Blutwasser in Weißensee - Andreas Schramm - E-Book

Blutwasser in Weißensee E-Book

Andreas Schramm

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Beschreibung

"Das Mittelalter ist nicht vergangen. Es liegt irgendwo in Thüringen. Jeder kann hineingeraten und darin zum Staub der Geschichte verfallen." Ohne jede Spur verschwindet der Hobbyhistoriker Ernst Steinhöfer aus dem beschaulichen Weißensee in Thüringen. Die Ermittlungen der erfahrenen Erfurter Beamten stocken, bis ihre Praktikantin erkennt: Es handelt sich nicht um das erste mysteriöse Verschwinden. Der Fall erscheint als Widerhall eines Verbrechens, das die Bewohner der Stadt in längst vergangener Zeit gemeinschaftlich begangen haben. Doch ist das möglich? Wiederholt sich die schreckliche Tat, weil doch die gleichen Menschen mit derselben Gier in denselben Mauern wie vor Hunderten Jahren leben?

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Seitenzahl: 194

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Impressum

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.

Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.

© 2025 novum publishing gmbh

Rathausgasse 73, A-7311 Neckenmarkt

[email protected]

ISBN Printausgabe: 978-3-7116-0186-5

ISBN e-book: 978-3-7116-0187-2

Lektorat: Thomas Schwentenwein

Umschlagfoto: Andreas Schramm

Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh

www.novumverlag.com

Blutwasser in Weißensee

Wo liegt das Mittelalter?

Wie eine Jahrmillionen alte Erdschicht, die unter geologisch jüngeren Abschnitten liegt, manchmal die Oberfläche durchbricht und zutage tritt, so verbirgt sich unter unseren Füßen auch eine Schicht aus Fundamenten und Mauerresten, in denen sich das Leben der Menschen vor einigen Hunderten Jahren abspielte. An einem Ort in Thüringen scheint es so, als ob diese Schicht die neue Erde durchbrochen hat und ans Licht gelangt. Häuser, Straßen, ja die ganze Stadt stammen noch aus dieser Zeit.

Im Laufe der Jahrhunderte immer wieder umgebaut, sind die Häuser zwar uralt, aber keine Zierde. Ihr historischer Wert ist umstritten. Soll man sie nun unter Denkmalschutz stellen oder behindert man so die normale Stadtentwicklung? Schließlich lässt es sich in solchen Häusern nicht unbedingt gut wohnen. Sie so erhalten zu müssen würde jungen Menschen einen weiteren Grund liefern, aus ihrer Heimat abzuwandern.

Doch manchmal finden Schatzsucher oder auch ganz normale Hauseigentümer etwas Kostbares aus uralten Zeiten. Die ‚Himmelsscheibe von Nebra‘ und der ‚Erfurter Schatz‘ sind die bekanntesten Fälle, die Stars unter den Funden. Aber wem gehört das eigentlich? Gehört es nicht denen, die jetzt hier leben, die jetzt die Häuser besitzen? Letztlich müssen sie ja auch dafür aufkommen, wenn etwas einzustürzen droht. Sie tragen die Bürde, in den alten Buden leben zu müssen. Sie haben die Häuser geerbt und wenn beim Umbau mal etwas Wertvolleres als Dreck zum Vorschein kommt, dann haben sie das natürlich mitgeerbt!

So leicht, fast unmerklich, überschreitet man die Grenze, beginnt der Einstieg in die Kriminalität, denn von nun an entwickeln die Dinge sich nach ihrer eigenen, schicksalhaften Logik. Wiederholen sich dann die Schrecken des Mittelalters, weil doch die gleichen Menschen wie vor Hunderten Jahren mit derselben Gier wie vor Hunderten Jahren in denselben Mauern leben?

Es sind die Menschen selbst, die mit ihrem Handeln das dunkle Mittelalter immer wieder erwecken, aber es auch immer wieder überwinden können. Das Mittelalter ist nicht vorbei. Es liegt irgendwo in Thüringen und jeder kann hineingeraten und darin zum Staub der Geschichte verfallen.

Weißensee, 12 Jahre zuvor

Das Lenkrad zitterte plötzlich und der alte Daimler schwankte vor und zurück. In Sekundenbruchteilen war er hoch konzentriert, bereit, durch Bremsen und Gegenlenken die Kontrolle wieder zu erlangen. Der Puls schnellte hoch. Instinktiv war sein Fuß auf der Bremse gelandet und hatte dabei kurzzeitig das ABS ausgelöst.

Doch es gab überhaupt keine gefährliche Situation, keinen Reifenschaden, keine Ölspur. Was war gerade passiert? Schließlich war er hier nicht auf einer verschneiten Landstraße unterwegs, sondern mit 55 km/h in einer Kleinstadt in Thüringen. Okay, nach dem Bremsmanöver waren es nur noch 25 km/h. Einige Anwohner hatten den Bremsvorgang registriert und schauten zu ihm. Einer schüttelte den Kopf.

Er hatte schlicht und einfach den Zustand der Straße, deren Asphaltdecke plötzlich durch uraltes Kopfsteinpflaster abgelöst wurde, völlig unterschätzt. Jetzt ärgerte er sich. Hatte er doch wenige Meter vorher dieses merkwürdige Verkehrsschild gesehen, das schlingernde Auto mit dem Hinweisschild ‚Oberflächenwechsel‘. Doch anstatt der Beschaffenheit der Straße mehr Aufmerksamkeit zu schenken, hatte er sich nur gefragt, was es mit dem Schild wohl auf sich habe. Während sein Puls sich allmählich beruhigte, fluchte er laut vor sich hin.

‚Straße zu Ende‘ hätte es heißen müssen!

Dabei war er, wie so oft, alleine im Auto. Für seine Geschäfte konnte er keine Zeugen gebrauchen. Sein Geschäftsfeld befand sich am Rande der Legalität, nur eben auf der anderen Seite. Es war also, wie man so schön sagt: fast legal. Doch niemand kam durch sein Handeln zu Schaden, niemanden wurde etwas weggenommen. Das hätte er auch nicht gewollt, dann hätte er es auch nicht gemacht. Er war ein anständiger Mensch und haute keinen übers Ohr. Vermutlich war er deswegen nie zu nennenswertem Reichtum gelangt. Er war ein Händler, ein spezialisierter Händler, ein Experte auf seinem Gebiet und er war mit sich zufrieden. Doch in letzter Zeit wurde ihm bewusst, dass ihm durch seine Gutmütigkeit auch viel Geld durch die Lappen gegangen war. Geld, das ihm spätestens dann fehlte, wenn er aus Altersgründen diesen Job nicht mehr machen konnte. Schließlich konnte er von seinen Nebeneinkünften keine Rentenbeiträge zahlen. Irgendwann konnte er sich den Luxus, immer ehrlich mit seinen Kunden umzugehen, nicht mehr leisten. Irgendwann musste er der Realität ins Auge sehen und, wie die meisten anderen seiner Zunft, deren Ahnungslosigkeit ausnutzen. Bei diesem Gedanken fühlte er sich unwohl, aber es ging wohl nicht anders.

Hier im Osten gab es noch viele kleine Schätze. Die Kunde von einem solchen Fund wurde mündlich weitergetragen und verbreitete sich nur unter einer kleinen Klientel aus Schatzsuchern und Händlern wie ihm. Sie hatte ihn letztlich im heimischen Ruhrpott erreicht und ihn so zu diesem Ort gelenkt.

Trotz der Schrecksekunde, die das Straßenpflaster verursacht hatte, richtete sich seine Aufmerksamkeit erneut nicht mehr auf die Fahrbahn. Vielmehr war es die Umgebung, die ihn fesselte. Mit dem Ende der Asphaltdecke begann ein Ort, dessen Häuser und Straßenzüge dem Mittelalter entsprungen schienen. Hier konnte man sehen, wie es wirklich war: krumm und schlicht, mitunter auch grau und dreckig, nicht bunt angemalt, wie manches Fachwerkstädtchen vorgaukelt, ebenso wie das Leben der Menschen damals. Nein, nicht ‚Oberflächenwechsel‘, sondern ‚Zeitsprung‘ hätte auf dem Verkehrsschild stehen müssen.

Runneburg, 11 Jahre zuvor

„Klick, klick, klick, klick, klick …“ Das Einrasten der Sperrklinke, ein Geräusch, das seit Hunderten Jahren in Weißensee nicht mehr zu hören war, wurde untermalt vom Stöhnen der zehn Männer, die nicht mit einer solchen Anstrengung gerechnet hatten. War es am Anfang noch ein lautes „Hau ruck“, in das mehr oder weniger jeder einstimmte, hatte man schnell gemerkt, dass gleichmäßiges Drehen besser ist als ruckartige Bewegungen, und überdies hatte jeder unterschiedliche Kraftreserven, was sich nun im unterschiedlichen Takt bemerkbar machte. Es hatte auch längst keiner mehr die Puste, „Hau ruck“ zu rufen. Es würde viel länger dauern, als anfangs gedacht. Zehn Minuten waren schon vergangen und aus dem reinen Spaß war eine Kraft-Ausdauerübung geworden, die jedes Muskeltraining im Fitnessstudio als Spielerei entlarvte. Immerhin konnte man an der Höhe des Kastens den Fortschritt erkennen. Man konnte es sogar fühlen. Der ganze Apparat war aus Holz und die gespeicherte Energie ließ die Balken unwirklich verspannen. Je mehr man sich dem magischen Punkt näherte, umso geringer wurden die Kräfte der Männer, umso mehr wuchs die Anspannung bei allen Beteiligten. Vor allem der TÜV-Mitarbeiter schien sich seiner Sache gar nicht mehr so sicher. Was für eine Schnapsidee, das Ding nach mittelalterlichen Plänen originalgetreu nachzubauen! Als ob die damals Sicherheitsfaktoren und geprüfte Werkstoffe gehabt hätten. Auf den Plänen sah der Apparat noch völlig harmlos aus. Darum hatte sein Chef auch gleich eingewilligt, Konstruktion und Bau zu überwachen. Schließlich ist das ja auch eine gute Werbung für den TÜV. Doch jetzt sah man erst die wirkliche Größe des Gestells und man spürte förmlich, wie sich die Balken unter der Last verformten. Das Ding kam ihm vor wie eine überdimensionale Mausefalle, die jederzeit zuschnappen konnte. Was ist, wenn jetzt etwas schief geht? Er versuchte, sein Unbehagen nach außen zu überspielen.

Der Einzige, der wie gewohnt Sicherheit und Souveränität ausstrahlte, war Ernst Steinhöfer, der Initiator des Projektes, ein umtriebiger Mensch, der sich seiner Heimatstadt schon immer in besonderer Weise verbunden fühlte. Im Burgverein war man froh über diesen Glücksfall. Das Projekt hatte nicht nur sehr viel Aufmerksamkeit erzeugt, sondern es hatte auch junge Leute begeistert, sodass der Verein nicht mehr länger nur aus Pensionären bestand, sondern viele Junge hinzugekommen waren. Für Nachwuchs und Fortbestand war gesorgt. Einzig Ernst Steinhöfer wusste die Wahrheit: Es war genau umgedreht. Die Überlegung, wie man den Verein interessanter machen konnte, hatte ihn zu dieser Idee geführt.

Als Konstrukteur kannte Ernst die Schwachstellen und Unwägbarkeiten des Apparates besser als der Beauftragte vom TÜV, dessen Zutun nur eine juristische Alibifunktion erfüllte. Mit einem lauten „Haaalt“ erlöste Ernst schließlich die 10 jungen Männer, die sofort in sich zusammensackten wie Marathonläufer hinter der Zielmarkierung. Nach einer kurzen Inspektion gab er schließlich sein Okay. Die Ehre des Bliedenmeisters oblag dem Hauptsponsor, Rainer Lambrecht. Auch er näherte sich dem Apparat mit einer Ehrfurcht, die augenblicklich in Furcht und Flucht umschlug, als er die Verankerung löste. Nun hatte keiner mehr Einfluss auf das Geschehen. Der 40 Kilogramm schwere Brocken raste zuerst durch die hölzerne Rinne, die ein seitliches Ausbrechen verhinderte. Danach schleuderte der Brocken, von Seilen geführt, auf einer Kreisbahn, bis er schließlich in großer Höhe den Ledersack verließ und mit einem unwirklichen Heulen 300 Meter durch die Luft schleuderte, bevor er letztlich recht unspektakulär auf der Wiese vor der Burg einschlug. Dieser Anblick und das Geräusch versetzten das zahlreiche Publikum hörbar in Erstaunen und ging in tosenden Applaus über. Der entschädigte für die jahrelange Mühe, welche Planung und Bau der Steinschleuder gekostet hatten. Obwohl sie nichts getroffen hatten als die Wiese vor der Burg, war dieser Schuss ein Volltreffer für den Verein, dessen Spendenkiste an diesem Tag klingelte wie nie zuvor, und auch für Ernst Steinhöfers Engagement für die Stadt und seinen Verein. Er hatte heute seine zahlreichen Kritiker überzeugt. Weißensee hatte nun ein neues Zugpferd, etwas, wofür sich Jung und Alt begeistern konnten, etwas, was es nicht überall gab. Eine spektakuläre Attraktion, die die Einwohner zugleich mit der Geschichte ihrer eigenen uralten Stadt verband.

Weißensee, 12 Jahre zuvor

Es war schon Nachmittag, als es plötzlich klingelte. Im typischen Blaumann, von Kopf bis Fuß, und mit einem Staubschleier, der durch wenige abrinnende Schweißtropfen unterbrochen wurde, öffnete Karsten Lehmann die Haustür.

„Guten Tag“, schallte es ihm freundlich entgegen. Lehmanns Blick aus der erhöhten Tür ging über den Kopf des Mannes und erfasste einen ockerbraunen Daimler aus den Achtzigern auf der gegenüberliegenden Straßenseite.

„Sie sind der Mann, der sich für meinen Fund interessiert?“

Ein kurzes Stoßlachen gefolgt von einem „Ja, sieht man das?“ zeigte Lehmann, dass er richtig lag.

„Kommen Sie mit!“, ertönte die gleichmäßig monotone Stimme.

Erst jetzt ließ er den Mann herein, der seinen Namen in der Regel verschwieg und der wie ein bunter Vogel in grauer Umgebung wirkte. Der Händler war Lehmann sofort unsympathisch. Im Grunde war er das bereits, bevor er ihn kennengelernt hatte. Ein Händler schafft nichts mit seinen Händen. Er lebt davon, andere über den Tisch zu ziehen. Und noch dazu ein Wessi! Nachdem sie einen heruntergekommenen Flur durchlaufen hatten, führte eine ausgetretene Steintreppe in den Gewölbekeller. Beim Abstieg über die jahrhundertealte Steintreppe schlug ihnen ein seltsamer Geruch entgegen, nur ein Hauch und doch markant. Unten angekommen wurde dem Besucher klar, mit welcher staubigen Arbeit sich der Mann abgerackert hatte. Die Decke war für jemanden mit Lehmanns Statur zu niedrig. Darum hatte er damit begonnen, die alten Sandsteine aus dem Boden herauszunehmen und den Grund um 40 Zentimeter zu vertiefen. Bis auf eine alte Kommode im hintersten Winkel und zahlreiche Werkzeuge war der Raum leer. Lehmann steuerte auf die Kommode zu und entnahm etwas. Während er sein Gegenüber mit einem vielsagenden Blick in die Augen fixierte, hielt er ihm plötzlich eine große alte Silbermünze zwischen Daumen und Zeigefinger entgegen. „Oha!“ Die Überraschung war offensichtlich geglückt. Mit einer Uhrmacherlupe, die er stets in seiner Aktentasche mit sich führte, machte sich der Händler sofort ans Werk. Er drehte sich dabei zum spärlichen Licht und wendete die Münze immer und immer wieder.

„Ich habe sie ein bisschen poliert. Es sind 52 Stück!“

Lehmanns Stimme klang plötzlich eifrig und begeistert. Er hatte tatsächlich einen Schatz gefunden! Endlich hatte ihm dieser alte Kasten mit seinem morschen Balken und dem engen Keller, den er geerbt hatte, auch mal Glück gebracht. 52 riesige Silbermünzen waren unter einem der Sandsteine zum Vorschein gekommen. Doch er konnte nicht einschätzen, was sie wert waren. Die Münzhändler waren angehalten, Schatzsucher anzuzeigen. Er hatte sich einen Katalog besorgt, doch genau diese Art Münzen war nicht angeführt. Jedenfalls gingen die Preise hoch bis auf eintausend Euro. Ein neues Auto? Vielleicht sogar ein neues Haus? Was war für ihn drin?

Der Händler starrte noch immer durch die Lupe auf die Münze, was Lehmann als gutes Zeichen deutete. Er ahnte nicht, dass der längst erkannt hatte, was er in seiner Hand hielt, und bloß noch überlegte, wie hoch sein Gebot sein sollte. Abrupt nahm er die Lupe runter.

„Ich gebe Ihnen 12 Euro pro Münze.“

Lehmann starrte ihn fassungslos an.

„Das ist nicht Ihr Ernst!“

Seine Mimik verfinsterte sich schlagartig. Mit einem kurzen Winken der Hand zeigte er an, dass er die Münze zurückhaben wollte. Er steckte sie sich einfach in die Jackentasche. Kopfschüttelnd griff er nach seinem Werkzeug und ging einfach wieder seiner Arbeit nach, die darin bestand, eine außergewöhnlich große Sandsteinplatte auf dem Boden vor dem Abtransport zu teilen. Sein Gegenüber betrachtete er gar nicht mehr. Der würde den Ausgang schon alleine finden. Die Kerben an den Seiten der Platte zeigten an, dass er sich eigentlich Stück für Stück mit einem Meißel von außen nach innen vorgearbeitet hatte. Doch nun bearbeitete er die Platte, indem er einfach mit einer Spitzhacke planlos auf die Mitte einschlug. Die Schläge wurden ständig intensiver. Immer wieder prallte die Spitzhacke beim Ausholen an die Gewölbedecke und schlug dabei schon Funken. Der ohrenbetäubende Lärm schallte von den Wänden zurück. Es wurde immer lauter. Lehmann schlug mit unbeherrschter Wut zu. Es gor in ihm, doch der Geschäftsmann ließ nicht locker. „Die Münzen … kann ich nicht … nicht …“ Mehr war nicht zu verstehen, es war einfach zu laut. Schließlich nahm er ein Bündel Geldscheine aus seiner Aktentasche heraus und hielt es ihm mit ausgestrecktem Arm beschwörend hin, als ob er einen Hund mit Hundekuchen locken wollte. „Ich habe … Geld … sofort haben.“ Nach seiner Einschätzung stand der Deal kurz vor dem Abschluss, doch in Wahrheit hatte er die Situation völlig falsch eingeschätzt. Immer näher kam er der Bahn der Spitzhacke, die, von Zorn und Raserei angetrieben, immer unberechenbarer wurde. Mit den Füßen auf dem oberen Ende der Platte stehend, spürte er den Impuls der Schläge durch den Stein. Jeder wäre instinktiv zurückgewichen, doch er war nun mal in seinem Element. Er war Händler und er stand kurz vor einem Geschäft. „Ich er… …gebot auf 15 Euro.“ Er war noch einmal einen Schritt auf Lehmann zugegangen, der nun vollends die Kontrolle über sich und sein Werkzeug verloren zu haben schien. Nachdem die Spitzhacke mit dem breiten Teil an die Decke angestoßen war, zog sie, mit der Spitze voran, ihre Bahn nach unten. Sie verfehlte den Arm des Geschäftsmannes nur um wenige Zentimeter, rauschte weiter ungebremst nach unten in Richtung seines Fußes und traf letztlich mit voller Wucht auf die Sandsteinplatte, die augenblicklich mittig zersprang und ohne den geringsten Zeitverzug irgendwo nach unten fiel – mit ihr der Geschäftsmann, der sich gerade noch am Rand festhalten konnte. Lehmann trat instinktiv einen Schritt nach hinten, aber nun begriff er die Gefahr, in welcher der andere schwebte. Während immer mehr Steine nachgaben und in dem Loch verschwanden, hatte er sich geistesgegenwärtig hingelegt und bekam den schreienden Mann am Kragen der Jacke zu fassen. Doch es rutschte immer mehr Erde nach. Auch die Steine, an denen sich der Geschäftsmann verzweifelt festklammerte, kamen ins Rutschen. Langsam, die Arme nach oben gestreckt, laut schreiend, verschwand er immer weiter in dem Loch. Lehmann zog nach Kräften. Es gelang ihm tatsächlich, das Gewicht nach oben zu heben, doch je weiter er es herauszog, umso leichter schien der Mann zu werden. Schließlich wurde das Gewicht ganz leicht und alles, was nach oben kam, war die Jacke des Mannes. Dessen Schreie entfernten sich und wurden inzwischen vom Getöse des nachrutschenden Gerölls völlig übertönt, während Lehmann sich mit der anderen Hand vom Loch zurückzog, um nicht selber kopfüber abzustürzen.

Als die Lawine aus Geröll zum Erliegen gekommen war, offenbarte sich ein rundes Loch. Die plötzliche Ruhe wirkte gespenstisch. Hilflos rief Lehmann ein „Hallo?“ in das Loch, ohne daran zu glauben, dass da noch eine Antwort kommen würde. Er legte eine Leiter darüber und kroch so weit, bis er von oben hineinschauen konnte. Eine gespenstische Dunkelheit starrte ihm von unten entgegen. Nichts rührte sich mehr. Schnell schloss er seine alte Baulampe an die Verlängerung an und ließ sie langsam am Kabel hinab. Die Lampe bestand nur aus einem geraden Schirm mit einer Glühbirne darunter. Das Licht reichte aus, einen rund gemauerten Rand um die Lampe herum zu beleuchten. Nach unten blieb alles schwarz. Zu Lehmanns Erstaunen war das Loch viel tiefer als erwartet. Erst als die Kabeltrommel schon fast abgerollt war, kam unverhofft die Wasseroberfläche zum Vorschein. Sie war völlig schwarz, beinahe hätte er die Glühbirne ins Wasser eingetaucht. Nur an den kreisrunden Wellen und dem markanten Plumps eines kleinen Steines, der sich oben gelöst hatte und reingefallen war, war das Wasser zu erkennen.

Nachdem er die Lampe wieder hochgezogen hatte, musste er sich erst einmal an die Seite setzen und tief durchatmen. Was war eben geschehen? Der Händler war auf jeden Fall tot! Was immer er jetzt tun würde, wen immer er jetzt informieren würde, nichts davon würde dem Toten helfen. Aber ihm würde es schaden. Sie würden fragen, was dieser Mensch hier im Keller zu suchen hatte, und früher oder später würden sie auf seinen Schatz stoßen, ihm bliebe nichts als eine Anzeige. Lehmann schaute in die Aktentasche. In einem offenen Umschlag entdeckte er etliche Geldscheine. Es gab noch mehr Umschläge. Die Autoschlüssel fanden sich in der Jacke des Händlers.

April 2014, Schloss Friedenstein in Gotha

In sehr seltenen Fällen gelingt es Historikern, aus uralten Schriften Ereignisse vergangener Zeiten zu rekonstruieren und somit Licht in Hunderte Jahre alte Geschichten und Gerüchte zu bringen. So kommen hin und wieder Geschehnisse ans Licht, die kollektiv in Vergessenheit geraten waren, weil sie für die Bewohner unangenehm waren – man hatte folglich nicht mehr darüber gesprochen. Gerd Schimming, seines Zeichens Historiker in der Forschungsbibliothek von Schloss Friedenstein, war sich sicher, einen solchen Fall entdeckt zu haben. Nun wollte er das Wissen weitergeben, damit es nicht wieder im Dunkel der Geschichte entschwand. Manchmal wurde daraus ein Artikel in der Zeitung, doch so interessant war es auch wieder nicht. Bestenfalls würden sich ein paar interessierte Leute aus der Region finden und vielleicht fand die Episode so Eingang in die Ortschronik. Das kam im Grunde immer darauf an, ob es jemanden gab, der ausreichend Enthusiasmus mitbrachte, es weiter zu verfolgen. In diesem Fall wurde ihm ein Mann empfohlen, der sich hobbymäßig als Stadtchronist beschäftigte und diese Aufgabe wohl mit außergewöhnlicher Leidenschaft erfüllte. So zumindest wurde es ihm vom Bürgermeister Ditfurt berichtet. Es klang ein wenig überspitzt, fast so, als wollte der Bürgermeister ihm gleichzeitig vor dem Eifer dieser Person warnen.

Schimming war es recht. Wenn man sich nicht für diese Geschichten begeistern konnte, dann wurde die Arbeit in den Archiven staubtrocken. Er sah einen Augenblick versunken zu einem Kollegen, der dafür das beste Beispiel abgab, als es kurz aber energisch an der Tür klopfte. Herein kam ein drahtiger Mann in den allerbesten Jahren.

„Herr Schimming? Guten Tag!“

„Guten Tag!“, kam es fragend zurück.

„Sie sind der Stadtchronist aus Weißensee?“

Sein Gegenüber winkt energisch ab.

„Ich mache das rein ehrenamtlich. Bin seit letztem Jahr Rentner, ein Hobby muss man ja haben und die Stadt ist so ein wertvolles Stück Geschichte. Die Häuser sind ja nur darum in ihrer Ursprünglichkeit erhalten, weil zu DDR-Zeiten kein Material da war, um irgendetwas abzureißen und neu zu bauen. Nun ist das ein Glückstreffer, aber die Leute wissen das gar nicht, was für einen Wert das hat.“

Er merkte selbst, dass er gerade mal wieder mit der Türe ins Haus gefallen war.

„Ach ja, Steinhöfer, Ernst Steinhöfer ist mein Name. Was haben Sie denn gefunden?“

„Kommen Sie mit, ich zeig es Ihnen gleich. Sehr interessant!“

Steinhöfer folgte Schimming in einen anderen Raum des weitläufigen Schlosses. Auf einem sehr modernen Schreibtisch lag eine alte handschriftliche Chronik. Während sich Schimming Handschuhe anzog, fragte er sein Gegenüber ein bisschen aus.

„Kennen Sie die Geschichte mit der Epidemie von 1478?“

Steinhöfer kannte sich aus. „Im Sterberegister sind 83 Tote eingetragen, obwohl es damals keine Pestepidemie im Reich gab. Es hielt sich lange das Gerücht, dass sich die ganze Stadt versündigt hätte.“

Schimming war begeistert von seinem Gegenüber. Er klopfte mit dem Finger auf den Tisch.

„Sie glauben es jetzt noch nicht, aber da ist vielleicht was Wahres dran. Sehen Sie hier! Die Chronik von Bischof Adalbert.“

Obwohl Ernst Steinhöfer schon des Öfteren alte Schriften in Kurrent gelesen hatte, war diese Schrift doch für ihn nicht entzifferbar. Schimming begann ab einer Stelle zu lesen, bis zu der eine Beschädigung reichte, die man nicht mehr rekonstruieren konnte:

„… gelangten in die Stadt zwei Beginen. Sie erbaten Nachtquartier in einem Wirtshaus. Bürger der Stadt, die dort zechten, begingen auf schändliche Weise Notzucht an den Begingen. Aus Furcht vor der Strafe des Bischofs mordeten sie schließlich die Frauen. Um ihre gottlose Tat zu verbergen, warfen sie die Leichname mitsamt ihren Habseligkeiten in den dortigen Brunnen und Bürger der Stadt traten hinzu und halfen, dass der Brunnen verschlossen wurde. Doch die Strafe des Herrn folgte alsbald. Der Tod kam in die Stadt und nach kurzer Zeit waren viele der Leute vom Fieber dahingerafft.“

Steinhöfer war elektrisiert. „Vermutlich haben sie damit das Grundwasser verseucht. Tief unter der Stadt gibt es ein ergiebiges Wasserreservoir, das die einzelnen Brunnen miteinander verbindet. Das ist mal eine Geschichte, der muss man nachgehen.“

„Machen Sie sich bloß nicht unbeliebt. Irgendwie wirft das ja ein zweifelhaftes Licht auf die Vorfahren der Bewohner Ihrer Stadt.“ Steinhöfer stieß ein kurzes Lachen aus.

„Ach, unbeliebt bin ich längst. Wenn man sich zu viel für den Denkmalschutz einsetzt, sind die Leute verärgert, weil sie ein paar Vorschriften einhalten müssen.“

Weißensee, großer Saal des Gasthauses „Zur Krone“

Das Gasthaus „Zur Krone“, einst als „Kaiserhof“ der Mittelpunkt des gesellschaftlichen Lebens, war eines der Häuser, welche vier Jahrzehnte DDR überstanden hatten, deren Zukunft nun aber mehr als ungewiss war. Nach jahrelangem Rechtsstreit um die Eigentumsverhältnisse fand sich endlich ein Pächter mit einem neuen Konzept. Als reine Gaststätte konnte es nicht überleben, nach der Wende waren Kneipen und Gasstätten verwaist. Niemand gab dort sein Geld aus. Der große Saal sollte eine Art Multifunktionsraum werden, der zu besonderen Anlässen umgestaltet werden konnte. Im Alltag sollte jüngeres Publikum angesprochen werden. Als Herzstück war eine Bowlinganlage geplant, daneben Billardtische, Spielautomaten und eine ansprechende Bar, ganz im Trend der Zeit. Dann aber brachte irgendwer den Denkmalschutz ins Spiel. Ein Umbau wurde nicht genehmigt. Diese Entscheidung brachte großes Misstrauen mit sich. Es entfremdete die Menschen weiter von den Institutionen, man sah sich plötzlich wieder in der alten Rolle. Hier das gemeine Volk, dort die großen und kleinen Machthaber, die alles entscheiden. Weil inzwischen auch der Stadtrat überlegte, ein neues Gemeindehaus zu errichten, natürlich mit einem großen Saal, waren die Aussichten für das Gebäude fragwürdig. Ausgerechnet der Denkmalschutz würde wohl der Tod des Gebäudes sein. Die Beamten hatten ihre Vorschriften …