Bochumer Fenster zur Vergangenheit: Die Reformation in Bochum und der Grafschaft Mark -  - E-Book

Bochumer Fenster zur Vergangenheit: Die Reformation in Bochum und der Grafschaft Mark E-Book

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Beschreibung

Die Reformationsgeschichte des heutigen Ruhrgebietes zeichnet sich durch vielfältige Entwicklungen aus, die vor allem mit den politischen Rahmenbedingungen zusammenhingen. So verfolgte das Herzogtum Jülich-Kleve-Berg, zu dem auch die Grafschaft Mark gehörte, in religionspolitischer Hinsicht eine mittlere Linie zwischen dem Katholizismus und dem Luthertum. Damit wurde den einzelnen Gemeinden ein gewisser Spielraum in der Gestaltung der religiösen Praxis eröffnet. Charakteristisch für die Anfänge der Reformation in dieser Region waren die Einführung einer evangelischen Predigt, das Singen von Lutherliedern und die Feier des Abendmahls in beiderlei Gestalt (d.h. mit Brot und Wein). Nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 verstärkten sich dann die Bemühungen, die Reformation einzuführen. Dabei kam es auch zu innerprotestantischen Konflikten zwischen Lutheranern und Reformierten, die im Zuge der Emigration von Glaubensflüchtlingen aus den Niederlanden ins Ruhrgebiet einwanderten. Anders als in vielen anderen Städten der Region sind darum die Anfänge der Reformation in Bochum, bedingt durch die politischen Verhältnisse erst relativ spät, ab circa 1570 anzusetzen. Es dauerte lange, bis reformatorisches Gedankengut in Bochum und der Grafschaft Mark etabliert war. Auch am Ende dieses Vorgangs, der sich über das 16. und 17. Jahrhundert erstreckte, herrschte keineswegs ein einheitliches protestantisches Theologie- und Liturgieverständnis vor, vielmehr war eine außergewöhnliche mehrkonfessionelle Kultur (Dieter Scheler) entstanden. Diese spannende, wechselvolle Entwicklung der Reformation in unserer Region will dieser Vortragsband erhellen und dokumentieren. Die durch die politischen Umstände im 16. Jahrhundert in Bochum erzwungene vielfache Kooperation zwischen Protestanten und Katholiken, wie sie sich u.a. in der etwa 100-jährigen gemeinsamen Nutzung der Kirche St. Peter und Paul widergespiegelt hat, war, wie Michael Basse schreibt, in ihrer Zeit politisch geboten. Aus heutiger Sicht vielleicht eine ökumenische Zukunftsperspektive - im Rückblick jedenfalls ein Beispiel für eine interkonfessionelle Toleranz, die in damaliger Zeit keineswegs üblich war.

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Evangelische Perspektiven

Schriftenreihe der Evangelischen Kirche in Bochum

in Zusammenarbeit mit der Evangelischen Stadtakademie Bochum

In der Schriftenreihe sind bisher neun Hefte erschienen.

Erschienen in 2016:

Heft 7:

Die Illusion vom Krieg.

Der Erste Weltkrieg als kulturgeschichtlicher Umbruch

Arno Lohmann (Hg.)

1. Auflage Oktober 2016

ISBN 9783741292118

Heft 8:

Günter Brakelmann

Vorträge zu „Luther als Mensch“ in der Stiepeler Dorfkirche

Stiepeler Lektionen II

1. Auflage September 2016

ISBN 9783741295669

Erschienen in 2017:

Heft 9:

Beiträge „mystischer“ Traditionen in den Weltreligionen

zu einer ganzheitsorientierten Spiritualität der Gegenwart

Festschrift im Rahmen des 60-jährigen Bestehens der

Evangelischen Stadtakademie Bochum 2013

Hrsg. von Arno Lohmann

1. Auflage Februar 2017/2. Auflage Juni 2017

ISBN 9783743134416

Heft 10:

Bochumer Fenster zur Vergangenheit:

Die Reformation in Bochum und der Grafschaft Mark

Herausgegeben von Arno Lohmann, Peter Luthe und Stefan Pätzold

ISBN 9783744875318

Evangelische Kirche in Bochum

Westring 26a, D-44787 Bochum

Telefon 0234 - 962 904-0

http://www.kirchenkreis-bochum.de

Das vorliegende Heft ist zu beziehen bei:

Evangelische Stadtakademie Bochum

Westring 26a, D-44787 Bochum

Telefon 0234- 962904-661

[email protected]

http://www.stadtakademie.de

Inhalt

Vorwort und Dank

Arno Lohmann

Gute Zeiten – schlechte Zeiten Bochum während der Reformationszeit

Stefan Pätzold

Die Reformation in Bochum und in der Grafschaft Mark

Michael Basse

Johann Bömken, Melchior Ebbinghaus, die Schmidts und andere Pastoren und Prediger der Bochumer Reformationszeit

Clemens Kreuzer

Sey zwar catholisch, allein administrire das Sacrament in beider Gestalt.

Zeugenbefragungen zu den Konfessionen in Bochum im Dreißigjährigen Krieg

Ralf-Peter Fuchs

Die landesherrliche Kirchenpolitik und die Anfänge der Reformation im Amt Bochum

Dieter Scheler

Anhang

Bochumer Fenster zur Vergangenheit 2016 Eine Busexkursion zu Orten der Reformation in Bochum

Peter Luthe

Die „Keimzelle“ der Reformation in Bochum: Die Sylvesterkapelle zu Haus Weitmar

Katharina Breidenbach

Autoren- und Herausgeberverzeichnis

Vorwort und Dank

Bochumer Fenster zur Vergangenheit Die Reformation in Bochum und der Grafschaft Mark

Im Rahmen der Vorbereitungen zum 500. Reformationsjubiläum fand 2015 in einer Kooperation der Evangelischen Stadtakademie mit dem Bochumer Zentrum für Stadtgeschichte und dem Katholischen Forum Bochum eine mit über 1.000 Besuchern gut besuchte Veranstaltungsreihe unter dem Titel „Bochumer Fenster zur Vergangenheit“ statt.

Diese fünfteilige Vortragsreihe war der mittelalterlichen Geschichte der fünf ältesten Bochumer Gotteshäuser gewidmet: der Dorfkirche Stiepel, der Propsteikirche St. Peter und Paul in Bochum, der Kirche St. Vinzentius in Harpen, der Propsteikirche St. Gertrud in Wattenscheid sowie der Ev. Christuskirche in Langendreer. Zunächst erläuterte ein Vortrag die Geschichte des jeweiligen Gotteshauses, daran schloss sich eine kunsthistorische Führung durch die Kirche an; zum Abschluss in Langendreer fand ein Gitarren-Konzert mit mittelalterlichen Instrumenten statt.

Den Anlass zu dieser Reihe bot eine Ausstellung des Bochumer Zentrums für Stadtgeschichte, in der zahlreiche mittelalterliche Urkunden der Stadt gezeigt wurden, darunter eine 1415 auf dem Konzil zu Konstanz ausgefertigte Ablassurkunde für die Bochumer Peterskirche, die heutige Propsteikirche.

Die positive Resonanz auf diese erste Themenreihe ermutigte die Veranstalter die „Bochumer Fenster zur Vergangenheit“ im Herbst 2016 chronologisch fortzusetzen und in einem zweiten Teil die Einführung der Reformation in Bochum und in der Grafschaft Mark näher zu untersuchen.

Diesen zweiten Teil der Vortragreihe dokumentiert der hier vorgelegte Band 10 der Evangelischen Perspektiven mit seinen fünf Beiträgen.

Die Reformationsgeschichte des heutigen Ruhrgebietes zeichnet sich durch vielfältige Entwicklungen aus, die vor allem mit den politischen Rahmenbedingungen zusammenhingen. So verfolgte das Herzogtum Jülich-Kleve-Berg, zu dem auch die Grafschaft Mark gehörte, in religionspolitischer Hinsicht eine mittlere Linie zwischen dem Katholizismus und dem Luthertum. Damit wurde den einzelnen Gemeinden ein gewisser Spielraum in der Gestaltung der religiösen Praxis eröffnet. Charakteristisch für die Anfänge der Reformation in dieser Region waren die Einführung einer evangelischen Predigt, das Singen von Lutherliedern und die Feier des Abendmahls in beiderlei Gestalt (d.h. mit Brot und Wein). Nach dem Augsburger Religionsfrieden 1555 verstärkten sich dann die Bemühungen, die Reformation einzuführen. Dabei kam es auch zu innerprotestantischen Konflikten zwischen Lutheranern und Reformierten, die im Zuge der Emigration von Glaubensflüchtlingen aus den Niederlanden ins Ruhrgebiet einwanderten.

Anders als in vielen anderen Städten der Region sind darum die Anfänge der Reformation in Bochum, bedingt durch die politischen Verhältnisse erst relativ spät, ab circa 1570 anzusetzen. Es dauerte lange, bis reformatorisches Gedankengut in Bochum und der Grafschaft Mark etabliert war. Auch am Ende dieses Vorgangs, der sich über das 16. und 17. Jahrhundert erstreckte, herrschte keineswegs ein einheitliches protestantisches Theologie- und Liturgieverständnis vor, vielmehr war eine außergewöhnliche „mehrkonfessionelle Kultur“ (Dieter Scheler) entstanden.

Diese spannende, wechselvolle Entwicklung der Reformation in unserer Region will dieser Vortragsband erhellen und dokumentieren.

Mein Dank gehört den Autoren und der Autorin dieses Bandes für ihre sachkundigen historisch und kirchengeschichtlich fundierten Beiträge. Ich danke Dr. Stefan Pätzold, dem stellvertretenden Leiter des Bochumer Stadtarchivs, und Peter Luthe, dem Leiter des Katholischen Forums Bochum, für die kooperative Zusammenarbeit in der Durchführung dieser Veranstaltungsreihe sowie Herrn Clemens Kreuzer, der die Entstehung dieses Heftes durch seine historische Sachkenntnis erheblich gefördert hat.

Den Verantwortlichen der Pauluskirche, der Stiepeler Dorfkirche, der Gemeinde Querenburg und der Evangelischen Kirchengemeinde am Alten Markt in Wattenscheid sowie den dortigen Kirchenführerinnen und -führern ist zu danken, dass eine Busexkursion am 23. September 2016 zu den authentischen Orten der Reformation in Bochum möglich wurde. Ein besonderer Dank gehört dem Katholischen Forum Bochum sowie dem Evangelischen Kirchenkreis Bochum und Herrn Superintendent Dr. Gerald Hagmann für die Beteiligung an der Herausgabe dieses Bandes der Evangelischen Perspektiven.

Die durch die politischen Umstände im 16. Jahrhundert in Bochum erzwungenen vielfachen Kooperationen zwischen Protestanten und Katholiken, wie sie sich u.a. in der etwa 100-jährigen gemeinsamen Nutzung der Kirche St. Peter und Paul widergespiegelt haben, waren, wie Michael Basse schreibt, in ihrer Zeit politisch geboten. Aus heutiger Sicht vielleicht eine ökumenische Zukunftsperspektive – im Rückblick jedenfalls ein Beispiel für eine interkonfessionelle Toleranz, die in damaliger Zeit keineswegs üblich war.

Arno Lohmann

Gute Zeiten – schlechte Zeiten Bochum während der Reformationszeit

Stefan Pätzold

Während die anderen Vorträge der Reihe „Bochumer Fenster zur Vergangenheit. Die Reformation in Bochum und der Grafschaft Mark“ sich mit theologischen, politischen, sozialen und kulturellen Aspekten jenes buchstäblich epochemachenden kirchengeschichtlichen Vorgangs beschäftigen, soll in diesem Beitrag Bochum selbst in den Vordergrund gerückt werden. Dessen Einwohnerinnen und Einwohner hatten im 16. und 17. Jahrhundert Furchtbares zu erdulden, vermochten aber die Katastrophen zu überstehen und die Krisen zu bewältigen – das Leben ging eben weiter, und auf schlechte folgten gute, oder jedenfalls bessere Zeiten. Überblicksartig wird hier nun der Zeitraum von 1517 bis 1698 behandelt, der, vielleicht zu willkürlich, mit der Weihe der reformierten Kirche endet. Dass die Darstellung mit dem Jahr 1517 beginnt, liegt weniger an Luthers Thesenpublikation, denn sie war zunächst für die Bochumerinnen und Bochumer belanglos. Vielmehr wurde ihr Leben von einem verheerenden Stadtbrand bestimmt, der den Ort in jenem Jahr verwüstete. Bochums Geschichte während der Reformationszeit soll nun in drei Kapiteln dargestellt werden. Sie tragen die folgenden Überschriften: 1. Brände und andere Katastrophen – die schlechten Zeiten; 2. Glaubens fragen: Rahmenbedingungen der Reformation in Bochum; und 3. Wie das Leben so spielte: Verfassung und Alltag des Ackerbürgerstädtchens.1

1. Brände und andere Katastrophen – die schlechten Zeiten

Am Tag des heiligen Markus, also am 25. April, des Jahres 1517 brach im Haus von Johannes Schriver, dem landesherrlichen Rentmeister von Blankenstein, ein Feuer aus.2 Es legte nahezu die ganze Stadt in Schutt und Asche. Das Rathaus sowie die Häuser und die Habe der meisten Bürger verbrannten. Auch die aus Stein gebaute Peterskirche wurde nicht verschont: Übrig blieben nur der Chor sowie Teile der seitlichen Anbauten und des Turms. Angesichts der beinahe völligen Zerstörung und der damit einhergehenden Vernichtung von Besitztümern und Werten ging der Wiederaufbau nur langsam voran. Im Jahr 1519 bot sich ein trauriges Bild: Inmitten der Trümmer standen rasch zusammengezimmerte Bretterbuden ungeordnet nebeneinander; nur hier und da waren schon wieder neue Häuser errichtet worden. Selbst 1533 waren 13 Prozent der Hausstellen noch nicht wieder besetzt. Damals gab es in Bochum nur mehr 155 Haushaltungen und damit, will man pro Haushalt fünf Personen veranschlagen, 775 Bewohnerinnen und Bewohner (mit oder ohne Bürgerrecht) sowie eine unbekannte Zahl von Gästen in der Stadt. Die Bochumerinnen und Bochumer waren verarmt. Da half es auch nur wenig, dass ihnen der unglückliche Johann Schriver 1524 als Schadenersatz 20 Goldgulden zahlte.

Der Wiederaufbau schleppte sich dahin. Seine unermüdlich treibende Kraft war der hoch angesehene Bürger und spätere Bürgermeister, der Kirchrat, Stadt- und Gerichtsschreiber sowie Rentmeister Johann Theile (gest. 1562). Davon zeugen das von ihm 1519 selbst angelegte so genannte Bürgerbuch der Stadt und das Lagerbuch der Pfarrkirche. Bis 1553 ist seine Handschrift als einzige in allen städtischen Aufzeichnungen zu finden. Während der Neubau des Rathauses bereits um 1525 abgeschlossen und damit einigermaßen rasch vonstattengegangen war, zogen sich, schon aus finanziellen Gründen, die Arbeiten an der Pfarrkirche in die Länge. Die notwendigen Geldmittel wurden mühsam durch Umlagen in der Gemeinde und durch den Verkauf von Kirchenland aufgebracht. Im Sommer 1521 konnte man das Gotteshaus und seinen Begräbnisplatz neu weihen; die Gewölbe wurden 1535/36 eingezogen; die Aufrichtung der Turmspitze begann 1547, aber erst 1599 wurde das provisorische Strohdach des Turmes durch ein Schieferdach ersetzt.

Nicht nur der Geldmangel beeinträchtigte den langandauernden Wiederaufbau der Stadt, sondern auch weitere Katastrophen. Am 28. September des Jahres 1581 zerstörte erneut ein Brand 110 Häuser. Darüber hinaus suchten die Menschen schlimme Seuchen heim: Im Jahr 1529 wütete eine mysteriöse, „Englischer Schweiß“ genannte, Krankheit und 1544, 1583 und 1589 brach jeweils die Pest aus. Viele Menschen, so heißt es in der Chronik des Dortmunders Dietrich Westhoff, der um 1551/52 selbst an der Pest starb, verließen im Sommer 1544 aus Furcht vor der „gruwelichen pestilenz“ die Stadt und hausten lieber im Wald oder kampierten in Hütten auf dem freien Feld.3

Doch damit nicht genug: Das geplagte Bochum war seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bis weit in das 17. Jahrhundert hinein immer wieder von Kriegszügen und Einquartierungen betroffen. Denn im Verlauf des achtzig Jahre dauernden Spanisch-Niederländischen Kriegs (1568-1648), durch den die damaligen Niederlande ihre Unabhängigkeit vom habsburgischen Spanien erringen wollten, fielen immer wieder Kriegshaufen in die klevisch-märkischen Lande ein. So traf es das Amt Bochum 1586, als spanische Truppen dort ihre Winterquartiere bezogen. Als zudem Herzog Johann Wilhelm von Jülich-Kleve-Berg sowie Graf von der Mark und Ravensberg (gest. 1609), körperlich wie seelisch erkrankte und kinderlos blieb, begannen obendrein noch die Auseinandersetzungen um die Nachfolge in seinen Territorien. Um Tatsachen zu schaffen, drangen spanische Truppen aus den habsburgischen Niederlanden abermals in die Mark ein und besetzten 1599 auch Bochum. Die Bevölkerung litt erheblich unter dem spanischen Kriegsvolk. Als die Spanier schließlich abzogen, plünderten sie Bochum gründlich und nahmen mit, was sie gebrauchen konnten. Bereits in den Jahren 1605 und 1606 waren sie wieder im Land, und im Winter 1622/23 wurde Bochum erneut besetzt. Wieder litten die Menschen, die 1623 zu allem Übel auch noch die Pest heimsuchte, unter den fremden Kriegshaufen. Da mittlerweile der Dreißigjährige Krieg (1618-1648) ausgebrochen war, blieb die Bedrohung durch feindliche Truppen noch etliche Jahre bestehen.4

2. Glaubensfragen: Rahmenbedingungen der Reformation in Bochum

Am 31. Oktober 1517, also ein halbes Jahr nachdem Bochum abgebrannt war, sandte der Wittenberger Professor der Bibelauslegung Dr. Martin Luther (1483-1546) 95 lateinische Thesen gegen den Missbrauch des Ablasses an Erzbischof Albrecht von Magdeburg und andere hochrangige Geistliche. Damit löste der unbeugsame Augustinereremit zunächst eine theologische Diskussion und – nach dem Druck seiner Thesen – eine religiöse, intellektuelle und politische Entwicklung aus, die er wahrscheinlich so weder vorhergesehen noch beabsichtigt hatte. Seine Ansichten erschütterten Kirche, Gesellschaft und Reich in einem ungekannten Maß. Bis seine Vorstellungen in die Grafschaft Mark und nach Bochum vordrangen und dort wirksam wurden, verging allerdings noch geraume Zeit. Die Einführung lutherischen Denkens hing sowohl von der religiösen und politischen Haltung der Landes- bzw. Stadtherrn, die zugleich auch weltliche Patrone der Bochumer Pfarrkirche waren, als auch von den Anschauungen der jeweiligen Pfarrer sowie der Gemeindemitglieder ab. Von einer geradlinigen, organisierten und raschen Durchsetzung des Luthertums konnte jedenfalls keine Rede sein. Jeder Ort im Herzogtum Kleve-Mark entschied selbst über seine Haltung in der Frage der Religionsausübung.

Graf Johann III. von Kleve-Mark, Jülich, Berg und Ravensberg (1521-1539) stand lutherischen Ansichten überwiegend ablehnend gegenüber, auch wenn er ausgleichend handelte. Sein Nachfolger Wilhelm V. (1539-1592) war zwar reformfreundlich und verlieh dem Luthertum Auftrieb, blieb aber nominell katholisch – und das galt entsprechend den Beschlüssen des Augsburger Religionsfriedens von 1555 („cuius regio, eius religio“) damit auch für seinen Herrschaftsbereich. Die Religionspolitik der Herzöge von Kleve-Mark zielte somit auf Reformen, nicht aber auf eine Reformation und wurde schon von Zeitgenossen als „Via media“ (Mittelweg) bezeichnet. Mit dem seit 1609 ausgetragenen Streit der erst lutherischen, dann katholischen Fürsten von Pfalz-Neuburg und der erst lutherischen und dann reformierten Kurfürsten von Brandenburg-Preußen um Kleve-Mark wurden die Verhältnisse nicht einfacher. Vor diesem Hintergrund und den bisweilen erregten Diskussionen und Streitigkeiten um den rechten Glauben zwischen Katholiken, Lutheranern (Protestanten) und Calvinisten (Reformierten) kam es in der Mark wie in Bochum während des 16. und 17. Jahrhunderts zeitweilig zur Ausbildung von Mischformen in Gottesdienst und Glaubensunterweisung (der sog. Katechese). Die erste lutherische Generalsynode fand in der Grafschaft im Jahr 1612 in Unna statt.5

Lutherische Bücher oder Prediger aus benachbarten Städten mögen Bochum schon früh, vielleicht um 1540, erreicht haben; deutliche Spuren hinterließen sie indes noch nicht. 1556 ließ Herzog Wilhelm in seinen Landen „Gottes Wort lauter und rein“ predigen sowie Prozessionen verbieten und erlaubte zwei Jahre später die Verbreitung von Luthers Rechtfertigungslehre, das Abendmahl in beiderlei Gestalt sowie Geistlichen die Eheschließung. Wegbereiter der Reformation „von unten“ in Bochum war Johann Bömken, der seit 1557 als Frühmessner und seit 1572 als Pfarrer der Peterskirche amtierte. Obgleich weiterhin nominell katholischer Geistlicher, verwendete er doch lutherische Bücher und ließ neben den traditionellen lateinischen auch deutsche Kirchenlieder singen. So trug er in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einer halb unbewussten Annahme protestantischer Anschauungen durch die Gemeindemitglieder bei. Die Schulmeister Adolph Abeli und sein Nachfolger Dietrich Schluck legten ihrem Unterricht an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert einen lutherischen Katechismus zugrunde. In den Pfarrgemeinden der Umgebung war es kaum anders, so etwa in Langendreer, Ümmingen, Weitmar, Stiepel oder Harpen. Selbst in dauerhaftem Konkubinat lebende oder verheiratete Pfarrer, wie Heinrich Stoedt in Harpen (gestorben 1576), dessen Aufzeichnungen einen guten Einblick in die rechtlichen und finanziellen Verhältnisse seiner Pfarrei wie seines eigenen Haushalts erlauben, waren weiterhin katholisch.6

Aufsehen erregte in jener Zeit allerdings die Vertreibung der massiv angefeindeten Dominikaner aus Bochum. Aus nicht überlieferten Gründen wurden sie als „Wölfe“ und „Diebe“ beschimpft und, wie sie klagten, mit Dreck und Steinen beworfen – vielleicht wegen der Beteiligung des Ordens an Inquisitionsverfahren, Ablassgeschäften oder dem Ketzerprozess gegen Martin Luther, vielleicht aber auch, weil die Lebensweise einiger (Bochumer) Brüder, falls manche üble Nachrede im Kern zutraf, nicht den Ordensidealen entsprach. Jedenfalls kam es in den Jahren von 1579 bis 1583 unter Führung von Pfarrer Bömken zu heftigen Auseinandersetzungen zwischen Bochumern und Dominikanern um deren Unterkunft, Hof und Garten (nach heutigen Begriffen in der Brüderstraße), die schließlich so sehr eskalierte, dass die Mönche ihre Terminei aufgaben.

Als 1642 Befragungen in den Gemeinden nach den religiösen Verhältnissen im Jahr 1609 durchgeführt wurden, ergaben sie einen undeutlichen Befund: Unklare Begriffe aus den verschiedenen Konfessionen wurden nebeneinander benutzt, und der mit der Befragung in Bochum beauftragte Drost Wennemar von Neuhoff auf Haus Rechen vermerkte verwirrt, dass 1609 kein Unterschied in der Religionsausübung zwischen Katholischen und Evangelischen bestanden habe. Genauer betrachtet ist dieser Befund eigentlich so überraschend nicht, spiegelt er doch sowohl die bis dahin ambivalente Haltung der Landesherrn als auch die Unfertigkeit einer evangelischen Kirchenorganisation sowie eine daraus resultierende Vorsicht der Geistlichen wie der Gläubigen wider, die entweder ihre Lebensgrundlage nicht verlieren oder aber keinen unnötigen Anfeindungen heraufbeschwören wollten. Offenbar waren die Bochumerinnen und Bochumer – zumindest anfangs – keine religiösen Eiferer.

Ab 1609 gewann die Frage der Religionsausübung allerdings durch den Wechsel in der Landesherrschaft an Dynamik. Die um die Vorherrschaft in Kleve-Mark streitenden Pfälzer und Brandenburger duldeten alle drei Konfessionen jener Zeit. Sie versprachen, wie man damals formulierte, „hinsichtlich der Religionsausübung die katholische-römische wie auch andere christliche Religionen [...] an einem jeden Ort in öffentlichen Gebrauch und Übung zu continuieren, zu mantenieren, zuzulassen und darüber niemand in seinem Gewissen noch Exercitio zu turbieren, zu molestieren, noch zu betrüben“.7 Das beförderte die Aktivitäten gerade der Protestanten. Wenn die Überlieferung nicht trügt, fand 1610 die erste lutherische Predigt im Haus des Schultheißen Dietrich Elberts statt. Allerdings war es zuvor zu einer unschönen Schlägerei zwischen aufgebrachten Katholiken und den Begleitern des Predigers Jonas Braun auf dem Weg von Hattingen nach Bochum gekommen. Trotzdem nahm lutherisches Leben in Bochum alsbald eine festere Gestalt an. Die Stadt stellte die Einkünfte der Vikarie der heiligen Jungfrau Maria fortan einem lutherischen Prediger zur Verfügung. Bestallt wurde Melchior Ebbinghaus, der zunächst im Haus des Schultheißen und später im Saal der Rentei seiner Pflicht nachkam. Im Jahr 1613 sonderte sich dann die lutherische formal von der katholischen Gemeinde ab. Unter dem Schutz der Brandenburger breitete sich zudem auch das reformierte Bekenntnis aus.

Besonders schwierig waren die Zeiten für die Protestanten während der wiederholten Besetzung Bochums durch spanische Truppen. Das galt gerade für das Jahr 1622: Die Spanier stellten den katholischen Gottesdienst in alter Form wieder her, wandelten den Gebetssaal der Lutheraner in ein Wachlokal um und vertrieben Prediger Ebbinghaus unter brutaler Gewaltanwendung. Die auch nach dem Abzug der Besatzer vorkommenden Schlägereien zwischen Katholiken und Protestanten verschärften die Spannungen zwischen den Konfessionen und hinterließen tiefe Gräben zwischen ihren jeweiligen Anhängern.

Dessen ungeachtet schritt die Gemeindebildung voran. 1634 entstand die kleine reformierte Gemeinde, deren Pastor mit der Corpus Christi-Vikarie versorgt wurde. In der lutherischen Gemeinde wurde Johann Ostermann, dem Sohn des Bürgermeisters Matthäus Ostermann, noch vor seiner Ordination die Predigerstelle zugewiesen. Mit seinem Amtsantritt 1637 dürften erstmals regelmäßig protestantische Gottesdienste abgehalten und die evangelische Gemeinde auch faktisch ins Leben gerufen worden sein. Streitigkeiten um die Nutzung der einzigen Pfarrkirche am Ort, ihrer Glocken, des Friedhofs sowie um das Kirchenvermögen und die regelmäßigen Abgaben der Gläubigen führten alsbald dazu, dass die Lutheraner darangingen, eine eigene Kirche zu bauen: 1655 erwarben sie den Brunsteinhof unweit der alten Pfarrkirche und begannen auf dem Grundstück mit der Errichtung ihres eigenen Gotteshauses; 1659 wurde es geweiht. Die alte Pfarrkirche, als deren geistlicher Patron neben dem heiligen Petrus seit 1522 auch der heilige Paulus begegnet, verblieb den Katholiken. Schließlich bauten auch die reformierten Christen ihre eigene Kirche; sie wurde 1698 feierlich bezogen. Die neuen Gotteshäuser erhielten ihre Namen erst, als 1878 mit der Christuskirche eine zweite evangelische Kirche entstand. Um Verwechslungen zu vermeiden, nannte man das erste protestantische Gotteshaus Paulus- und das reformierte Johanneskirche.

Mit dem Ende des Dreißigjährigen Krieges 1648, dem 1672 geschlossenen Religionsvergleich zwischen Brandenburg und der Kurpfalz, der auf dem Grundsatz der Toleranz basierte, sowie der ersten lutherischen Kirchenordnung der Grafschaft von 1687 kehrte auch in Bochum eine gewisse Ruhe in der Religionsausübung der Christen ein.8

3. Wie das Leben so spielte: Verfassung und Alltag des Landstädtchens

Alle diese Heimsuchungen und Veränderungen verhinderten jedoch nicht die Fortentwicklung von Bochums Verfassung und Verwaltung. Deren Wurzeln lagen, wie etwa eine Urkunde Graf Engelberts II. von 1321 zeigt, im späten Mittelalter. Hinzu kamen im Lauf der Zeit weitere Bestimmungen der märkischen Stadtherrn sowie verbindliche Verordnungen des Bochumer Leitungsgremiums. Diese Regelungen wurden dauernd ergänzt und als „Statuten“ bezeichnet. Im Jahr 1506 bestätigte Herzog Johann II. von Kleve die Gültigkeit der bis dahin aufgestellten Satzungsartikel. Bis 1678 wurden 33 solcher Bestimmungen, welche die innere Ordnung der Stadt betrafen, erlassen. Man verlas sie jedes Jahr am Tag der Bürgermeisterwahl, dem 22. Februar, damit sie nicht in Vergessenheit gerieten. So entstand durch diese Ratsgesetzgebung so genanntes Willkürrecht. „Willkür“ meint hier aber nicht regellose Eigenmächtigkeit, sondern willentliche Normsetzung. Geregelt wurde in diesen „Policey-Statuten“ alles, was die Bürgergemeinde anging, also etwa öffentliche Sicherheit und Ordnung, die Marktaufsicht und andere wirtschaftliche Angelegenheiten.

Das Leitungsgremium der Stadt Bochum setzte sich aus den beiden Bürgermeistern, sechs Ratsleuten und acht Kurgenossen zusammen, die allesamt für ihre Tätigkeit kein Gehalt bezogen. Die Hauptaufgabe der Kurgenossen bestand in der Mitwirkung bei der Wahl (Kur) der Bürgermeister. Die Bürgermeister wurden alljährlich am Tag „Petri Stuhlfeier“ bestellt. Zur Wahl schritt allerdings nicht etwa die gesamte Bürgerschaft, sondern lediglich eine Gruppe bestehend aus eben jenen acht Kurgenossen sowie weiteren 16 Bürgern, die zuvor eigens zu diesem Zweck von den Inhabern der Leitungsämter bestellt worden waren. Jedes Jahr schieden vier der Kurgenossen aus, und vier neue wurden durch Bürgermeister wie Ratleute berufen. Die Ratsleute bestimmten sowohl der Schultheiß, der zwei Stimmen hatte, als auch die Bürgermeister. Niemand konnte also gegen den Willen des stadtherrlichen Schultheißen Ratmann werden. Überdies nahm er an den Sitzungen des Stadtrats teil.

Bereits hierdurch wird deutlich, dass Bürgermeister und Rat von einer unbeschränkten Allzuständigkeit, ja einer Souveränität innerhalb der Stadtgemarkung weit entfernt waren. Bürgermeister und Rat fungierten zwar als Führer und Repräsentanten der Bürgergemeinde sowie als Schützer des Stadtfriedens und besaßen innerhalb der Grenzen der Stadt und ihres Umlands Gebots-, Zwangs- und Strafgewalt. Aber ihre Befugnisse wurden durch den Schultheißen als Stadtrichter und das von ihm geleitete Hofgericht eingeschränkt. Dessen Kompetenz endete wiederum an den städtischen Grenzen und bei Gerichtsfällen, die Strafen an Leib und Leben nach sich zogen: Hier waren der landesherrliche Drost als Vorsteher des märkischen Amts bzw. sein Richter zuständig. Bis 1806 gelang es Bürgermeistern und Rat nur unvollständig, die Gerichtsbarkeit in Bochum an sich zu ziehen; ebenso wenig vermochten sie, Einfluss auf die Bestellung des Schultheißen zu gewinnen. Immerhin war dieser verpflichtet, Stadt und Bürgerschaft einen Amts- sowie den Bürgereid zu leisten, so dass er selbst zur Bürgerschaft zählte. Zu dieser ambivalenten Situation passt, dass Bürgermeister und Rat mit ihrem Amtseid schworen, sowohl dem Landesherrn und dem Hof von Bochum als auch der Stadt und ihrer Bürgerschaft treu zu sein.

Wer Bürger Bochums sein wollte, hatte zunächst das Bürgergeld zu zahlen und einen ledernen Feuereimer sowie Geld für eine Hakenbüchse oder eine Muskete beizusteuern. Erst dann durfte man den Bürgereid leisten. Durch ihn schwor der Neubürger, dass er dem Hof von Bochum, dem jeweiligen Schultheißen, den Bürgermeistern und dem Rat „getreu und hold“ sein, ihre Ge- und Verbote beachten, seine der Bürgerschaft geschuldeten Pflichten an den dafür vorgesehenen Tagen erfüllen, Stadt und Gemeinde nach Kräften fördern, Rechte und Herkommen einhalten und seine Mitbürger nicht schädigen werde. Zu den Pflichten der Bürger zählten beispielsweise die Verteidigung der Stadt gegen äußere Feinde, Wachdienste an den Stadttoren und auf dem Turm der Peterskirche, die Bewachung von Gefangenen oder die Ausbesserung der Bochumer Wege und Straßen. Doch es gab auch Bürgerrechte: Neben individueller Freiheit in einem öffentlichen Raum, dessen Frieden von der Stadtobrigkeit mehr oder weniger erfolgreich geschützt wurde, genossen Bürger weitere Vorteile wie etwa die freie Gewerbeausübung, die Jagd auf Bochumer Gemarkung oder die unentgeltliche Nutzung der Vöde genannten städtischen Weide.