte lediglich erwidert: »Ihr Privatleben interessiert mich nicht!«

Sie ging die Sonnenstraße entlang in Richtung Stachus. Trotz der Tageszeit war es diesig und grau. Die Sonne verbarg sich hinter einer dunklen Wolkenwand, die Regen ankündigte. Es wehte ein kühler Wind, und Kira zog den Reißverschluss ihrer Jacke bis oben hin zu. Nach dem traumhaften Altweibersommer Ende September hatte das Wetter zum Monatswechsel abrupt umgeschlagen, und die Aussichten für die kommenden Tage versprachen keine Besserung.

Ihr Handy klingelte. Kira zog es aus ihrer Hosentasche und las Manuel Engels auf dem Display.

Das ist ja eine Überraschung, dachte sie. Sie hatte schon seit einiger Zeit nichts mehr von ihm gehört.

Manuel war Pfleger und hatte sich bis zum Tod von Kiras Mutter Maria vor fünf Monaten um diese gekümmert. Vor einem Jahr war bei ihr ein unheilbarer Hirntumor diagnostiziert worden, der einen Schlaganfall ausgelöst hatte. Zum Glück hatte sie keine geistigen Schäden davongetragen, doch sie war seitdem linksseitig gelähmt gewesen. Kira hatte damals nicht lange gezögert und war zu ihrer Mutter gezogen. Manuel hatte sich tagsüber um sie gekümmert, sodass Kira zur Arbeit gehen konnte, sie hatte die Nachtschicht übernommen. Die beiden hatten sich so gut verstanden, dass sie Freunde geblieben waren.

»Hey, Manuel«, begrüßte sie ihn.

»Stör ich dich gerade?«, erkundigte er sich. Er wusste, dass Kira nicht immer telefonieren konnte, vor allem wenn ihr cholerischer Chef in der Nähe war.

»Nein. Ich war eben beim Zahnarzt und bin auf dem Weg zurück zur Arbeit. Was gibt’s denn?«

»Ich wollte dich fragen, ob du mir vielleicht bei einem Anschreiben und Lebenslauf helfen kannst.«

»Sag bloß, du hast dich endlich dazu entschlossen, auf die Abendschule zu gehen.«

»Ja … Ich glaub, ich versuch’s.«

Manuel war dreißig, ein paar Jahre älter als Kira, und mit Herz und Seele Pfleger. Er hatte ihr erzählt, dass es für ihn mehr Berufung als Beruf war, lediglich die Bezahlung machte ihm zu schaffen. Er war es leid, am Monatsende nie etwas übrig zu haben, und sein Kindheitstraum, einmal auf die Malediven zu fliegen, war in den letzten Jahren in immer weitere Ferne gerückt. Er wolle in einem sozialen Beruf tätig sein, aber einem besser bezahlten. Sozialpädagogik zu studieren, war eine der Möglichkeiten, die er ins Auge gefasst hatte, doch dafür brauchte er das Abitur.

»Das find ich klasse!« Kira freute sich aufrichtig. Tagsüber im aufreibenden Pflegeberuf tätig zu sein und abends die Schulbank zu drücken war definitiv eine Herausforderung, aber wenn es einer schaffen würde, dann Manuel.

»Natürlich helfe ich dir dabei.« Sie überquerte eine Seitenstraße, als plötzlich Reifen neben ihr quietschten und lautstark eine Hupe ertönte. Kira zuckte erschrocken zusammen und bemerkte, dass die Ampel rot war. Sie hob entschuldigend die Hand und eilte auf die andere Straßenseite.

»Danke, da bin ich aber erleichtert«, sagte Manuel. »Hättest du vielleicht morgen nach der Arbeit Zeit? Also nur, wenn du nicht schon was anderes vorhast …«

»Für dich nehm ich mir gerne Zeit. Soll ich so gegen halb sieben zu dir kommen?«

»Das wäre super. Dann bis morgen.«

Sie verabschiedeten sich, und Kira steckte das Handy ein. Kurz darauf erreichte sie den Stachus mit dem großen Brunnen auf dem Vorplatz. Das Wasser sprudelte diagonal aus Löchern im Boden und bildete eine Art Kuppel. In den nächsten Tagen würde er wie die anderen Brunnen in München über den Winter abgestellt werden. Auf den Steinblöcken rundherum saßen ein paar Jugendliche, die sich lachend unterhielten und Burger aus dem nebenan gelegenen McDonald’s verspeisten. Mit Tüten bepackte Einkäufer eilten von der Neuhauser Straße kommend an ihnen vorbei.

Kira ging auf den Treppenabgang zur U-Bahn zu und verzog in Erwartung der Menschenmassen das Gesicht. Sie hasste das Gedränge in den beengten Waggons, weshalb sie meist das Auto nahm. Doch einen Parkplatz in der Nähe des Stachus zu finden war nahezu unmöglich, weshalb sie die kurze Strecke von ihrem Büro zum Zahnarzt mit der U-Bahn zurückgelegt hatte. Da auf der Münchner S-Bahn-Stammstrecke wegen einer Signalstörung mal wieder nichts mehr ging, war auf den U-Bahn-Linien deutlich mehr los als sonst um diese Uhrzeit.

Eine jüngere Frau, die in der einen Hand mehrere Plastiktüten hielt und mit der anderen telefonierte, rempelte sie im Vorbeigehen an. Ohne eine Entschuldigung lief die Frau weiter. Kira schaute ihr kopfschüttelnd nach und bemerkte den kleinen Jungen, der verloren mitten auf dem großen Platz stand und weinte. Sie betrat die Treppe, blieb jedoch auf der zweiten Stufe stehen.

Wo war die Mutter?

Es war niemand zu sehen, der für das Kind verantwortlich zu sein schien. Menschen rannten achtlos an dem weinenden Jungen vorbei, die meisten von ihnen hatten den Blick starr auf ihre Handys gerichtet. Nur ein paar sahen sich kurz nach ihm um, doch sie waren zu sehr in Eile, um stehen zu bleiben.

Kira machte kehrt, um dem Kind zu helfen, als eine Frau mit zwei vollgepackten Taschen aus dem Hugendubel nebenan gestürmt kam. Sie schimpfte den Jungen kurz, bevor sie ihn in die Arme nahm. Beruhigt drehte Kira sich um und machte sich auf den Weg zurück zur Arbeit.

Es dämmerte bereits, als sie sich am Abend mit ihrem schwarzen Fiat Punto auf den Heimweg machte. Hagedorn hatte besonders schlechte Laune gehabt, und der Tag war lang und anstrengend gewesen. Sie beschloss, ihn auf der Couch mit einer heißen Schokolade und einem Film ausklingen zu lassen. Titanic vielleicht, auch wenn sie ihn schon mindestens zehnmal gesehen hatte.

Die Ampel schaltete auf Rot. Kira hielt an der Linksabbiegerspur und sah auf die gegenüberliegende Straßenseite. Dort lag der Perlacher Friedhof, auf dem die Urne mit der Asche ihrer Mutter beigesetzt war. Gerne hätten Ben und sie Maria neben deren verstorbenen Mann begraben, doch sein Grab lag fast eine halbe Stunde Autofahrt entfernt. Also hatten sie sich für einen Friedhof in der Nähe ihres Wohnorts entschieden.

Kira seufzte, und ihr kamen die Tränen. Sie fragte sich, ob der Schmerz jemals nachlassen würde.

Maria war Mitte vierzig gewesen, als sie die Schockdiagnose erhalten und der Schlaganfall sie kurz darauf zum Pflegefall gemacht hatte. Den zweiten ein paar Monate später überlebte sie nur dank Manuel, der sofort den Notarzt gerufen hatte. Doch Maria war danach nicht mehr ansprechbar, und Kira fragte sich, ob es für ihre Mutter nicht besser gewesen wäre, wenn sie sofort erlöst worden wäre anstatt erst acht Wochen später.

Sie schniefte und wischte sich über die Augen.

Hinter ihr hupte es. Kira sah, dass die Ampel grün geworden war, und fuhr los. Wenig später erreichte sie das Mehrfamilienhaus in Ramersdorf, in dem sie wohnte, und stellte den Wagen auf dem Parkplatz in der Tiefgarage ab. Ihre Schritte hallten dumpf auf dem Betonboden wider, als sie auf den Ausgang zum Treppenhaus zuging. Die Neonröhren an der Decke waren von einer Schmutzschicht überzogen und dämpften das Licht.

Plötzlich überkam sie das Gefühl, beobachtet zu werden. Sie wirbelte herum, doch niemand war zu sehen. Es war still, nur die Belüftungsanlage über ihr summte leise.

Als sie die Tür zu ihrer Wohnung im Erdgeschoss aufschloss, schlug ihr warme Luft entgegen. Beinahe hätte sie »Ich bin wieder daheim!« gerufen, so wie früher, wenn sie von der Arbeit nach Hause kam und Maria und Manuel bereits auf sie warteten.

Sie verzog die Mundwinkel und hängte ihre Jacke an die Garderobe. Den Wohnungs- und Autoschlüssel legte sie in die Schale, die neben dem Telefon auf dem Schuhschrank stand. Ihr Blick fiel auf das Foto, das im Flur hing. Es zeigte sie zusammen mit ihrem Bruder Ben und ihrer Mutter. Einen ganzen Samstagnachmittag hatten sie mit ihrem Freund Felix, der Fotograf war, ein Shooting gemacht.

Maria hatte sich zuerst gesträubt. »Ich bin halbseitig gelähmt. Das ist alles andere als fotogen.«

Doch Felix hatte es geschickt verstanden, sie aus der Reserve zu locken, und als er ihr die ersten Aufnahmen zeigte, war Maria hin und weg gewesen. Sie hatte so viel Spaß wie schon lange nicht mehr gehabt, und Kira war froh, dass ihre Mutter sich so gut mit Felix verstand. Sie lächelte, als sie daran zurückdachte.

Der Rahmen hing leicht schief, und Kira rückte ihn wieder gerade.

Im selben Moment spürte sie ein Kribbeln im Nacken. Am ganzen Körper angespannt verharrte sie und lauschte in die Stille, die in der Wohnung herrschte.

Jetzt mach dich nicht verrückt!, ermahnte sie sich, doch das beklemmende Gefühl blieb.

Noch immer stand sie regungslos da. Dann riss sie die Tür zum Arbeitszimmer auf, das ursprünglich das Schlafzimmer ihrer Mutter gewesen war. Jetzt standen ein Regal und ein Schreibtisch darin, und auf dem Boden lag ein Brett mit dem fünftausendteiligen Puzzle, das ihr Ben zum letzten Geburtstag geschenkt hatte. Zur Hälfte hatte sie die österreichische Berglandschaft mit dem See bereits zusammengefügt. Sie inspizierte das Wohnzimmer nebenan und anschließend den Schlafraum am Ende des Flurs. Alles sah genauso aus, wie sie es am Morgen verlassen hatte.

Und doch spürte sie, dass etwas nicht stimmte.

Kira atmete tief durch, dann wusch sie sich im Bad mit kaltem Wasser die Hände. Auf dem Wäscheständer hinter ihr trocknete die Kleidung, die sie gestern spätabends noch gewaschen hatte, in der Luft hing der dezente Duft des Lavendel-Waschmittels.

Ihre Kehle fühlte sich trocken an, und Kira ging in die Küche, um etwas zu trinken. Kaum hatte sie das Licht angeschaltet, blieb sie wie angewurzelt stehen und sog scharf die Luft ein.

Mitten auf dem Tisch stand eine graue Urne aus Keramik, auf die eine rote Rose mit dunkelgrauen Blättern gemalt war. Darüber war in geschwungener Schrift eingraviert:

Maria Roth

26.06.1972–19.05.2018

Kiras Puls schoss in die Höhe. Sie trat an den Tisch und bemerkte erst jetzt das zusammengefaltete Blatt Papier, das von der Urne beschwert wurde. Mit zitternden Händen griff sie danach und öffnete es. Es waren nur zwei Sätze, die darauf standen:

Sie war nicht deine Mutter. Und du verdienst es nicht zu leben!

2

Starr vor Schreck stand Kira da, während ihr tausend Gedanken gleichzeitig durch den Kopf schossen. Ihre Hände zitterten so stark, dass ihr das Papier entglitt und zu Boden fiel.

Sie war nicht deine Mutter. Und du verdienst es nicht zu leben!

Unaufhörlich hallten die beiden Sätze in ihrem Kopf wider. Ihr Atem ging schnell und keuchend, und ihr Herz pochte wild.

Was hatte das zu bedeuten? Wer war in ihrer Wohnung gewesen?

Es war unmöglich, dass jemand die Tür aufgesperrt hatte. Vor einigen Wochen hatte sie ihren Schlüssel verloren und daraufhin das Schloss austauschen lassen. Nur Ben hatte einen Ersatzschlüssel, und ihr Bruder würde doch niemals die Urne ihrer verstorbenen Mutter aus dem Grab holen.

Sie untersuchte die Tür, konnte jedoch keine Einbruchsspuren entdecken. Und sie hatte ganz sicher abgeschlossen, als sie am Morgen zur Arbeit gefahren war. Erneut suchte sie die Räume ab. Riss sogar den Kleiderschrank im Schlafzimmer auf und sah unter das Bett. Aber niemand war hier. Sie war allein.

Auf wackligen Beinen ging Kira zurück in die Küche. Sie hob den Zettel vom Boden auf und las mit gerunzelter Stirn noch einmal die beiden Sätze.

Natürlich war Maria ihre Mutter. Was sollte dieser Unsinn? Und warum sollte sie es nicht verdient haben zu leben?

Sie legte das Papier auf den Tisch und starrte fassungslos auf die Urne. Als sie und Ben damals beim Bestattungsunternehmen den Katalog durchgesehen hatten, waren sie beide an diesem Modell hängen geblieben. Rosen waren Marias Lieblingsblumen gewesen, und sie hatte sich immer hingebungsvoll um die Stöcke in ihrem kleinen Garten gekümmert. Sie waren sich sicher gewesen, dass Maria diese Urne gefallen hätte.

Hier auf dem Küchentisch jagte ihr das Gefäß nun eine Heidenangst ein.

Kira griff nach ihrem Handy und wählte Felix′ Nummer. Er würde mit Sicherheit sofort kommen und ihr beistehen.

Die Verbindung wurde aufgebaut, doch sofort sprang die Mobilbox an. Hatte er heute ein Shooting? Vergeblich versuchte sie, sich zu erinnern, ob er etwas darüber gesagt hatte.

Sarah.

Kira wählte die Nummer ihrer besten Freundin und atmete erleichtert auf, als das Freizeichen ertönte. Aber Sarah ging nicht ran. Nach einer gefühlten Ewigkeit meldete sich auch bei ihr die Mailbox.

Komm schon, ich brauche dich!

Sie legte auf und wählte erneut, doch Sarah hob nicht ab.

Kira überlegte, was sie tun sollte. Sie musste die Polizei rufen, schließlich war jemand in ihre Wohnung eingedrungen.

Und wenn es doch Ben gewesen war? Er war der Einzige, der einen Schlüssel hatte. Sollte sie ihn anrufen und fragen? Sie zögerte.

Es war eine absurde Vorstellung, dass er die Urne ihrer Mutter ausgegraben und bei ihr in die Küche gestellt hatte. Er würde sie nur für verrückt erklären. So wie damals.

Kira fuhr sich mit den schweißnassen Händen übers Gesicht und zwang sich zur Ruhe. Sie betrachtete das Gefäß von allen Seiten. Es haftete keine Erde daran, und die Versiegelung war noch intakt.

Denk nach!

Gestern erst war sie nach der Arbeit auf dem Friedhof gewesen und hatte das Grab hergerichtet. Sie hatte die verwelkten Stiefmütterchen entfernt, frische Alpenveilchen gepflanzt und ein Grablicht angezündet. Wenn jemand die Urne ausgegraben hätte, dann hätte sie das doch bemerkt.

Außer derjenige hatte es heute getan!

Kira traf eine Entscheidung. Sie musste sich Gewissheit verschaffen, bevor sie Ben oder die Polizei informierte.

Sie eilte in den Flur, griff nach ihrer Jacke und den Schlüsseln und lief in die Tiefgarage zu ihrem Auto.

Der Friedhof würde bald schließen. Kira trat aufs Gas und stellte zehn Minuten später das Auto auf dem Parkplatz ab. Sie öffnete das schmiedeeiserne Eingangstor, das leise quietschte, und trat ein.

Die Sonne war mittlerweile untergegangen. Der Friedhof lag vor ihr in der Dunkelheit, nur ein paar Laternen spendeten ein schwaches Licht. Der Kies knirschte unter ihren Füßen, als sie den Weg entlanglief. Zwischen den Gräbern hingen Nebelschwaden, und leichter Nieselregen setzte ein. Niemand außer ihr war um diese Uhrzeit hier unterwegs.

Kira fröstelte, doch die Kälte kam nicht von der abendlichen Temperatur, sondern aus ihrem Innern.

Kurz darauf erreichte sie die Kreuzung mit dem Steinbrunnen, an dessen Seite mehrere Gießkannen hingen. Sie bog nach rechts ab und ging zwischen den Gräbern hindurch. Das Gras war feucht und gab bei jedem ihrer Schritte ein schmatzendes Geräusch von sich. Der Schein der Laterne reichte kaum bis hierher.

Kira zog ihr Handy aus der Hosentasche und schaltete die Taschenlampenfunktion an. Das Licht verlor sich im Nebel, der dem Friedhof eine gespenstische Atmosphäre verlieh.

Das Grab ihrer Mutter befand sich in der dritten Reihe. Mit pochendem Herzen blieb sie davor stehen und hielt das Licht darauf. Es sah genau so aus, wie sie es gestern hergerichtet hatte. Nässe lag auf den frisch gepflanzten Blumen, die fast die gesamte Fläche bedeckten. Die Kerze in der schwarzen Grablampe flackerte.

Kira ging in die Hocke. Wenn jemand die Urne ausgegraben hätte, wären Spuren davon zu sehen gewesen, denn das Gefäß lag in fast einem Meter Tiefe.

Die Kälte in ihrem Inneren nahm zu.

Hatte der Unbekannte die Urne ihrer Mutter nachmachen lassen? Sie richtete sich wieder auf. Es konnte sich nur um eine Nachbildung handeln. Aber wie war der Fremde in ihre Wohnung gelangt?

Sie sollte nach Hause fahren und endlich die Polizei rufen. Zumal der Friedhof jeden Moment schließen würde.

Wehmütig betrachtete sie das Grab ihrer Mutter. Es wirkte so friedlich und verursachte gleichzeitig einen Schmerz in ihr, der sie fast zerriss.

Der Nieselregen wurde stärker, die Fransen ihres Ponys hingen ihr nass in die Stirn. Sie wollte sich gerade umdrehen und gehen, als etwas ein paar Gräber weiter ihre Aufmerksamkeit erregte. Es war im Nebel nur schemenhaft zu erkennen, doch es bewegte sich.

War da jemand?

Kira richtete den Strahl ihrer Taschenlampe darauf und kniff die Augen zusammen.

Was war das?

Sie ging darauf zu und stutzte, als sie den roten Luftballon sah, der vor einem frisch ausgehobenen Grab an einem Holzkreuz hing und im Wind hin und her flatterte.

Kira schauderte. Nicht nur, weil es absurd war, dass auf einem Friedhof ein Luftballon hing, sondern auch, weil es sie an Stephen Kings Es erinnerte. Sie hatte das Buch mit dreizehn gelesen und seitdem Angst vor Clowns mit roten Luftballons.

Sie blieb wie angewurzelt vor der Grube stehen.

Der Schein ihrer Taschenlampe fiel auf das Kreuz. Kira schrie auf und presste die Hände auf den Mund.

Es war ihr Name, der dort stand. Dazu ein Todesdatum – heute in fünf Tagen.

3

Kira taumelte entsetzt zurück. Als sie sich wieder gefasst hatte, trat sie einen Schritt vor, um die Schrift besser lesen zu können, und wäre beinahe in die Grube gefallen. Nur mit Mühe konnte sie das Gleichgewicht halten. Erde und Steine rieselten in das Loch. Das Handy entglitt ihr und landete nur wenige Zentimeter vom Rand entfernt auf dem Boden.

Mit klammen Händen hob sie es wieder auf und hielt das Licht direkt vor das Holzkreuz, das mit schwarzem Trauerflor umwickelt war. Die Schrift war deutlich zu erkennen:

Kira Roth

28.08.1991–14.10.2018

Sie zitterte am ganzen Körper, ihre Gedanken überschlugen sich. Erst die Urne in ihrer Küche und der Zettel mit den verstörenden Sätzen und jetzt das ausgehobene Grab mit ihrem Namen!

Plötzlich hörte sie hinter sich ein Knacken und wirbelte erschrocken herum. Sie leuchtete in die Richtung, aus der das Geräusch gekommen war, doch es waren nur Grabsteine und Bäume zu sehen, die ihre fast kahlen Äste in den Nebel reckten.

Ein Rascheln ließ sie erneut herumfahren.

»Wer ist da?«, rief sie mit bebender Stimme.

Niemand antwortete, nur das Prasseln des stärker werdenden Regens war zu hören.

Hektisch wandte sie den Kopf nach allen Seiten. Der Nebel wurde immer dichter, und der Luftballon flatterte im auffrischenden Wind wild hin und her.

Kira spürte, wie sich ihre Kehle zuschnürte. Sie richtete den Strahl der Taschenlampe auf das dunkle, ausgehobene Grab. Fast meinte sie, den Clown Pennywise zu sehen, der plötzlich mit einem diabolischen Lachen aus der Erde geschossen kam und nach ihrer Hand griff.

Weg! Ich muss hier weg!

Sie stolperte zwischen den Gräbern hindurch auf den Kiesweg und rannte auf den Ausgang zu. Die ganze Zeit über hatte sie das Gefühl, dass jemand sie beobachtete.

Keuchend erreichte sie den Parkplatz und blieb vornübergebeugt und mit den Händen auf den Oberschenkeln stehen. Sie wartete einige Sekunden, bis sich ihr Atem wieder beruhigt hatte, dann schaltete sie die Taschenlampenfunktion aus und wählte den Notruf. Sie sprach viel zu schnell und verhaspelte sich mehrmals. Die Frau am anderen Ende der Leitung blieb ruhig, fragte nach der Adresse und versprach, einen Streifenwagen zu schicken.

Am ganzen Körper angespannt stand Kira neben ihrem Auto und ließ den Eingang zum Friedhof nicht aus den Augen. Noch immer hatte sie das beängstigende Gefühl, dass dort jemand in der Dunkelheit auf sie lauerte.

Der Mann von der Friedhofsverwaltung kam und wollte das Tor abschließen. Kira hielt ihn davon ab und geriet fast in einen Streit mit ihm, weil er Feierabend machen wollte. Erst als sie die Polizei erwähnte, hielt er inne. Schweigend warteten sie unter seinem Regenschirm.

Der Streifenwagen traf ein paar Minuten später ein, und Kira lief ihm aufgeregt entgegen. Zwei Männer um die vierzig stiegen aus.

»Guten Abend«, sagte der Fahrer. »Haben Sie uns gerufen?«

Kira nickte. Sie nannte ihren Namen und erzählte ihnen von dem Grab, dem Holzkreuz mit ihrem Todesdatum und dem Luftballon.

Der Beifahrer holte eine Taschenlampe aus dem Wagen. »Schauen wir uns das mal an.«

Zusammen mit dem Friedhofswärter, der neugierig geworden war, schritten sie den Kiesweg entlang.

»Gehen Sie immer so spät auf den Friedhof?«, erkundigte sich einer der Polizisten. »Er schließt doch um diese Uhrzeit.«

»Ich musste nachsehen, ob die Urne meiner Mutter noch da ist«, antwortete Kira.

Die drei Männer sahen sie fragend an.

Stockend berichtete sie ihnen von der Urne in ihrer Küche.

»Jemand ist bei Ihnen eingebrochen?«

»Sieht so aus, auch wenn ich nicht weiß, wie er reingekommen ist.«

»Warum haben Sie nicht sofort den Notruf gewählt?« Die Stimme des Polizisten klang beinahe anklagend.

»Weil …«

Sie stockte. Weil sie vollkommen durcheinander gewesen war und sich zuerst Gewissheit verschaffen wollte. Sie konnte ihm keine vernünftige Antwort geben.

»Da hinten ist es«, sagte sie, nachdem sie an der Kreuzung mit dem Steinbrunnen nach rechts abgebogen waren. »In der dritten Reihe.«

Der Polizist hielt seine Taschenlampe in die Richtung, in die Kira zeigte, doch der Nebel war mittlerweile so stark, dass nur noch die vordersten Grabsteine zu erkennen waren.

Die Polizisten gingen voran, und Kira und der Friedhofswärter folgten ihnen. Kira stieß fast gegen die Beamten, als diese vor dem Grab stehen blieben.

»Sind Sie sicher, dass es hier ist?«

»Ja«, antwortete sie und drängte sich zwischen ihnen hindurch. »Der Luftballon …«

Sie brach abrupt ab.

Wo war der rote Luftballon?

Der helle Strahl der Taschenlampe beleuchtete das Holzkreuz mit dem schwarzen Trauerflor. Doch der Luftballon war verschwunden.

Kira sah sich hektisch um. Möglicherweise hatte sich die Schnur gelöst und der Wind den Luftballon davongetragen.

Ihr Blick wanderte zu der Inschrift auf dem Kreuz, und sie stieß hörbar die Luft aus.

Da stand nicht ihr Name, sondern ein anderer. Thomas Wettstein. Und auch das Todesdatum hatte sich geändert. Statt dem 14. war es der 5. Oktober.

Ihr Atem beschleunigte sich. Abwechselnd starrte sie das Holzkreuz und die beiden Polizisten an, die mit ausdrucksloser Miene ihren Blick erwiderten.

»Aber … vorhin …«, stotterte sie, »… vorhin stand da mein Name.« Sie spürte, wie Verzweiflung in ihr aufstieg.

Einer der Polizisten wandte sich an den Friedhofsverwalter. »Können Sie was zu dem Grab sagen?«

«Selbstverständlich. Ich habe es gestern ausgehoben. Morgen findet die Beerdigung statt.«

Kira war vollkommen verwirrt. Hatte sie sich das alles nur eingebildet? Oder in der Dunkelheit den Namen falsch gelesen?

Ein unangenehmes Schweigen entstand. Kira wusste nicht mehr, was sie denken oder sagen sollte.

»Wo ist das Grab Ihrer Mutter?«, fragte der Polizist links von ihr.

»Da drüben«, antwortete sie und ging voran.

Der Mann mit der Taschenlampe richtete den hellen Strahl darauf.

»Hatten Sie nicht gesagt, dass jemand die Urne mit der Asche Ihrer Mutter ausgegraben hat?« Er klang leicht genervt.

»Ja. Nein. Ich meine, die Urne stand in der Küche. Deshalb bin ich ja hergekommen, um nachzusehen.«

»Das Grab wirkt aber nicht so, als hätte es jemand umgegraben.«

»Das sehe ich selbst«, entgegnete sie barsch und bereute sogleich ihren Tonfall.

Die beiden Polizisten wechselten einen kurzen Blick.

Sie glauben mir nicht, dachte Kira.

Der Polizist leuchtete mit seiner Taschenlampe die Umgebung ab. »Lassen Sie uns zu Ihrer Wohnung fahren und nachsehen, ob bei dem Einbruch etwas gestohlen worden ist.«

»Es wurde nichts gestohlen«, entgegnete Kira, obwohl sie das gar nicht geprüft hatte. Sie hatte nur geschaut, ob jemand außer ihr in der Wohnung war. »Der Einbrecher hat nur die Urne und den Zettel dagelassen.«

»Welchen Zettel?«, hakte der andere Polizist verwundert nach.

Hatte sie das vorhin in ihrer Aufregung gar nicht erwähnt?

Der Friedhofswärter sah sie erwartungsvoll an, und das Leuchten in seinen Augen verriet, wie er sich über diese Abwechslung freute.

»Bei der Urne lag ein Zettel«, antwortete sie mit betont ruhiger Stimme. »Darauf stand: Sie war nicht deine Mutter. Und du verdienst es nicht zu leben!«

Die Polizisten runzelten die Stirn.

»Fahren wir zu Ihrer Wohnung und sehen uns das an.«

Der Friedhofsverwalter war sichtlich enttäuscht, als er das schmiedeeiserne Tor hinter ihnen abschloss und Kira und die Polizisten in ihre Autos stiegen.

Wenig später erreichten sie das Mehrfamilienhaus, in dem Kira wohnte. Die Polizisten nahmen die Wohnungstür und das Schloss in Augenschein.

»Keine Einbruchsspuren«, stellten sie fest. »Wer hat einen Schlüssel zu Ihrer Wohnung?«

»Nur mein Bruder«, antwortete sie und schloss auf. Zielstrebig lief sie in die Küche. Die Polizisten folgten ihr.

»Hier ist …«

Sie hielt abrupt inne und benötigte einen Moment, um den Anblick, der sich ihr bot, zu begreifen. Ihre Augen weiteten sich.

Der Küchentisch war leer, die Urne und der Zettel waren verschwunden.

4

Kira stürmte darauf zu und berührte die Platte, als müsste sie sich vergewissern, dass ihre Augen ihr keinen Streich spielten.

Hatte sie die Urne und den Zettel anderswo hingestellt, bevor sie zum Friedhof gefahren war? Sie sah sich in der Küche um und überlegte, doch sie war sich sicher, dass sie beides hier auf dem Tisch zurückgelassen hatte.

Die Polizisten standen in der Tür und beobachteten sie schweigend. Sie konnte sich schon denken, was ihnen durch den Kopf ging.

»Ich ... ich verstehe das nicht«, stammelte sie, und sie begann zu schwitzen.

Konnte es sein, dass sie wie damals …?

Bei dem bloßen Gedanken an diese Möglichkeit wurde ihr gleichzeitig heiß und kalt.

«Haben Sie etwas dagegen, wenn wir uns kurz umsehen?«, fragte einer der Männer.

Sie schüttelte den Kopf.

Kaum waren die Polizisten im Flur verschwunden, bedeckte sie das Gesicht mit den Händen.

Oh Gott, es geht wieder los!

Sie zitterte am ganzen Körper. Ihr Atem ging nur noch stoßweise, und sie war kurz davor zu hyperventilieren. Im Hintergrund hörte sie, wie Türen geöffnet und wieder geschlossen wurden. Wenig später waren die Polizisten zurück in der Küche.

»Sind Sie sicher, dass nichts gestohlen wurde?«

Ich bin mir nicht mal mehr sicher, ob überhaupt jemand in meiner Wohnung war.

»Bin ich«, sagte sie so beherrscht wie möglich. »Aber die Urne und der Zettel waren hier auf dem Tisch.«

Stimmte das wirklich, oder hatte sie sich das nur eingebildet? Kira geriet immer mehr ins Zweifeln.

Einer der Polizisten machte einen Schritt auf sie zu. Sein Gesicht nahm einen sanften Ausdruck an. »Fühlen Sie sich nicht gut, Frau Roth? Hatten Sie in letzter Zeit viel Stress?«

»Nein. Doch. Ich meine …«

Natürlich stand sie unter Stress. Der Tod ihrer Mutter hatte sie in ein tiefes Loch geworfen, aus dem sie noch heute zu entkommen versuchte. Es reichte ein bestimmtes Lied im Radio, eine traurige Szene in einem Film oder manchmal auch nur eine Erinnerung, und sie brach in Tränen aus. In der Früh war es besonders schlimm, vor allem, wenn sie schlecht geschlafen hatte. Sie blieb dann immer in ihrem Auto sitzen, bis sie sich wieder beruhigt hatte, ehe sie das Büro betrat. Mehrfach war sie deswegen schon einige Minuten zu spät gekommen, was ihr jedes Mal einen tadelnden Blick ihres Chefs eingebracht hatte. Und das ein oder andere Gespräch unter vier Augen in seinem Büro.

War ihr womöglich alles zu viel geworden? So wie damals?

Der Gedanke daran versetzte sie in Panik.

»Frau Roth, sollen wir einen Arzt rufen?«

»Was? Nein!« Erschrocken sah sie auf. Sie musste die Polizisten loswerden, bevor sie noch misstrauischer wurden und weiter nachfragten. »Ich bin okay.«

»Vielleicht sollten Sie es heute besser ruhig ausklingen lassen.«

Kira atmete tief durch und nickte. »Sie haben recht«, meinte sie. »Es war ein anstrengender Tag.«

»Kommen Sie allein zurecht?«

»Ich werde nachher eine Freundin anrufen«, sagte sie.

Die Polizisten nickten ihr aufmunternd zu und verabschiedeten sich. Kira schloss die Tür hinter ihnen und lehnte sich mit dem Rücken dagegen. Ihre Gedanken überschlugen sich.

Das Grab hatte unberührt ausgesehen. Wenn sie sich die Urne nicht eingebildet hatte, dann musste es eine Nachbildung gewesen sein. Und nur eine Person konnte sie in die Küche gestellt haben.

Ben.

Er war der Einzige, der einen Schlüssel für ihre Wohnung hatte.

Aber warum hätte er das tun sollen?

Sie musste zu ihm fahren und es mit ihm klären. Doch sie zögerte, biss sich auf ihre Unterlippe.

Was, wenn er nicht bei ihr gewesen war? Wenn sie sich die Urne nur eingebildet hatte?

Der Albtraum, vor dem sie sich jahrelang gefürchtet hatte, war zurückgekehrt.

5

Ben wohnte zehn Minuten mit dem Auto entfernt in Unterhaching, wo er vor drei Jahren in eine Zweizimmerwohnung gezogen war. Kira musste ein paarmal um den Block fahren, bevor sie einen Parkplatz fand. Sie klingelte und lief die Treppe hinauf in den zweiten Stock.

Ben lehnte lässig am Türrahmen und hatte die Arme vor seinem muskulösen Oberkörper verschränkt. Wäre Kira nicht seine Schwester gewesen, hätte sie sich mit Sicherheit in die Schlange der Frauen eingereiht, die viel für ein Date mit ihm gegeben hätten. Seine schwarzen, leicht gelockten Haare und der gepflegte Dreitagebart betonten sein markantes Gesicht mit den blaugrünen Augen und dem kräftigen Kinn. An der Außenseite seiner linken Augenbraue war eine Narbe sichtbar, und Kira bekam jedes Mal ein schlechtes Gewissen, wenn ihr Blick darauf fiel.

»Na, kleine Schwester«, begrüßte er sie mit seinem typischen Lächeln.

Normalerweise hätte sie entgegnet: »Na, kleiner Bruder.« Das war ihr übliches Begrüßungsritual, bevor sie beide lachten und sich umarmten. Doch heute sagte sie nur: »Hey, Ben!«

Ben zog die Augenbrauen hoch. »Was ist los?«

»Können wir drinnen reden?«

»Klar, komm rein«, sagte er, und Kira betrat den geräumigen Eingangsbereich.

Tagsüber war die Wohnung dank der Fenster, die bis zum Boden reichten, hell und lichtdurchflutet. Jetzt brannten moderne, in die Decke eingelassene LED-Strahler. Im Türstock zum Schlafzimmer klemmte eine Stange. Ben machte jeden Tag zwanzig Klimmzüge und ebenso viele Sit-ups und Liegestütze. Kira hatte einmal versucht, sich an der Stange hochzuziehen, war jedoch kläglich gescheitert.

»Du siehst ziemlich fertig aus«, meinte Ben auf dem Weg ins Wohnzimmer. »Ist alles in Ordnung?«

»War ein harter Tag«, antwortete sie ausweichend. Während der Fahrt hierher hatte sie überlegt, wie sie ihn am besten fragen sollte, ohne dass er gleich misstrauisch wurde. Ihr war nichts eingefallen.

»Wieder Stress mit deinem Chef?« Er schüttelte den Kopf. »Du solltest dir dringend was Neues suchen.«

»Als ob das so einfach wäre. Ich brauche das Geld.«

Sie nahmen auf der schwarzen Alcantara-Couch Platz. Ein Glas Wasser und eine Schüssel halb voll mit Chili sin Carne standen auf dem gläsernen Tisch, ohne Fleisch, denn Ben war Vegetarier. Daneben die Dose mit Chili-Pulver, die er selbst ins Restaurant mitnahm, weil er sein Essen scharf mochte.

»Brauchst du Geld wegen des Kredits?«, fragte er.

Nach dem Tod ihrer Mutter hatte Kira deren Eigentumswohnung übernommen und Ben seinen Anteil ausgezahlt. Er hatte zwar weniger als die Hälfte bekommen, weil Kira sich größtenteils um Marias Pflege gekümmert hatte, aber es war dennoch eine solch hohe Summe gewesen, dass sie einen Kredit aufnehmen musste, den sie noch viele Jahre abbezahlen würde. Außer der Wohnung hatte Maria ihren beiden Kindern nicht viel hinterlassen, den Großteil ihrer Ersparnisse hatte die Pflege verschlungen. Zwar hätten sie auch eine Pflegekraft aus Polen einstellen können, aber die sprachen meist nur wenig Deutsch. Da Maria lediglich körperlich eingeschränkt gewesen war, hatten sie sich jemanden gesucht, mit dem sie sich unterhalten und was unternehmen konnte. Sie sollte es in der Zeit, die ihr noch blieb, so schön wie möglich haben. Das hatte natürlich seinen Preis.

»Nein, darum geht’s nicht.«

Kira wusste, dass er ihr ohnehin nicht hätte helfen können. Wie sein Erbteil steckten auch seine gesamten Ersparnisse in der IT-Firma, die er vor einigen Monaten zusammen mit seinem Studienfreund Jan gegründet hatte.

»Worum geht’s dann?« Er trank einen Schluck Wasser. »Oh, entschuldige, willst du auch was zu trinken?«

»Nein danke.« Deswegen war sie nicht hier. »Hör zu, ich wollte dich fragen …«

Das Klingeln seines Handys unterbrach sie. Ben griff nach dem Smartphone, das auf der Couchlehne lag, und warf einen Blick aufs Display. Er kniff die Augen zusammen, drückte den Anruf weg und legte das Handy auf die Lehne zurück.

»Warst du heute …?«

Erneut klingelte es. Wieder drückte Ben den Anruf weg und warf ihr ein entschuldigendes Lächeln zu.

»Also …«

Es läutete zum dritten Mal. Bens Gesichtsausdruck verfinsterte sich, und genervt schaltete er das Handy aus.

»Willst du nicht lieber rangehen?«

»Nein.«

»Wenn jemand dreimal hintereinander anruft, könnte es wichtig sein. Vielleicht …«

»Ist es aber nicht«, fiel er ihr scharf ins Wort. Ein seltsamer Ausdruck legte sich über seine Augen. Er griff nach dem Glas, trank es in einem Zug leer und stand auf. »Bin gleich wieder da.«

Kira sah ihm nach, bis er in der Küche verschwunden war, und hörte den Wasserhahn laufen.

Was war los mit ihm?

Kurz darauf war er wieder zurück und ließ sich auf die Couch fallen. »Und?«

»Was und?«

»Ich dachte, du wolltest mich was fragen?«

»Ach so, ja. Warst du heute bei mir in der Wohnung?«

Im selben Moment, als sie die Frage stellte, ärgerte sie sich darüber. Sie hätte es anders angehen sollen, doch es war ihr einfach rausgerutscht.

»Hä?« Er starrte sie irritiert an. »Wieso sollte ich?«

Kira versuchte, an seiner Mimik zu erkennen, ob er die Wahrheit sagte.

»Wieso sollte ich in deiner Wohnung gewesen sein?«, wiederholte er, nachdem sie ihm eine Antwort schuldig geblieben war.

Sie spielte nicht einmal mit dem Gedanken, ihm von der verschwundenen Urne und dem Zettel zu erzählen. Wie seine Reaktion darauf ausfallen würde, konnte sie sich nur allzu gut vorstellen.

»Ach, nicht so wichtig.«

»Nicht so wichtig? Kira, was soll das?«

Sie bereute, überhaupt davon angefangen zu haben. Sie hatte sich selbst in die Ecke manövriert. Hatte sie tatsächlich geglaubt, dass Ben heimlich bei ihr gewesen war, oder wollte sie vielmehr nicht wahrhaben, dass sie sich das alles nur eingebildet hatte?

»Hast du meinen Ersatzschlüssel noch?«

»Hängt draußen im Schlüsselkasten.«

Er legte den Kopf schräg und sah sie fragend an.

»Ich hatte das Gefühl, dass jemand in meiner Abwesenheit in der Wohnung war, nichts weiter. Aber ich hab mich wohl geirrt.«

»Jemand ist bei dir eingebrochen?«

»Keine Ahnung.«

»Wie, keine Ahnung? Kannst du jetzt mal Klartext reden? Wurde was gestohlen?«

»Nein. Es war einfach nur so ein Gefühl. Wie gesagt, ich hab mich geirrt.«

»Und wegen eines Gefühls kommst du extra her? Warum hast du nicht angerufen?«

Sie geriet ins Schwitzen.

Er ahnt etwas.

Was hatte sie sich nur dabei gedacht? Ben kannte sie besser als jeder andere. Und vor allem kannte er ihre Vergangenheit.

»Ich bin ein bisschen durcheinander.« Sie verzog das Gesicht. »Ja, ich hatte heute wieder Stress mit meinem Chef.« Es war eine Ausrede, aber sie konnte ihm unmöglich die Wahrheit sagen.

»Hey, komm her«, sagte er und nahm sie in die Arme.

Kira spürte die Kraft in seinem Körper und fühlte sich schlagartig geborgen. Obwohl er jünger war, hatte sie immer in ihm den großen Bruder gesehen, der sie und ihre Mutter vor allem beschützte. Wahrscheinlich weil er sich als der einzige Mann in der Familie für sie verantwortlich fühlte.

Nach einer Weile löste sich Ben wieder von ihr. »Such dir einen neuen Job, Kira, oder willst du dich kaputtmachen?«

Sie fühlte sich schlecht. Wenn sie ihm doch nur alles erzählen könnte!

»Hast du schon was gegessen?«, erkundigte er sich.

»Nein. Aber ich hab auch keinen Hunger.«

»Und morgen bekommst du deswegen dann wieder Kopfschmerzen.« Er stand auf. »Ich hab im Kühlschrank noch eine Portion Chili. Ich mach sie dir schnell warm.«

Kaum hatte er das Wohnzimmer verlassen, vergrub Kira voller Verzweiflung das Gesicht in den Händen.

Sie glaubte ihm, dass er nicht in ihrer Wohnung gewesen war. Was bedeutete, dass sie sich alles nur eingebildet hatte.

Für einen Moment saß sie regungslos da.

Sie musste Ruhe bewahren. Wenn sie in Panik geriete, würde alles nur noch schlimmer werden.

In ihrem Nacken begann es zu kribbeln.

Tag 1:Mittwoch, 10. Oktober 2018

6

Als der Radiowecker um sieben klingelte, fühlte sich Kira wie gerädert. Sie hatte tief und fest durchgeschlafen, doch die gestrigen Ereignisse hatten ihre Spuren hinterlassen.

Sie war noch eine Stunde bei Ben geblieben und dann heimgefahren. Felix und Sarah hatten nicht zurückgerufen, worüber Kira erleichtert war. Sie durften nicht erfahren, dass sie halluziniert hatte.

Bevor sie um zehn Uhr ins Bett gegangen war, hatte sie noch eine heiße Milch mit Honig getrunken. Früher hatte Maria ihr das Getränk immer zubereitet, damit sie ruhig schlafen konnte. Das allabendliche Ritual hatte ihr geholfen, sodass sie es nach dem Umzug in ihre eigene Wohnung fortgeführt hatte. Allerdings mit Pflanzenmilch, nachdem ein Arzt vor einigen Jahren eine Laktoseintoleranz bei ihr festgestellt hatte.

Wie jeden Morgen drückte sie die Snooze-Taste und blieb noch ein paar Minuten in der Dunkelheit liegen.

Bei dem Gedanken an gestern erfasste sie Beklommenheit. Die Urne und der Zettel hatten sich sehr real angefühlt. Aber das war damals auch so gewesen.

Sie betete, dass es dieses Mal nur bei einer einmaligen Einbildung bleiben würde.

Der Radiowecker klingelte erneut. Gähnend streckte sie sich und schaltete ihn aus. Sie tastete nach dem Schalter der Nachttischlampe. Das Licht blendete sie, und sie blinzelte. Die Müdigkeit steckte ihr noch immer in den Knochen, aber die morgendliche Dusche und der anschließende Kaffee würden gleich helfen. Sie griff nach ihrem Handy und deaktivierte den Flugzeugmodus.

Ein Piepton signalisierte ihr den Eingang einer neuen SMS. Sie kam von Felix und war um Mitternacht versendet worden.

Sorry, ist leider etwas spät geworden. Lass uns morgen telefonieren. Lieb dich!

Darunter ein Kuss-Smiley und ein Hase.

Kira lächelte. Dann war er wohl doch auf einem Shooting gewesen.

Sie schrieb ihm zurück. Melde mich in der Mittagspause bei dir. Hab dich auch lieb!

Den Kuss-Smiley schickte sie ihm separat.

Gerade als sie aufstehen wollte, klingelte ihr Handy. Es war keiner ihrer gespeicherten Kontakte, denn im Display wurde statt eines Namens eine Nummer angezeigt.

Wer rief denn um diese Uhrzeit an?

Sie hob ab. »Roth.«

Niemand antwortete, nur ein leises Keuchen am anderen Ende der Leitung war zu hören.

»Hallo?«

Keine Reaktion.

Kira runzelte die Stirn. »Hallo?«, wiederholte sie lang gezogen und mit einem genervten Unterton.

Endlich reagierte der Anrufer. Er sagte nur zwei Sätze und sprach dabei so leise und mit verstellter Stimme, dass Kira nicht erkennen konnte, ob es ein Mann oder eine Frau war.

»Sie war nicht deine Mutter. Und du verdienst es nicht zu leben!«

Schlagartig war Kira hellwach. Sie fuhr senkrecht in die Höhe und drückte das Handy so fest gegen das Ohr, dass es schmerzte.

»Wer sind Sie? Was wollen Sie von mir?«

In der Leitung knackte es, und Kira sah aufs Display. Der unbekannte Anrufer hatte aufgelegt.

Kira saß wie erstarrt da. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Sie war nicht deine Mutter. Und du verdienst es nicht zu leben!

Hatte sie sich das Ganze doch nicht eingebildet? Oder gingen die Stimmen wieder los?

Sie öffnete die Liste der eingegangenen Anrufe. Die Nummer, von der jemand sie eben angerufen hatte, stand ganz oben. Kira drückte auf Wahlwiederholung. Die Verbindung wurde aufgebaut.

In der nächsten Sekunde klingelte im Flur ihr Festnetztelefon.

Wie in Zeitlupe drehte sie den Kopf in Richtung der Schlafzimmertür, ohne dabei das Handy vom Ohr zu nehmen.

Was …?

Sie ließ das Handy sinken und beendete die Verbindung. Das Klingeln hörte auf.

Ihre Angst wuchs.

Mit zitternden Fingern drückte sie erneut auf Wahlwiederholung. Und wieder ertönte draußen auf dem Flur das Klingeln.

Die Erkenntnis traf Kira mit voller Wucht. Wer auch immer vorhin angerufen hatte, er musste in ihrer Wohnung gewesen sein und vom Festnetztelefon aus telefoniert haben!

7

Hektisch sprang sie aus dem Bett. Vielleicht war der Anrufer ja noch da! Mit dem Handy in der Hand lief sie zur Schlafzimmertür und lauschte.

Nichts war zu hören. Sie bebte am ganzen Körper, als sie die Hand auf die Klinke legte, zögerte aber.

Was, wenn der Einbrecher bewaffnet war? Sollte sie sich besser im Schlafzimmer verbarrikadieren und die Polizei rufen? Doch dann erinnerte sie sich an den Blick der Polizisten gestern. Mitleidig, als ob sie es mit einer Verrückten zu tun hätten.

Sie legte das Handy auf die Kommode neben sich und griff nach der Steinkatze, die dort stand. Trotz ihrer Angst riss sie die Tür auf, betätigte den Lichtschalter und hob die Steinfigur in die Luft – bereit, zuzuschlagen.

Im Flur war niemand. Ihre Beine schlotterten, als sie vorsichtig Fuß vor Fuß setzte.