Blutsonne - Sabine Klewe - E-Book

Blutsonne E-Book

Sabine Klewe

4,5

Beschreibung

Düsseldorf. Eine Nebelnacht im Februar. Ein Mann dringt in das Haus von Elisabeth und Bertram Kassnitz ein, überwältigt das Ehepaar und entführt es. Am nächsten Morgen entdeckt ein Rheinschiffer die beiden: Aufgeknüpft an einem Baum. Der spektakuläre Doppelmord schlägt hohe Wellen. Schon bald wird ein mutmaßlicher Täter verhaftet. Doch dann geschehen weitere Morde nach dem gleichen Muster. Scheinbar willkürlich werden Menschen überfallen und brutal hingerichtet. Jeder könnte der nächste sein. Die rasch gebildete "MK Henker" unter Leitung von Kriminalhauptkommissar Klaus Halverstett kennt nur ein Ziel: Der wahnsinnige Mörder muss gestoppt werden, bevor er wieder zuschlägt. Auch Amateurdetektivin Katrin Sandmann interessiert sich für den Fall. Sie glaubt nicht, dass die Opfer wahllos ausgesucht wurden, denn sie hat herausgefunden, dass alle Morde an ehemaligen Richtplätzen geschahen. Doch bevor sie das Geheimnis lüften kann, kommt sie dem Killer zu nahe ...

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Titel

Sabine Klewe

Blutsonne

Der vierte Fall für Katrin Sandmann

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2008 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 07575/2095-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

2. Auflage 2009

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von Pixelio.de

ISBN 978-3-89977-3030-5

Zitat

»A red sun rises, blood has been spilled this night.«

The Lord of the Rings – The Two Towers (2002)

1

Der Nebel ist der Komplize des Mörders. Er deckt ihn, schirmt seine blutigen Taten gegen die Blicke unerwünschter Zeugen ab und verhilft ihm zur Flucht.

Es war Sonntagabend, kurz nach elf, und der Nebel war so dicht, dass man selbst in der einspurigen Wohnstraße nicht mehr bis zum gegenüberliegenden Bürgersteig sehen konnte. Ein dunkler Geländewagen glitt fast lautlos über den Asphalt. Behutsam tastete sich das schwere Fahrzeug an den parkenden Autos vorbei. Vor der Einfahrt von Haus Nummer siebzehn kam es kurz zum Stehen. Der Fahrer starrte durch die Windschutzscheibe, fixierte die weiße, wabernde Masse, die an dem kalten Glas leckte. Dann nickte er zufrieden, gab Gas und rolltevor den kleinen Bungalow. Nachdem er den Motor abgestellt hatte, blieb er sekundenlang abwartend sitzen. Durch die Nebelwand war schemenhaft ein gelblicher Lichtfleck zu erkennen. Ein erleuchtetes Fenster.

Jetzt stieß der Mann die Wagentür auf und stieg aus. Noch einmal blickte er sich um. Doch es gab nichts zu sehen. Der Nebel hatte die Nachbarhäuser mit den gepflegten Vorgärten und die parkenden Autos vollkommen verschluckt. Unsichtbar lauerten sie hinter dem Schleier aus bleichem Dunst. Der Mann zog den Reißverschluss seiner Jacke zu und klopfte auf die Taschen, um sich zu vergewissern, dass er alles dabeihatte. Dann streifte er ein Paar Gummihandschuhe über.

Lautlos schlich er zur Haustür und drückte auf die Klingel. Es dauerte nicht lange, bis geöffnet wurde. Eine junge Frau spähte neugierig nach draußen. Sie hieß Elisabeth Kassnitz, trug eine schwarze Bluse und einen kurzen grauen Rock. Ihr glattes blondes Haar hatte sie zu einem Knoten hochgesteckt.

»Sie?«

»Guten Abend, Frau Kassnitz. Entschuldigen Sie die Störung. Kann ich kurz reinkommen?«

Die junge Frau zögerte. »Es ist schon spät. Wir sind gerade erst nach Hause gekommen. Was wollen Sie denn?«

»Bitte.« Er sah sie eindringlich an.

Elisabeth Kassnitz biss sich nervös auf die Unterlippe. Schließlich zuckte sie mit den Schultern. »Also gut. Kommen Sie.« Sie ließ ihn eintreten. Behutsam schloss sie hinter ihm die Tür. Er folgte ihr durch einen schmalen Korridor ins Wohnzimmer. Eine riesige Fensterfront nahm fast eine komplette Wand des Raums ein. Dahinter waberte der Nebel. Rechts häufte sich kalte graue Asche in einem Kamin aus roten Ziegeln. Davor breitete sich eine Sitzgruppe aus schwarzem Leder aus. Auf dem Sofa saß ein Mann in Jeans, Hemd und Jackett, die Arme hinter dem Kopf verschränkt, und beobachtete die Fische, die in einem überdimensionalen Aquarium an der gegenüberliegenden Wand herumschwammen. Es war Bertram Kassnitz. »Und? War es die Schulte?«, fragte er, ohne sich umzudrehen.

»Nein. Wir haben Besuch. Es –«Elisabeth Kassnitz brach abrupt ab, als der Mann eine Pistole aus der Jackentasche zog und auf ihren Kopf richtete.

»Besuch?« Bertram Kassnitz fuhr herum, sah die Waffe und wurde bleich. »Was soll das? Was wollen Sie?«

Statt einer Antwort fischte der Mann ein Paar Handschellen aus der Tasche und drückte sie Elisabeth Kassnitz in die Hand. »Hier! Legen Sie die Ihrem Mann an! Und die Hände auf den Rücken!« Er gab ihr einen Schubs.

Elisabeth Kassnitz ging langsam auf ihren Mann zu. Die Handschellen in ihrer rechten Hand zitterten, das metallische Klimpern und das Knallen ihrer Absätze auf dem polierten Parkett erfüllten den Raum mit einem gespenstischen Rhythmus. Der Lauf der Pistole folgte ihren Schritten. Bertram Kassnitz erhob sich von der Couch und trat zur Seite. Unauffällig gab erseiner Frau ein Zeichen. Sein Blick wanderte zu dem Schürhaken, der neben dem Kamin hing. Sie nickte kaum merklich, trat hinter ihn und gab vor, an den Handschellen herumzunesteln. Vorsichtig bewegten sie sich ein Stück auf den Kamin zu. Gerade als Kassnitz die Hand nach dem Schürhaken ausstrecken wollte, traf ihn etwas an der Schläfe. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen Schädel. Benommen taumelte er, wankte, suchte nach Halt.

»Das ist kein Spiel, Schwachkopf! Versuch nicht noch einmal, mich zu verarschen!« Der Mann richtete die Waffe auf Kassnitz’ Hinterkopf.

Der rang nach Luft. Krallte seine Hand in das Kaminsims. Ein Rinnsal Blut floss über sein schweißnasses Gesicht und tropfte auf den Kragen seines Hemdes. Jetzt schlug der Mann Elisabeth mit der Pistole gegen die Schulter. »Die Handschellen. Mach schon!«

Sie fuhr zusammen und verzog das Gesicht vor Schmerz.

»Los!« Er schlug noch einmal zu.

Elisabeth zuckte kurz. Wieder biss sie sich auf die Lippen. Sie gehorchte stumm, griff nach Bertrams Handgelenken. Ihre Finger zitterten so sehr, dass es ihr nur mit Mühe gelang, die stählernen Ringe zusammenzuschieben. Bertram war immer noch benommen, vor seinen Augen schwirrten winzige Punkte aus Licht, willenlos ließ er sich fesseln.

Der Mann packte Elisabeth am Nacken und zerrte sie zur Seite. »Jetzt das hier!« Er drückte ihr einen schwarzen Schal in die Hand. »Mund zubinden!«

Sie knebelte ihren Mann. Tränen liefen ihr über die Wangen. Ihre Lippen waren blutig gebissen. Immer wieder setzte sie an zu sprechen, sie musste doch etwas sagen, den Mann irgendwie von seinem Vorhaben abbringen! Aber sie brachte kein einziges Wort hervor. Als sie fertig war, legte der Eindringling auch ihr Handschellen an und band ihr einen Schal vor den Mund.

»Und jetzt marsch vor die Tür!«, befahl er schließlich und stieß die beiden vor sich her in den Korridor. Hilflos ließen sie sich aus dem Haus schieben. Draußen öffnete der Mann die Heckklappe seines Geländewagens und schubste das Ehepaar in den Kofferraum. Mit einer Wäscheleine band er ihnen die Beine zusammen. Zum Schluss warf er eine Decke über sie. Ein letztes Mal blickte er sich um. Nichts zu sehen. Nur der Nebel wogte sacht.

Er stieg ein, startete den Motor und rollte langsam aus der Einfahrt.

*

»Schön, dass Sie sich so spät nochZeit für mich genommen haben!« Marc Simons streckte lächelnd die Hand aus und strich sich mit der anderen eine blonde Haarsträhne aus dem Gesicht.

Katrin Sandmann erwiderte sein Lächeln. »Kein Problem. Ich wohne direkt um die Ecke. Außerdem haben Sie mich neugierig gemacht.«

Simons warf seinen Mantel über die Stuhllehne, dann nahm er breitbeinig Katrin gegenüber Platz. Der Bedienung, die gerade mit einem Tablett vorbeieilte,rief er zu: »Bringen Sie mir auch so einen!« Dabei deutete er mit dem Finger auf Katrins Weinglas. »Ich vertraue auf Ihren Geschmack.« Er grinste.

»Das dürfen Sie getrost tun«, versicherte Katrin. »Die haben einen wirklich feinen Hauswein hier.« Sie beugte sich über ihre Tasche und kramte einen Ordner hervor. »Ich habe ein paar Arbeitsproben von mir mitgebracht. Falls Sie mal reinsehen wollen?«

Marc Simons winkte ab. »Lassen Sie nur. Ich habe diesen Bildband gesehen. Wales. Stimmt’s? Hat mir sehr gut gefallen. Die Stimmung. Das Licht. Dieser Blick für das Besondere im Alltäglichen. Genau das, was ich brauche. Natürlich treffe ich letztendlich die Auswahl. Was die Motive angeht, meine ich. Ist ja mein Projekt. Doch ich bin voller Zuversicht, dass Sie auch ein paar hübsche Ideen beisteuern werden.« Katrin schluckte. Simons ließ sich nicht beirren. »Düsseldorf, wie es keiner kennt. Ungewöhnliche Geschichten und spannende Fakten, dazu ein paar knackige Bilder. Natürlich aufgenommen von einer Fotografin aus Düsseldorf. Das Konzept gefällt mir immer besser. Ich habe auch bereits eine Menge interessante Informationen zusammengetragen. Wussten Sie zum Beispiel, dass bei der Schlacht bei Worringen Kölner und Düsseldorfer Seite an Seite gekämpft haben? Gegen den Erzbischof von Köln?«

Katrin nickte. »Ja, das haben wir in der Schule mal durchgenommen. Ich erinnere mich. Allerdings waren vermutlich nur eine Handvoll Düsseldorfer dabei. Wenn überhaupt. Besonders viele Einwohner hatte die Stadt damals nämlich noch nicht.«

Marc Simons zuckte mit den Schultern. »Macht nichts. Die Geschichte ist trotzdem klasse. Immerhin haben wir Düsseldorfer den Kölnern geholfen, sich von ihrem ungeliebten Stadtherrn zu befreien. So betrachtet, sind die uns was schuldig.« Er zwinkerte vergnügt. »Ich maile Ihnen in den nächsten Tagen alle Texte, die ich bisher fertig habe. Dann können Sie ja auch schon mal überlegen, was für Motive dazu passen würden. Oder besser noch: Sie kommen zu mir, und wir gehen alles gemeinsam durch. Haben Sie morgen Nachmittag vielleicht Zeit?« Er lehnte sich zurück und sah sie auffordernd an.

Die Kellnerin brachte Simons’ Wein. Katrin nutzte die Unterbrechung. »Wenn Sie mich kurz entschuldigen wollen.« Sie stand auf und lief durch den Schankraum auf die Damentoilette zu. In ihr brodelte es. Das Projekt hatte sich wirklich interessant angehört. Düsseldorf einmal anders. Nicht die üblichen Attraktionen, sondern die Stadt mit neuen Augen gesehen. Aus ungewöhnlichen Perspektiven. Doch dieser Simons war ein eitler Pfau. Sie konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie sie wochenlang mit diesem Mann zusammenarbeiten sollte. Noch dazu, wo er offensichtlich vorhatte, sich auch in ihre Arbeit reinzuhängen. Sie war die Fotografin. Die Fachfrau. Es war ihr Beruf. Sie wusste schon, was sie tat.

Katrin zog die Tür zur Damentoilette auf, und im gleichen Augenblick blieb sie wie versteinert stehen. Ihr Herz hämmerte los wie eine Horde durchgegangene Pferde. Verdammt! Die Toilette lag im Kellergeschoss. Eine schmale, gerade Treppe führte hinunter. Krachend fiel die Tür hinter ihr ins Schloss. Katrin krallte sich an das Geländer. Hektisch schnappte sie nach Luft. Schweiß klebte an ihrem Körper, in ihren Schläfen pochte das Blut. Die Treppe fing an, sich zu drehen. Raus! Ich muss hier raus! Sie keuchte, tastete nach der Tür, doch sie bekam die Klinke nicht zu fassen. Schneller und schneller drehte sich die Treppe, wand sich wie ein alles verschlingender Wirbelsturm auf Katrin zu. Gleich würden die wirbelnden Stufen sie einsaugen und ersticken. Verzweifelt fuhr Katrin mit den Fingern über das Holz in ihrem Rücken. Sie wagte nicht, sich umzudrehen. Endlich, die Klinke! Sie stieß die Tür auf und schlüpfte zurück in den sicheren Schankraum.

Schwer atmend blieb sie stehen. Sie fasste an ihre Stirn, sie war kalt und nass. Mit zitternden Fingern kramte Katrin ein Taschentuch aus der Hosentasche und wischte sich über das Gesicht.

Die Kellnerin trat zu ihr. »Alles in Ordnung? Brauchen Sie einen Arzt?«

»Danke. Mir geht es gut. Mir war nur kurz schwindelig.« Mit unsicheren Schritten wankte Katrin zu ihrem Platz zurück. Glücklicherweise war der Schankraum L-förmig. Marc Simons saß um die Ecke. Er hatte von ihrer Panikattacke nichts mitbekommen. Sie hätte keine Lust gehabt, ihm zu erklären, warum sie höllische Angst vor Kellern hatte. Es ging ihn auch überhaupt nichts an. Obwohl er es vermutlich ungeheuer spannend gefunden hätte.

Ohne ein Wort glitt sie zurück auf ihren Stuhl.

Simons starrte sie fassungslos an. »Ist Ihnen auf dem Klo ein Geist erschienen? Sie sind schneeweiß.«

»Nur ein leichter Schwindel. Ist gleich vorbei.« Am liebsten wäre sie sofort gegangen. Der Stuhl unter ihr stach wie ein heißes Nadelkissen. Die Wände der Kneipe, die ihr eigentlich so vertraut waren, ihr sonst Sicherheit und Geborgenheit boten, bewegten sich drohend auf sie zu, bereit, sie zu zerquetschen. Sie wollte nach Hause. Allein sein. Sicher. Simons hielt sie jetzt vermutlich für ein zimperliches Mimöschen. Schwindelanfall. Wie in einem Jane-Austen-Roman. Fehlte nur noch, dass sie ein Fläschchen Riechsalz aus ihrer Handtasche kramte. Den Auftrag konnte sie bestimmt knicken. Dabei reizte er sie. Trotz der Aussicht, mit diesem arroganten Affen zusammenarbeiten zu müssen.

*

Kriminalhauptkommissar Klaus Halverstett gähnte. Dann lenkte er den Wagen in die Cecilienallee. Der Tag hätte nicht mieser beginnen können. Erst gestern hatte er wieder mit seiner Frau Veronika gestritten, weil sie der Ansicht war, er lebe nur für seinen Beruf. »Wann sind wir eigentlich das letzte Mal zusammen ausgegangen?«, hatte sie gefragt, und er war ihr die Antwort schuldig geblieben. Dann hatte die Kriminalwache um kurz nach sechs angerufen. Leichenfund im Rheinpark. Na wunderbar. Veronika hatte irgendetwas gemurmelt, von dem Halverstett nur die Wörter ›siehst du‹ und ›Scheißjob‹ verstanden hatte, doch das war genug gewesen, ihm den Morgen vollends zu verderben.

Vor ihm blinkte es blau. Hier musste es irgendwo sein. Halverstett glitt in eine der Parklücken und gähnte erneut. Dann stieß er die Wagentür auf und wuchtete seinen umfangreichen Körper aus dem Opel. Mist. Dieser Bauch machte ihm mehr und mehr zu schaffen. Schon wieder passten die Hosen kaum noch, und bei der kleinsten Anstrengung fiel ihm das Atmen schwer. Auch das war gestern ein Streitpunkt zwischen ihm und Veronika gewesen. »Du denkst nur noch andeine blöden Mörder! Und ans Essen natürlich! Das ist ja kaum zu übersehen!« Er hatte das Haus verlassen und die Tür hinter sich zugeknallt. Aufgewühlt war er durch den Nebel gestapft, hatte Gedanken im Kopf hin und her gewälzt, die ihn zutiefst erschreckt hatten. Es musste doch einmal Dinge gegeben haben, die ihn und Veronika verbunden hatten, irgendetwas mussten sie gemeinsam gehabt haben, irgendwelche Ideen, Träume, Ziele. Aber es war ihm nichts eingefallen. Als er sie vor fast dreißig Jahren kennengelernt hatte, hatte er nicht näher darüber nachgedacht. Veronika war schön gewesen, nicht einfach hübsch. Wunderschön. Und so lebendig. Überall, wo sie hinkamen, war sie sofort der Mittelpunkt, lachte, scherzte und wurde bewundert. Seine Freunde hatten ihn beneidet. Und er selbst war vor Stolz beinahe geplatzt. Sehr bald schon hatten sie allerdings gemerkt, wie verschieden sie waren, wie wenigsie sich zu sagen hatten,über den Alltag hinaus. Doch sie hatten sich arrangiert. Schließlich trugen sie gemeinsam Verantwortung für die Kinder. Und irgendwie hatte es funktioniert. Es ging ihnen gut. Erst jetzt, wo ihre zwei Söhne aus dem Haus waren, wurde die klaffende Lücke zwischen ihnen wieder sichtbar, der Abgrund, der sich zwischen Veronikas Leben und seinem auftat wie eine offene Wunde. Er hatte weggesehen, sich in die Arbeit gestürzt, um nicht hinschauen zu müssen. Doch Veronika gab sich damit offenbar nicht mehr zufrieden. Sie wollte es wissen. Und sie zwang ihn, sich ebenfalls damit auseinanderzusetzen. Er wagte nicht darüber nachzudenken, wohin das führen könnte. Zu ungeheuerlich schien ihm der Gedanke. Viel erschreckender als all die Leichen, als die Kaltblütigkeit und Brutalität, denen er im Laufe seines Berufslebens begegnet war.

Müde trabte Halverstett durch den Park auf das Rheinufer zu. Schon von Weitem sah er, dass die Kollegen gerade damit beschäftigt waren, einen Teil des Geländes unmittelbar an der Mauer oberhalb des Flusses mit rotweißem Band abzusperren. Zwei Streifenwagen standen auf einem der Spazierwege. Sonst war noch nicht viel zu sehen. Es wurde sehr langsam hell. Beinahe widerwillig. So als hätte der Tag heute ebenso wenig Lust, seinen Dienst anzutreten wie der Kommissar. Wenigstens hatte der Nebel sich verzogen. Beinahe jedenfalls. Ein paar letzte feuchte Schleier hingen noch in den Kronen der Bäume, so als hätten sie sich in dem kahlen Geäst verfangen.

Halverstett erreichte die Absperrung. Ein Uniformierter, den er nicht kannte, sprach ihn an. Er hielt eine Taschenlampe in der Hand. »Hier können Sie nicht durch. Polizeiabsperrung.«

Halverstett kramte seinen Ausweis hervor. »Sehr vorbildlich, Herr Kollege. Guten Morgen. Spusi schon da?«

Der Streifenbeamte schüttelte den Kopf. »Bisher ist niemand aufgekreuzt. Wir warten auch noch auf den Arzt.«

»Was?! Der Notarzt war noch nicht hier? Wo ist denn der Tote?« Halverstett blickte sich irritiert um, doch er konnte im Dämmerlicht außer drei geschäftig umhereilenden Polizisten nichts erkennen. »Wer hat denn dann den Tod festgestellt?«

Der Uniformierte räusperte sich verlegen. »Ich. Ähm, also wir. Wir haben sofort gesehen, dass da nichts mehr zu machen ist. Da haben wir gleich die Gerichtsmedizin angefordert.«

»Na wunderbar. Und jetzt rufen Sie trotzdem ganz schnell den Notarzt. Oder wollen Sie den Totenschein ausstellen?«

»Ähm. Nein, natürlich nicht. Wird sofort erledigt.« Er zückte sein Funkgerät, aber Halverstett war noch nicht fertig mit ihm. »Wer hat denn den Toten gefunden?«

»Die Toten, Herr Hauptkommissar. Es sind zwei.«

Halverstett seufzte. »Also, wer hat die Toten gefunden?«

»Ein Rheinschiffer.«

»Ein Rheinschiffer? Vom Schiff aus?«

Der Beamte nickte. »Ja. Genau. Hat es direkt per Funk gemeldet.«

»Wo ist der Mann jetzt?«

»Keine Ahnung. Vermutlich schon in Duisburg.«

Halverstett stöhnte. »Ihr habt den weiterfahren lassen? Verdammt! Ich brauche seine Aussage. Und zwar so schnell es geht! Verstanden?«

»Jawohl.« Der Streifenbeamte blickte verlegen zu Boden.

Halverstetts Blick streifte erneut suchend durch den Park. »Wo sind sie denn jetzt?«

»Wer?«

»Die Toten.«

»Ach so.« Ein schwaches Grinsen. »Sie suchen zu tief, Herr Kollege. Da oben.« Er schaltete die Taschenlampe an und schwenkte den Lichtkegel in die mächtige Krone eines Baumes, der direkt an der Mauer stand. Halverstett blickte hinauf, und seine Müdigkeit war wie weggeblasen.

»Ach du Scheiße.«

2

Katrin spürte, wie Manfred langsam wach wurde. Der Körper unter ihrer Hand regte sich, die Muskeln spannten sich an. Behutsam fuhr sie mit den Fingerspitzen über seinen Rücken, malte verschlungene Muster auf die nackte Haut. Manfred grunzte zufrieden. »Nicht aufhören«, murmelte er schlaftrunken, als Katrin kurz innehielt. Grinsend ließ sie ihre Hand weiterwandern, bis er sich umdrehte und sie in die Arme nahm.

Von irgendwoher erscholl gedämpft der Radetzky-marsch. Manfreds Handy. Katrin stöhnte und rollte sich zur Seite. Manfred tastete im Bett herum. Er fand das Telefon unter dem Kopfkissen. Schlaftrunken meldete er sich. Er lauschte kurz. Dann saß er plötzlich senkrecht im Bett. Sekunden später legte er das Handy weg.

»Ich muss los.« Nackt lief er durch Katrins Schlafzimmer und suchte seine Klamotten zusammen. »Die haben zwei Leichen gefunden.«

Katrin hatte bereits ihre Hose an. »Ich komme mit.«

»Quatsch. Was willst du da?«

»Wissen, was passiert ist. Was dachtest du denn?«

Manfred drehte sich zu ihr und hielt sie fest. »Ich halte das für keine gute Idee. Ich denke nicht, dass du schon soweit bist. Den Anblick von Leichen solltest du im Augenblick besser meiden, findest du nicht?«

Katrin schüttelte ihn ab. Klar, dass er jetzt wieder damit kommen würde. Aber sie hatte nicht vor, sich bevormunden zu lassen. »Ich weiß selbst, was für mich gut ist. Und Probleme mit dem Anblick von Leichen habe ich nicht. Ich habe schließlich einige gesehen in letzter Zeit.«

»Das meine ich ja.« Manfred stopfte Handy und Diktiergerät in seine alte Ledertasche. »Es waren vielleicht ein paar zu viel. Denk an deine Panikattacken!«

»Danke, dass du mich dran erinnerst!«, erwiderte Katrin wütend. »Hätte ich doch fast vergessen. Aber wenn du schon so genau Bescheid weißt, dann hast du vielleicht noch im Kopf, dass es Keller sind, vor denen ich Angst habe. Und zwar aus gutem Grund. Schließlich war ich tagelang in einem eingesperrt und wäre beinahe erfroren!«

Sie ging in die Diele und schlüpfte in ihre Turnschuhe. »Wenn du mich nicht mitnimmst, nehme ich mir ein Taxi. Ich lasse mich nicht wie ein kleines Kind behandeln.« Sie drehte sich zu ihm um. Sein besorgter Gesichtsausdruck stimmte sie milder. Er wollte sie schonen, sie beschützen. Aber sie wollte nicht geschont werden, nicht ständig daran erinnert werden, wie sehr ihr Leben aus den Fugen geraten war. Ein bisschen Normalität, das war alles, was sie sich wünschte. Sie nahm Manfreds Hände, zog ihn zu sich. »Wo haben sie denn die Leichen gefunden?«

Er seufzte. Dann grinste er. »Das ist es, was ich an dir liebe. Immer mit dem Kopf durch die Wand.« Er drückte ihr einen Kuss auf die Stirn. »Irgendwo am Rhein«, beantwortete er dann ihre Frage. »Direkt am Ufer. Ein Schiffer hat sie entdeckt.«

»Ein Schiffer?« Katrin runzelte die Stirn.

Manfred sah sie an. »Wenn ich Kalle am Telefon richtig verstanden habe, sind sie vom Wasser aus gut zu sehen. Jemand hat sie an einem Baum aufgeknüpft.«

»Oh, mein Gott.«

*

Benedikt Simons starrte aus dem Fenster. Er beobachtete einen alten Mann in einer ausgebeulten Cordhose, der sein Fahrrad aus dem Keller heraufgetragen hatte und jetzt im Begriff war, das Vorderrad abzumontieren. Vermutlich wollte er den Reifen flicken. Er hatte eine kleine Kiste mit Werkzeug neben sich stehen und eine Thermoskanne Kaffee. Jetzt schraubte er den Deckel auf, goss etwas in einen Becher und nahm einen Schluck. Aus der Kanne dampfte es einladend. Der Mann rieb sich die Hände, dann beugte er sich wieder über das Rad. Benedikt beneidete ihn. Wie gern würde er mit ihm tauschen. Es war eiskalt da draußen, und das Fahrrad sah alt und klapprig aus, doch der Mann wirkte zufrieden. Niemand hatte sein Leben zerstört, von heute auf morgen bis auf die Grundmauern eingerissen, und seine einzige Sorge war vermutlich dieses kaputte Fahrrad, das mit einem Flicken in einer halben Stunde wieder in Ordnung sein würde. Benedikt ballte die rechte Hand zur Faust. Das Leben war so verdammt ungerecht.

Sein Bruder trat hinter ihn und reichte ihm einen Pott Kaffee. »Wieder schlecht geschlafen?«

Benedikt nahm einen Schluck. »Gar nicht.«

»Nicht den Kopf hängen lassen.« Marc Simons klopfte ihm auf die Schulter. »Das wird schon wieder. Irgendwie. Wart’s nur ab. Denen zeigen wir es.«

Benedikt zuckte mit den Schultern. Er hatte keine Lust, mit Marc darüber zu reden. Das hatte er bereits unzählige Male getan, ohne dass es ihm nachher besser gegangen wäre. Also wechselte er das Thema. »Wie war es denn bei dir gestern Abend? Wie ist diese Fotografin?«

Marc grinste. »Sehr nett und sehr hübsch.« Er setzte sich zu Benedikt an den Küchentisch und zwinkerte ihm zu. »Ziemlich jung noch. Keine dreißig. Ein bisschen spitzzüngig, aber das gefällt mir. Besser als so ein braves Mäuschen. Ich glaube, wir werden prima zurechtkommen.«

»Du nimmst sie also?«

»Klar. Die anderen, mit denen ich gesprochen habe, machen zwar auch geile Fotos, aber die haben nicht so einen süßen Hintern.«

»Vor allem der alte Mann nicht.« Benedikt lächelte schwach. »Du bist unmöglich, Marc.« Dann stellte er den Kaffee ab und ging auf die Tür zu. Er war nicht in der Stimmung, über hübsche Frauen zu sprechen. Falsches Thema. Er hätte nicht davon anfangen sollen. »Ich geh mal duschen. Vielleicht fühle ich mich danach ein bisschen besser. Und dann stürze ich mich in meine tägliche Lieblingsbeschäftigung.« Er grinste sarkastisch und deutete auf die Tageszeitung, die auf dem Tisch lag. »Stellenangebote durchpflügen.«

*

Schon von Weitem war die hell erleuchtete Stelle im Rheinpark gut zu erkennen. Manfred stellte den Wagen am Straßenrand ab.

»Darf man hier parken?« Katrin sah ihn stirnrunzelnd an.

»Nee.« Er schob die Tür auf und stieg aus. Achselzuckend folgte Katrin seinem Beispiel. War ja nicht ihr Knöllchen. Manfred hatte nicht auf sie gewartet, sondern war mit langen Schritten quer durch den Park auf die Polizeiabsperrung zugestiefelt. Jetzt diskutierte er mit dem Streifenbeamten, der dort stand und die Neugierigen im Zaum hielt.

»Sagen Sie Halverstett nur, dass ich hier bin. Er kennt mich. Das ist doch wohl nicht zuviel verlangt.«

Der Polizist blieb eisern. »Es gibt sicherlich nachher eine Pressekonferenz. Da werden Sie alles erfahren.«

Manfred schnaubte wütend und wandte sich ab. Katrin grinste. »Und nun?«

Ihr Freund machte eine vage Kopfbewegung. »Hier entlang.« Gemeinsam trotteten sie an dem rotweißen Band entlang Richtung Rhein. Hier standen weniger Schaulustige. Die Beamten waren alle beschäftigt. Keiner beachtete sie, als Manfred einen langen Schritt über das Band machte und Katrin ihm zögernd folgte.

Sie sahen den Baum bereits aus einigen Metern Entfernung. Er stand unmittelbar an der Mauer. Dahinter, ein wenig tiefer,lag dunkel schimmernd der Rhein. Einer der unteren Äste stand fast waagerecht vom Stamm ab. Kraftvoll streckte er sich nach Süden aus, so als wolle er den Weg in die Altstadt weisen. An dem Ast baumelten zwei Seile, deren untere Enden eine Schlinge zierte.

Unter dem Baum stand Kriminalhauptkommissar Klaus Halverstett und beobachtete missmutig, wie eine junge Frau sich an zwei reglos am Boden liegenden Gestalten zu schaffen machte. Links von Halverstett parkte ein Einsatzfahrzeug der Feuerwehr. Eine Frau mit kurzenroten Haaren und leuchtend heller Steppjacke stand neben Halverstett und unterhielt sich mit der Ärztin. Es war seine Partnerin Rita Schmitt.

Jetzt blickte Halverstett auf und entdeckte Katrin und Manfred. »Kabritzky!« Er marschierte auf sie zu. »Bist du wahnsinnig geworden? Du hast keine Sonderrechte! Hier trampeln schon genug Leute rum und zerstören Spuren. Du kriegst echt Ärger, wenn du nicht sofort verschwindest!«

Manfred zuckte zusammen. »Schon gut, Kollege«, sagte er und trat einen Schritt zurück.

»Wir sind keine Kollegen«, fauchte Halverstett. »So weit käme es noch! Und jetzt weg hier. Alle beide. Pressekonferenz heute Mittag.«

Katrin und Manfred wandten sich hastig ab.

»Der ist aber geladen heute.« Katrin warf einen Blick über die Schulter. Halverstett stand reglos an der gleichen Stelle und blickte ihnen hinterher. Seine Hände steckten tief in den ausgebeulten Taschen seines Mantels. Sein Gesicht war starr. »Hast du eine Ahnung, was mit ihm los ist?«

Manfred stieg über die Absperrung. »Nee. Weiß ich auch nicht. Steht vermutlich ganz schön unter Druck. Zwei Gehängte im Rheinpark. Sieht mächtig nach Lynchjustiz aus. Findest du nicht?«

Katrin nickte nachdenklich. Ihr Blick wanderte zurück zu den zwei verwaisten Schlingen an dem nackten Ast, danach weiter über den Rhein. Von der Oberkasseler Brücke her näherte sich ein schwer beladener Frachtkahn. »Da ist noch etwas«, sagte sie bedächtig. »Aber ich kann es nicht greifen.«

Manfred half ihr über die Absperrung. »Weibliche Intuition?«

»Nein. Eher eine Erinnerung. Irgendwas, das ich im Kopf abgespeichert habe. Aber ich finde die Schublade nicht.«

»Na, dann mach dich mal auf die Suche.«

»Werde mir Mühe geben.«

*

Manfred setzte Katrin zu Hause ab und fuhr dann in die Redaktion des Morgenkuriers. Der Bericht über den Doppelmord würde der Aufmacher des kommenden Tages sein, und es gab noch jede Menge zu recherchieren.

Katrin stieg nachdenklich die Treppe hoch. Was war das nur, das ihr nicht einfallen wollte? Als sie den Schlüssel ins Schloss steckte, öffnete sich gegenüber die Wohnungstür.

»Frau Sandmann?«

Katrin drehte sich um. Vor ihr stand Agathe Wiese, ihre Nachbarin. Die Zweiundsiebzigjährige war noch sehr rüstig und hatte ein ausgesprochen lebhaftes Temperament. Katrin mochte sie, doch nicht immer fühlte sie sich ihrem Redefluss gewachsen.

»Guten Morgen, Frau Wiese.«

»Sie waren aber heute schon früh unterwegs.« Agathe Wiese blinzelte verschwörerisch. »Wieder auf Mörderjagd?«

Katrin riss erstaunt den Mund auf. Sie hatte nie mit ihrer Nachbarin über die Kriminalfälle gesprochen, in die sie in letzter Zeit, manchmal zufällig, manchmal jedoch auch ganz gezielt, verwickelt gewesen war. Doch schließlich hatte das eine oder andere ja auch in der Zeitung gestanden. »Ich, also …«, stotterte sie.

Ihre Nachbarin winkte ab. »Geht mich ja nichts an. Aber wenn Sie ein paar Minuten Zeit hätten. Ich hab auch frischen Kaffee aufgebrüht.«

Katrin zögerte. Eigentlich hatte sie sich im Auto ausgemalt, dass sie sich noch einmal ins Bett legen und richtig ausschlafen würde. Doch dann gab sie sich einen Ruck. Frau Wiese war bestimmt die meiste Zeit des Tages allein. Da konnte sie ihr ruhig mal eine halbe Stunde opfern.

»Gern«, antwortete sie, »Kaffee klingt gut.«

Sie folgte Frau Wiese in die Wohnung. Der verstorbene Herr Wiese hatte als Beamter bei der Stadt gearbeitet und war in seiner Freizeit als leidenschaftlicher Jäger durch die Wälder der Nordeifel gestreift. Agathe war sehr religiös. Die Wohnung stellte beide Passionen des Ehepaars Wiese zur Schau. Neben der Garderobe in der Diele hing ein gewaltiger Dreiender, darum gruppierten sich einige kleinere Trophäen. Rechts davon prangte ein Kruzifix, um das ein Rosenkranz drapiert war. Auf dem Schuhschränkchen hielt eine Madonna aus Olivenholz ihr Neugeborenes in den Armen. Auch im Wohnzimmer dominierte die Kombination aus Religion und Jagd. An der Wand hinter der grünen Sitzgruppe hing ein kitschig-buntes Madonnenbildnis, eingerahmt von Geweihen. Auf der gegenüberliegenden Seite, oberhalb des Fernsehtischchens, schmückten einige verblichene Drucke die geblümte Tapete. Allesamt Jagdszenen. Katrin war bereits einige Male kurz in der Wohnung gewesen, und jedes Mal löste der Wandschmuck ein sanftes Schaudern in ihr aus. Und den beinahe unbezwingbaren Drang, ihre Kamera zu holen.

Zu ihrer Überraschungsaß ein zweiter Gast im Wohnzimmer. Eine Frau, etwa im gleichen Alter wie Agathe, doch drahtiger. Sie trug eine Jeans, ihr fast weißes Haar war extrem kurz geschnitten, und ihre wasserblauen Augen blickten Katrin wachsam an. Agathe stellte die beiden vor. »Frau Sandmann, das ist Elfriede Thürnissen, Elli, das ist Frau Sandmann, die Detektivin, du weißt schon.«

Katrin kannte Frau Thürnissen flüchtig. Sie wohnte im Nachbarhaus und joggte jeden Morgen in aller Frühe die Düssel entlang bis zum alten Volksgarten und wieder zurück. Katrin bewunderte sie dafür, vor allem, da sie selbst sich einfach nicht dazu aufraffen konnte, regelmäßig morgens ein wenig Sport zu treiben, auch wenn sie es sich noch so fest vornahm. Verwirrt gab sie Frau Thürnissen die Hand. Mehr und mehr hatte sie das Gefühl, Teil eines Plans zu sein, den sie nicht so recht durchschaute. Agathe verschwand in der Küche.

Elfriede musterte Katrin kritisch von oben bis unten. »Bei Ihrem letzten Fall haben Sie ja ordentlich was abgekriegt, meine Liebe.«

Katrin schluckte.

»Ist Ihnen da nicht der Spaß am Detektivspielen vergangen?« Elfriede Thürnissens Blick schien sie zu durchbohren. Warum kam es ihr so vor, als werde sie einem Test unterzogen? Was hatten die beiden alten Frauen mit ihr vor? Das Ganze war vollkommen verrückt. »Ich bin keine Privatdetektivin«, korrigierte sie nun Frau Thürnissen. »Ich bin da nur zufällig in etwas reingeraten.«

»Zufällig. So, so.«

Agathe Wiese kam mit einem Tablett herein und stellte Tassen, Untertassen, eine Kaffeekanne und einen Teller mit diversen Teilchen auf dem Tisch ab. Katrin merkte, wie hungrig siewar. Agathe goss Kaffee ein. »Hast du Frau Sandmann schon von dem Fall erzählt, Elli?«

»Nein«, antwortete Elfriede, »ich hatte ja noch keine Gelegenheit.« Sie schüttete Milch in ihren Kaffee und rührte energisch in ihrer Tasse herum. »Für mich keinen Kuchen«, sagte sie, als Agathe ihr eine Nussecke auf den Teller legen wollte.

»Aber Sie sehen ganz ausgehungert aus, Frau Sandmann.« Agathe hielt Katrin den Kuchenteller hin. »Was möchten Sie haben? Bienenstich, Hefeschnecke oder vielleicht eine Nussecke?«

»Bienenstich wäre schön.« Katrin hielt ihr den Teller hin und versuchte, nicht zu gierig auszusehen. Während sie mit der Gabel ein Stück ablöste, fragte sie: »Was ist das für ein Fall, von dem Sie da geredet haben?«

Agathe lächelte sie an. »Ein Auftrag für Sie, mein Kind. Natürlich nur, wenn Sie wollen.«

»Klar will sie«, mischte Elfriede sich ein. Sie ließ den Kaffeelöffel klirrend auf die Untertasse fallen. »Junge Frauen sind von Natur aus neugierig. Außerdem kann sie meine arme Schwester nicht im Stich lassen. Wo ihr doch sonst keiner helfen will. Diese arroganten Schnösel. Aber die brauchen wir nicht mehr. Jetzt, wo Frau Sandmann uns hilft.«

3

»Beide haben sich offensichtlich gewehrt.« Maren Lahnstein, Leiterin des gerichtmedizinischen Instituts der Heinrich-Heine-Universität, sah kurz zu Halverstett, dann beugte sie sich wieder über die tote Frau. »Hier, sehen Sie: ein Hämatom an der Schulter. Die Verletzung wurde ihr zugefügt, als sie noch lebte. Allerdings nicht lange vor ihrem Tod. Auch hier.« Sie deutete auf die Beine. »Abschürfungen. Ihre Strumpfhose war an mehreren Stellen aufgerissen. Sie wurde ein Stück über den Boden geschleift. Und bei ihm …« Maren Lahnstein hatte sich umgedreht und beugte sich jetzt über den Mann. »Bei ihm haben wir eine ähnliche Situation. Eine Verletzung an der Schläfe. Ein Schlag mit einem schweren, kantigen Gegenstand.«

Halverstett beugte sich über die Wunde. »Könnte jemand mit einer Schusswaffe zugeschlagen haben?«

Maren Lahnstein nickte. »Durchaus möglich. Und hier an den Beinen. Ganz ähnliche Schleifspuren wie bei der Frau. Nur nicht so ausgeprägt. Er trug ja auch eine Hose.«

Jemand räusperte sich im Hintergrund. Staatsanwalt Fischer versuchte eine gute Figur zum blassen Gesicht zu machen und deutete fachmännisch auf die braunrote Strangmarke, die auf dem Hals des Mannes schräg nach oben bis hinter die Ohren wanderte, wo sie sich deutlich von der bleichen Haut des Opfers absetzte. »Ich nehme an, das ist die Todesursache?« Er sah die Ärztin an.

Maren Lahnstein nickte. »Typischer Erhängungstod. Kommt nur noch sehr selten vor. Bei Selbstmördern und Unfallopfern haben wir es meistens mit atypischen Fällen zu tun.«

»Suizid kann vollständig ausgeschlossen werden?« Fischer blickte konzentriert auf die Ärztin. Seine Hand fuhr nervös über seine Jacketttasche, wo das Päckchen Zigaretten auf ihn wartete.

Maren Lahnstein sah kurz zu Halverstett. Er meinte, ein schwaches Grinsen zu erkennen. Doch dann war ihr Blick wieder ernst. »Der Ast war mehr als drei Meter vom Boden entfernt. Weit und breit war keine Leiter zu sehen, wenn ich mich recht erinnere, oder sonst irgendein Hilfsmittel, um auf den Baum zu steigen. Dann noch die Verletzungen, die eindeutig darauf hinweisen, dass es vorher eine Art Kampf gab. Ja, ich denke, Suizid können wir ausschließen.« Sie blickte erneut zu Halverstett, der zerstreut nickte.

Staatsanwalt Fischer hielt es nicht mehr aus. »Ich muss jetzt. Ein dringender Termin. Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. Ist ja auch alles geklärt.« Er schenkte der Gerichtsmedizinerin das charmanteste Lächeln, zu dem er unter den gegebenen Umständen fähig war, und rauschte aus dem Raum.

Maren Lahnstein lächelte. Ihre Augen blitzten schelmisch. »Nicht sehr belastbar, der Herr Staatsanwalt.«

»Immer schon so gewesen. Aber davon sollten Sie sich nicht täuschen lassen. Ansonsten ist er knallhart, was seine Arbeit angeht. Und sehr kompetent. Das hier ist halt nicht jedermanns Sache. Meine auch nicht unbedingt, wenn Sie mich fragen.«

»Aber Sie stehen es mit sehr viel Würde durch.« Marens Lächeln wurde eine Spur wärmer. Ihr rotbrauner Pferdeschwanz wippte, als sie den Kopf zur Seite neigte.

»Es sind schließlich Menschen«, antwortete Halverstett. »Menschen, denen Schreckliches angetan wurde. Und ich will denjenigen finden, der dafür verantwortlich ist.«

»Das werden Sie bestimmt.«

Halverstett wandte sich ebenfalls zum Gehen. »Ich bin dann auch weg. Wann kann ich mit Ihrem Bericht rechnen?«

»Morgen früh.« Maren Lahnstein strich sich über den Kittel. »Ach, noch etwas, Herr Hauptkommissar. Ich habe heute Abend ein paar Gäste. Gute Freunde. Es gibt etwas zu feiern. Ich würde mich freuen, wenn Sie ebenfalls kämen. Pionierstraße zehn. So gegen acht?«

Halverstett, der bereits im Begriff war, die Tür aufzuschieben, hielt überrascht inne. »Ich?«

Maren Lahnstein lächelte immer noch. Ihr ebenmäßiges Gesicht leuchtete. »Ja. Sie. Sie sind ein sehr angenehmer Mensch. Ich unterhalte mich gern mit Ihnen. Und ich hätte Lust, einmal ein anderes Thema anzuschneiden. Nicht immer nur Gewalt und Tod. Also, darf ich mit Ihnen rechnen?«

Ehe er richtig wusste, was er tat, nickte Halverstett. »Gut. Wenn Sie darauf bestehen.« Ungelenk schloss er die Tür hinter sich und schlenderte den Gang entlang. Seine Schritte waren mit einem Mal federleicht. Selbst der Gedanke daran, dass Veronika sicherlich wieder sauer sein würde, weil er jetzt auch seine wenige Freizeit mit Menschen verbrachte, mit denen er beruflich zu tun hatte, konnte seiner guten Laune nichts anhaben. Auf dem Weg zum Wagen erwischte er sich dabei, dass er gar nicht mehr an die beiden Toten in dem Obduktionssaal dachte, sondern nur noch darüber nachgrübelte, welche Blumen er Frau Doktor Lahnstein am besten mitbringen sollte.

*

»Na dann, auf gute Zusammenarbeit!« Marc Simons hob sein Sektglas. Seine Augen funkelten, und eine blonde Strähne hing ihm schon wieder tief in die Stirn.

Katrin nippte. Dann blickte sie sich neugierig um. Marc Simons’ Wohnung sah ganz anders aus, als sie erwartet hatte. Die Wände des Wohnzimmers bestanden fast nur aus Bücherregalen, in denen sich Bildbände, Zeitschriften und Ordner eng aneinanderquetschten. Selbst auf dem Esstisch aus dunklem Holz, der unter dem Fenster stand, stapelten sich Bücher. Es waren fast alles Bände über Düsseldorfer Stadtgeschichte, soweit sie erkennen konnte. Die meisten stammten aus der Bücherei. Daneben lagen verschiedene Zeitungen, in denen manche Stellen mit Textmarker angestrichen waren. Marc Simons war ihrem Blick gefolgt. »Mein Bruder. Er hat dieZeitungen auf dem Gewissen.« Er grinste und nahm einen Schluck Sekt. »Er ist gerade auf Jobsuche.«

»Ach, Ihr Bruder wohnt auch hier?«