Blutzoll - Tanya Huff - E-Book

Blutzoll E-Book

Tanya Huff

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Beschreibung

Unheimliche Vorkommnisse erschüttern Toronto. Drei Menschen finden unter mysteriösen Umständen auf offener Straße den Tod, und die Polizei steht vor einem Rätsel. Als sich herausstellt, dass alle drei Opfer blutleer sind, sind sich zumindest die Klatschblätter sicher: In der Stadt geht ein Vampir um! Privatdetektivin Vicki Nelson, einst eine der besten Ermittlerinnen bei der Mordkommission, hat die Polizeiarbeit vor einiger Zeit aufgegeben, und an Vampire glaubt sie schon gar nicht. Dennoch weckt die Aufklärung der geheimnisvollen Mordserie ihr Interesse, und schließlich macht sie sich im Auftrag einer Klientin auf die Suche nach dem Täter.

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TANYA HUFF

BLUT

ZOLL

URBAN FANTASY

Huff, Tanya: Blutzoll. Urban Fantasy. Hamburg, Lindwurm ­Verlag 2022

Originalausgabe

EPUB-ISBN: 978-3-948695-52-1

Dieses Buch ist auch als Print erhältlich und kann über den Handel oder den Verlag bezogen werden.

Print-ISBN: 978-3-948695-51-4

Übersetzung und Lektorat: Oliver Hoffmann, Lindwurm Verlag

Korrektorat: Velvet Noe, Hamburg

Satz: Katharina Breu, Lindwurm Verlag

Umschlaggestaltung: © Markus Weber, Guter Punkt, München

Umschlagmotiv: ©

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://www.dnb.de abrufbar.

Der Lindwurm Verlag ist ein Imprint der Bedey & Thoms Media GmbH, Hermannstal 119k, 22119 Hamburg

_______________________________

© 1991 Tanya Huff. Titel der englischen Originalausgabe: «Blood Price» (Daw Books, 1991)

© Übersetzung: Feder&Schwert/ Claudia Wittemund 2001

© Lindwurm Verlag, Hamburg 2022

Alle Rechte vorbehalten.

https://lindwurm-verlag.de/

Für John, der von Anfang an mehr als ­verständnisvoll war, was Telefonanrufe, Kopien, Gänge zum ­Postamt, Zuspätkommen, Zufrühgehen und manchmal ­Überhauptnichtauftauchen anging.

Danke Dir.

Inhalt

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„Die Autorin“

1

Ian schob die Hände tief in die Taschen und schaute missgelaunt den leeren U-Bahnsteig entlang. Seine Hände waren eiskalt, er hatte eine Scheißlaune und keine Ahnung, warum er einverstanden gewesen war, Coreen in ihrer Wohnung zu treffen. Wenn man es recht bedachte, wäre neutraler Boden deutlich besser gewesen.

Er warf einen finsteren Blick auf die Digitaluhr, die von der Decke hing.

0:17 Uhr. 13 Minuten, um von Eglinton West zur Wilson Station zu kommen, weitere sechs Blocks mit dem Bus zu fahren und dann drei Blocks zu Coreens Wohnung zu rennen. Keine Chance.

Ich werde zu spät kommen. Coreen wird stinksauer sein und das war’s dann mit unserer Chance auf eine Versöhnung. Ian seufzte tief. Es hatte zwei Stunden gedauert, sie am Telefon zu einem Treffen zu überreden. Eine Beziehung zu Coreen mochte zwar zeitaufwendig sein, aber nie langweilig. Mein Gott, was hat die Frau für ein Temperament …

Seine Lippen verzogen sich fast unbewusst zu einem Lächeln. Die Kehrseite dieses Temperaments war es absolut wert, sich auf dieses emotionale Bungee-Jumping einzulassen. Ians Lächeln wurde breiter. Coreen hatte für eine Frau, die kaum 1,55 Meter groß war, ein ganz schönes Rad ab.

Ian sah wieder auf die Uhr.

Wo zum Teufel blieb der Zug?

0:20 Uhr.

»Sei um 0:30 Uhr da oder vergiss es«, hatte sie gesagt und dabei völlig die Tatsache ignoriert, dass die Toronto Transit Commission, die allmächtige TTC, die Anzahl der Züge sonntags drastisch eingeschränkt hatte und er um diese Uhrzeit Glück haben musste, wenn er den letzten noch erwischen wollte.

Das Positive daran war, dass er, wenn er schließlich ankam, angesichts der späten Stunde und der Tatsache, dass sie beide um acht eine Vorlesung hatten, bei ihr übernachten musste. Ian seufzte erneut. Wenn sie ihn überhaupt in die Wohnung ließ.

Ian ging zum Südende des Bahnsteigs und spähte in den Tunnel. Kein Lichtschimmer, aber er spürte Wind im Gesicht, und das hieß gewöhnlich, dass der Zug nicht mehr weit war. Ian hustete, während er sich abwandte. Es stank, als sei dort drinnen etwas gestorben. Wie im Landhaus, als einmal eine Maus hinter die Wanddämmung geraten und verwest war.

»Eine beschissene Maus«, brummte er und rieb sich mit der Faust die Nase. Der Gestank füllte seine Lunge und Ian hustete wieder. Seltsam, welche Streiche einem der Verstand spielte. Jetzt, wo er darauf achtete, schien der Gestank immer stärker zu werden.

Dann hörte er etwas, das nur Schritte sein konnten, die aus der Finsternis heraus den Tunnel entlangkamen. Schwere Schritte, nicht wie die eines Arbeiters, der sich beeilte, um nach mehreren Überstunden den Zug noch zu erwischen, und auch nicht wie die eines Säufers, der sich torkelnd auf dem Bahnsteig in Sicherheit bringen wollte. Schwere Schritte, die sich Ian entschlossen von hinten näherten.

Ian weidete sich an dem heißen Entsetzen, das sein Herz in der Brust hämmern ließ und ihm den Atem abschnürte. Er wusste, wenn er sich umdrehte und hinsah, wäre die Erklärung prosaisch, also blieb er wie angewurzelt stehen, genoss das Unbekannte, solange es unbekannt blieb, und erfreute sich an dem angstbedingten Adrenalinausstoß, der seine Sinne lebendiger machte und Sekunden zu Stunden auszudehnen schien.

Er drehte sich nicht um, bis die Schritte das halbe Dutzend Betonstufen auf den Bahnsteig herunter zurückgelegt hatten.

Dann war es zu spät.

Ian hatte kaum noch Zeit zu schreien.

*

Das Kinn im Mantel vergraben – es mochte April sein, aber es war immer noch nasskalt und kein Zeichen von Frühling in Sicht –, stieg Vicki Nelson aus dem Eglinton-Bus und betrat die U-Bahn-Station.

»Was für eine Pleite«, brummte sie. Der ältere Herr, der direkt nach ihr ausstieg, gab ein fragendes Geräusch von sich. Sie warf ihm einen verdrossenen Blick zu, dann ging sie weiter. Ich bin also nicht nur eine »lausige Begleitung und so verklemmt, dass ich quietsche«, ich rede auch noch mit mir selbst. Vicki seufzte. Lawrence war attraktiv, aber nicht ihr Typ: Sie hatte keinen Mann mehr getroffen, der ihr Typ gewesen war, seit sie vor acht Monaten aus dem Polizeidienst ausgeschieden war. Ich hätte wissen sollen, dass das passieren würde, wenn ich mit einem Mann ausgehe, der bedeutend besser aussieht als ich.Keine Ahnung, warum ich die Einladung angenommen habe.

Das entsprach nicht der Wahrheit. Vicki hatte die Einladung angenommen, weil sie einsam war. Sie wusste es, sie wollte es sich nur nicht eingestehen.

Sie war die Treppe zum Bahnsteig nach Süden halb hinuntergestiegen, als sie den Schrei hörte. Oder vielmehr den halben Schrei. Er brach mittendrin ab. Ein Sprung brachte sie auf den ersten Treppenabsatz. Von dort aus sah sie nur die Hälfte der beiden Bahnsteige und hatte keinen Überblick darüber, was passiert war. Der nach Süden war näher, schneller zu erreichen.

Sie sprang zwei, dann drei Stufen auf einmal hinunter und brüllte: »Rufen Sie die Polizei!« Selbst wenn sie niemand hörte, mochte das vielleicht die Ursache des Schreis verscheuchen.

Neun Jahre bei der Truppe und sie hatte nie ihre Waffe benutzt. Jetzt hätte sie es gern getan. In neun Jahren bei der Truppe hatte sie nie einen Schrei wie diesen gehört.

Was zum Teufel tust du da eigentlich?, kreischte der vernünftigere Teil ihres Gehirns. Du hast keine Waffe! Du hast keine Rückendeckung! Du hast keine Ahnung, was da unten vorgeht! Acht Monate nicht mehr im Dienst und du hast alles vergessen, was man dir beigebracht hat! Was zum Teufel willst du eigentlich beweisen?

Vicki ignorierte die Stimme und rannte weiter. Vielleicht wollte sie wirklich etwas beweisen. Wenn schon.

Als sie auf den Bahnsteig stürmte, war ihr sofort klar, dass sie die falsche Seite gewählt hatte, und für einen Augenblick war sie froh darüber.

Auf den orangefarbenen Kacheln der Bahnhofswand war ein großer Bogen aus Blutspritzern, die sich von einem dicken roten Fleck zu einem zarten Muster aus dunkelroten Tropfen verästelten. Darunter lag, die Augen und den Mund über den zerfetzten Resten seiner Kehle weit aufgerissen, ein junger Mann. Nein: die Leiche eines jungen Mannes. Das Abendessen kam Vicki hoch, aber die Mauern, die sie während der Untersuchungen anderer Todesfälle errichtet hatte, hielten und sie zwang es wieder hinunter.

Wind kam auf und sie hörte, wie sich der Zug Richtung Norden näherte.

Das hat uns gerade noch gefehlt. Um 0:35 Uhr in einer Sonntagnacht war es möglich, dass der Zug fast leer war, sodass niemand ausstieg und die Leiche sowie die blutbespritzte Wand am südlichsten Ende des Bahnsteigs in nördlicher Richtung bemerkte. Bei ihrem Glück war es jedoch weit wahrscheinlicher, dass sich eine Gruppe von Kindern oder eine kleine alte Dame mit schwachem Herzen aus dem letzten Wagen drängten und von Angesicht zu Angesicht den starrenden Augen und dem zu einem stummen Schrei geöffneten Mund einer frischen Leiche gegenüberstanden.

Es gab nur eine Lösung,

Das Dröhnen des Zugs erfüllte die Station, als Vicki mit hämmerndem Herzen und voller Adrenalin, das in ihren Ohren rauschte, auf die Schienen in südlicher Richtung sprang. Die hölzerne Stufe über der spannungsführenden Schiene war zu weit weg, fast in der Mitte der Reihe der Betonpfeiler, daher sprang sie und versuchte nicht an die Gott weiß wie vielen Millionen Volt Elektrizität zu denken, die das Ding führte und die sie in Holzkohle verwandeln würden. Sie schwankte einen Augenblick auf der Kante des Teilers, verfluchte ihren bodenlangen Mantel und wünschte, sie würde eine Jacke tragen. Und dann, obwohl sie wusste, dass es das Dümmste war, was sie tun konnte, sah sie dem einfahrenden Zug entgegen.

Wieso ist er schon so nah? Das Licht war grell, der Lärm ohrenbetäubend. Sie fror, gefangen im gleißenden Licht und sicher, dass sie, wenn sie weiterlief, fallen würde. Dann würden die Metallräder dieses Biests sie in Stücke hacken.

Plötzlich huschte etwas Menschengroßes durch den Tunnel in nördlicher Richtung. Sie sah nicht viel, nur einen sich bewegenden Schatten, der sich schwarz gegen die größer werdenden Scheinwerfer abzeichnete, aber der Anblick riss sie aus ihrer Starre und in die Wirklichkeit der Schienen zurück.

Schlacke knirschte unter ihren Stiefeln, Metall dröhnte, dann hatte sie die Hände auf der Bahnsteigkante und schwang sich empor. Die Welt füllte sich mit Lärm und Licht und etwas strich sanft über ihre Schuhsohlen.

Ihre Hände waren klebrig, blutbedeckt, aber es war nicht ihres und im Moment war das alles, was zählte. Ehe der Zug hielt, warf sie ihren Mantel über die Leiche und zückte ihren Ausweis.

Der Zugbegleiter streckte den Kopf heraus.

Vicki schwenkte das Ledermäppchen in seine Richtung und bellte: »Die Türen schließen! Auf der Stelle!« Die noch nicht ganz geöffneten Türen schlossen sich wieder.

Sie erinnerte sich daran, wieder zu atmen, und als der Kopf des Zugbegleiters wieder auftauchte, schnauzte sie ihn an: »Der Fahrer soll per Funk die Polizei rufen. Sagen Sie, es ist ein 10-33 … Fragen Sie nicht, was das heißt!« Sie hatte die Frage kommen sehen. »Die wissen das dann schon! Vergessen Sie nicht, ihnen zu sagen, wo wir sind.« Menschen hatten in Notfällen schon Dümmeres getan. Als er wieder im Zug verschwand, warf sie einen Blick auf ihr Ledermäppchen und seufzte, dann hob sie einen blutverschmierten Finger, um ihre Brille wieder die Nase hochzuschieben. Der Ausweis einer Privatdetektivin hatte in einem solchen Fall keine Bedeutung, aber die Leute reagierten auf den Anschein der Autorität, nicht auf Einzelheiten.

Sie ging ein Stück von der Leiche weg. In deren unmittelbarer Nähe überdeckte der Gestank nach Blut und Urin – die Vorderseite der Jeans des Jungen war durchnässt – den Metallgeruch der U-Bahn. Ein einsames Gesicht spähte aus dem Fenster des nächstgelegenen Wagens. Sie fauchte die dazugehörige Person wütend an und stellte sich darauf ein, zu warten. Weniger als drei Minuten später hörte Vicki oben auf der Straße Sirenen. Sie hätte beinahe laut gejubelt. Es waren die längsten drei Minuten ihres Lebens gewesen.

Vicki hatte sie mit Nachdenken verbracht, die Blutspritzer und die Position der Leiche bedacht und das Ergebnis überhaupt nicht gemocht.

Nichts, das sie kannte, konnte mit einem einzigen Schlag Fleisch wie ein Tempotaschentuch zerreißen, und zwar so schnell, dass dem Opfer keine Zeit zur Gegenwehr blieb. Nichts.

Aber etwas hatte es getan und es war in den Tunneln.

Vicki drehte sich, bis sie in die Dunkelheit am Ende des Zuges blickte. Ihre Nackenhaare richteten sich auf. Was verbargen die Schatten? Sie bekam Gänsehaut, und zwar nicht nur wegen der Kälte. Vicki hatte sich nie für eine besonders fantasievolle Frau gehalten und wusste, dass der Mörder schon lange fort sein musste, aber etwas lauerte in diesem Tunnel.

Das unverwechselbare Poltern von Polizeistiefeln auf Fliesen brachte sie dazu, sich umzudrehen, die Hände vorsichtig seitlich weggestreckt. Polizisten, die man zu einem brutalen Mord rief und die jemanden fanden, der blutbedeckt über der Leiche stand, würde man es vielleicht nachsehen, wenn sie ein paar voreilige Schlussfolgerungen zogen.

Die Situation war einige Minuten lang chaotisch, aber zum Glück hatten vier der sechs Beamten schon von »Victory« Nelson gehört, und nachdem man einige Entschuldigungen ausgetauscht hatte, machten sie sich an die Arbeit.

»… meinen Mantel über die Leiche gelegt, habe den Fahrer die Polizei rufen lassen und gewartet.« Vicki sah, wie Police Constable West wie wild in sein Dienstbuch kritzelte, und verbiss sich ein Grinsen.

Sie erinnerte sich, einst auch so jung und eifrig gewesen zu sein. Aber das war lange her. Als West den Blick hob, nickte sie in Richtung Leiche und fragte: »Wollen Sie sie sehen?«

»Nein!« Dann fügte er etwas einfältig hinzu: »Wir sollten nichts anfassen, ehe die Mordkommission da ist.« Die Mordkommission. Vicki drehte sich der Magen um und ihre Stimmung sank auf den Nullpunkt. Sie hatte vergessen, dass sie nicht die Leitung der Untersuchung hatte. Vergessen, dass sie nur eine Zeugin war – die Erste am Tatort –, und das auch nur, weil sie ein paar äußerst idiotische Dinge gemacht hatte, um ihn zu erreichen. Durch die Uniformierten hatte sie sich kurz gefühlt wie in den alten Zeiten, aber die Mordkommission … ihre Abteilung. Nein, nicht mehr. Sie schob ihre Brille mit der Rückseite des Handgelenks die Nase hoch.

PC West, den sie ertappte, wie er sie anstarrte, wandte verwirrt den Blick ab. »Äh, ich glaube, niemand hätte etwas dagegen, wenn Sie sich das Blut von den Händen waschen.«

»Danke sehr.« Vicki zwang sich zu einem Lächeln, ignorierte aber die unausgesprochene Frage. Wie gut oder wie wenig sie sehen konnte, ging niemanden außer ihr selbst etwas an. Sollten doch neue Gerüchte in der Truppe in Umlauf geraten. »Wenn es Ihnen nichts ausmachen würde, ein paar Tempos aus meiner Tasche zu holen …« Der junge Constable steckte zögernd die Hand in die große schwarze Lederhandtasche und sah richtiggehend erleichtert aus, als er sie mit den Tempos wieder herauszog und noch alle Finger hatte. Vicki Nelsons Handtasche war bei der Polizei der gesamten Stadt und der umliegenden Bezirke legendär gewesen. Das meiste Blut an ihren Händen war zu rotbraunen Flecken getrocknet und den Rest verschmierte sie mit den Taschentüchern nur. Sie schrubbte dennoch daran herum und kam sich vor wie Lady Macbeth.

»Vernichtest du da Beweismittel?« Celluci, dachte sie. Sie haben ausgerechnet Celluci geschickt. Dieser Drecksack schlich sich immer so an. Sie und Mike Celluci hatten sich nicht gerade in gutem Einvernehmen getrennt, aber als sie sich umdrehte, gelang es ihr, ihre Gesichtszüge zu beherrschen.

»Ich versuche nur, dir das Leben noch etwas schwerer zu machen.« Ihre Stimme und ihr Lächeln waren unverkennbar falsch.

Er nickte und eine zu lange Locke seines dunkelbraunen Haars fiel ihm ins Gesicht. »Es ist immer gut, das zu tun, was man am besten kann.« Dann wanderte sein Blick von ihr zu der Leiche. »Mach deine Aussage bei Dave.« Hinter Celluci winkte sein Partner mit zwei Fingern. »Wir reden später. Ist das dein Mantel?«

»Ja.« Vicki sah zu, wie er den Rand des blutgetränkten Stoffs anhob, und wusste, dass in diesem Augenblick für ihn nur die Leiche und deren unmittelbare Umgebung existierten. Wenn ihre Methoden sich auch voneinander unterschieden, so war er bei der Erfüllung seiner Pflichten doch ebenso konzentriert, wie sie es war – gewesen war, korrigierte sie sich –, und der unausgesprochene Wettstreit zwischen ihnen hatte manch einer Ermittlung eine gewisse Schärfe verliehen. Einschließlich einiger, mit denen keiner von ihnen etwas zu tun hatte.

»Vicki?«

Sie entspannte ihren Kiefer und folgte Dave Graham ein paar Meter den Bahnsteig entlang, wobei sie immer noch an ihren Händen herumschrubbte.

Dave, der erst seit einem Monat Mikes Partner gewesen war, als Vicki die Truppe verlassen und das letzte Schreiduell stattgefunden hatte, lächelte ein wenig befangen und fragte: »Wie wäre es, wenn wir das hier streng nach Vorschrift machen?«

Vicki seufzte. »Das wäre gut.« Zuflucht vor Gefühlen in Dienstvorschriften suchen – eine weltweit verbreitete Gesetzeshütertradition.

Während sie redeten, fuhr der U-Bahn-Zug, in dem jetzt keine Fahrgäste mehr waren, langsam aus der Station.

*

»… du hast also auf den Schrei reagiert, bist auf den südlichen Bahnsteig hinuntergerannt und hast dann die Schienen vor dem Zug in nördlicher Richtung überquert, um die Leiche zu erreichen. Währenddessen …«

Innerlich krümmte sich Vicki zusammen. Dave war einer der vorurteilslosesten Männer, die es gab, aber noch nicht einmal er konnte verhindern, dass seine Meinung über ihren Stunt aus seiner Stimme herauszuhören war.

»… hast du eine menschenähnliche Gestalt in etwas, das ein loses, fließendes Kleidungsstück zu sein schien, zwischen dir und den Scheinwerfern auf die andere Seite huschen sehen. Korrekt?«

»Im Wesentlichen.« Ohne all die Einzelheiten, die sie ihm sorgfältig geschildert hatte, klang es ziemlich idiotisch, was sie getan hatte.

»Gut.« Dave schloss sein Notizbuch und kratzte sich am Nasenflügel. »Du bleibst noch?« Vicki blinzelte, als der Polizeifotograf noch eine schnelle Serie von Bildern schoss. Sie sah Mike nirgends, hörte aber, wie er im Tunnel mit seiner besten Gottes-Gabe-an-die-Kriminalpolizei-­Stimme Befehle bellte. Im Tunnel … Vickis Nackenhaare richteten sich wieder auf, als sie sich an das Gefühl erinnerte, dass dort etwas lauerte, etwas Dunkles und, wenn sie es hätte werten müssen, Böses. Plötzlich wollte sie Mike warnen. Aber sie ließ es. Sie wusste, wie er reagieren würde: genau so, wie sie im umgekehrten Fall auch reagiert hätte.

»Vicki? Du bleibst noch hier?« Das Nein lag ihr auf der Zunge. Zu gern hätte sie ihm gesagt, sie wüssten doch, wo sie sie finden konnten, wenn sie weitere Informationen brauchten. Aber Neugier – darauf, was die Polizei herausfinden würde und darauf, wie lange sie der Arbeit, die sie einst so geliebt hatte, so nahe bleiben konnte, ohne durchzudrehen – verwandelte das Nein in ein unwilliges »eine Weile«. Auf gar keinen Fall würde sie die Flucht ergreifen.

Vor ihren Augen kam Mike die Stufen zum Bahnsteig hoch und sprach mit dem Mann von der Spurensicherung, während er mit einem Arm die Schienen entlangdeutete. Der Kriminaltechniker wandte ein, dass er für seine Arbeit eine gewisse Menge an Licht brauchte, aber Celluci schnitt ihm das Wort ab.

Mit einem empörten Schnauben nahm er seinen Koffer und ging in Richtung Tunnel.

Er ist charmant wie eh und je, dachte Vicki, als Mike ihren Mantel aufhob und in ihre Richtung kam, wobei er einen kleinen Bogen um die Männer von der Gerichtsmedizin machte, die gerade den Reißverschluss über der Leiche im orangefarbenen Plastiksack zuzogen. »Sag es nicht«, rief sie, sobald er nah genug war, mit einer sorgfältig gewählten trockenen, beinahe sarkastischen Stimme, die hoffentlich nichts von den heftigen Gefühlen verriet, die in ihr tobten. »Die einzigen Fingerabdrücke am Tatort sind meine?« Es gab natürlich eine Vielzahl von Fingerabdrücken am Tatort, von denen keiner identifiziert ­worden war – das war die Aufgabe der Spurensicherung –, aber die blutigen Handabdrücke, die Vicki verteilt hatte, waren unübersehbar.

»Volltreffer, Sherlock.« Mike warf ihr den Mantel zu. »Die Blutspur führt in einen Unterstand für die Arbeiter und hört dann auf.«

Sie runzelte die Stirn, als sie sich vergegenwärtigte, was passiert sein musste, kurz bevor sie den Bahnsteig erreicht hatte.

»Hast du auf der Seite Richtung Süden nachgesehen?«

»Dort verliert sich die Spur.« Sein Tonfall ergänzte stumm: Das Ei sollte nicht schlauer sein wollen als die Henne. Er hob die Hand, um der nächsten Frage zuvorzukommen. »Ich habe eine der Uniformierten mit dem alten Mann reden lassen, während Dave mit dir beschäftigt war, aber er ist vollkommen hysterisch. Faselt ständig vom Armageddon. Sein Schwiegersohn kommt ihn holen, ich werde morgen mit ihm sprechen.«

Vicki warf einen raschen Blick über den Bahnhof, wo der alte Mann, der nach ihr aus dem Bus gestiegen und die Treppen hinuntergegangen war, mit einer Polizistin sprach. Selbst aus der Entfernung sah er schlecht aus. Sein Gesicht war grau und er schien unkontrolliert zu stammeln, während er mit seiner mageren Hand mit den geschwollenen Knöcheln den Arm der Beamtin umklammerte. Sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder Mike zu und fragte: »Was ist mit der U-Bahn? Ihr habt die Linie für den Rest der Nacht gesperrt?«

»Ja, klar.« Mike wies zum Ende des Bahnsteigs. »Ich will, dass Jake den Unterstand einstaubt.« Weitere Lichtblitze zeigten an, dass der Fotograf noch bei der Arbeit war. »Das ist nicht die Art Fall, die wir in ein paar Minuten erledigt haben.« Er schob die Hände in die Manteltaschen und machte ein finsteres Gesicht. »Wenn man auch nach der Art, wie die Transit Commission protestierte, denken könnte, wir hätten die Linie während der Hauptverkehrszeit dichtgemacht, nur um jemanden wegen unerlaubter Abfallbeseitigung zu verhaften.«

»Was für eine, äh, Art Fall ist es denn?«, fragte Vicki.

Mike zuckte die Achseln. »Sag du’s mir. Du scheinst dir größte Mühe gegeben zu haben, mittendrin zu landen.«

»Ich war zufällig hier«, antwortete sie brüsk. »Wäre es dir lieber gewesen, ich hätte den Schrei ignoriert?«

»Du hattest keine Waffe, keine Rückendeckung, keine Ahnung, was da unten vor sich ging.« Mike hakte Wort für Wort die Litanei ab, die sie sich selbst auch schon vorgebetet hatte. »Du kannst doch in acht Monaten nicht alles vergessen haben.«

»Was hättest du denn getan?«, stieß sie mit zusammengebissenen Zähnen hervor.

»Ich hätte nicht versucht, mich umzubringen, nur um zu beweisen, dass ich es immer noch draufhabe.« Die anschließende Stille lastete auf ihnen wie eine Ladung Betonklötze und Vicki knirschte unter ihrem Gewicht mit den Zähnen. Hatte sie das getan? Sie starrte auf ihre Stiefelspitzen hinunter, dann wieder hoch zu Mike Celluci. Mit 1,75 Metern musste sie nicht zu vielen Männern aufschauen, aber Mike mit seinen 1,90 Metern ließ sie fast zierlich aussehen. Sie hasste es, sich zierlich zu fühlen. »Wenn wir wieder durchkauen, warum ich die Truppe verlassen habe, bin ich sofort weg.«

Er hob die Hände in einer müden Kapitulationsgeste. »Du hast recht, Vicki. Wie üblich. Tut mir leid. Wir werden nichts durchkauen.«

»Du hast angefangen.« Sie klang feindselig – egal. Sie hätte ihrem Instinkt folgen und gehen sollen, nachdem sie ihre Aussage gemacht hatte, statt sich in diese Lage zu bringen und in Mikes Reichweite zu bleiben.

Ein Muskel an seinem Kiefer zuckte. »Wie gesagt, es tut mir leid. Mach ruhig weiter und spiel die Superheldin, wenn du willst, aber vielleicht«, fügte er mit gepresster Stimme hinzu, »will ich einfach nicht, dass du draufgehst. Vielleicht bin ich nicht bereit, acht Jahre Freundschaft einfach so beiseitezuschieben …«

»Freundschaft?« Vicki spürte, wie sich ihre Brauen hoben.

Celluci fuhr sich mit den Händen durchs Haar und riss dabei heftig an seinen Locken, eine Geste, die er machte, wenn er hart darum rang, die Beherrschung zu wahren. »Vielleicht bin ich nicht bereit, vier Jahre Freundschaft und vier Jahre Sex wegen einer dummen Abmachung einfach beiseitezuschieben!«

»Nur Sex? Das war es also für dich?« Vicki wählte den einfachen Ausweg und ignorierte das emotionsgeladenere Thema ihrer Abmachung. Ein Mangel an Dingen, über die sie streiten konnten, war nie ihr Problem gewesen. »Für mich war es nicht einfach nur Sex!« Jetzt schrien beide.

»Habe ich das behauptet?« Mike breitete die Arme aus und seine Stimme hallte von den gekachelten Wänden der U-Bahn-Station wider. »Gut, es war großartiger Sex! Ganz fantastischer Sex! Es war … was?« PC West, dessen helle Haut dunkelrot angelaufen war, zuckte zusammen.

»Sie stehen der Leiche im Weg«, stammelte er.

Celluci brummte einen unhörbaren Fluch und sprang zurück. Während die Bahre vorbeirollte und der Inhalt des leuchtend orangefarbenen Sacks ein wenig von einer Seite zur anderen schaukelte, ballte Vicki die Fäuste und erwog, eine davon genau auf Mike Cellucis klassisch schöne Nase zu pflanzen. Warum ließ sie zu, dass er so auf sie wirkte? Er hatte echtes Talent dafür, sorgfältig konstruierte Schutzschilde zu durchstoßen und Gefühle zu entfachen, die sie unter Kontrolle zu haben glaubte. Verdammt. Es half nichts, dass er diesmal recht hatte. Einer ihrer Mundwinkel zuckte. Zumindest redeten sie nun wieder miteinander … Als die Bahre vorüber war, legte sie die Hand auf Mikes Arm und sagte: »Nächstes Mal halte ich mich an die Vorschriften.« Das kam von allem, was Vicki sagen konnte, einer Entschuldigung am nächsten und Celluci wusste das.

»Warum jetzt damit anfangen?« Er seufzte. »Schau mal, was dein Verlassen der Truppe angeht, du bist nicht blind, du hättest bleiben können …«

»Celluci …«, knirschte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Immer ging er eine Bemerkung zu weit.

»Ist schon gut.« Er streckte die Hand aus und schob ihr die Brille hoch. »Soll ich dich in die Stadt mitnehmen?«

Sie musterte ihren ruinierten Mantel. »Warum eigentlich nicht?«

Als sie hinter der Bahre die Treppe hochgingen, klopfte er ihr leicht auf den Arm. »Nett, mal wieder mit dir zu streiten.«

Sie gab auf – die letzten acht Monate waren bestenfalls ein Pyrrhussieg gewesen – und grinste. »Ich habe dich auch vermisst.«

*

Die Montagszeitungen brachten den Mord auf der Titelseite. Das Revolverblatt hatte sogar ein Farbfoto der Bahre, die aus der Station rollte, der Leichensack ein obszöner Farbfleck inmitten all der dunklen Blau- und Grautöne. Vicki warf die Tageszeitung auf den wachsenden Altpapierstapel links von ihrem Schreibtisch und nagte an einem Daumennagel. Zu Cellucis Theorie, die er ihr widerwillig verraten hatte, als sie in die Stadt gefahren waren, gehörten PCP und angeschnallte Klauen.

»Wie der Typ in dem Film.«

»Das war ein Handschuh mit Rasierklingen.«

»Egal.«

Vicki kaufte ihm diese Theorie nicht ab und sie wusste, dass Mike in Wirklichkeit auch nicht daran glaubte, sie war einfach nur das Beste, was ihm einfiel, bis er mehr Fakten hatte. Seine endgültige Antwort hatte oft überhaupt keine Ähnlichkeit mehr mit der Theorie, mit der er begonnen hatte; er hasste es nur einfach, bei null anzufangen. Sie zog es vor, Fakten wie bei Tetris fallen zu lassen und zu beobachten, wie sie sich nach und nach zusammenfügten. Das Problem war, dass sie diesmal einfach immer weiter fielen. Vicki brauchte mehr Fakten.

Ihre Hand war schon halb am Handy, ehe sie sich erinnerte und sie wieder zurückzog. Das hatte nichts mehr mit ihr zu tun.

Sie hatte ihre Aussage gemacht und damit endete ihre Beteiligung.

Vicki nahm die Brille ab und polierte ein Glas mit einem Zipfel ihres Sweatshirts. Die Ränder ihrer Welt verschwammen, bis es aussah, als starre sie in einen nebligen, breiten Tunnel. Bisher hatte sie etwa ein Drittel ihres peripheren Sehvermögens verloren. Bisher. Es konnte nur schlimmer werden.

Die Brille korrigierte nur ihre Kurzsichtigkeit. Nichts konnte den Rest korrigieren. »Der Fall gehört Celluci. Gut. Ich habe schließlich genug zu tun«, sagte sie fest zu sich selbst. »Arbeit, die ich auch erledigen kann.« Arbeit, die sie besser auch erledigen sollte.

Ihre Ersparnisse würden nicht ewig reichen und bislang war ihre Ausbeute an Aufträgen ziemlich mager, da ihr Sehvermögen sie gezwungen hatte, mehr als einen potenziellen Klienten abzulehnen. Mit zusammengebissenen Zähnen zog sie das wuchtige Telefonbuch von Toronto auf ihren Schoß. Mit etwas Glück war der F. Chan, den sie suchte, der Erbe eines hübschen Sümmchens eines toten Onkels in Hongkong, einer der 26 hier aufgeführten. Wenn nicht … es gab mehr als drei Seiten Chans, 16 Spalten, schätzungsweise 1865 Namen, und sie hätte gewettet, dass mindestens die Hälfte davon einen Foo in der Familie hatte. Celluci dagegen suchte gerade nach einem Mörder. Sie verdrängte den Gedanken. Man konnte kein Bulle sein, wenn man nicht sehen konnte.

Vicki hatte sich die Suppe selbst eingebrockt. Sie würde sie jetzt auch auslöffeln.

*

Terri Neal sackte gegen die Fahrstuhlwand, holte ein paarmal tief Luft und hob, als sie genügend Energie gesammelt zu haben glaubte, den Arm gerade hoch genug, um auf die Uhr zu schauen. »0:17 Uhr?«, stöhnte sie. Wo zum Teufel war der Montag geblieben und was für einen Sinn hatte es überhaupt noch, nach Hause zu gehen? Sie musste in acht Stunden wieder hier sein. Terri spürte das Gewicht des Papiers an der Hüfte und betete stumm, dass sie tatsächlich volle acht Stunden haben würde. Die Firma hatte heute ihren Tribut verlangt – der verdammte Piepser war losgegangen, als sie um 16:20 Uhr ins Auto gestiegen war –, daher würde man sie vielleicht, nur vielleicht, die Nacht über in Ruhe lassen.

Die Fahrstuhltür ging zischend auf und sie schleppte sich in die Tiefgarage.

»Verlassen des Büros«, brummte sie, »zweiter Versuch.« Sie blinzelte ins strahlende Neonlicht, dann machte sie sich auf den Weg durch die fast leere Garage. Ihr Schatten tanzte um sie herum wie eine irre Marionette. Sie hatte das kalte, flimmernde Licht der Neonröhren schon immer gehasst, denn die Welt sah entschieden unfreundlich aus, wenn man aus ihr ein Relief mit so scharfen Kanten machte, und in dieser Nacht …

Terri schüttelte den Kopf. Der Schlafmangel ließ sie verrückte Dinge denken. Sie widerstand dem Zwang, über die Schulter zu schauen, und kam schließlich beim einzigen Vorteil all der endlosen Überstunden an.

»Hi, Baby.« Sie wühlte in der Tasche nach dem Autoschlüssel. »Hast du mich vermisst?« Sie öffnete die Heck­klappe, hievte ihre Aktentasche – dieses verdammte Ding musste 150 Kilo wiegen! – hoch und über den Rand und schob sie in den Kofferraum. Sie stützte die Ellbogen auf die Dichtungsleiste und legte eine Pause ein, halb innerhalb und halb außerhalb des Wagens, und inhalierte den Duft nach neuer Farbe, neuem Vinyl, neuem Plastik und … verfaulendem Essen. Terri runzelte die Stirn und richtete sich auf.

Zumindest kommt es nicht aus meinem Wagen … Mit einem Würgen schloss sie die Heckklappe und drehte sich um. Sollte sich der Sicherheitsdienst morgen um den Geruch kümmern. Sie wollte nur noch heim.

Es dauerte einen Moment, ehe ihr klar wurde, dass sie das nicht schaffen würde.

Bis der Schrei ihre Kehle erreichte, hatte das Wesen ihr diese herausgerissen, und er wurde zum Gurgeln, als sich ihre durchtrennte Luftröhre mit Blut füllte. Das Letzte, was sie sah, als ihr Kopf nach hinten fiel, waren die roten Linien, die dunkel über die Seiten ihres neuen Wagens tropften.

Das Letzte, was sie hörte, war das hartnäckige Piepsen ihres Pagers.

Das Letzte, was sie fühlte, war ein Mund an den Überresten ihrer Kehle.

*

Am Dienstagmorgen verkündete die riesige Schlagzeile auf der Titelseite des Revolverblatts: SCHLITZER SCHLÄGT WIEDER ZU. Darunter prangte ein Foto des Trainers der Toronto Maple Leafs und die Bildunterschrift fragte – nicht zum ersten Mal in dieser Saison –, ob die Vereinsführung ihn feuern sollte, weil die Leafs wieder einmal Schlusslicht in der untersten Liga waren. Es war die Art von seltsamem Layout, mit dem sich die Zeitung hervortat. »Feuert den Herausgeber«, murmelte Vicki, schob ihre Brille hoch und starrte auf die winzige Unterschrift unter der Schlagzeile. Bericht Seite zwei, hieß es da und dort fand sich eine Beschreibung einer verstümmelten Leiche, die genau mit der übereinstimmte, die Vicki in der Station Eglinton West gefunden hatte, samt einem Foto der Tiefgarage und einem hysterischen Bericht der Frau, die die Leiche gefunden hatte.

»Verdammt.«

Der ermittelnde Beamte der Mordkommission, Michael Celluci, ging der Artikel weiter, erklärte, er habe wenig Zweifel daran, dass es sich hierbei nicht um einen Nachahmungstäter handelt und dass derjenige, der Terri Neal ermordet hat, Sonntagnacht auch Ian Reddick getötet hat. Vicki hegte den starken Verdacht, dass das nicht alles war, was Mike gesagt hatte, wenn es auch eine Information gewesen sein könnte, die er weitergegeben hatte. Celluci hielt es selten für notwendig, mit der Presse zu kooperieren oder auch nur seine Abneigung gegen sie zu verbergen, und er war nie derart höflich.

Sie las noch einmal die Einzelheiten und eine namenlose Furcht fuhr ihr mit eisigen Fingern die Wirbelsäule entlang. Vicki erinnerte sich an die lauernde Präsenz, die sie gefühlt hatte, und wusste, dass dies nicht der letzte Mord gewesen war. Sie hatte beinahe schon gewählt, ehe sie sich bewusst dazu entschieden hatte.

»Mike Celluci, bitte. Was? Nein, ich möchte keine Nachricht hinterlassen.« Was hätte ich auch sagen sollen?, fragte sie sich, als sie auflegte. Dass ich vermute, dass das nur der Anfang ist? Celluci wäre begeistert gewesen.

Vicki warf das Revolverblatt beiseite und schnappte sich die andere Zeitung. Auf Seite vier brachte sie weitgehend die gleiche Geschichte, abzüglich ungefähr der Hälfte der Adjektive und des Großteils der Hysterie.

Keine Zeitung hatte erwähnt, dass es unmöglich war, jemandem die Kehle mit einem Hieb herauszureißen.

Wenn ich mich nur erinnern könnte, was an der Leiche nicht gestimmt hat. Vicki seufzte und rieb sich die Augen.

Eigentlich musste sie fünf Foo Chans besuchen …

*

Etwas regte sich in der Baugrube. DeVerne Jones lehnte sich an den Maschendrahtzaun und fragte sich, was er jetzt tun sollte.

Es war seine Grube. Seine erste Baugrube als Vorarbeiter. Sie hatten am Morgen mit der Verschalung begonnen, damit sie bereit wären, den Beton zu gießen, wenn der Frühling endlich kam. Er linste an der schwarzen Masse der Baumaschinen vorbei. Da unten war etwas. In seiner Grube. Ganz kurz wünschte er sich, er hätte nicht beschlossen, auf dem Heimweg von der Bar einen Abstecher zu machen. Es war nach Mitternacht und die Gestalt, die er drüben an der anderen Wand gesehen hatte, war vermutlich nur ein armer Säufer, der nach einem warmen Plätzchen suchte, wo er sich einrollen konnte und die Bullen ihn in Frieden ließen. Der Bautrupp konnte den Penner am Morgen rauswerfen und nichts wäre passiert. Außer dass sie eine Menge teure Ausrüstung da unten hatten und hinter der Sache auch mehr stecken konnte. »Verdammt.« Er zog die Schlüssel aus der Tasche und ging zum Tor. Das Vorhängeschloss war offen. Wenn es so feucht und kalt war, dann schloss es manchmal nicht richtig, aber er war der Letzte gewesen, der die Grube verlassen hatte, und er hatte es überprüft, ehe er gegangen war. Oder?

»Verdammt.« Es war doch gut gewesen, dass er noch einmal vorbeigekommen war. Die Angeln kreischten protestierend, das Tor schwang auf. DeVerne wartete einen Augenblick oben an der Rampe, um zu sehen, ob das Geräusch seine Beute aufgescheucht hatte.

Nichts regte sich.

Ein Bauch voller Bier und du bist ein Held, dachte er, gerade noch klar genug im Kopf, um zu begreifen, dass er in Schwierigkeiten geraten könnte und gerade betrunken genug, dass ihm das egal war. Auf halbem Weg hinunter in die Grube, seine Augen hatten sich gerade an das Dunkel gewöhnt, sah er es. Menschenähnlich, mit Bewegungen, die zu schnell für einen Säufer waren, verschwand es hinter einem der Raupenfahrzeuge.

So leise er konnte, beschleunigte DeVerne seine Schritte.

Er würde den Kerl auf frischer Tat ertappen. Er machte einen kleinen Umweg und zog ein meterlanges Rohr aus einem Schrotthaufen. Sinnlos, ein Risiko einzugehen, selbst eine in die Ecke getriebene Ratte kämpfte. Das Kratzen von Metall auf Metall klang abnormal laut und hallte von den Seiten der Baugrube wider. Da seine Anwesenheit nun bekannt war, rannte DeVerne um den Bulldozer herum und brüllte mit erhobener Stimme eine Kampfansage: »Waffe weg!«

Jemand lag vor ihm auf dem Boden. DeVerne sah die Schuhe, die aus dem Teich aus Schatten herausragten.

In diesem Meer aus Schatten kauerte eine weitere Gestalt – so schien es zumindest.

DeVerne schrie. Die Gestalt richtete sich auf und wandte sich ab, Finsternis umwirbelte sie.

DeVerne hatte nicht bemerkt, dass die Gestalt sich bewegte. Er hatte kaum Zeit, in dem vergeblichen Versuch, sein Leben zu retten, die andere Hand zu heben.

So etwas gibt es gar nicht!, jammerte er lautlos, als er starb.

Am Mittwochmorgen lautete die zehn Zentimeter große Headline des Revolverblatts: VAMPIR SUCHT STADT HEIM.

2

Er hob ihren Arm und ließ die Zunge über die weiche Haut der Innenseite ihres Handgelenks gleiten. Sie stöhnte, den Kopf in den Nacken gelegt, und ihr Atem ging stoßweise. Er beobachtete sie genau, und als sie kam, als ihr Körper sich unter seinem bog, nahm er die kleine, pulsierende Ader an ihrer Daumenwurzel zwischen seine spitzen Zähne und biss zu. Der leichte Schmerz war für sie nur ein Gefühl mehr in einem System, das bereits überlastet war, und während sie auf den Wellen ihres Orgasmus ritt, trank er. Sie waren beinahe gleichzeitig fertig. Er strich eine Strähne feuchten, mahagonifarbenen Haars aus ihrem Gesicht. »Danke«, sagte er.

»Nein, ich danke dir«, flüsterte sie und küsste seine Hand. Eine Weile lagen sie still. Sie war im Halbschlummer und er zog leicht die sanften Kurven ihrer Brüste nach; seine Fingerspitze folgte den blauen Linien ihrer Adern unter der weißen Haut.

Nun, da er getrunken hatte, trieben sie ihn nicht länger zum Wahnsinn. Als er sicher war, dass das Gerinnungsmittel in seinem Speichel wirkte und die kleine Wunde an ihrem Handgelenk nicht mehr blutete, trottete er ins Bad, um sich zu säubern.

Sie erwachte, als er sich anzog. »Henry?«

»Ich bin noch da, Caroline.«

»Noch. Aber du gehst.«

»Ich muss arbeiten.« Er zog einen Pullover über und blinzelte, als plötzlich die Nachttischlampe anging. Lange Jahre der Übung verhinderten, dass er zurückschreckte, aber er wandte sich ab, um seine empfindlichen Augen zu schonen.

»Warum kannst du nicht tagsüber arbeiten wie ein normaler Mensch«, murrte Caroline, zog die Steppdecke vom Fußende des Bettes hoch und kuschelte sich darunter. »Dann hättest du die Nächte für mich frei.«

Henry schmunzelte und antwortete wahrheitsgemäß: »Ich kann tagsüber nicht denken.«

»Autoren«, seufzte sie.

»Autoren«, stimmte er zu, beugte sich vor und küsste sie auf die Nase. »Wir sind eine ganz besondere Sorte.«

»Wirst du mich anrufen?«

»Wenn ich dazu komme.«

»Männer!«

Er knipste die Lampe aus. »Das auch.«

Geschickt wich er ihren tastenden Händen aus, küsste sie zum Abschied und tappte leise aus dem Schlafzimmer und durch die dunkle Wohnung. Hinter sich hörte er, wie ihre Atmung sich veränderte und wusste, sie schlief. Gewöhnlich fiel sie sofort in Schlaf, wenn sie fertig waren, und bekam gar nicht mit, wie er ging. Das war eines der Dinge, die er am meisten an ihr mochte, denn es bedeutete, dass sie selten unangenehme Auseinandersetzungen darüber hatten, ob er über Nacht bleiben würde.

Er holte seinen Mantel und seine Stiefel und verließ die Wohnung, wobei er die Ohren spitzte, bis er den Türriegel einrasten hörte. In vielerlei Hinsicht waren dies die sichersten Zeiten, die er je erlebt hatte. In anderer die gefährlichsten.

Caroline hegte keinen Verdacht bezüglich seiner wahren Natur. Für sie war er ein amüsantes Zwischenspiel, ein unregelmäßiger Bettgefährte, Sex ohne Schuldgefühle. Er hatte sich nicht besonders anstrengen müssen, damit es sich so entwickelt hatte.

Er sah sein Spiegelbild in den Fahrstuhltüren finster an. »Ich will mehr.« Die Unrast wuchs schon einige Zeit in ihm, nagte an ihm und ließ ihm wenig Frieden. Das Trinken hatte geholfen, die Unruhe gemindert, aber nicht genug. Er unterdrückte einen Schrei, wirbelte herum und schlug mit der Handfläche gegen die Kunststoffwand. Der Schlag hallte wie ein Schuss in dem abgeschlossenen Raum und Henry starrte auf das Muster an Sprüngen, das sich unter seiner Hand gebildet hatte. Seine Handfläche schmerzte, aber die Gewalt schien der Unruhe den Stachel genommen zu haben.

Niemand wartete in der Eingangshalle, um nach der Ursache des Lärms zu forschen, und Henry verließ das Gebäude fast unbekümmert.

Es war kalt. Er zog seinen Schal ein wenig enger um den Hals und schlug den Mantelkragen hoch. Seine Natur machte ihn weniger empfindlich gegen Witterungseinflüsse als die meisten Menschen, aber er mochte es ­trotzdem nicht, wenn ihm kalter Wind den Rücken hinunterwehte. Der Saum seines Ledertrenchcoats flatterte um seine Beine, als er den kurzen Block bis zur Bloor Street hinunterlief, sich nach Osten wandte und heimging.

Obwohl es fast ein Uhr an einem Donnerstagmorgen war und der Frühling beschlossen zu haben schien, in diesem Jahr sehr spät zu beginnen, waren die Straßen noch nicht leer. Der Verkehr floss immer noch beständig entlang der Ost-West-Achse der Stadt, und je näher Henry der Kreuzung von Yonge und Bloor kam, der Hauptkreuzung der Stadt, desto mehr Leuten begegnete er auf dem Bürgersteig. Das war eines der Dinge, die er am meisten an diesem Stadtteil mochte: dass er niemals wirklich schlief. Das war auch der Grund, warum er sein Zuhause so nah wie möglich von hier hatte. Zwei Blocks hinter der Yonge bog er in eine Ringstraße ein und folgte der Kurve bis zur Tür seines Hauses.

Im Laufe seiner Existenz hatte er in Burgen aller Art, einer großen Zahl privater Landsitze und sogar ein oder zwei Gruften gelebt, wenn die Zeiten schlecht gewesen waren, aber es war Jahrhunderte her, dass er ein Heim gehabt hatte, das ihm so gut gefallen hatte wie die Eigentumswohnung im Herzen Torontos.

»Guten Abend, Mr Fitzroy.«

»Guten Abend, Greg, irgendetwas los?«

Der Portier lächelte und griff nach dem Türöffner. »Grabesruhe.«

Henry Fitzroy hob eine rotgoldene Augenbraue, wartete aber, bis die Tür geöffnet war und der Summer seine elektronischen Blähungen beendet hatte, ehe er fragte: »Woher wollen Sie das wissen, Greg?«

Der Portier grinste. »Ich war Wachmann auf dem Mount-Pleasant-Friedhof.«

Henry schüttelte den Kopf und grinste auch. »Ich hätte mir denken können, dass Sie eine Antwort parat haben würden.«

»Jawohl, Sir, das hätten Sie. Gute Nacht, Sir.« Die schwere Glastür schloss jede weitere Unterhaltung aus, und als Greg daher seine Zeitung nahm, winkte Henry ihm stumm zum Abschied und ging zu den Aufzügen. Dann blieb er stehen und drehte sich um, blickte durch das Glas.

VAMPIR SUCHT STADT HEIM.

Greg, der beim Lesen die Lippen bewegte, legte die Zeitung auf den Tresen und verdeckte die Schlagzeile.

Henry, dessen Welt sich auf vier Worte reduziert hatte, schob die Tür auf.

»Haben Sie etwas vergessen, Mr Fitzroy?«

»Ihre Zeitung, Greg. Lassen Sie mich mal sehen.« Erschrocken gehorchte Greg dem Befehl und schob die Tageszeitung nach vorn, bis Henry sie ihm entriss.

VAMPIR SUCHT STADT HEIM.

Langsam, ohne hastige Bewegungen, schob Greg seinen Stuhl zurück, um so viel Abstand wie möglich zwischen sich und den Mann auf der anderen Seite seines Tresens zu bringen. Er war nicht sicher warum, aber in 63 Jahren und zwei Kriegen hatte er nie zuvor einen Gesichtsausdruck gesehen, wie Henry Fitzroy ihn jetzt hatte, und er hoffte, dass er ihn auch nie wieder sehen würde, denn Fitzroys Zorn war übermenschlich und der Schrecken, den er erzeugte, war mehr, als ein sterblicher Geist ertragen konnte.

Bitte, lieber Gott, lass ihn diesen Zorn nicht an mir auslassen …

Die Minuten dehnten sich und Papier zerriss unter sich verkrampfenden Fingern.

»Mr Fitzroy …« Haselnussbraune Augen wie gefrorener Rauch hoben sich von der Lektüre. Von ihrer Intensität gefangen musste der zitternde Portier erst ein-, zweimal schlucken, bevor er weitersprechen konnte. »… Sie können die Zeitung behalten.«

Die Furcht in Gregs Stimme durchdrang Henrys Wut. Furcht barg Gefahr. Henry fand die sorgfältig konstruierte zivilisierte Fassade, hinter der er das Tier in ihm zu verbergen pflegte, wieder und zwang sich, sie zur Schau zu stellen. »Ich hasse solche Sensationsmache!« Er klatschte die Zeitung auf den Tresen.

Greg zuckte zusammen und sein Stuhl stieß gegen die hintere Wand, was seinen Rückzug beendete. »Dieses Spiel mit den Ängsten der Bevölkerung ist verantwortungsloser Journalismus.« Henry seufzte und verbarg seinen Zorn hinter einer Patina erschöpfter Empörung. 400 Jahre Übung machten die falsche Miene glaubwürdig, ganz egal, wie schwer es ihm in letzter Zeit auch fiel, sie aufrechtzuerhalten.

»Die bringen uns alle in Verruf.« Greg seufzte auch, wischte sich die feuchten Hände an den Oberschenkeln ab und klammerte sich an dieser Erklärung fest.

»Ich vermute, dass Autoren in dieser Hinsicht etwas empfindlich sind«, äußerte er.

»Einige von uns«, stimmte Henry zu. »Sind Sie sicher, dass ich sie behalten kann?«

»Klar, Mr Fitzroy. Ich habe die Eishockeyergebnisse gleich als Erstes gelesen.« Sein Verstand verdrängte bereits, was er gesehen hatte, und konstruierte rationale Erklärungen dafür, die es möglich, die es erträglich machten. Er rollte seinen Stuhl aber erst zurück an den Tresen, nachdem sich die Fahrstuhltür geschlossen hatte und die Leuchtanzeige nach oben kletterte.

Mit von der Anstrengung still zu stehen verkrampften Muskeln konzentrierte sich Henry auf seine Atmung, darauf, die Wut zu kontrollieren, statt sich von ihr kontrollieren zu lassen. In diesem Zeitalter überlebte seine Art, indem sie sich anpasste, und er hatte einen möglicherweise tödlichen Fehler gemacht, als er so auf die Schlagzeile reagiert hatte. Seine wahre Natur in der Abgeschiedenheit eines leeren Aufzugs zum Vorschein kommen zu lassen, konnte wenig Schaden anrichten, aber es vor sterblichen Zeugen zu tun war eine ganz andere Sache. Nicht dass er erwartete, dass Greg plötzlich mit dem Finger auf ihn zeigen und »Vampir!« brüllen würde … Die Schuldgefühle darüber, den alten Mann verängstigt zu haben, halfen, seine Wut zu dämpfen. Er mochte Greg. In dieser Welt der Gleichheit und Demokratie war es gut, jemanden zu treffen, der bereit war, zu dienen. Diese Einstellung erinnerte ihn an die Männer, die auf dem Landsitz gearbeitet hatten, als er noch ein Junge gewesen war, und versetzte ihn zumindest für eine Weile in einfachere Zeiten.

Mit wieder sicher errichteten Schutzwällen verließ Henry im 14. Stock den Fahrstuhl und hielt Mrs Hughes und ihrem Mastiff die Tür auf. Der große Hund ging steifbeinig an ihm vorbei, die Nackenhaare gesträubt und mit einem tiefen Grollen in der Kehle. Wie immer murmelte Mrs Hughes Entschuldigungen.

»Ich verstehe das wirklich nicht, Mr Fitzroy. Owen ist so ein lieber Hund. Er würde niemals … Owen!« Der Mastiff zitterte vor Angriffslust, begnügte sich aber damit, seinen massigen Leib zwischen sein Frauchen und den Mann in der Tür zu schieben und so viel Abstand wie möglich zwischen sie und die wahrgenommene Bedrohung zu bringen.

»Machen Sie sich nichts daraus, Mrs Hughes.« Henry nahm die Hand weg und die Tür schloss sich. »Owen kann ja nicht jeden mögen.« Kurz bevor sich die Tür völlig schloss, lächelte er auf den Hund herab. Der Mastiff nahm das Blecken der Zähne als das, was es war, und sprang. Henry gelang ein etwas ehrlicheres Lächeln, als das fanatische Bellen in Richtung Eingangshalle verklang.

Zehn Minuten allein mit dem Hund und sie könnten klären, was zwischen ihnen stand. Die Rudelgesetze waren einfach, der Stärkste herrschte. Aber Owen war immer mit Mrs Hughes unterwegs und Henry bezweifelte, dass sie das verstanden hätte.

Da er seine Nachbarin nicht irritieren wollte, fand er sich mit der Feindseligkeit des Mastiffs ab. Schade. Er mochte Hunde und es hätte so wenig dazugehört, Owen zu zeigen, wo sein Platz war. Sobald er seine Wohnungstür hinter sich geschlossen hatte, sah er wieder auf die Zeitung und knurrte.

VAMPIR SUCHT STADT HEIM.

Man hatte festgestellt, dass jemand Terri Neal und DeVerne Jones das Blut ausgesaugt hatte. Die Überschrift schien zu stimmen.

Henry wusste, dass er es nicht gewesen war.

Mit einer plötzlichen Bewegung schleuderte er die Zeitung durch den Raum und hatte die kleine Genugtuung, dass die Seiten wie verwundete Vögel zu Boden flatterten.

»Verdammt. Verdammt. VERDAMMT!« Er ging zum Fenster, warf seinen Mantel auf das Sofa und zog mit einem Ruck die Vorhänge zurück, die ihm den Blick auf die Stadt versperrten. Vampire waren Einzelgänger, die einander nicht ausfindig machten oder verfolgten, wo ihre Brüder und Schwestern sich herumtrieben. Obwohl er schon immer den Verdacht gehabt hatte, dass er sein Revier mit anderen seiner Art teilte, konnte eine ganze Reihe in den Mustern aus Licht und Schatten leben, sich bewegen und ernähren, und Henry würde nicht mehr davon merken als die Leute, unter denen sie sich bewegten. Was noch schlimmer war, wenn der Mörder ein Vampir war, dann war es ein Kind, ein Neugeborener, denn nur sie brauchten Blut in solchen Mengen und töteten mit solch brutaler Hemmungslosigkeit.

»Keines von meinen«, sagte er zur Nacht, die Stirn gegen das kühle Glas gepresst. Es war mehr ein Gebet als eine Feststellung. Jeder seiner Art fürchtete, er könne ein solches Monster entfesselt haben, ein ungewolltes Kind, eine unabsichtliche Zeugung.

Aber er war vorsichtig gewesen. Er hatte nie erneut getrunken, bevor das Blut nicht die Gelegenheit zur Erneuerung gehabt hatte. Nie war er ein Risiko eingegangen. Eines Tages würde er ein Kind haben, aber er würde es bewusst zeugen, wie es bei ihm gewesen war, und er würde da sein, um es anzuleiten, damit es sicher war.

Nein, keins von seinen. Aber er konnte nicht zulassen, dass es weiter die Stadt terrorisierte. Weder die Angst noch die Reaktionen der Menschen hatten sich im Lauf der Jahrhunderte verändert und eine Stadt in Furcht könnte rasch Fackeln und angespitzte Holzpflöcke auspacken … oder das zeitgenössische Laboräquivalent dazu.

»Ich will ebenso wenig den Rest meines Daseins auf einen Tisch geschnallt verbringen, wie ich möchte, dass man mir den Kopf abschlägt und den Mund voll Knoblauch stopft«, erklärte er der Nacht. Er musste das Kind finden, ehe die Polizei es tat und deren Antwort noch mehr Fragen aufwarf, als sie löste. Das Kind finden und vernichten, denn ohne ein Blutsband konnte er es nicht kontrollieren.

»Anschließend«, er hob den Kopf und bleckte die Zähne, »werde ich seinen Erzeuger finden.«

*

»Guten Morgen, Mrs Kopolous.«

»Hallo, Liebes, Sie sind aber heute früh auf.«

»Ich konnte nicht schlafen«, erklärte Vicki und betrat den Laden, wo die Kühlschränke summten, »und hatte keine Milch mehr.«

»Nehmen Sie die Beutel, die sind im Angebot.«

»Ich mag keine Beutel.« Aus den Augenwinkeln sah sie, wie Mrs Kopolous nonverbal eine nicht sehr günstige Meinung über ihre Weigerung, 49 Cent zu sparen, äußerte.

»Sind die Tageszeitungen noch nicht da?«

»Doch, hier, meine Liebe.« Sie beugte sich über die Stapel und ihr stämmiger Leib verdeckte die Schlagzeilen. Als sie sich wieder aufrichtete, klatschte sie ein Exemplar jeder Morgenzeitung neben die Kasse.

SABERS DEKLASSIEREN LEAFS 10:2.

Vicki seufzte. Wenn das Revolverblatt außer dem Gemetzel im Entscheidungsspiel der Liga keinen weiteren Mord erwähnte, dann sah es aus, als ob die Stadt in der vergangenen Nacht sicher gewesen sei.

»Diese schreckliche Geschichte – Sie sind doch wohl nicht darin verwickelt?«

»Was für eine schreckliche Geschichte, Mrs Kopolous?« Sie sammelte ihr Wechselgeld ein, dann legte sie es zurück und nahm dafür ein Creme-Osterei. Teufel auch, sie hatte Grund zum Feiern.

Mrs Kopolous schüttelte den Kopf, aber ob wegen des Eis oder wegen des Lebens im Allgemeinen, vermochte Vicki nicht zu sagen. »Sie fiebern den Tageszeitungen entgegen wie damals, als jemand all diese kleinen Mädchen ermordet hat.«

»Aber das war vor zwei Jahren!« Vor zwei Jahren und einem ganzen Leben.

»Ich erinnere mich noch genau daran. Aber mit diesen Blutsaugern sollten Sie nichts zu tun haben.« Sie knallte die Kassenschublade unnötig hart zu. »Diesmal ist es schmutzig.«

»Das war es immer schon«, protestierte Vicki und schob sich die Zeitungen unter den Arm.

»Sie wissen, was ich meine.« Mrs Kopolous’ Tonfall duldete keine Widerrede.

»Ja.« Sie wandte sich zum Gehen, zögerte und drehte sich noch einmal zur Ladentheke um. »Mrs Kopolous, glauben Sie an Vampire?«

Die ältere Frau machte eine bedeutungsvolle Geste. »Um meinen Glauben geht es nicht«, erwiderte sie und zog zur Betonung ihre Augenbrauen zusammen. »Es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als …«

Vicki lächelte. »Shakespeare?«

Mrs Kopolous’ Gesichtsausdruck wurde nicht sanfter. »Nur weil ein Dichter es gesagt hat, ist es nicht unwahr.«

Als Vicki zu ihrem Apartmenthaus in Chinatown zurückkehrte, einem dreistöckigen Gebäude aus rotbraunem Sandstein, war es 7:14 Uhr und die Nachbarn erwachten gerade erst. Sie erwog, joggen zu gehen, ehe der Kohlenmonoxid-Gehalt stieg, aber dann entschied sie sich dagegen, als sie probeweise einen tiefen Atemzug machte und dieser in der Luft kondensierte. Offiziell mochte es Frühling sein, aber es war noch Zeit genug, mit dem Laufen anzufangen, wenn die Temperaturen der Jahreszeit entsprachen. Sie nahm zwei Stufen auf einmal und dankte der glücklichen genetischen Kombination, die ihr einen Sportlerinnenkörper verliehen hatte, der nur ein Minimum an Pflege benötigte. Aber sie war 31 und wer wusste schon, wie lange das noch so bleiben würde … unbestimmte Schuldgefühle trieben sie dazu, ihre Hantelübungen zu machen, während sie die 7:30-Uhr-Nachrichten hörte.

Bis 8:28 Uhr hatte sie alle Zeitungen durchgesehen, anderthalb Tassen Tee getrunken und die Foo-Chan-Rechnung postfertig gemacht. Sie kippte ihren Stuhl nach hinten, putzte ihre Brille und ließ ihre Welt sich zu einem Kreis Stuckdecke verengen.

Mehr Dinge zwischen Himmel und Erde … Sie wusste nicht, ob sie an Vampire glaubte, aber sie vertraute mit Sicherheit ihren eigenen Sinnen, selbst wenn einer von ihnen stark nachließ. Etwas Merkwürdiges war in dem Tunnel gewesen und kein Mensch hätte diesen Schlag führen können. Ein Satz aus einem Artikel vom Mittwoch ging ihr dauernd durch den Kopf: Einer Quelle bei der Gerichtsmedizin zufolge hat man Terri Neal und DeVerne Jones das Blut ausgesaugt. Sie wusste, dass es sie nichts anging … Brandon Singh war immer jeden Morgen um 8:30 Uhr an seinem Schreibtisch in der Gerichtsmedizin gewesen. Er frühstückte eine Tasse Tee und einen Bagel und war ab schätzungsweise 8:45 Uhr vollkommen ansprechbar.

Wenn sie auch nicht länger über irgendeine offizielle Position verfügte, aufgrund derer sie ihren Anruf machen konnte, so waren Gerichtsmediziner schließlich Regierungsangestellte und sie war immer noch eine Steuerzahlerin. Sie griff nach ihrem Adressbuch. Zum Teufel, wie schlimm konnte es nach Michael Celluci noch werden?

»Dr. Singh bitte. Ich warte.« Warum fragen die das überhaupt?, wunderte sich Vicki und schob mit der freien Hand die Brille hoch. Was bleibt mir denn anderes übrig?

»Singh.«

»Brandon? Victoria hier.«

Sein schwerer Oxford-Akzent, seine Telefonstimme, verflog. »Vicki? Wie schön, von dir zu hören. Bist wohl sehr beschäftigt, seit du die Truppe verlassen hast?«

»Ziemlich«, gab sie zu und legte ihre Füße auf eine Ecke des Schreibtischs. Dr. Brandon Singh war seit dem Tod ihrer Großmama mütterlicherseits in den 70er-Jahren der einzige Mensch, der sie Victoria nannte. Sie hatte nie herausgefunden, ob das altmodischer Charme oder purer Eigensinn war, da er genau wusste, wie sehr sie ihren vollen Namen hasste. »Ich habe eine Detektei aufgemacht.«

»Ich habe Gerüchte darüber gehört. Aber Ge­rüch­ten …« Vor ihrem geistigen Auge sah Vicki, wie er mit seinen langen Chirurgenfingern durch die Luft fuhr. »… Gerüchten zufolge bist du auch stockblind und verkaufst an einer Straßenecke Bleistifte.«

»Noch nicht.« Der Zorn machte ihre Stimme bleiern.

Singhs Stimme dagegen erwärmte sich. »Victoria, es tut mir leid. Du weißt, dass ich nicht besonders taktvoll bin und nie Gelegenheit hatte, Benehmen am Krankenbett zu lernen …« Es war ein alter Witz, der auf ihre erste Begegnung bei der Obduktion eines bekannten Dealers zurückging. »Also.« Brandon unterbrach sich, um einen Schluck zu trinken, dem Geräusch nach in diskretem Abstand vom Hörer. »Was kann ich für dich tun?«

Vicki hatte Singhs Gewohnheit, mit einem Minimum an Small Talk direkt auf den Punkt zu kommen, niemals verwirrend gefunden und sie schätzte es, dass er niemals Takt verlangte, wo er ihn nicht auch an den Tag legte. Verschwende nicht meine Zeit, ich bin ein viel beschäftigter Mann, war der Unterton jedes Gesprächs, das er führte. »Der Artikel in der Zeitung von gestern, der Blutverlust bei Neal und Jones, stimmt das?«